Unterwegs – Sein – Erleben - Vera Roedder - E-Book

Unterwegs – Sein – Erleben E-Book

Vera Roedder

0,0

Beschreibung

Mit dem Rad von der Haustür bis nach Santiago de Compostela Vera Roedder begibt sich gemeinsam mit ihrer Partnerin und einer Freundin auf ein besonderes Pilgerabenteuer. Sie beschreibt in ihrem Reisebericht die Höhen und Tiefen dieser zweimonatigen Fahrradreise an europas Küsten entlang. Auf diese Weise durchqueren die Frauen insgesamt fünf Länder mit ihren verschiedenen landschaftlichen Besonderheiten und erfahren, wie es ist, zu jeder Tages- und Nachtzeit dem Wetter ausgesetzt zu sein. Neben der extremen körperlichen und mentalen Herausforderung erleben sie unterwegs immer wieder unglaubliche, fast magische Überraschungen sowie die Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit der Menschen auf allen Ebenen. Diese Reise ist nicht nur ein soziales Spendenprojekt, sondern gleichzeitig ein Leben im Minimalismus, der Weg zu vielen Erkenntnissen und ein Lehrstück, das Prinzip »Leben« besser zu verstehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 200

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Unterwegs – Sein – Erleben

3.786 Kilometer von Norddeutschland nach Spanien

1. Auflage, erschienen 7-2022

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Vera Roedder

Layout: Romeon Verlag

ISBN: 978-3-96229-695-7

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Vera Roedder

UnterwegsSein Erleben

3.786 KILOMETER VON NORDDEUTSCHLAND NACH SPANIEN

INHALT

Das Pilgern im Blut

Eine neue Idee

Buen Camino!

Abschnitt Deutschland: 348 km in sechs Tagen

Abschnitt Niederlande: 8 Tage und insgesamt 885 km

Abschnitt Belgien: 1 Tag und circa 86 km

Vier Wochen und circa 2.000 Kilometer radeln wir entlang der französischen Küsten

Auf dem Weg zum heiligen Michael

Bonjour Bretagne!

Tag 29, Bergfest und die magischen 2.000

Hitzewelle

Wer weiß, wofür das gut ist.

Auf dem Weg nach Saint Nazaire

Bretagne ade, bonjour Vélodyssée!

Strandmenü, Plumpsklo und Gezwitscher

Wind, Wüste und Wärme

Fährüberfahrt und immer auf den letzten Drücker

Tag 41 und zwei unglaubliche Überraschungen

Abstecher zum Mützenfrettchen

Die letzten Kilometer in Frankreich

Hola España!

Bilbao und das Ende des Baskenlandes

Gewitter liegt in der Luft.

Großer Schock!

Fototapete

Tiefpunkt

Neue Kraft

Eine gute Seele

Wunsch erfüllt

Pilgergemeinschaft

Ketchup-Phänomen

»Hundeangriff«

Durchgebissen

Letzter Tag – Zielgerade

Licht und Schatten

Trennung

Gesegnet

Zuhause

Dank

VON NORDDEUTSCHLAND NACH SANTIAGO DE COMPOSTELA

Vera Roedder ist ein echtes Nordlicht. Sie ist geboren am 16.08.1978 in Rendsburg und aufgewachsen in dem „Künstlerdorf“ Wallen in Dithmarschen (Schleswig-Holstein).

Ihr beruflicher Werdegang begann schon in künstlerischer Form mit der Ausbildung zur Malerin. Es folgten der Meisterbrief und das Fachstudium zur Farbtechnikerin. Sie arbeitete viele Jahre selbstständig und spezialisierte sich auf besondere Gestaltungstechniken und Illusionsmalerei. 2011 gab es eine berufliche Neuorientierung und sie entschied sich, ihr musikalisches Talent zu nutzen und zu ihrem Hauptberuf zu machen. 2012 absolvierte sie dann die Ausbildung zum Certified POWERVOICE Vocal Coach. Seitdem leitet sie ihre eigene Gesangschule.

2019 entdeckte Vera das Pilgern erstmals für sich und ging erstmals den 850 km langen »Camino del Norte« an Spaniens Nordküste.

DAS PILGERN IM BLUT

»Und wenn du mal auf dem Jakobsweg pilgern möchtest, dann nimm die Jakobsmuschel von Omi mit!«, hörte ich die Stimme meiner Tante hinter mir. Dieses Thema kam für mich in diesem Moment wie aus heiterem Himmel. Verwundert drehte ich mich zu ihr um und antwortete mit leichter Abwehr: »Dafür braucht man doch aber einen guten Grund und dieser Weg muss einen doch auch herbeirufen, oder? Außerdem pilgern doch alle dort auf dem Camino Frances, da ist mir viel zu viel los.« Ich stellte mir diese Pilgermassen vor, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte und alles sträubte sich innerlich gegen diesen Vorschlag. Meine Tante bestätigte meine Aussage mit einem Lächeln und schlug mir sofort den Küstenweg (Camino del Norte) an Spaniens Atlantikküste vor. Bislang gilt dieser Weg noch als sehr wenig frequentiert. Nur circa 6 % aller Pilger gehen diesen Weg und er soll deutlich herausfordernder sein als der Camino Frances, der seit 2006 durch Hape Kerkelings Reisebericht (»Ich bin dann mal weg«) erst richtig bekannt wurde. Er pilgerte 2001 auf dem Frances nach Santiago de Compostela, aber meine Omi pilgerte diesen Weg bereits circa 25 Jahre zuvor. Zu dieser Zeit war der Frances noch gar nicht so ausgebaut wie heute und es gab auch längst nicht so viele Herbergen. Hinzu kommt, dass meine Omi Helene damals schon fast 70 Jahre alt war! Dieses besondere »Pilger-Gen« ist im Übrigen sowohl an meine Tante weitergegeben worden, die auch den Frances ging, als auch an meinen Vater, der bereits nach dem Abitur mit dem Fahrrad durch Norwegen fuhr und später durch die Wildnis von Lappland wanderte. Ich gebe zu bedenken, dass es damals noch keine Ultra-light-Ausrüstung gab und schon gar keine Trekking-Bikes oder E-Bikes. Jedenfalls hatte Omi damals von ihrem Weg eben diese Jakobsmuschel mitgebracht, die auch meine Tante auf ihrer Pilgerreise als Schutzschild um den Hals begleitete.

Bereits eine Woche nach dem Gespräch mit meiner Tante, saß ich nun tatsächlich mit zitterndem Finger an der Maustaste vor meinem Computer, um die Flüge nach Spanien und zurück zu buchen. Sie hat mich schon oft mit ihrem besonderen Spürsinn auf den richtigen Weg gebracht, und dieses Mal sogar ziemlich schnell. Ich hatte den Entschluss gefasst, an meinem Geburtstag in diesem Jahr (2019) in Santiago de Compostela ankommen zu wollen, und buchte deshalb den Rückflug für den Tag danach. Nachdem ich endlich abgedrückt hatte, lehnte ich mich zurück, atmete erleichtert aus und versuchte zu verstehen, was ich da gerade getan hatte. Es erschien mir alles noch sehr unwirklich und weit weg. Insgesamt sechs Wochen würde ich mit mir selbst auf dem Camino del Norte wandern und das Alleinsein üben. Davor hatte ich am meisten Respekt, vor dem Alleinsein. Aufgrund meiner privaten Lebenslage, die zu diesem Zeitpunkt von Traurigkeit dominiert wurde, schien der Weg mich wirklich gerufen zu haben, nur hatte ich diesen Ruf vor dem Gespräch mit meiner Tante noch nicht wahrgenommen. Ich war mir sicher, auf dieser ersten Pilgerreise würde ich reichlich Gelegenheit haben, meine Vergangenheit zu verarbeiten, tolle neue Begegnungen zu machen und viele Erfahrungen und Erkenntnisse zu sammeln. Die tiefgehendste Erkenntnis auf dieser Reise war für mich: Der Weg gibt uns immer das, was wir am meisten brauchen. Seitdem versuche ich, mich im Alltag oft daran zu erinnern, an das Vertrauen in das Leben. Denn selbst in den dunkelsten Stunden scheint irgendwo ein kleines Licht, ein Licht der Hoffnung, das uns stärkt und die nötige Kraft gibt. Oder wir gelangen manchmal auf unangenehmen Umwegen zu unserem Glück. Das ist mir auch schon oft genug im Leben widerfahren. Und dann erkennen wir erst im Nachhinein, wie das Leben gemeint ist.

Am Ende meiner ersten Pilgerreise, auf der ich zu Fuß von Irún bis nach Santiago und darüber hinaus sogar bis nach Fiisterra wanderte, wurde ich direkt auf die größte Probe gestellt. All meine erworbenen Erkenntnisse dieser Reise wurden bereits auf dem Heimweg überprüft: Am Morgen, auf dem Weg zum Flughafen, trennte ich mich zuallererst von all den Sachen, die ich nicht wieder mit nach Hause nehmen wollte, und versenkte sie in einer Plastiktüte verpackt feierlich in einem Müllcontainer am Straßenrand. Von meinem heiligen Wanderstock, den ich in den ersten Tagen am Wegesrand gefunden hatte und in den ich insgesamt 43 Tagesringe geschnitzt hatte, und von meinem original kantabrischen Taschenmesser für 6,00 € wollte ich mich noch nicht trennen, da diese zwei mir sehr hilfreiche Wegbegleiter waren. In meiner neu erworbenen Pilgernaivität dachte ich auch nicht darüber nach, dass diese beiden waffenähnlichen Gegenstände vielleicht ein Problem beim Fliegen darstellen könnten. In vollstem Vertrauen ging ich – ohne auf die Uhr zu schauen – zum Busbahnhof, um zum Flughafen zu fahren. Am Flughafen in Santiago musste ich meinen Wanderstock als Gepäckstück aufgeben und das kleine Taschenmesser in meinem Rucksack kam ohne Probleme durch die Kontrolle. Als ich allerdings beim Umsteigeprozess in London Heathrow erneut durch die Kontrolle musste, mir durch das Warten in der langen Schlange die Zeit zum Umsteigen knapp wurde und die Kontrollbeamten immer lauter riefen, um die Leute zurechtzuweisen, wurde ich immer nervöser. Ich hatte keine Zeit mehr, um den Wanderstock erneut aufzugeben, und spielte auf Risiko. Entweder das Ding dürfte nun mit oder es müsste eben hier bleiben. Immer wieder murmelte ich mein Mantra (»Alles wird gut laufen und ich bleibe im Vertrauen.«), während ich mich in der Warteschlange auf meinem Stock abstützte. Mein Herz klopfte und ich hatte das Gefühl, die Leute wollten mir mit ihren Blicken sagen, dass sie sehr bezweifeln würden, ob ich dieses Ding als Handgepäckstück mit ins Flugzeug nehmen dürfe. Endlich war ich an der Reihe! Ich ging strahlend auf den Beamten zu, hielt meinen Wanderstock hoch und fragte, ob ich ihn mitnehmen dürfte. Er zögerte einen Moment und wollte ihn sich genauer ansehen. Sofort erklärte ich, dass dies mein heiliger Wanderstock sei, der mich nun seit 1.000 Kilometern begleitet hatte. Erstaunlicherweise nahm er sich die Zeit, ihn sich genauer anzusehen und zu bewundern. Er reichte ihn sogar seinem Kollegen, der mich fragte, wo ich denn gewandert sei. Begeistert fing ich an zu erzählen, obwohl die Schlange hinter mir immer länger und länger wurde und ein unglaubliches Gewusel und Ungeduld herrschte. Nach der kleinen Unterhaltung erlaubten mir die beiden Beamten tatsächlich, den Stock mitzunehmen. Doch plötzlich sah ich, wie mein Rucksack auf dem falschen Band an mir vorbeifuhr. Ein Schreck durchzog mich, als mir klar wurde, dass sie das Messer entdeckt haben könnten. Wieder musste ich anstehen und die Zeit lief mir davon. Nach einer gefühlten Ewigkeit war ich endlich an der Reihe. Die Beamtin fragte, ob ich irgendetwas scharfes oder spitzes in dem Rucksack hätte. Als sei es mir in diesem Moment gerade eingefallen, antwortete ich: »Oh! Ja, ein kleines Taschenmesser.« Ich sollte es selbst herausholen und ihr geben. Mir wurde heiß und kalt. Sie klappte es auf und maß die Klinge nach. Ergebnis: zwei Millimeter zu lang. Als sie mein scheinbar verzweifeltes Gesicht sah, rief sie ihren Kollegen herbei. Dieser maß auch noch mal nach und bestätigte, die Klinge wäre zu lang. Ich weiß nicht, wie ich geguckt hatte, aber nach kurzem Zögern sagte er: »O. k., wir machen eine Ausnahme, du darfst das Messer mitnehmen.« Tränen schossen mir in die Augen und ich bekam nur ein gequetschtes »Thank you« aus mir heraus. Gerührt und glückseelig eilte ich zum Boarding Gate und der Stresspegel stieg nochmals schlagartig an, da ich Mühe hatte, mich durch die Menschenmassen zu kämpfen. Gerade noch rechtzeitig schaffte ich es, dort zu sein. Der Kontrolleur schaute erst mich an, dann meinen Wanderstock und zog die Augenbrauen hoch. Ich zuckte unschuldig mit den Schultern. Ich dachte mir, wenn ich es bis hierhin geschafft hatte, was sollte denn jetzt noch schiefgehen. Zu meinem Glück und Erstaunen ermahnte er mich nur und forderte mich auf, den Stock bei der Gepäckcrew zu melden. Dann ließ er mich passieren. Beim Flugzeug nahm niemand Notiz von mir, also stieg ich einfach ein. Keiner sagte etwas, nur ein Pärchen in der ersten Reihe fing an, über meinen Stock zu tuscheln. Ich nahm Blickkontakt zu ihnen auf und dann fingen wir gemeinsam an zu lachen. Als endlich alles verstaut war, ich auf meinem Platz saß und die Maschine sich langsam in Bewegung setzte, fiel die ganze Anspannung von mir ab und ich musste schmunzeln. Unglaublich! Ich war mit zwei potenziellen Waffen im Handgepäck auf einem der strengsten Flughäfen durch die Kontrolle gekommen. Das nenne ich Camino-Magie!

Noch auf dem Rückflug nach Hause schwelgte ich in Erinnerungen. Auf dieser ersten Pilgerreise zu Fuß, hatte ich sehr viele interessante Begegnungen mit Menschen gemacht, mit denen ich auf wertfreier und neutraler Ebene meine Gedanken und Gefühle austauschen konnte. Eine ganz besondere Begegnung erlebte ich mit Marius, der sich nach zwei Tagen als katholischer Priester entpuppte. Unsere spirituellen Gespräche durchliefen viele verschiedene Gedankenkonzepte, Religionen und Glaubensrichtungen. Er wollte sogar mehr über den Buddhismus von mir wissen. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, dass er ein Priester sei. Es rührte mich zu Tränen, als er sich mir gegenüber als solcher outete. Auf so einem Pilgerweg ist der Beruf auch nicht wichtig. Nicht einmal der Name steht im Fokus. Oft unterhält man sich stundenlang mit einem Fremden und trennt sich wieder, ohne den Namen der/ des anderen zu kennen. Hier ist man einfach nur ein Mensch und alle anderen auch. Alle tragen ihr Hab und Gut auf dem Rücken, alle schlafen in Herbergen in Doppelstockbetten, man teilt sich den Schlafraum, das Bad, die Küche, den Weg, Freud und Leid. Sogar dasselbe Ziel teilt man sich mit all den anderen Pilgern, wobei das innere Ziel eines jeden Menschen natürlich ganz individuell ist. Auf einem Pilgerweg sind alle Menschen gleich. Vielleicht sollten alle Staatsoberhäupter dieser Erde einmal gemeinsam auf eine solche Pilgerreise gehen. Dann wäre unsere Welt möglicherweise ein bisschen friedlicher. Der Gedanke daran, dass Angela Merkel und Wladimir Putin sich ein Doppelstockbett teilen, bringt mich zum Lachen.

Eine weitere schöne Begegnung hatte ich mit Dimitrii, den ich auf meiner Pilgerreise immer mal wieder traf. Selbst, als er versehentlich auf einen anderen Camino wechselte, den Camino Primitivo, trafen wir uns nach drei Wochen wieder, nachdem ich an meinem Geburtstag aus Fisterra nach Santiago zurückkam. Ich lud ihn ein, an diesem Abend mein Gast zu sein. Nach dem Essen, um kurz vor Mitternacht, legten wir uns auf die noch warmen Steine vor die Kathedrale und schauten in den klaren Himmel. Die wunderschöne, beleuchtete Fassade erstreckte sich über unseren Köpfen in die dunkle Nacht. Das war der perfekte Abschluss meiner Reise und auch meines Geburtstags. Marieke und Matteo werde ich auch immer als besondere Begleiter in Erinnerung behalten, denn wir gingen die letzten zwei Wochen fast täglich zusammen und erlebten gemeinsam Höhen und Tiefen. So ergab es sich, dass wir am Ende tatsächlich zu dritt in Santiago eintrafen. Und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, auch dieses Erlebnis mit mir alleine zu teilen, war ich in diesem Moment froh, dass die beiden beim Ankommen bei mir waren.

Das Alleinsein lernte ich auf dieser Reise trotzdem, genauso wie das Vertrauen zu bewahren und neue Situationen anzunehmen. Ich stärkte meinen Mut und konnte Altes loslassen. Schnell waren die schmerzenden Füße, nein, die Schmerzen im gesamten Körper vergessen und ich erinnere mich heute nur noch an sie wie an sanfte Schatten vorbeiziehender Wolken, die von warmen, hellen Sonnenstrahlen durchzogen sind. Nur die schönen Gefühle bleiben in der Erinnerung verankert. Ich würde es als Grenzerfahrung beschreiben, denn nur wenn wir unsere Komfortzone verlassen, dürfen wir innerlich wachsen. Das ist ein Geschenk. Ich hatte auf meinem Weg zwischendurch Angst und mich verließ auch mal der Mut. Ich war verzweifelt und traurig. Ich taumelte und verletzte mich am Zeh. Der sogenannte »Camino-smell«, bestehend aus dem Schweißgeruch aller Pilger, ausgehend von der Kleidung, den Schuhen, dem Rucksack und den Füßen, gepaart mit dem Hauch von Minze, die sich in der Hirschhorntalgsalbe für die Füße befindet, raubte mir fast den letzten Atem. Das laute Geraschel und das Schnarchen der anderen Pilger setzte mir zusätzlich zu. Aber eins kann ich mit Sicherheit sagen: Ich würde es immer wieder tun! Denn all diese Nebendarsteller verlieren in der Erinnerung schnell ihre Bedeutung. Was bleibt, sind die traumhaften Bilder der Landschaft, das Gefühl des Ankommens, die Verbundenheit mit der Natur, die lustigen, schönen Momente und Begegnungen. Das einfach nur Mensch sein. Selbst die schrecklichen Momente wirken im Nachhinein manchmal amüsant.

Zuhause angekommen stellte ich meinen heiligen Wanderstock und meinen Rucksack in die Ecke und wusste genau: Das wird nicht meine letzte Pilgerreise gewesen sein.

EINE NEUE IDEE

Als ich knapp ein Jahr später das Geräusch der Gummireifen auf dem sandigen Feldweg und das Zwitschern der Vögel hörte, die Sonnenstrahlen mich in der Nase kitzelten und gleichzeitig mein Gesicht wärmten, ich den Duft der Natur und das Gefühl von Freiheit wahrnahm, lösten diese Aspekte einen intensiven Gedanken und Wunsch in mir aus. Ich war gerade mit Uta unterwegs, einer langjährigen, sehr guten Freundin. Wir machten mal wieder eine mehrtägige Fahrradtour durch Schleswig-Holstein. »Ich möchte mit dem Fahrrad von meiner Haustür bis nach Santiago de Compostela radeln – für einen guten Zweck«, entfuhr mir dieser Gedanke plötzlich. »Da komme ich mit!«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Sofort löste der Gedanke einer Fahrradreise zu zweit ein wohliges Gefühl in mir aus. »Au ja!«, entgegnete ich ihr. In diesem Moment war die Idee einer neuen Pilgerreise geboren und am liebsten wären wir gleich losgefahren.

BUEN CAMINO!

Zwei Jahre nach meinem ersten Camino, Anfang August 2021, ist es endlich so weit. Allerdings sind wir nun sogar zu dritt: In der Zwischenzeit habe ich meine neue Partnerin Josephine kennengelernt, die ich mit meiner Idee ebenfalls anstecken konnte und die gern mitreisen möchte. Nach vielen Tagen und Wochen der Planung und Vorbereitung kann es endlich losgehen. Der Reise-Blog steht, die regionale Zeitung ist informiert und der Spendenzweck ist klar: Alle Einnahmen dieser Aktion gehen zu 100 % an das Hospiz in Meldorf, um ein Hospiz-Gebäude für die stationäre Behandlung der Patient*innen zu errichten. Meldorf liegt in Schleswig-Holstein im Kreis Dithmarschen, genauso wie Pahlen, das Dorf, in dem ich lebe.

ABSCHNITT DEUTSCHLAND: 348 KM IN SECHS TAGEN

»Heute ist es endlich so weit«, schießt es mir durch den Kopf. Mein Herz schlägt schneller. Hastig springe ich aus dem Bett und laufe zum Fenster, um die Wetterlage zu checken. Es ist immerhin trocken. Ich seufze zufrieden, dann gehe ich in die Küche und widme mich dem luxuriösen Umstand, einen Kaffee mit einer Kaffeemaschine zu kochen und diesen dann gemütlich mit Josi im Bett zu genießen. Auf diese und weitere Annehmlichkeiten werden wir wohl für die nächsten zwei Monate verzichten müssen. Ein Grund mehr, diesen Moment vollends auszukosten. Pünktlich um zehn Uhr ist alles fertig verpackt und vorbereitet. Meine Familie und immer mehr gemeinsame Freunde von uns dreien versammeln sich vor meinem Haus und es ist eine ausgelassene Stimmung. Sie sind alle gekommen, um uns zu verabschieden und Glück zu wünschen. Mit so viel Aufmerksamkeit haben wir gar nicht gerechnet, denn eigentlich hatten wir uns in den vergangenen Tagen schon von allen verabschiedet. Selbst einige Dorfbewohner hatten uns tags zuvor spontan eine gute Reise gewünscht, als wir zum letzten Räder-Check auf dem Weg zur Fahrradwerkstatt in Pahlen waren. Da der große Zeitungsbericht zu unserer Spendenaktion am Tag davor veröffentlicht wurde und darauf auch die Zurufe der Dorfbewohner basierten, kamen wir uns in dem Moment schon fast ein bisschen wie kleine Dorfberühmtheiten vor.

Als auch Uta um kurz nach zehn Uhr bei uns eintrifft, wird sie von uns allen mit jubelndem Beifall begrüßt. Anschließend machen wir uns alle gemeinsam auf zum 200 m entfernten Ortsausgang von Pahlen. Ich hänge die Jakobsmuschel von Omi gut sichtbar an meine Lenkertasche. Die kleine Fahne mit allen europäischen Flaggen, die ich gerade noch geschenkt bekommen habe, stecke ich hinten in meine Seitentasche, sodass sie im Fahrtwind wehen kann. Außerdem bekommen wir auch noch drei kleine Sonnenblumen als Glücksbringer von einer Freundin überreicht. Für das Ortsschild habe ich noch ein weiteres Schild gebastelt – »Santiago de Compostela circa 3.600 km« und zwei große Pfeile nach oben in die Richtung, in die wir fahren wollen, das wir für unseren feierlichen Start an dem Pahlener Ortsschild befestigen. Zum Abschluss werden nochmals alle reihum umarmt. Dann kann es endlich losgehen! Der Moment, in dem wir Pahlen hinter uns lassen, fühlt sich sehr unwirklich an, sodass Wehmut und Freude gleichermaßen in mir aufsteigen. Fast 4.000 km liegen nun vor uns, unsere Heimat gerade einmal

400 m hinter uns. Eine ganze Weile begleiten uns noch die vertrauten Stimmen, bis wir um die Kurve fahren. Im sieben Kilometer entfernten Tellingstedt halten wir noch kurz bei unserem befreundeten Friseur, dem wir im Vorfeld bereits mehrfach von unserem Vorhaben erzählt hatten. Als er mit seiner Frau aus seinem Laden kommt und uns sieht, ist er sichtlich überrascht und fragt: »Fahrt ihr jetzt etwa los?« Wir bejahen mit leuchtenden Augen und er sagt etwas gerührt: »Jetzt bekomme ich eine Gänsehaut.« Die beiden verabschieden uns herzlich und geben uns weitere gute Wünsche mit auf den Weg. Im strahlenden Sonnenschein, mit guter Laune, radeln wir weiter durch den Ort, da sehe ich plötzlich meine andere Tante auf dem Balkon ihrer Wohnung sitzen, die uns aufgeregt zuwinkt und natürlich lauthals eine gute Reise wünscht. Die gesamte Abschiedszeremonie zieht sich nun schon fast eine Stunde hin und ich spüre, wie stärkend all diese positive Energie und das Wohlwollen unserer liebsten Mitmenschen auf mich wirken. Beim Blick in die Gesichter von Uta und Josi sehe ich, dass es ihnen ebenso ergeht. Als wir den Ort verlassen, sind wir gefühlt endlich wirklich auf dem Weg. Erst langsam realisiere ich, welches Abenteuer nun auf uns wartet. Gerade, weil wir heute noch auf vertrauten Wegen und in vertrauter Umgebung unterwegs sind, kommt es uns eher vor, als wären wir auf einem Kurztrip durch Schleswig-Holstein unterwegs. Doch schon in dem nur dreißig Kilometer entfernten Café »Kanal 33« am Nord-Ostsee-Kanal, treffen wir auf zwei französische Fahrradpilger. Ich spreche sie an und sie erzählen uns, dass sie von Paris nach Norwegen unterwegs sind. Wir staunen nicht schlecht und erzählen von unserem Vorhaben. Nach einem kurzen Austausch machen wir noch voller Stolz gemeinsam ein Erinnerungsfoto mit ihnen. Darauf folgend werden wir von zwei interessierten Gästen angesprochen, die neben uns in dem hübschen Garten des Cafés sitzen und uns scheinbar beobachtet haben. Nach ungläubigen Blicken und Fragen, geben wir ihnen eine Visitenkarte mit dem QR-Code zum Reiseblog und bestärken die beiden darin, unser Projekt zu verfolgen und zu unterstützen. Zu guter Letzt scheinen wir sie doch überzeugt zu haben und auch sie wünschen uns viel Glück auf unserer Pilgerfahrt. Wir spüren deutlich, dass wir von all den guten Wünschen getragen und begleitet werden und so radelt es sich gleich viel leichter. Zwei Stunden später, am frühen Abend, erreichen wir unser erstes Ziel: Brunsbüttel. Hier dürfen wir in der Ferienwohnung eines Bekannten übernachten und werden sogar von ihm und seiner Frau verköstigt und rundum versorgt. Kaffee im Bett gibt es am nächsten Morgen zwar nicht, aber dafür kochen wir am Abend zusammen und werden zum Start in den Tag mit einem leckeren, stärkenden Frühstück beglückt. Das ist ein sehr angenehmer Beginn dieser Reise und wir erkennen den Luxus, das Glück und das Privileg, das wir genießen dürfen!

Der Himmel des heutigen Morgens ist ziemlich durchwachsen, dennoch kommen wir trockenen Fußes und Rades zur Fähre, die uns nach Cuxhaven bringt. Während der Fahrt werfen wir die drei Sonnenblumen, die wir zum Start bekommen hatten, vom Deck der Fähre ins Wasser und wünschen uns, dass die Sonne uns am Meer immer begleiten möge. Dieser Wunsch wird sich leider in den nächsten acht Wochen nicht immer erfüllen, aber trotzdem häufig genug. Beim Anleger in Cuxhaven dreht sich die Fähre plötzlich mehrfach um sich selbst, weil scheinbar ein Ruder ausgefallen ist. Alle Passagiere werden aufgefordert, das Deck zu verlassen und sich wieder nach drinnen zu begeben. Helle Aufregung entsteht. Was ist los? Etwas beunruhigt beobachten wir gemeinsam mit den anderen Passagieren das Manöver. Nach einer halben Stunde und diversen Kurven und Drehungen, die das Schiff noch macht, schafft es der Kapitän endlich, die Fähre heil anzulegen. Als wir Cuxhaven hinter uns lassen und uns der starke Gegenwind den feinen Sand an die nackten Beine peitscht, macht es gerade keinen wirklichen Spaß, unterwegs zu sein. Als könnte man uns diese miese Stimmung ansehen, ruft plötzlich eine Frau, die mit ihrem E-Bike an uns vorbeifährt: »Toll, was ihr da macht!« Woher weiß sie denn, was wir machen? Als ich über diese Frage nachdenke, fällt mir ein, dass sie wohl meine Fahne gesehen und sich ihren Teil dabei gedacht haben wird. Ich halte an, um auf Josi und Uta zu warten, denn wir kommen bei diesem heftigen Gegenwind nur sehr mühsam voran. Zu allem Überfluss hat Uta zusätzlich auch noch Probleme mit ihrem Fuß, der ihr Schmerzen bereitet. Da entdecke ich einen Mann, der direkt vor mir auf einer Bank sitzt, und wir kommen schnell ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er sieben Jahre lang mit dem Fahrrad in der Welt unterwegs war und insgesamt 64.000 Kilometer geradelt sei. »Krass!«, denke ich mir. Was ein Mensch so alles schaffen kann, wenn er will.