Unterrichten in Pink - Wiana Wiesmann - E-Book

Unterrichten in Pink E-Book

Wiana Wiesmann

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Beschreibung

Ich bin keine Sozialarbeiterin, keine Deeskalationstrainerin, keine Detektivin und keine Polizistin. Das wollte ich nie.

Als Wiebke Wollnau nach der Elternzeit an die Wolkenheimer Realschule versetzt wird, freut sie sich aufs Unterrichten. Doch sehr bald muss sie feststellen, dass sie vor allem Streitigkeiten schlichten und Fehlverhalten sanktionieren muss. Unterstützung gibt es kaum, jeder kämpft für sich. Während die Arbeit immer mehr Raum einnimmt, versucht Wiebke verzweifelt, noch Zeit für die eigenen Kinder aufzubringen. Doch der Frust aller Beteiligten an der Schule ist groß und entlädt sich an ihr. Als schließlich die eigene Klasse gegen Wiebke rebelliert, wird der Schulalltag für sie zur Hölle. Sie muss sich die Frage stellen, wo sie als Lehrerin ihren Platz finden kann …
Ein zeitgeschichtlicher Roman nach wahren Begebenheiten.

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Seitenzahl: 350

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Wiana Wiesmann

Unterrichten in Pink

 

über die Autorin

Wiana Wiesmann, geboren 1971, unterrichtete einige Jahre an weiterführenden Schulen die Fächer Deutsch, Ev. Religion und Kunst. Sie füllte mehrere Collegeblöcke mit ihren Erlebnissen aus dem Schulalltag, zunächst nur für sich selbst.
Nachdem sie sich mit dem Schreibhandwerk beschäftigt hatte, brachte sie die Aufzeichnungen in Romanform.
Aufgrund der Aktualität des Themas beschloss sie, das Buch zu veröffentlichen.
„Unterrichten in Pink“ ist ihr Debütroman.

 

IMPRESSUM

1. Auflage 2024

© 2024 by hansanord Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages nicht zulässig und strafbar. Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN Print 978-3-947145-81-2

ISBN E-Book 978-3-947145-83-6

Cover | Umschlag: Tobias Prießner

Lektorat: Ursula Schötzig

Für Fragen und Anregungen: [email protected]

Fordern Sie unser Verlagsprogramm an: [email protected]

hansanord Verlag

Johann-Biersack-Str. 9

D 82340 Feldafing

Tel. +49 (0) 8157 9266 280

FAX +49 (0) 8157 9266 282

[email protected]

www.hansanord-verlag.de

 

Inhalt

Vorwort
Teil I - DAS ERSTE JAHR IN WOLKENHEIM
Kapitel 1 – Ein neuer Anfang
Kapitel 2 – Eine Kollegin in Not
Kapitel 3 – Unerfüllte Wünsche
Teil II - DAS ZWEITE JAHR IN WOLKENHEIM
Kapitel 4 – Olaf und Tim
Kapitel 5 – Zwischen Klassenleitung und Ausbildungskoordination
Kapitel 6 – Wie aus dem Lehrbuch
Kapitel 7 – Im Dschungelcamp
Kapitel 8 – Der Mrs–Umbridge–Pulli
Kapitel 9 – Die Urkunde
Teil III - DAS DRITTE JAHR IN WOLKENHEIM
Kapitel 10 – Der Rat einer Freundin
Kapitel 11 – Ein Funken Hoffnung
Kapitel 12 – Dunkle Wolken Über Wolkenheim
Kapitel 13 –Im Hexenkessel
Kapitel 14 – Gebt uns ruhig die Schuld
Kapitel 15 – Die Welt wird pink
Glossar
Quellen
Danksagung
Endnoten
Für alle, die auch in Pink unterrichten

Vorwort

Hallo, liebe Leserschaft,
in diesem Buch öffne ich die Klassenzimmertür und lasse euch den Unterricht miterleben.
Die Romanhandlung ist durch wahre Ereignisse an verschiedenen Schulen inspiriert, aber fiktiv verfremdet. Mögliche Übereinstimmungen mit den Namen realer Personen sind Zufall.
Das Buch zeigt am Beispiel der Hauptfigur aus Lehrersicht, wo es im Schulalltag hakt und wie die Beteiligten damit umgehen. Ich bin mir sicher, dass sich daraus Ideen für Verbesserungen entwickeln lassen.
Wegen der besseren Lesbarkeit verzichte ich auf das Gendern, nutze aber, wenn möglich, neutrale Ausdrücke wie »Lehrkräfte«.
Dann wünsche ich eine unterhaltsame und aufschlussreiche Lektüre.
Eure Wiana Wiesmann

TEIL I

DAS ERSTE JAHR IN  WOLKENHEIM

Kapitel 1 -  Ein neuer Anfang

Neuanfänge und Veränderungen vermeide ich, solange es geht, denn ich mag es gar nicht, aus meiner Komfortzone geworfen zu werden. Das Leben mit zwei kleinen Kindern ist schon herausfordernd genug. Aber nach sechs Jahren Elternzeit war die genehmigte Zeit abgelaufen. Also hieß es für mich: zurück in den Beruf. Als verbeamtete Lehrerin hatte ich es da leichter als andere Mütter, die nach einer solchen beruflichen Unterbrechung wieder einsteigen wollen. Ich brauchte nur den entsprechenden Antrag zu stellen. Einige Wochen später flatterte mir der Brief von der Bezirksregierung ins Haus. Ich riss ihn mit zitternden Händen auf. Welcher Schule würde ich nach meiner Elternzeit zugewiesen? 
Ich las: Sehr geehrte Frau Wollnau, gemäß § 25 LBG weise ich Sie mit Wirkung vom 24.08.2016 der Städtischen Realschule für Jungen und Mädchen in Wolkenheim zu.1
Ich ließ das Blatt fallen und rief: »Ja! Es hat geklappt!«
Eine Versetzung an meine Wunsch-Schule würde mir die bevorstehende Veränderung in jedem Fall sehr viel leichter machen. Die Wolkenheimer Schule hatte einen guten Ruf. Außerdem wäre mein Fahrtweg kurz, denn bis zum benachbarten Stadtteil waren es nur fünfzehn Autominuten. Das war sehr wichtig für mich wegen meiner Kinder. 
Genau deshalb konnte ich auch nicht zurück an die vorherige Realschule, denn in der Elternzeit war ich mit meiner Familie ins Ruhrgebiet umgezogen, achtzig Kilometer entfernt von unserem früheren Wohnort.
Ich hatte vierzehn Unterrichtsstunden beantragt, also eine halbe Stelle. Trotzdem würde es eine organisatorische Herausforderung werden. Hoffentlich blieb mir noch genug Zeit für meine Töchter Sophie und Yvonne.
Diese Gedanken gingen mir zum wiederholten Mal durch den Kopf, als ich an meinem ersten Arbeitstag mit gepackten Sachen im Hausflur stand. Ich hatte die Hand schon auf der Türklinke, da zögerte ich und stellte die Tasche mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden ab. Gebückt öffnete ich sie, um nachzusehen, ob ich auch wirklich nichts vergessen hatte.
Ich sah den Stundenplan, meinen Lehrerkalender, Stifte, Papier und die Universal-Vorbereitung, die ich immer für eine erste Stunde in einer neuen Klasse dabeihatte. Außerdem hatte ich ein paar Rätsel eingepackt und den pinkfarbenen Oktopus, ein Stofftier für das Kennenlernspiel. Auch an die Wasserflasche und die Brotdose hatte ich gedacht. Den Schulschlüssel hatte ich in der vorderen Reißverschlusstasche verstaut. 
Ich kann doch ganz beruhigt starten, sagte ich mir. 
Mein Handy gab einen leisen Ton von sich. Eine Nachricht von meiner Freundin Finja. 
»Guten Start und sei nicht allzu streng!« Dahinter war ein Kleeblatt-Emoji – ein vierblättriges natürlich. Ich schmunzelte. Sie kannte mich gut. 
Ich genoss den letzten Moment in der Stille und der vertrauten Umgebung unserer Doppelhaushälfte. Sebastian hatte die Kinder heute Morgen zur KiTa und zur Grundschule gebracht. 
Okay, dann los, dachte ich, steckte das Handy in meine Tasche und öffnete entschlossen die Haustür. Dann setzte ich mich ins Auto und fuhr durch die Hauptstraße, vorbei an den Wohnhäusern und den Baumreihen zu jeder Seite. An den Bushaltestellen hatten sich die Schüler versammelt. Die sahen doch recht nett aus. Vielleicht würde ich einige von ihnen gleich in meiner Klasse wiedersehen. 
Es war so ein schöner Spätsommertag. Die Sonne stand noch tief, aber zwischen dem Grün der Bäume war ein Stück des blauen Himmels zu erkennen. Meine Playlist spielte die Sommer-Hits ab und machte einfach nur gute Laune. Ich drehte die Lautstärke hoch. Schließlich bog ich in die Straße ein, in der die Wolkenheimer Schule lag, und stellte das Auto auf dem Lehrerparkplatz ab.
In Klasse 6 c fand ich dann dreiundzwanzig freundliche Mädchen und Jungen vor, die mich erwartungsvoll anblickten.
»Ich bin Frau Wollnau, eure neue Klassenlehrerin«, begrüßte ich die Schüler, während ich meine Tasche auf dem Pult abstellte. »Damit wir uns ein wenig kennenlernen können, stellt ihr euch am besten alle einmal vor« – ich griff in meine Tasche – »und dazu brauchen wir ihn hier.«
Ich holte den pinkfarbenen Oktopus heraus. Das Stofftier war sofort der Blickfang. 
»Süß!«, kam es von den Mädchen aus der ersten Reihe. »Ist das ein Tintenfisch?«
»Ja, er heißt Olli«, erklärte ich. »Ich werfe ihn einem von euch zu, der sich dann mit seinem Namen und einem Adjektiv vorstellt. Das Adjektiv muss mit dem Anfangsbuchstaben des eigenen Vornamens anfangen. Zum Beispiel: die hilfsbereite Hanna. Danach sucht ihr euch jemanden aus und gebt Olli weiter. Alles klar?«
Einige nickten. Die Schüler warteten, bis ich anfing: »Ich bin die wortgewandte Wiebke Wollnau und freue mich, dass ihr jetzt meine neue Klasse seid.«
Ich gab das Tier an ein Mädchen in der ersten Reihe weiter. 
»Ich bin die lustige Lisa!«
»Sehr gut!«
Sie warf das Tier einer Schülerin in der Reihe dahinter zu.
»Ich bin die …« – das Mädchen überlegte – »… mutige Merve!« 
Es ging weiter. In der Klasse waren die clevere Carolin, die freundliche Fatma, die ehrgeizige Ecrin, der coole Can, der junge Jonas, der toughe Tim, der fixe Fynn, der leise Linus, der mutige Mathias und einige mehr. Nur Yusuf war frustriert, weil auch uns kein Adjektiv mit y einfiel. Da rief Carolin: »Der Youtube-begeisterte Yusuf!« Alle lachten. 
Am Ende der Stunde stand Lisa auf und kam zu mir ans Pult. »Können wir Olli als Klassentier nehmen?«
Ich war ein wenig erstaunt, denn eigentlich gab es diesen Brauch nur in der Grundschule. Von Sechstklässlern hatte ich das noch nicht gehört. »Olli gefällt euch?«
Merve kam auch nach vorn zum Pult. »Ja, total. Und Frau Tarinov hat unser altes Klassentier mitgenommen.«
»Verstehe.« Noch immer hielt ich Olli in der Hand. Ich schaute in sein rundes Smileygesicht. Er hatte acht Tentakelarme und war flauschig. Ich hatte Olli eigentlich für meine Tochter gekauft, er sollte ihr Geburtstagsgeschenk werden. Aber gerade überlegte ich es mir anders. 
Ich würde Sophie einfach ein neues Stofftier kaufen.
»Okay, dann ist Olli jetzt euer Klassentier.«
Dann packte ich eilig zusammen, um schnell ins Lehrerzimmer zu kommen. Die große Pause war die ideale Gelegenheit, um die anderen ein wenig kennenzulernen. Es roch nach frischem Kaffee, aber zugleich wie im ganzen Gebäude etwas muffig, was vielleicht auch daran lag, dass so viele Leute im Raum waren. Vor dem Schwarzen Brett drängten sich mehrere Lehrkräfte. Ich gesellte mich dazu. Offensichtlich ging man hier noch analog vor, denn die Fläche war mit Zetteln übersät. Nur der Vertretungsplan war schon auf einem an der oberen Wand angebrachten Monitor zu sehen.
Mir fiel eine Kollegin auf, die direkt neben mir stand. Mit ihren schulterlangen Haaren, blauen Jeans und weißem T-Shirt wirkte sie sofort sympathisch. Sie schaute auf den Zettel mit der Ankündigung für die Fachkonferenz Englisch und fotografierte die Angaben kurzerhand mit dem Handy. In der Lehrerkonferenz vor zwei Tagen hatte die Schulleiterin alle neuen Kollegen vorgestellt. Während ich noch überlegte, wie die Kollegin hieß, drehte sie sich um, reichte mir die Hand und sagte: »Ich bin Beate Meyer. Ich unterrichte deine Klasse in Englisch.«
»Ja, stimmt«, antwortete ich. »Wiebke Wollnau.« »Und wie ist deine Klasse so?«, erkundigte sie sich.
»Sehr nett.« Ich lachte. »Die haben sich erst einmal ein Klassentier ausgesucht.« 
»Och, meine Sechser sind auch noch richtig süß. Ich habe die 6 b.« 
Neben uns tauchte eine ältere Kollegin auf. »Ich glaube, du hast meine Klasse in Deutsch«, sagte sie zu mir. Sie wirkte so ganz anders als Beate. Es lag vermutlich an der etwas zu großen Kunststoffbrille oder an der gemusterten Bluse, die sie trug. Ich hatte nichts gegen Blusen, aber diese wirkte altmodisch. Vielleicht war es das Muster. Die grauen Haare hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz im Nacken zusammengebunden.
»Ja, die 9 a«, erwiderte ich. »Dann bist du Frau Beck, die Klassenlehrerin?«
»Ja, ich heiße Birgit.«
»Was sind deine Fächer?«
»Englisch und Geschichte.«
»Und von welcher Schule kommst du?«, wollte ich wissen. 
Birgit schüttelte den Kopf. »Von keiner. Ich war in Beurlaubung, weil ich meine Mutter gepflegt habe. Aber sie ist im Mai verstorben.«
»Oh, das tut mir leid.« 
Eine Frau mit einer hellblonden Lockenfrisur und schulterfreiem roten Shirt tauchte vor mir auf. An der rechten Schulter kam ein Stück eines Tattoos zum Vorschein.
Die Kollegin blickte mich interessiert an. »Du unterrichtest auch praktische Philosophie?«
Ihren Namen hatte ich aus der Konferenz noch in Erinnerung. Jennifer Felber. Seit ich sie gesehen hatte, fühlte ich mich mit meiner pinkfarbenen Strähne im schwarzen Haar nicht mehr ganz so deplatziert. Wir beide waren offensichtlich die Einzigen im Kollegium, die optisch ein wenig hervorstachen. Doch sie hatte mir gerade eine Frage gestellt.
»Ja, drei Kurse. In den Jahrgangsstufen 6, 7 und 8«, antwortete ich.
»Oh, die Achter sind nicht ohne«, warnte mich Jennifer vor. Doch darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht.
»Mir macht eher mein Stundenplan Sorgen«, erwiderte ich.
»Philosophie liegt bei mir immer in der letzten Stunde.«
»Hast du noch kleinere Kinder?«
»Ja. Sophie ist drei und Yvonne sechs. Mein Mann kann sie morgens zum Kindergarten und zur Schule bringen, aber mittags wird das dann immer stressig.«
Jennifer nickte. »Stimmt, Philosophie liegt meistens in den Randstunden, genau wie Religion. Was war nochmal dein zweites Fach?«
»Deutsch.« Die Hauptfächer lagen meist in den mittleren Stunden, was allein deshalb besser war, weil die Schüler dann noch aufmerksamer waren. Ich fügte hinzu: »Allerdings habe ich auch eine Klassenleitung.«
»Wer ist denn dein Co?«
Ich erinnerte mich an das erste Gespräch mit der Schulleiterin vor einigen Wochen. Frau Dahoff hatte gesagt: »Herr Martens wird mit Ihnen die Klassenleitung übernehmen. Er hat die Klasse auch mit Frau Tarinov im Team geleitet.«
Frau Tarinov war am Ende des Schuljahres in Mutterschutz gegangen. Deshalb sollte ich die Klassenleitung zusammen mit dem Kollegen übernehmen. Also antwortete ich Jennifer: »Eigentlich mit Herrn Martens. Aber der ist dauerhaft erkrankt.«
Sie sah mich nachdenklich an. »Ja, das habe ich auch gehört.«
»An meinem freien Tag ist dann kein Klassenlehrer für die 6 c da.«
Jennifer schaute zu einer Kollegin hinüber, die mir in ihrem grünweiß gestreiften T-Shirt und dem kurzen roten Haar schon aufgefallen war. 
»Sprich mal mit Monika. Sie ist unsere Gleichstellungsbeauftragte.«
Als ich zu ihr hinüberging, schellte es gerade zum ersten Mal. Ich hatte nur zwei Minuten, denn beim zweiten Schellen war die Pause zu Ende. Hastig informierte ich die Kollegin über mein Stundenplanproblem.
»Ich hatte da ein wenig mehr Glück«, meinte sie. »Als meine Kinder klein waren, hat sich die Oma gekümmert, sodass ich in meiner Arbeit nicht so eingeschränkt war. Aber sprich mal mit Herrn Bitt, der ist für den Stundenplan zuständig.« Ich suchte den stellvertretenden Schulleiter gleich in der zweiten großen Pause auf. Auf meine Bitte hin erklärte er: »Am Ende des Halbjahres liegen Zettel im Lehrerzimmer aus, da können alle ihre Wünsche angeben. Versprechen kann ich aber nichts.«
Ich nickte. »Danke, das mache ich.«
Mit einem besseren Stundenplan würde es richtig gut werden an der Schule, davon war ich überzeugt.
*
Ich beherzigte Finjas Rat und war »nicht allzu streng«. Doch an einem Morgen im September wurden meine Schüler gar nicht ruhig, als ich vorne stand und wartete. 
»Guten Morgen, Klasse 6 c!«, sagte ich. »Heute geht es um Fabeln …«
Eigentlich hatte ich mir eine motivierende schülerorientierte Methode überlegt, denn die Schüler sollten nicht nur Fabeln lesen, sondern die Lehre in Form eines Rollenspiels umsetzen. Doch mir hörte keiner zu. Ich verstummte und ließ meinen Blick durch die Klasse schweifen.
Mathias hatte sein Handy in der Hand, er machte sich nicht einmal die Mühe, es zu verstecken. Anders Yusuf, der seine In-Ear-Kopfhörer unter der Kapuze seines Hoodies versteckte und wohl glaubte, dass ich das nicht merkte. Julius hatte seine Tasche auf den Tisch gestellt und verschwand fast komplett dahinter. Can saß da und hatte noch seine Winterjacke an. Den Reißverschluss hatte er bis oben hin zugezogen, so als hätten wir tiefsten Winter und nicht erst Mitte September. Er unterhielt sich lautstark mit Julius. Merve hatte ihre Brotdose auf dem Tisch. Von Ecrin sah ich nur Haare, denn sie saß vornübergebeugt und war darin vertieft, ein Manga zu zeichnen. Das Bild war nicht einmal schlecht. Das müsste ich Monika erzählen, die das Fach Kunst in meiner Klasse unterrichtete. Nele starrte geistesabwesend an die Decke. Lena, Anna und Emilia diskutierten laut, es klang nach einem Streit. Ganz offensichtlich waren die Schüler beschäftigt und wollten mich nicht wahrnehmen. 
»Hey«, sagte ich. »Was ist denn heute los mit euch?«
Manchmal waren Schüler einfach nicht mehr aufnahmefähig, zum Beispiel nach einer Klassenarbeit oder auch nach einer Doppelstunde Sport. Die Erfahrung hatte ich schon öfter gemacht. Ich nahm mir den Laptop und warf einen Blick auf das digitale Klassenbuch. Die Schüler hatten gerade eine Geschichtsstunde gehabt. Das Fach konnte es also nicht sein.
Doch meine Frage war im allgemeinen Lärm untergegangen. Nur Niklas sah mich an und machte eine verärgerte Geste in die Richtung seiner Mitschüler. Linus blickte kurz zu mir hinüber.
Ich überlegte. Losbrüllen schadete nur mir selber und half in den wenigsten Fällen. Aber ich musste hier einen Cut setzen, sonst würde ich die ganze Stunde warten. 
Okay, dachte ich. Ich mache etwas Unerwartetes. Das war besser als zu schimpfen oder zu strafen. 
Ich nahm meine Tasche vom Pult, winkte den Schülern lässig zu und ging zur Tür. Jetzt wurden Rufe laut. »Frau Wollnau, wo wollen Sie hin?«
Ich hatte schon die Hand auf den Türgriff gelegt. »Ich warte draußen, bis ihr euch beruhigt habt.« Ich sagte das ganz freundlich. 
Jetzt wurden die Schüler leiser. Meine Reaktion überraschte sie. 
»Und wenn ich wieder reinkomme, seid ihr eine Musterklasse.«
»Musterklasse!«, wiederholte Linus eifrig. Auch einige andere schauten sichtlich verblüfft auf. 
»Gut.« Ich nickte den Schülern zu. »Dann gehe ich jetzt raus.«
Ich verließ den Klassenraum und machte die Tür hinter mir zu. Im Flur lauschte ich. Der Lärm schwoll an, wurde wieder leiser, aber es wurde nicht völlig still. Ich zwang mich, zwei Minuten abzuwarten, den Blick auf die Zeitanzeige meines Handys gerichtet. Dann öffnete ich die Tür wieder, marschierte zum Pult und blieb dort stehen.
Ich sah die Schüler auffordernd an. »Musterklasse?«
Niklas stand auf. »Musterklasse!« 
Sie hatten es begriffen. Es war wesentlich leiser. »Guten Morgen«, konnte ich sagen und die Begrüßung kam von der Klasse zurück.
»Na, dann packt mal eure Deutschsachen aus.« Ich schaute zu Julius. »Eure Taschen« – und ich schaute zu Can – »und eure Jacken braucht ihr nicht.«
Ich nahm Mathias und Yusuf ins Visier. »Und keine Handys im Unterricht, das wisst ihr.«
Endlich saßen alle mit ihren Büchern und ohne Ablenkungen da. Nur Neles Tisch war völlig leer. Um Nele würde ich mich im Laufe der Stunde kümmern. Erst einmal ging es mir darum, überhaupt unterrichten zu können. Ich sah meine Klasse streng an, sagte dann aber mit einem Augenzwinkern: »Und morgen seid ihr gleich die Musterklasse.«
Als es schließlich schellte, hatte gerade die letzte Gruppe ihr Rollenspiel präsentiert. Ich machte schnell einen entsprechend positiven Vermerk im Notenbuch. »Sehr gut. Na seht ihr, ihr könnt das doch. Das meint auch Olli hier.« Ich hob das Klassentier hoch, das ich auf dem Pult platziert hatte. Einige Schüler lachten, als ich Olli hin- und herbewegte. »Da wir alles geschafft haben, meint auch Olli, dass ihr keine Hausaufgaben braucht.«
Zustimmende Rufe wurden laut.
Ich tippte das Thema der Stunde ins digitale Klassenbuch ein. Auf einmal stand Lisa vor mir. Sie sagte etwas, aber im allgemeinen Lärm verstand ich ihre Worte nicht. Während die anderen nach draußen gingen, drückte sie mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier in die Hand. Dann drehte sie sich um und rannte hinaus. 
Ich öffnete den Zettel und las: »Liebe Frau Wollnau, sie sind meine Lieblingslehrerin. In ihrem Unterricht fühle ich mich am wohlsten. Ihr Job ist super. Machen sie auf jeden Fall weiter. Mit freundlichen Grüßen Lisa.«
»Oh«, murmelte ich. Was für ein lieber Brief. Und wie ermutigend. Ich erinnerte mich, dass ich an meiner letzten Schule die Be merkung gehört hatte, ich wäre als Lehrerin »zu nett«. Doch hier wurde ich offensichtlich genau für diese Eigenschaft geschätzt und das freute mich.
Ich schmunzelte ein wenig wegen der kleingeschriebenen Anrede. Aber was spielte das für eine Rolle? Der Text war außenrum mit gemalten pinkfarbenen Herzchen und Blümchen verziert. Das war der netteste Brief, den ich als Lehrerin je bekommen hatte. Er bekam einen Ehrenplatz in meinem Ordner mit Schülerbriefen.
*
Birgits Schüler waren älter, also waren auch die Themen im Deutschunterricht noch interessanter als in Klasse 6. Die Unterrichtseinheit über Jugendsprache hatte schon in meiner alten Schule für einige Lacher bei Neuntklässlern gesorgt. Mit dieser Erwartung ging ich auch in Birgits neunte Klasse.
Aber heute quatschten Ahmed und Lea ständig dazwischen, während Malak versuchte, den Text vorzulesen. Mit einem frustrierten Schnauben verdrehte sie die Augen.
Gerade beugte sich Charlotte zu ihrer Nachbarin Lea und zischte ihr irgendetwas zu. Die keifte etwas zurück und riss ihr den Collegeblock weg. Charlotte sprang auf und schrie Lea an: »Hey, gib her!«
Ich hatte die beiden bestimmt schon drei Mal in dieser Stunde ermahnt. Trotzdem stritten sie sich weiter, wobei Lea ihre Nachbarin immer wieder provozierte.
Die anderen Schüler warfen mir flehende Blicke zu, denn auch für sie wurde der ständig unterbrochene Unterricht immer langweiliger. Und das ärgerte mich, weil ich mir so viel Mühe mit der Vorbereitung gegeben hatte.
Ich stand auf und stellte mich vor Lea. Gleichzeitig kam lautes Stimmengewirr aus der Jungenecke, wo Ahmed saß.
Ich sprach laut, um die Jungen zu übertönen: »Lea, Ahmed, für die anderen ist das auch nervig, wenn ich euch die ganze Zeit ermahnen muss. Macht doch jetzt einfach mit.«
Die beiden schauten zwar zu mir herüber, aber reagierten nicht. Ich hoffte, dass meine Ansprache wirkte, und ließ Malak weiterlesen. Doch wieder musste sie abbrechen, weil Lea lautstark weiter mit ihrer Nachbarin redete.
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es noch zwanzig Minuten bis zur Pause waren. Mit weiteren Ermahnungen würde ich mich lächerlich machen. Auch wenn ich es nicht gerne tat, aber manchmal half ein anderer Platz, um die Störungen zu beheben.
Ich verschränkte die Arme und sagte in scharfem Ton: »Lea, du setzt dich dort rüber zu Samira.«
Sie schüttelte den Kopf und blieb sitzen.
Ich hoffte, dass sie es sich noch überlegen würde, und drehte mich zu den Jungen um. »Ahmed, du setzt dich zu Darcan.«
»Nein«, kam es von Ahmed. Er kippelte mit dem Stuhl, sodass die Stuhllehne fast gegen die Heizung an der Wand hinter ihm stieß. Die Schüler saßen in U-Form, Ahmed ganz hinten. Das war ohnehin kein guter Platz für ihn. 
Es wurde auf einmal still in der Klasse, während Ahmed und Lea mich weiter trotzig anstarrten. Alle schauten gespannt auf die Szenerie.
»Ich warte«, sagte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich überlegte fieberhaft. Wenn die beiden sich weigerten, konnte ich nichts machen. Dann wäre von meiner Autorität nichts mehr übrig. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich mich gerade selbst in diese Situation gebracht hatte.
Doch Ahmed und Lea rührten sich nicht. Jetzt war der Fall eingetreten, den ich gar nicht haben wollte. Es gab Lehrkräfte, die so eine Auto rität ausstrahlten, dass Schüler ihnen gehorchten. Das war bei mir leider nicht der Fall. Ich musste mir also immer etwas einfallen lassen. Aber mit »Musterklasse« konnte ich den Neuntklässlern nicht kommen. 
Ich wandte mich an Lina und Zainab, die in der ersten Reihe saßen. Zainab war die Klassensprecherin. »Zainab, ich bin gleich wieder da. Hab bitte kurz ein Auge auf die Klasse und berichte mir dann, wer gestört hat.«
Zainab und die Mädchen neben ihr schauten erstaunt, nickten aber. Ich nahm mein Notenbuch und mein Handy und verließ die Klasse. Noch im Flur hörte ich das Gelärme.
Ich öffnete die Untis App und rief den Stundenplan der Klassenlehrerin Birgit auf. Aber wir hatten noch keine Absprache für so einen Fall getroffen. Und sie wirkte ohnehin immer so gestresst. Also suchte ich mir den Stundenplan von Frau Dahoff heraus. Sollte ich wirklich gleich die Schulleitung um Hilfe bitten? Sie hatte selbst Unterricht. Gerade eine Geschichtsstunde in Klasse 10. 
Vor der Klassenzimmertür der 10 a zögerte ich. Dann klopfte ich und öffnete sie einen Spalt breit. »Entschuldigung?«
Frau Dahoff saß am Pult und blickte erstaunt auf. Aber nicht unfreundlich. Also ging ich die paar Schritte zu ihr und flüsterte ihr zu, dass die Neuner gerade nicht zu bändigen waren.
Sie nickte und legte ihr Buch ab. »Ihr macht noch Aufgabe 4 und 5«, sagte sie zu den Zehntklässlern. »Schriftlich. Ich bin gleich zurück.«
Während ich zur Tür ging, ließ ich meinen Blick über die Schüler schweifen. Die arbeiteten friedlich.
Frau Dahoff rauschte vor mir den Gang entlang zu meiner Klasse. Als sie die Tür öffnete, wurde es augenblicklich mucksmäuschenstill. 
Sie stellte sich vorne hin, ich neben sie.
»Ahmed! Lea! Ihr kommt jetzt mit mir!« Ihre Stimme war gefährlich leise.
Die beiden standen sofort auf.
»Mit euren Deutschsachen«, ergänzte ich. »Ihr macht die Aufgaben weiter.«
Auch dieser Aufforderung folgten sie, ohne zu widersprechen. Dann verließ die Schulleiterin mit den beiden den Raum. 
Die Klasse war wie ausgewechselt. Wir hatten eine interessante Diskussion zum Thema. Lea gab mir am Ende der Stunde ausführliche schriftliche Aufgaben ab. 
»Das ist ja super«, lobte ich sie, als ich ihr Heft einpackte. »Dann kann ich heute ja auch einen positiven Vermerk im Notenbuch machen.«
Von Ahmed kamen gerade vier hingeschmierte Zeilen. Ich nahm den Zettel an mich. »Dann machst du nächste Stunde aber wieder besser mit.«
Er antwortete nicht darauf. Ich wusste, er würde sich nicht mehr anstrengen. Deutsch war nicht sein Fach. Dafür war er in Mathe gut, hatte ich gehört. Wichtig war mir in diesem Moment nur, dass die Form gewahrt war und der Schüler trotzdem die Aufgaben erledigt hatte.
Und wie leicht war es zu unterrichten, wenn die Schüler mitmachten. Auch wenn das unangenehme Gefühl blieb, dass ich mir hier die Autorität nur »geliehen« hatte. Aber ich hatte schon von Anfang an gewusst, dass ich nicht der autoritäre Lehrertyp bin. Wenn Schüler gar nicht wollten, brauchte ich ein unterstützendes System von außen. Und es sah so aus, als hätte ich das an der Wolkenheimer Realschule gefunden.
*
Am Freitag in der sechsten Stunde wollte ich in Philosophie meine Achtklässler für den Sinn des Lebens begeistern. Ein spannendes The ma, aber ich hatte die Befürchtung, dass meine dreiunddreißig Schüler zur späten Stunde nicht mehr aufnahmefähig sein würden. Deshalb hatte ich extra einen Film zum Thema ausgewählt. Dazu hatte ich ein eigenes Arbeitsblatt mit Fragen vorbereitet, damit die Schüler auch aufmerksam blieben. An meiner letzten Schule hatte das in solchen Fällen schon gut funktioniert. Aber hier tobten und lärmten die Schüler noch schlimmer, als ich es befürchtet hatte. Vor allem Simon und Omar brüllten wie die Irren. Meine Ermahnungen konnten sie gar nicht hören. Ich brach den Film schon nach den ersten Minuten ab. 
»Leider geht es nicht.«
Meine Ohren dröhnten. Ich schaute auf die Uhr. Noch fünfunddreißig Minuten. Wie sollte ich die durchstehen? Unterricht war nicht möglich. Im besten Fall konnte ich die Stunde retten, indem ich die Schüler einfach beschäftigte. »Dann holt ihr jetzt euer Philosophiebuch raus und schreibt den Text auf Seite 55 ab.«
»Wieso wir, wir haben nichts gemacht!« Der Protest kam von Dana. Tatsächlich waren die meisten Mädchen mir nicht störend aufgefallen, auch einige der Jungen hatten ihre Bücher ausgepackt und schauten mich frustriert an. Aber wenn ich den Rest der Stunde mit lauten Ermahnungen verbrachte, würden auch sie unter dem Lärm leiden. Die einzige Möglichkeit, für Ruhe zu sorgen, war eine stupide Abschreibaufgabe. Ich zückte mein Notenbuch und kündigte an: »Ich schreibe auf, wer mitarbeitet und wer nicht.« 
Zumindest in unteren Klassen funktionierte das immer recht gut, weil alle ein »Plus« haben wollten.
Aber die Hälfte der Schüler hatte hier noch nicht einmal das Philosophiebuch ausgepackt. Vermutlich hatten sie die Bücher gar nicht dabei und es war schlichtweg zu laut, um Nachforschungen zu betreiben. Dana hatte jetzt ihr Mäppchen aufgeklappt und starrte hinein. 
Sie hatte bestimmt ihr Handy dort drin. Felix saß trotz der Wärme mit Jacke und sogar hochgeschlagener Kapuze im Raum. Sicher hatte er seine In-Ear-Kopfhörer darunter versteckt. Eine Papierkugel flog durch den Raum und landete bei Jan auf dem Tisch. Mit hochrotem Kopf brüllte er ein »He!«, warf sie aber nicht zurück, sondern auf den Boden. Larissa machte Blasen mit ihrem Kaugummi. Das waren alles Verstöße gegen die Schulregeln, aber das Schlimmste war die Lautstärke. Simon, Felix, Omar und ihre Kumpels lachten und grölten und hatten schiere Freude daran, mal so richtig die Sau rauslassen zu können. Vor allem Simon. Er kippelte dabei mit dem Stuhl so weit nach hinten, dass die Stuhllehne gegen die Heizung stieß. Ich sah, wie er eine zusammengeknüllte Papierkugel in die Öffnungen der Heizung stopfte, und stellte mich vor ihn. »Simon!«
Doch der sah zu mir hoch und lachte laut. Ich beugte mich etwas herunter. »He! Was machst du?«
»Nichts!« Er starrte mich wütend an und deutete auf die Ecke, wo Felix und seine Freunde saßen. Dort flogen Papierkugeln hin und her. 
»Die haben mich abgeworfen!«
Ich fuhr herum. »Felix! Larissa! Lukas! Omar! Was ist los mit euch?«
Eine Papierkugel zischte an mir vorbei, etwas Hartes traf mich am Ohr. Dann fiel der Gegenstand nach unten. Ich bückte mich. Es war ein Kugelschreiber. »Wer war das?«
Aber ich sah nur eine tobende Masse um mich herum. Und die Jungen lachten, am lautesten dieser Simon. Völlig sinnlos, hier einen »Täter« identifizieren zu wollen. Ich müsste die halbe Klasse rauswerfen, aber das ging ja nicht. An manchen Schulen gab es einen separaten Trainingsraum, in dem eine Lehrkraft störende Schüler beaufsichtigte, doch das war immer eine Frage des Personals und des Geldes. 
Daher gab es an unserer Schule leider keine solche Möglichkeit.
Schon wieder die Schulleitung holen wollte ich nicht. Auch der Humor war mir gerade abhandengekommen. Ich beschloss, das hier über die Eltern zu regeln, denn es war ja eindeutig ein erzieherisches Problem. 
Während ich langsam durch den Klassenraum ging, schaute ich streng wie eine Polizistin mit meinem Notenbuch in der Hand auf die Schüler herunter. Es war so schade. Das Thema wäre spannend gewesen. Ich stellte mir selbst die Frage: Ist das hier der Sinn meines Lebens?
Der Raum sah aus, als hätte hier gerade eine wilde Party stattgefunden. Überall lagen Papierkugeln herum. Mein Schuh haftete kurz auf einer klebrigen Flüssigkeit. Eine Flasche lag umgekippt auf dem Boden und war ausgelaufen. Daneben entdeckte ich Reste von Chips und zerknüllte Packungen von Schokoriegeln und sogar eine Dose mit einem Energydrink. Kurz vorm Schellen hob ich die Hand und rief ins allgemeine Gemurmel: »Wir machen jetzt Schluss, damit ihr noch aufräumen könnt! Jeder ist für seinen Platz zuständig!«
Dann stellte ich mich schnell an die Klassenzimmertür, damit mir keiner der Schüler vorzeitig entwischen konnte. Ich war jetzt der Wachdienst und beobachtete, dass die wenigsten wirklich aufräumten. Stattdessen wurde es extrem laut. Ich sah Larissa, die schon wieder Blasen mit ihrem Kaugummi machte und sich mit Dana unterhielt. Ihre Stühle waren nicht hochgestellt. Auf den Tischen lagen noch Bücher und sogar Hefte. Ich trat zu ihnen. »Aufräumen hatte ich gesagt. 
Und die Stühle hochstellen!« Sie reagierten nicht.
Unter dem Tisch lagen mehrere Packungen von Süßigkeiten.
»Und den Müll aufheben.«
»Das war ich nicht«, protestierte Larissa.
Ich wollte wieder daran erinnern, dass jeder für seinen Platz zuständig war, da bemerkte ich, wie Omar, gefolgt von Felix, Simon und drei weiteren Jungen, an mir vorbeihuschte und die Tür öffnete. Ich hechtete ihnen nach. »Hey! Es sind noch zwei Minuten bis zum Schellen.«
»Die anderen Lehrer lassen uns auch immer eher raus!«, sagte er in anklagendem Ton.
Wahrscheinlich sagte er sogar die Wahrheit, aber streng genommen konnte das richtig Ärger geben, und zwar für mich. Deshalb blieb ich dabei: »Aber ich nicht!«
Er ging einfach an mir vorbei auf den Flur.
Ich folgte ihm nach draußen und stellte mich ihm in den Weg. Seine Freunde traten neben ihn, auch Simon. »Echt jetzt, nur Sie sind so streng!«
»Das sind die Schulregeln.«
Jetzt schellte es. Ich machte einen Satz zur Seite, als sich die Schüler durch den Flur drängten. 
Endlich war der Letzte gegangen und ich kehrte noch einmal in den Raum zurück. Dort stand völlig vereinsamt Jan mit dem Besen in der Hand. Er war der Ordnungsdienst, aber eigentlich zusammen mit Felix. Doch der war schon weg.
Umso mehr hatte Jan ein Lob verdient. »Oh, gut, dass du daran gedacht hast. Und Felix muss nächste Stunde fegen.« 
Ich ging zum Pult und machte mir eine Notiz in meinem Kalender. Dann packte ich meine Sachen zusammen, schloss die Fenster und räumte ein paar weitere Papierkugeln weg. Sogar Bücher lagen achtlos hingeworfen auf dem Boden. Ich hob ein Englischbuch auf, das aufgeschlagen dalag und bei dem die Ecken der oberen zwei Seiten herausgerissen waren. Und es waren bestimmt noch zehn Stühle nicht hochgestellt. Jan half mir dabei, das zu erledigen.
»Danke«, sagte ich.
Er nickte und ging. Von draußen hörte ich Geräusche und sah schon die Frau vom Putzdienst an der Klassenzimmertür.
Hastig griff ich nach meiner Tasche. »Ich bin gleich weg.« 
Ich musste mich beeilen, bevor sie mich im wörtlichen Sinne rauskehrte.
 Als ich gegen vierzehn Uhr ins Lehrerzimmer wankte, war niemand mehr da, der mich in meinem Frust trösten konnte. Und dann fiel mir mit Schrecken ein, dass ich auch noch Küchendienst hatte. Diese Aufgabe wurde alphabetisch eingeteilt und mit mir war Henriette Wolf an der Reihe. Aber Henriette hatte freitags frei, deshalb hatte ich ihr versprochen, mich um die Küche zu kümmern. 
In der Spüle türmten sich die Kaffeetassen. Ich öffnete den Geschirrspüler, aber fand noch das saubere Geschirr darin. Ich räumte es schnell in die Schränke und stellte die schmutzigen Tassen in die Maschine. Meine Uhr zeigte schon zwanzig nach zwei. Ich beschloss, jetzt direkt zum Kindergarten zu fahren. Sophie war um die Zeit ohnehin das letzte Kind, das abgeholt wurde. Yvonne war heute glücklicherweise nach der Schule zu einer Freundin gegangen, aber auch von da musste ich sie noch abholen.
Als ich die Kinder eingesammelt hatte und dann um sechzehn Uhr mit Kochen und dem Aufräumen meiner eigenen Küche fertig war, setzte ich mich an den Schreibtisch. Ich brauchte einen Kaffee. Ich war völlig erledigt und hatte noch keinen Unterricht für die nächste Woche vorbereitet, keine Mitarbeitsnoten aufgeschrieben und auch sonst noch nichts für die Schule getan. Aber ich musste die Schülereltern von meinem Philo-Kurs unbedingt noch informieren, damit sie erzieherisch auf ihre Kinder einwirkten – wie die Standardformulierung lautete. Wenn ich jetzt nichts unternahm, würde das den Rest des Schuljahres so weitergehen. 
Ich überlegte, ob ich die Eltern anrufen sollte. Mit unterdrückter Rufnummer war das auch von zuhause möglich. Aber ich war zu heiser und zu kaputt dafür. Nein, es war ohnehin besser, so etwas schriftlich festzuhalten, um diese Vorfälle in der Schülerakte zu haben. Damit wären auch die Klassenlehrer der 8 a und 8 b informiert – Gerd Gerting und Jennifer Felber. Ich schrieb also an die Eltern von Simon, Omar, Felix und Larissa.
Am Montag kam ich etwas früher und legte die Briefe in die Fächer von Gerd und Jennifer, denn die beiden mussten sie unterschreiben, ehe die Post abgeholt wurde. Dann ging ich ins Sekretariat und nahm mir die Ordner der 8 a und 8 b vor. Wie erwartet waren die Schülerakten von Simon, Felix und Omar prall gefüllt. Omar hatte schon eine Teilkonferenz hinter sich, weil er so gewalttätig war. Es hatte aber nicht viel gebracht. Da hatte Gerd noch Arbeit vor sich … In der großen Pause suchte ich nach Gerd und Jennifer, um ihnen von der Philosophiestunde zu berichten. Aber im Lehrerzimmer waren sie beide nicht. Ich hatte keine Zeit, auf sie zu warten, denn ich musste auf den Schulhof und stellte schnell die Tasche auf meinem Platz ab. 
Als ich zur Tür lief, kam mir Jennifer entgegen.
Das war die Gelegenheit, sie kurz zu informieren.
»Jennifer!«
Sie blieb stehen. »Was gibt’s?«
»Deine Schüler haben sich furchtbar aufgeführt, letzten Freitag bei mir in Philosophie. Vor allem Felix, Lukas und Larissa.«
Jennifer seufzte. »Ständig klagen die Kollegen über die drei.«
»Ich habe dir Elternbriefe ins Fach gelegt. Ich habe jetzt Aufsicht.« »Alles klar.« Jennifer drehte sich um und holte die Briefe aus ihrem Fach.
Im Vorbeilaufen schnappte ich mir den Toilettenschlüssel und lief auf den Schulhof. Vor den Toiletten drängten sich schon die Schüler.
»Tut mir leid, ich schließe euch jetzt auf.«
Die Schüler hasteten an mir vorbei. Ich blieb einen Moment an der Eingangstür stehen, obwohl mir von dem Gestank übel wurde. Aber die Schulleitung hatte darauf hingewiesen, dass die Hofaufsicht die sanitären Einrichtungen im Blick behalten sollte, denn unbeaufsichtigt hatten die Schüler schon einmal die Flüssigseife und das Klopapier überall verteilt.
Doch nach einigen Augenblicken wandte ich mich ab und holte erst einmal Luft. Puh. Ich sah Gerd über den Hof marschieren. Mit seiner Körpergröße von fast zwei Metern, dem weißen Hemd und der roten Krawatte fiel er sofort auf. Vermutlich trug er diese BusinessKleidung, weil er es von seinem vorherigen Job so gewohnt war. Jennifer hatte mir erzählt, dass er bis vor einigen Jahren in einem Forschungsinstitut gearbeitet hatte und erst mit Ende vierzig als Quereinsteiger Lehrer geworden war.
Während er mit ausholenden Schritten über den Schulhof marschierte, schaute er nach links und rechts und hatte anscheinend alles im Blick. Ein Stück weiter schlenderten Simon und Omar vorbei. Kollege Gerd war dicht hinter ihnen, so als ob er ihnen folgen würde.
Ich lief zu ihm hinüber, um ihn über die Philosophiestunde zu informieren. »Gerd?«
Er warf mir einen fragenden Blick zu.
»Simon und Omar haben am Freitag meinen Unterricht gesprengt.«   »Was genau ist denn passiert?«
Ich fasste zusammen, was in der Stunde gelaufen war, und fügte hinzu: »Jennifers Schüler übrigens auch. Ich habe jetzt Elternbriefe geschrieben.«
»Simon und Omar sind wirklich schwierig.« Er deutete nach vorn. 
»Deshalb bin ich gerade der pädagogische Kaugummi.«2
»Was?« Das hatte ich noch nie gehört.
Er setzte eine ernste Miene auf. »Wenn die Schüler die Regeln nicht einhalten, klebe ich an ihnen wie ein Kaugummi unter der Schuhsohle.«
Ich merkte, dass mir der Mund offen stand. Sicherlich war es für die Schüler sehr unangenehm, wenn eine Lehrperson ihnen buchstäblich auf den Fersen war.
»Und wie sind die bei dir im Unterricht?« 
»Da trauen die sich nicht«, erwiderte er leichthin. 
»Nicht?« Ich konnte mir das bei einer pubertierenden achten Klasse kaum vorstellen. Oder lag es an seiner Körpergröße? Er überragte auch den größten Schüler …
»Frau Wollnau«, sprach mich jetzt Merve von der Seite an. »Können Sie mir die Deutschhausaufgaben noch einmal erklären? Ich habe sie nicht verstanden.«
Mehrere Mädchen aus meiner Klasse umringten mich und während ich ihre Fragen beantwortete, beobachtete ich, wie Simon und Omar weiter über den Schulhof schlichen. Sie warfen Gerd verstohlene Blicke zu, der tatsächlich wie ein Kaugummi an ihnen klebte und gleichzeitig so tat, als würde er seine Aufmerksamkeit auf den gesamten Schulhof richten. Eine blöde Methode. Aber sie funktionierte.
*
In der letzten Septemberwoche stand die Klassenfahrt an. Ich ging noch kurz ins Lehrerzimmer. Auf dem Tisch an meinem Platz lag ein Brief. Ich öffnete ihn und fand eine Seite getippten Text von Simons Eltern vor.
»Die Lehrerin war offensichtlich mit der Situation überfordert«, schrieben sie. »Warum darf denn unser Sohn auf einmal nicht mehr lachen? Wir fordern die Schule auf, die ausgesprochene Verwarnung wieder zurückzunehmen!«
Was soll das denn? So kommen wir nicht weiter, dachte ich. Die Eltern waren in der Stunde nicht dabei gewesen. Wenn sie jetzt das Fehlverhalten ihres Sohnes noch unterstützten, würde sich nichts ändern. Aber was regte ich mich auf? Ich hatte einfach nur meinen Job erledigt, und zwar so gut es angesichts dieser Umstände möglich war.
Und jetzt brauchte ich Mut und Zuversicht und keinen Elternbrief, der mich nur runterzog. Selbstzweifel konnte ich gerade gar nicht gebrauchen. Ich hatte ohnehin ein wenig Sorge, weil es meine erste Klassenfahrt als Lehrerin war. Vor der Elternzeit hatte ich zwar noch eine Fahrt geplant, aber bevor sie stattfand, war ich in Mutterschutz gegangen. An der neuen Schule schwieg ich lieber darüber. Es war nicht immer so klug, vermeintliche Defizite im Lehrerzimmer auszubreiten. Das hatte ich schon an meiner alten Schule so erlebt. Besser war es, mit Leuten zu sprechen, denen man vertraute.
Dennis schaute mich fragend an.
Ich seufzte tief. »Ach, mein Philosophie-Kurs!« Demonstrativ legte ich den Brief zur Seite. »Das ist mir zu blöd!«
Dennis war ein Kollege, den ich für vertrauenswürdig hielt, aber wenn ich dieser Sache jetzt Raum gab, würde sie noch schwerwiegender werden. Und ich wollte mich auf die vor mir liegende Aufgabe konzentrieren. Deshalb drehte ich mich auf dem Absatz um und eilte zur Bushaltestelle, wo meine Klasse wartete.
Drei Tage in Haltern am See. Meine Vorgängerin Carla Tarinov hatte die Klassenfahrt gebucht und komplett vorbereitet, ehe sie in Elternzeit gegangen war. Das ersparte mir all die Planungen, den Elternabend und das Kontrollieren der Zahlungseingänge.
Ich musste mich allerdings um eine Betreuung für meine eigenen Kinder kümmern. Sebastian konnte gerade diese Woche nicht freinehmen. Also bat ich meine Eltern, aus der Ferne anzureisen und die Tage bei uns zu wohnen. Denn auch als Teilzeitkraft wurde von mir der gleiche zeitliche Einsatz verlangt wie von einer Vollzeitkraft, allerdings für das halbe Gehalt. Ich hatte Monika nach einem Ausgleich gefragt und sie hatte geantwortet: »Theoretisch hast du die Möglichkeit, die Zahl der Klassenfahrten zu reduzieren.« Sie hatte mich nachdenklich angesehen. »Aber das hat bei uns noch niemand so gemacht.«
Ein weiteres Problem war, dass mir auf der Fahrt ein männlicher Lehrer fehlte. Ich hatte überlegt, Erik zu fragen. Der große blonde Kollege war mir sympathisch und er unterrichtete Mathe in meiner Klasse. Doch meine Kollegin Beate war schneller gewesen und hatte ihn zuerst gefragt. Und so fuhr er offiziell für die Parallelklasse, die 6 b, mit. Beate und ich mussten uns den einzigen männlichen Lehrer quasi teilen, aber mehr Kollegen standen nicht zur Verfügung. Und ich war ja selbst noch nicht bei jemandem mitgefahren, der mir jetzt wiederum diesen Gefallen erweisen würde. Also sagte ich mir: Das wird schon gehen.
Wir stiegen in den Bus. Das Wetter war gut und die Stimmung ebenfalls. Nachdem wir in der Jugendherberge unsere Zimmer bezogen hatten, versammelten wir uns im Aufenthaltsraum. Ich folgte dem Beispiel von Beate und Erik und rief meine Klasse dort zusammen, um einige Regeln zu besprechen, bevor wir dann zum Stausee aufbrachen. 
Beim Tretbootfahren hatten wir Spaß. Es ging sportlich weiter: Im Kletterwald bewiesen alle Geschick. 
Am späten Nachmittag führten wir mit den Schülern eine Stadtrallye in der Halterner Altstadt durch. Danach durften die Schüler in Kleingruppen die Stadt erkunden, während Erik, Beate und ich uns ins Eiscafé setzten. Lisa und Merve schlenderten mit einem Eis in der Hand an uns vorbei und winkten uns zu. Die Klassenfahrt ist ja sogar recht schön, stellte ich überrascht fest.
Bei den kooperativen Spielen am Abend fielen Anna und Jonas als gutes Team auf. Man sagt zu Recht, dass Klassenfahrten die Klassengemeinschaft stärken.
Vermutlich waren meine Schüler nach so viel Programm müde, denn sie gaben gegen Mitternacht Ruhe.
Stattdessen lärmten die Schüler der anderen Schulen bis tief in die Nacht im Gebäude herum. Deren Lehrer saßen auf Bänken in den Fluren und hielten Wache. Ich war froh, dass wir von der Wolkenheimer Schule uns gegen Mitternacht ins eigene Zimmer verabschieden konnten.
Am nächsten Morgen hörte ich schon vor sieben Uhr Lärm aus dem Jungenzimmer. Ich streckte den Kopf aus dem Fenster und erblickte Can, der ebenfalls hinaussah und zu mir rüberrief: »Dürfen wir raus, Fußball spielen?«
Das Wetter war warm und sonnig und der Kunstrasenplatz direkt vorm Haus. »Ja, seid nur pünktlich um acht im Frühstücksraum!«
Zu meinem Erstaunen füllte sich der Fußballplatz wirklich um diese frühe Uhrzeit mit einigen Kindern aus meiner Klasse, aber auch mit denen von anderen Schulen. Ich sah Can, Yusuf, Silas und Kaan. Und auf dem Beachvolleyballfeld entdeckte ich zwischen fremden Mädchen Lena, Fatma, Emilia, Ecrin, Merve und Carolin.