Unverschämt schamlos - Nadia Bolz-Weber - E-Book

Unverschämt schamlos E-Book

Nadia Bolz-Weber

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Beschreibung

Sex sollte etwas Besonderes und Erfüllendes sein. Doch ständig scheinen Christen irgendein Problem mit dem Thema zu haben. Oder anders gefragt: Wenn der Kirche Sex so wichtig ist, warum scheitert sie so oft daran, Menschen darin zu begleiten und zu unterstützen? Und warum erzählt sie so wenig von der leidenschaftlichen Seite der Sexualität, wie sie im Hohelied der Bibel beschrieben ist? Stattdessen scheinen Christen geradezu besessen davon zu sein, im Umgang mit dem eigenen und anderen Geschlecht nur ja alles richtig machen zu wollen – mit oft verheerenden seelischen Folgen für die Betroffenen. Schamlos erzählt Nadia Bolz-Weber von ihren eigenen Erfahrungen und lässt Menschen zu Wort kommen, denen aufgrund ihrer Gefühle, Empfindungen oder sexuellen Vorstellungen Scham und Schuld auferlegt wurde. Sie will aufklären, welche Schaden all diese Moralvorstellungen angerichtet haben und fordert eine Reformation der Kirche in Sachen Sex.

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Der Verlag weist darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlages ist daher ausgeschlossen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel „Shameless“ im Verlag Convergent Books, New York. Convergent Books is a registered trademark of Penguin Random House LLC. Published by arrangement with Convergent Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC. Das Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Liepman AG, Zürich.

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by

Joh. Brendow Verlag & Sohn GmbH, Moers

© 2019 by Nadia Bolz-Weber

Die Bibelstellen sind zitiert nach der Übersetzung:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

1. Auflage 2019

ISBN 978-3-96140-134-5

Umschlaggestaltung: Silja Dreyer

Coverabbildung: shutterstock 1981 Rustic studio Kan

Satz: Brendow Verlag, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

www.brendow-verlag.de

Für E. B.

Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Vorbemerkung

Invokation

1. Sanctus

Die Schöpfung, Teil I

Der erste Segen

2. Ein Teddy zum Selbermachen

3. Den Scheiß gibt’s umsonst

4. Die doppelsträngige Helix

Die Schöpfung, Teil II

Sie gehörten einander

5. Heiliger Widerstand

6. Der Schaukelstuhl

7. Das Feuer im Kamin

Die Schöpfung, Teil III

Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?

8. Ich rieche Sex und Süßigkeiten

Die Schöpfung, Teil IV

Das Fleisch wurde Wort

9. Die letzte Unruhe

10. Es ist auch ein Zauber dabei

11. Hi, mein Name ist …

12. Segen

Danksagungen

Endnoten

VORBEMERKUNG

In diesem Buch erzähle ich Geschichten aus meinem Leben, so wie sie meiner Erinnerung entsprechen. Wie immer, wenn es um Vergangenes geht, kann es sein, dass ich eine Geschichte anders in Erinnerung behalten habe und wiedergebe oder dass meine Gemeindeglieder ihre Geschichten anders in Erinnerung haben und erzählen, als dieselben Ereignisse Dritten im Gedächtnis geblieben sind. In einigen Fällen habe ich verräterische Einzelheiten verändert, um die Identität von Personen zu schützen, und manchmal habe ich zeitliche Abläufe zugunsten des Erzählflusses gerafft. Die Geschichten von meinen Gemeindegliedern gebe ich mit deren Einverständnis wieder.

Außerdem möchte ich, dass du weißt, dass in meinen Interviews Erlebnisse von sexuellem Missbrauch in beunruhigender Regelmäßigkeit zur Sprache gekommen sind. Ich bin nicht dafür qualifiziert, dieses Übel im Rahmen meines Buches zu behandeln, aber ich komme auch nicht umhin, es zumindest zu erwähnen.

Am Ende dieses Buches findest du eine kurze Liste mit Büchern, Lehrgängen und Pädagogen, die dir helfen können, über deine Erfahrungen zu sprechen und die anderer zu hören. Ich hatte eine Riesenangst, als wir anfingen in unserer Kirche, über Sex und Glaube zu sprechen. Aber es war großartig. Wage es auch du!

INVOKATION

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.

Und auch mit dir.

In der Woche, in der der US-amerikanische Sänger Prince starb, flog ich nach Charlotte in North Carolina, wo ich vor einer Gruppe Methodisten sprechen sollte. In derselben Woche beschloss das Parlament des Staates North Carolina das sogenannte Toilettengesetz, wonach jede Person die Toilette zu benutzen hat, die dem Geschlecht entspricht, das auf ihrem Führerschein eingetragen ist. Als ich mein Handgepäck unter dem Sitz vor mir verstaute, dachte ich über dieses scheußliche Gesetz nach und über den kleinen Plan, den ich mir ausgedacht hatte, um dagegen zu protestieren. In meiner Tasche hatte ich eine Rolle transparentes Klebeband und ein halbes Dutzend Blätter Papier, allesamt Seiten füllend bedruckt in Lila mit dem androgynen Symbol für Princes Namen.

Die Maschine startete und ich schaute aus dem Fenster. Wir flogen über die trockenen Ebenen im Osten Colorados, zehntausend Meter über dem Muster aus grünen und braunen Kreisen, der Geometrie des industriellen Ackerbaus. Als Städterin, die keine Ahnung von der Landwirtschaft hat, fand ich diese grünen Kreise schon immer rätselhaft. Warum pflanzen Bauern in quadratisch und rechteckig angelegten Feldern das Getreide kreisrund an?

Später forschte ich nach und fand heraus, dass im Jahr 1940, nur neunundzwanzig Meilen von der Stelle entfernt, wo mein Flieger sich in den klaren Himmel über Colorado emporschwang, ein Mann namens Frank Zybach das sogenannte Karussellbewässerungssystem erfunden und damit die Landwirtschaft in Amerika mehr oder weniger revolutioniert hatte. Bei diesem System dreht sich die Bewässerungsanlage um eine senkrechte Achse, sodass kreisförmig eine Fläche beregnet wird. Das Getreide wird also nicht kreisförmig angepflanzt, es wird nur so bewässert. Und die Pflanzen in den Ecken der Felder kriegen kein Wasser ab.

Als ich dann am Flughafen in Charlotte ankam, nahm ich mein Projekt in Angriff und überklebte die Toilettenschilder für „Herren“ und „Damen“ mit meinen lilafarbenen Prince-Symbolen. Anschließend ging ich in die Kirche.

——

Am Tag nach meiner Rückkehr saß ich im „House for All Sinners and Saints“ (HFASS – Kirche für alle Sünder und Heilige), der Gemeinde in Denver, deren Pastorin ich bin, vorne auf der Bühnenkante. Meghan aus meiner Gemeinde und ich beobachteten die Leute, die sich zu unserem monatlich stattfindenden Gemeindeessen versammelt hatten. An zwölf im Raum verteilten runden Tischen saßen wild zusammengewürfelte Grüppchen von Leuten jeden Alters sowie jeder sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität; sie aßen ein Chili aus Styroporschüsseln.

Für Meghan – einer groß gewachsenen Transfrau mit langen, dünnen Haaren und einem Gesicht und einer Figur, die sie selbst nicht „passabel“ findet – ist es aufgrund ihrer ausgeprägten Sozialphobie eine Zumutung, sich an einen dieser Tische zu setzen. Deshalb nimmt sie meist Platz auf der Bühnenkante. An manchen Sonntagen geselle ich mich zu ihr, statt mich ins Getümmel zu stürzen, und unterhalte mich mit ihr über Comics.

Als wir an diesem Tag dasaßen und unsere Beine von der Bühne baumeln ließen, sprach ich etwas an, was mir in letzter Zeit öfter durch den Kopf gegangen war: „Du, Meghan? Heute Morgen habe ich zum ersten Mal seit schätzungsweise vierzig Jahren in meinem alten christlichen Aufklärungsbuch geblättert.“

Sie lachte.

Ich fuhr fort: „Darin steht, es sei Gottes Plan, dass alle Menschen heterosexuelle Cisgender1-Christen sind, die niemals mit jemandem Sex haben, bis sie ihre eine wahre Liebe heiraten und Kinder kriegen.“

Wir mussten beide lachen. Dann schüttelte ich den Kopf und sagte: „Ich meine, ich glaube schon, dass es solche Leute wirklich gibt …“

Meghan hob die Hand und legte ihren Daumen über ihre anderen lila lackierten Fingernägel. „Klar gibt es die. Und so klein ist dieser Kreis.“

Wenn man einen Kreis zeichnen würde, der für alle Leute auf diesem Planeten steht, und dann dort hinein einen kleineren Kreis für all die Leute, die nach „Gottes Plan“ leben, nun ja, dann würden nur sehr wenige Leute auf der Welt in diesen Kreis hineinpassen. Meghan passt nicht in diesen Kreis. Ich passe nicht in diesen Kreis. Und er schließt auch nicht die ein, die geschieden oder unglücklich verheiratet sind, und alle die, die vor der Ehe Sex haben, die masturbieren, die Asexuellen, Schwulen und Bisexuellen, alle, die keine Christen sind, alle mit einem nicht binären Geschlecht …

Wenn das „Gottes Plan“ ist, dann hat Gott schlecht geplant.

Vielleicht passt auch du nicht in diesen Kreis. Gott hat so viele von uns in Ecken gepflanzt; bis heute schließt uns die Karussellbewässerung der kirchlichen Lehre über Geschlecht und Sexualität aus. Uns wurde nämlich beigebracht, Gott hätte nichts übrig für solche Leute, die nicht in den Kreis des kirchlichen Verhaltenskodex passen. Folglich schnippelten wir uns so zurecht, dass wir zu diesen Lehren irgendwie passten, oder wir verleugneten gleich ganz etwas von unserem Selbst: das Wollüstige, das Versaute, das Schwule, das Ungewollt-Schwangere, das Unerfüllte.

Aber unsere Sexualität und unser Geschlecht machen uns ebenso aus wie unsere religiöse Erziehung. Doch diese Aspekte – unser Leben als sexuelle Wesen und unser Leben mit Gott – voneinander zu trennen, fühlt sich an, wie die eigene Psyche zu spalten oder wie eine musikalische Up-tempo-Sequenz, die sich ihrer Spannung niemals entlädt.

In meinen zehn Jahren als Pastorin im HFASS bin ich jungen Ehepaaren begegnet, die „gewartet“ haben, wie die Kirche es ihnen gesagt hatte, nur um dann zu entdecken, dass sie an ihrem Hochzeitstag nicht auf einmal den Schalter in ihren Gehirnen umlegen und Sex als schön, natürlich und gottgegeben betrachten konnten, nachdem er für sie immer nur sündig und schmutzig gewesen war. Ich habe alleinstehende Frauen kennengelernt, die mit vierzig weder Sex hatten noch mit den Gefühlen, die eine sexuelle Beziehung mit sich bringt, emotional umgehen konnten. Ich bin Frauen mittleren Alters begegnet, die sich immer noch nicht überwinden konnten, ein Kleidungsstück mit V-Ausschnitt zu tragen, weil man ihnen als Jugendliche eingetrichtert hatte, sittsame Kleidung sei für Frauen der beste Schutz vor unerwünschten männlichen Annäherungsversuchen. Ich habe mit schwulen Männern gesprochen, die den sexuellen Missbrauch, der ihnen in der Kirche widerfahren ist, nie angezeigt haben, weil die Kirche ihnen gesagt hatte, es sei Sünde, schwul zu sein. Und ich habe Geschichten von Frauen gehört, die Vergewaltigung in der Ehe erduldet haben, nachdem sie mit zwanzig geheiratet haben (weil man ja zusieht, dass man möglichst schnell unter die Haube kommt, wenn man mit dem Sex bis zur Ehe warten muss), aber dann von ihrer Gemeinde zu hören bekamen, das sei ja eigentlich gar keine Vergewaltigung, weil in der Bibel doch irgendwo stehe, dass Frauen ihren Männern untertan sein sollen.

Es ist nicht sehr schwer, eine direkte Verbindung zu erkennen zwischen den Botschaften, die viele von uns in der Kirche gehört haben, und dem körperlichen wie seelischen Schaden, den wir dadurch erlitten haben. Mit diesem Buch will ich daher eins erreichen: Wir sollten einer Idee, einer kirchlichen Lehre oder der Auslegung eines Bibelverses gegenüber nicht loyaler sein als gegenüber Menschen. Denn fügen diese Lehren Menschen körperlichen wie seelischen Schaden zu, sollten wir sie überdenken.

Vor fünfhundert Jahren setzte sich Martin Luther sehr gründlich mit den schädlichen Einflüssen auf das geistliche Leben seiner Gemeindeglieder auseinander – besonders mit der qualvollen Mühe, die es ihnen bereitete, den heiligen Verpflichtungen nachzukommen, die von der Kirche für notwendig erachtet wurden, um einen zornigen Gott zu besänftigen. Als er das erkannte, wagte Luther einen Gedanken, nämlich dass das Evangelium – die Geschichte von Gott, der in Jesus von Nazareth zu den Menschen kam und Worte des Lebens brachte – seine Gemeindeglieder von dem Schaden befreien könne, den ihre eigene Kirche ihnen zugefügt hatte. Luther war den Lehren der Kirche gegenüber weniger loyal als gegenüber den Menschen, und das war einer der Auslöser für die protestantische Reformation.

Ich weiß, es gibt sicher Leute, die keine Neigung haben, ihre Vorstellungen von Sexualethik, Gender, sexueller Orientierung, außerehelichem Sex und dem Guten des menschlichen Körpers zu überdenken. Manche Leute, die dies lesen, werden vielleicht ihr eigenes Leben betrachten und sich in ihren Gemeinden umschauen und nur glückliche, heterosexuelle Paare sehen, die ein erfülltes monogames Sexleben haben und rundum glücklich und zufrieden sind, gemäß „Gottes besonderem Plan für die Menschen zu leben“. Keine Ahnung. Vielleicht. Ich gehe ja nicht in deine Gemeinde und ich lebe nicht dein Leben. Wenn also die Lehren der Kirche über Sex und den eigenen Umgang mit dem Körper in deinem Umfeld keinen Schaden angerichtet und dir sogar einen Weg gezeigt haben, um als Mensch wahrhaft aufzublühen, dann ist dieses Buch wahrscheinlich nichts für dich. (Doch keine Sorge: In der Blase der christlichen Bücherwelt findest du reichlich Lesestoff, der dich in deinen Überzeugungen festigen und bestärken wird.)

Dieses Buch richtet sich an alle anderen.

Es ist, so hoffe ich, Wasser für diejenigen, die in den Ecken stehen.

Es ist für alle, die aus ihrem Liebesleben ein Geheimnis machen. Für alle, die brav waren und in den Augen der Kirche alles richtig gemacht haben, aber in ihrem Sexleben immer noch nichts von dem Feuerwerk und dem Zauber spüren, die ihnen versprochen wurden, wenn sie nur „warteten“.

Es ist für die Eltern des schwulen Sohnes, die Eltern, die ihn lieben und unterstützen, weil sie wissen, dass er weder ein Fehler ist noch ein abartiger Sünder, und die wegen dieser Unterstützung selbst zu Außenseitern in ihrer eigenen Gemeinde geworden sind.

Dieses Buch ist für alle, die sich je wegen ihrer sexuellen Natur geschämt haben, weil jemand ihnen etwas im Namen Gottes gesagt hat. Für alle, die sich vom Christentum abgewandt haben, aber insgeheim doch noch an Jesus hängen.

Dieses Buch ist für alle, die traditionelle Lehren der Kirche über Sex an ihre eigenen Kinder weitergegeben haben und es nun bereuen. Dieses Buch ist für die frisch geschiedenen Männer und Frauen, die den Wunsch haben, fürsorgliche und rücksichtsvolle Liebhaber zu sein, aber sich fragen: Gelten für mich jetzt immer noch die Regeln, die ich in der Jugendgruppe gelernt habe?

Dieses Buch ist für die jungen Evangelikalen, die stillschweigend nicht einverstanden sind mit der Haltung ihrer Gemeinde zu Sex und sexueller Orientierung, aber sich in ihrem Schweigen allein fühlen. Dieses Buch ist für alle, die sich, und sei es nur unbewusst, fragen: Hat sich die Kirche mit alledem zu sehr gequält? Glauben wir wirklich, dass wir es richtig gemacht haben?

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kirche es absolut nicht richtig gemacht hat.

Aber fairerweise muss ich ergänzen, dass Religion nicht die einzige Quelle schädlicher Botschaften über Sex und Körperlichkeit ist. Denn wie in der Kirche spielt in unserer westlichen Kultur Sex eine gewichtige Rolle. Sex wird dort vermarktet mit seinen ganz eigenen entwürdigenden Ideen über Wert und Geltung. Auch diese Kultur zieht einen engen Kreis, zum Beispiel um jene Körper, die sie als begehrenswert erachtet – mit ebenmäßigem Teint, einer idealen Beinlänge, einem ausgewogenen Verhältnis von Fett und Muskulatur, einer bestimmten Augenform – und solchen, die sie als nicht begehrenswert ausschließt. Viele Menschen sind ständig dabei auszuloten, wie nah sie an diesem Ideal dran sind oder wie weit davon entfernt, weil sie wissen, sie werden nicht mehr gesehen und wahrgenommen, sobald sie zu alt werden, zu dick, zu durchschnittlich, um in diesen kleinen Kreis der Begehrenswerten zu passen.

In Verbindung mit der allgegenwärtigen Lüge vom Nicht-genug-Sein – wir haben nicht genug Sex, wir haben einen Partner, der nicht sexy genug ist, ein Leben, das nicht aufregend genug ist – kann uns das die Fähigkeit rauben, unseren Körper, unsere Beziehungen und unser reales Leben wirklich zu genießen.

Aber ich werde mich nicht der Sünde des falschen Vergleichs hingeben. Wenn ich sage, dass sowohl die Kirche als auch unsere Kultur Schaden anrichten können, dann bedeutet das nicht, dass diese beiden Arten von Schaden gleichwertig wären. Das sind sie nämlich nicht. Denn so schädlich die Botschaften auch sind, die Gesellschaft behauptet letztlich nicht, sie kämen von Gott. Schließlich versucht die Kultur mir nicht einzureden, der Schöpfer des Universums sei angewidert von meiner Cellulitis.

Worauf will ich hinaus?

Nun, ich möchte, dass wir gemeinsam die Dinge noch einmal unter die Lupe nehmen, die uns die Kirche gelehrt hat und die wir verinnerlicht haben. Wir schauen uns das Schädliche an, das im Namen Gottes verursacht wurde, aber bleiben dabei nicht stehen, denn unser Ziel muss eine neue christliche Sexualethik sein.

In den letzten beinahe zwei Jahren habe ich viele meiner Gemeindeglieder interviewt und sie sind zu Protagonisten dieses Buches geworden.2 Außerdem habe ich auch Geschichten aus meinem eigenen Leben gesammelt, christliche Aufklärungsbücher gelesen, bin in den einen oder anderen Kaninchenbau abgetaucht (die Abstinenzbewegung, das Vermächtnis der Kirchenväter, die wenig bekannten Hintergründe, wie es dazu kam, dass sich die Evangelikalen das Thema Abtreibung auf die Fahnen schrieben), habe Bibeltexte studiert und Theologisches nachgelesen und meine Freunde damit genervt, länger als für sie ertragbar auf einem einzigen Gesprächsthema herumzureiten. Ich muss zugeben, ich habe dieses Buch nicht geschrieben, ich war von ihm besessen.

Wenn du es liest, mach dir bitte bewusst, dass ich dir hier meine besten und schwer erarbeiteten Ideen dazu biete, wie wir unser Denken über Sex neu ausrichten können. Und bei alldem hoffe ich, damit den Heilungsprozess all jener unter uns zu unterstützen, die durch die allgemeinen Lehren der Kirche oder auch durch unsere eigene Unfähigkeit, überhaupt über Sex zu reden, verletzt worden sind. Als Einzelne wie auch als Gemeinschaft geraten wir immer noch ins Stottern, wenn das Thema auf den Tisch kommt. Wir lassen uns immer noch durch verurteilende, beschämende Botschaften die Luft wegnehmen. Und wir machen es immer noch falsch.

Von vornherein solltest du noch wissen, dass es mir nicht möglich ist, jede sexuelle Erfahrung, Richtung oder Perspektive in diesem Buch zu behandeln. Es wird mir auch nicht gelingen, jeden Einwand gegen das, was ich geschrieben habe, vorherzusehen oder darauf einzugehen. Ich bin weder eine Sexualtherapeutin noch Historikerin, geschweige denn eine Bibelwissenschaftlerin oder Kulturkritikerin. Ich bin nur eine Pastorin, die sich Gedanken um all die schädlichen Einflüsse macht, die ich im Leben meiner Gemeindeglieder sehe, und die sich auch Gedanken um dich macht.

Ich habe im Grunde genommen nicht mal Antworten und auch keine aktualisierte Liste von guten und schlechten Verhaltensweisen. Dieses Buch versucht nicht, die Handvoll Bibelverse zurückzuerobern, die als Waffen eingesetzt worden sind. Es ist keine systematische Theologie des Sex.

Dieses Buch will lediglich Folgendes: Es ist ein DNA-Text für die eigenen Verletzungen, eine Kanüle, die wir uns in den Arm stechen, um Blut abzuzapfen und herauszufinden, woher wir gekommen sind, damit wir wissen, wie wir uns auf etwas Neues zubewegen können. Es verwebt Geschichten, Meinungen, Perspektiven, Geschichtliches, Dichtung und Heilige Schrift. Wie ein menschlicher Körper hat es eine Form.

——

Der atheistische Philosoph und Bestsellerautor Alain de Botton hält der Religion zugute, sie scheine immerhin die Wichtigkeit und die Macht des Sex zu verstehen.3 Vielleicht. Sex ist ein so erheblicher Teil von uns. Wird er manipuliert, ausgebeutet oder verleugnet, kann das verheerende Folgen haben. Darum hat die Religion so oft versucht, Sex in seiner Macht einzudämmen, sei es durch den Zölibat, sittsame Kleidung, Keuschheitsgürtel, Genitalverstümmelung, Lügen über die Gefahren von Selbstbefriedigung, die Kindern eingetrichtert wurden, und alle möglichen anderen Dinge. Doch für mich wirft das die Frage auf: Wenn die Religion der Ort war, in der die Macht des Sex am ehesten ernst genommen wurde, könnte sie dann nicht auch der Ort werden, an dem ein neues Gespräch darüber stattfindet? Eins, das nicht von Gesetzlichkeit und Anprangern überschattet ist und dabei dennoch nicht die Verderbtheit des Menschen ignoriert zugunsten einer irregeleiteten Vorstellung, wir seien zu vollkommener Selbstlosigkeit fähig?

Können wir, die wir in einer im weitesten Sinne christlichen Kultur, wenn auch nicht direkt in der Kirche aufgewachsen sind, Menschen sein, die sich für das sexuelle Wohlergehen aller einsetzen? Und wenn ja, wo finden wir Wegweisung dafür?

Orientierung könnte uns zum Beispiel die Definition der Weltgesundheitsorganisation für sexuelle Gesundheit geben:

… ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit setzt eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt. Sexuelle Gesundheit lässt sich nur erlangen und erhalten, wenn die sexuellen Rechte aller Menschen geachtet, geschützt und erfüllt werden.4

Mit anderen Worten, das Einverständnis (ein begeistertes Einverständnis – nicht bloß das Fehlen eines „Nein“) und die Gegenseitigkeit (mit Genuss für beide Partner verbunden) konstituieren nach der WHO eine grundlegende Sexualethik.

Doch so entscheidend Einverständnis und Gegenseitigkeit sind, eine christliche Sexualethik muss noch mehr zu bieten haben. Und so kontraintuitiv es erscheint, ich schlage vor, ausgerechnet in der Bibel nach Hilfen dafür zu suchen. Die Bibel ist einfach zu mächtig, um sie nur denen zu überlassen, die sie, ob wissentlich oder unwissentlich, dazu benutzen, ihren eigenen Platz in der Mitte der Bewässerungszone zu rechtfertigen und zu schützen. Denn manchmal kann der Ursprung für eine Verletzung auch die wirkungsvollste Quelle ihrer Heilung sein.

Ich bediene mich hier wieder einmal bei Martin Luther. In seinem Kleinen Katechismus lehrt er, dass es in den Zehn Geboten um mehr geht als das bloße Unterlassen von schlechtem Verhalten. Es geht auch um die Gegenwart des Guten. Zum Beispiel könnte man davon ausgehen, das fünfte Gebot, Du sollst nicht töten, zu erfüllen, koste einen nichts – ähnlich wie das Mittelfeld auf einer Bingo-Karte, das man gleich durchkreuzen kann. Luthers Auslegung zufolge bedeutet Du sollst nicht töten aber: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Leibesnöten.“ – Keinen Schaden zufügen und andere in all ihren Bedürfnissen unterstützen.

Ebenso muss uns angesichts von Sex mehr antreiben als bloß die Abwesenheit eines „Neins“ oder etwas Schadhaftem, wenn es um sexuelle Erfüllung gehen soll. Darum glaube ich, dass wir zum Einverständnis und zur Gegenseitigkeit auch die Anteilnahme hinzufügen müssen. Anteilnahme bringt uns näher ans Herz der Ethik Jesu: Gott zu lieben und unseren Nächsten wie uns selbst. Dazu müssen wir zugunsten anderer aktiv werden. Das stellt die Entscheidung in einen neuen Zusammenhang jenseits unseres eigenen Interesses, wie es bei Einverständnis und Gegenseitigkeit allein nicht der Fall ist.

Anteilnahme bedeutet, darauf zu achten, wie unser sexuelles Verhalten sich auf uns und andere auswirkt. Es kann nämlich sein, dass ich eine schöne, einvernehmliche Beziehung zu jemandem habe, aber wenn ich dabei meinen Ehepartner oder meine Ehepartnerin betrüge, dann lasse ich es an Anteilnahme gegenüber der Person, mit der ich verheiratet bin, fehlen. Oder wenn ich in einer Krise stecke und völlig durcheinander bin, dann passiert es leichter, dass man mit Sex einverstanden ist, obwohl es gerade das Letzte ist, was man braucht. Wenn mein Gegenüber das spürt und trotzdem mit mir schläft, dann haben zwei zwar das Einverständnis, es zeigt sich aber keine Fürsorge oder Anteilnahme. Eine Sexualethik, die Anteilnahme einschließt, bedeutet, dass ich jemanden als ganze Person sehe und nicht nur als willigen Körper.

Die einzige Möglichkeit, echte Anteilnahme für uns selbst und andere zu zeigen, ist, aufmerksam hinzuschauen. Die Sozialphilosophin und Mystikerin Simone Weil sagte: „Aufmerksamkeit ist die seltenste und reinste Form der Großzügigkeit.“ Uns selbst und andere wirklich wahrzunehmen, das ist es, wozu ich uns einladen möchte, wenn wir eine neue christliche Sexualethik formulieren. Eine, die nicht auf einer Standardliste von „Du sollst nicht“-Sätzen beruht, sondern auf der Anteilnahme am Wohlergehen des anderen.

Ich schlage denen, die verletzt worden sind, daher eine sexuelle Reformation vor. Ich schlage sie ebenso denen vor, die Urheber dieser Verletzungen sind, und denen, die an meiner Autorität zweifeln, sowie denen, die ganz sicher sind, dass sie alles darüber wissen, wie Gott über Sex denkt.

Es ist an der Zeit, unsere antiquierten und schädlichen Vorstellungen von Sex, Körperlichkeit und Gender hinauszuschaffen.

Es ist an der Zeit, dass wir aufmerksam werden für das, was mit den Menschen um uns herum und mit denen, die uns nahestehen, geschieht, und es ist an der Zeit, dass wir Anteilnahme zeigen. Und dabei geht es mir nicht um ein paar einfache Korrekturen; neuer Wein in alten Schläuchen wird nicht reichen. Ich sage, lasst uns den ganzen Mist vernichten und von vorn anfangen. Denn es ist an der Zeit dafür.

1.SANCTUS

„Kannst du für mich beten?“ – Die SMS mit dem tränenüberströmten Emoji erschien auf meinem Handy, als ich gerade ins Auto stieg, um zu dem Ort zu fahren, wo ich in einer Stunde predigen sollte. Cecilia ist eine Frau aus meiner Gemeinde. Die Nachricht sah so dringend aus, dass ich wusste, sie würde in Tränen aufgelöst sein, als ich sie zurückrief. Während ich mich in den Verkehr einfädelte und mich um die langsamen Fahrer herumschlängelte, von denen es in Denver immer mehr gibt, seit wir hier Gras legalisiert haben, erzählte sie mir – nicht zum ersten Mal –, wie unglücklich sie war, nachdem ihre Beziehung zu James, ihrem ersten Liebhaber überhaupt, zerbrochen war. Sie war einunddreißig. Und sie war völlig fertig.

Cecilia ist eine von Dutzenden junger Leute in meiner Gemeinde – und von Millionen auf der Welt –, die in der evangelikalen „Reinheitsbewegung“ aufgewachsen sind. Man brachte ihr bei, „mit dem Sex bis zur Ehe zu warten“, und sagte ihr, wenn sie ein gottgefälliges Leben führen wolle, müsse sie für ihren zukünftigen Ehemann rein bleiben. Wie viele andere junge Frauen (aber nicht junge Männer, weil die aus irgendeinem Grund nicht dazu aufgefordert wurden) trug auch sie zum Beweis einen „Reinheitsring“ – einen Ring, den sie als Teenager und Twen als Zeichen ihres Entschlusses trug, ein heiliges Leben zu führen.

Junge Leute dazu anzuhalten, vor der Ehe keinen Sex zu haben, ist nichts Neues, aber 1997 schrieb ein einundzwanzigjähriger Predigersohn namens Joshua Harris ein Buch mit dem Titel Ungeküsst und doch kein Frosch, in dem er argumentierte, es sei nicht genug, vor der Ehe nicht bis zum Letzten zu gehen. Wahre Reinheit verlange, so meinte Harris, nicht einmal jemanden zu küssen, bis man am Traualtar den Ehepartner oder die Ehepartnerin küsst.5

Doch Cecilia ging es so wie vielen anderen jungen Frauen auch – dieser Ehepartner ließ sich nie blicken. Und als sie dann mit neunundzwanzig Jahren das konservativ christliche Denken hinter sich gelassen hatte und ihre erste Liebschaft eingegangen war, hatte sie keinerlei Erfahrung damit. Sie wusste nicht, wie sie mit ihrer Lust und Leidenschaft, der empfundenen Verbundenheit und den Hormonausschüttungen umgehen sollte, die einem das Gehirn durchspülen, wenn so viel Haut und Seele einander berühren. Sie dachte, sie hätte die Liebe ihres Lebens gefunden, aber dann wurde sie von James betrogen, und die Beziehung zerbrach.

Sie hätte ihm gern verziehen, aber das war nicht das erste Problem in ihrer Beziehung. Es war ihr von Anfang an schwergefallen, nicht die Fassung zu verlieren, nachdem ihr Freund ihr das erste Mal erzählt hatte, dass er bereits eine sexuelle Vergangenheit hatte. Als er sie nun auch noch betrog, verunsicherte sie das noch mehr.

„Nadia, ich weiß, es klingt bescheuert, aber ehrlich, es fühlte sich so an, als wäre er ein Experte und ich eine absolute Anfängerin“, sagte sie unter allmählich nachlassenden Tränen. „Er versuchte zwar, mir das auszureden, aber ich fühlte mich total unzulänglich.“

Du bist beraubt worden, dachte ich nur. Die Kirche hatte ihr mehr als ein Jahrzehnt ihrer eigenen sexuellen Entwicklung genommen. Während dieser ganzen Zeit hätte sie gute Erfahrungen sammeln können, die daher kommen, dass man seine eigenen Entscheidungen trifft, dass man Beziehungen eingeht, dass man dabei Fehler macht, dass man sich verliebt.

Ich hörte ein tiefes Ein- und Ausatmen am anderen Hörer, bevor sie weitererzählte. „Mein Freund meinte, ich käme besser drüber hinweg, wenn ich mit anderen Männern ins Bett gehe. Also habe ich das gemacht. Aber gestern Abend habe ich wahllos mit irgendeinem Kerl geschlafen, und jetzt fühle ich mich wie ein Stück Scheiße, auch wenn ich weiß, dass daran nichts moralisch falsch ist oder so.“

Ich nahm die Ausfahrt von der Interstate 70 und stimmte Cecilia zu. Gelegenheitssex war nun wirklich nicht der richtige Weg für sie, wieder heil zu werden. „Du gibst bei solchen Begegnungen so viel von dir selbst preis“, sagte ich. „Und das bedeutet, dass du einfach viel leichter verletzt wirst. Jetzt hast du die Erfahrung gemacht“, sagte ich. Das Mitgefühl für Cecilia krampfte mir das Herz zusammen. „Da ist überhaupt nichts Falsches dran.“

„Ich bin nur so sauer, dass mir das alles vorher nie jemand gesagt hat“, antwortete sie mit einer Mischung aus Enttäuschung und Zorn in der Stimme. „Ich bin stinkwütend.“

Das war ich auch. Trotzdem sagte ich ihr das, was mir ständig durch den Kopf geht, wenn ich daran denke, was die Kirche über Sex gelehrt hat: dass es zwar verständlich und unvermeidlich ist, sauer zu sein, aber nur von begrenztem Nutzen. Dies war nun ihre Geschichte. Sie gehörte ihr. Sie sollte sie annehmen und nun zu neuen Ufern aufbrechen, statt stehen zu bleiben. Sie hatte sich vielleicht nicht aussuchen können, was mit ihr passiert war, aber sie konnte sich jetzt aussuchen, was es für die Zukunft bedeuten würde.

„Danke. Ich sehe dich morgen im Gottesdienst. Könntest du dann vielleicht für mich beten?“, sagte sie und legte auf.

——

Am nächsten Tag, Sonntag, stand ich in der Gemeinde, während mein Kollege Reagan die Kommunion verteilte. An meinen Händen konnte ich noch die würzige Myrrhe riechen, nachdem ich Cecilia mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet und der Duft des Öls uns eingehüllt hatte. Ich hatte Cecilia an den Händen gehalten, ihre Tränen ergossen sich darüber, während ich betete, dass Gott sie führen und ihr Weisheit schenken und all ihr Sein – das Geistige, das Geistliche, das Sexuelle, das Körperliche – zusammenführen möge, damit sie sich ganz und heil fühlen könnte. Schließlich ist das griechische Wort für „retten“ sozo, was so viel bedeutet wie „heilen, Heil bringen, erhalten“. Das ist es, was Gott tut. Gott fügt die zersprungenen Teile unseres Selbst wieder zusammen zu einem heilen Ganzen.

Nachdem ich Cecilia gesalbt hatte, schaute ich hinüber zu Reagan mit seinen hellblauen Augen und seinem kurz gestutzten Bart. Er stand hinter dem Tisch, vor dem sich zweihundert Leute versammelt hatten, um durch Brot, Wein und Gesang ihren Glauben kundzutun. Er hob seine Hände und sang:

Wir stimmen ein mit den Heiligen und Engeln

in den Chor deines Lobes, der in Ewigkeit erschallt,

und erheben unsere Stimmen zu deinem Ruhm und singen …

Und Reagans Stimme vervielfachte sich, als die vierstimmige Harmonie der Versammelten den Raum erfüllte, so wie es seine einzelne Stimme niemals hätte tun können. Allein kann man nicht mehrstimmig singen. Harmonie ist ein Klang der Einheit in der Verschiedenheit. Der Klang einer Einheit, die nur möglich ist, wenn sich Leute, die ganz unterschiedlich sind, zusammentun. E pluribus unum.

Heilig, heilig, heilig Gott.

Herr aller Mächte und Gewalten.

Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit.

Hosanna in der Höhe.

Der Myrrheduft an meinen Händen mischte sich jetzt mit dem brennenden Räucherwerk vom Altar – Weihrauch, der wie ein Gebet zu Gott aufsteigt –, und ich dachte über diese Heiligkeit nach, von der wir singen und die von der Kirche mit Reinheit gleichgesetzt wurde, sei es in sexueller oder anderer Hinsicht. Ich zweifle nicht an, dass der Hauptgrund, warum die Kirche so versessen auf sexuelle „Reinheit“ ist, im Kern durchaus ehrenwert ist: Wir wollen heilig sein, Heiligkeit erfahren. Aber was ist Heiligkeit?

Heiligkeit ist die Vereinigung, die wir miteinander und mit Gott erleben. Heiligkeit ist da, wo mehr als einer oder mehr als eine eins werden, wo das, was zerbrochen ist, wieder ganz wird. Mehrstimmig singen. Ein Baby stillen. Kollektives Feilschen. Tanzen. Anderen unser Leid klagen und sie sagen hören: „So geht es mir auch.“ Heiligkeit geschieht da, wo wir als körperliche, geistliche, sexuelle, emotionale und politische Wesen integriert sind. Heiligkeit ist das Lied, das schon immer gesungen wurde, vielleicht sogar der Klang der ersten Worte Gottes, als dieser sagte: „Es werde Licht.“

Und Heiligkeit war mein Gebet für Cecilia. Aber Heiligkeit ist nichts, was wir uns verdienen oder hervorbringen oder wonach wir streben könnten. Sie hat nichts mit Selbstverbesserung zu tun. Sie ist einfach etwas, womit wir manchmal zufällig zusammenstoßen, etwas, das uns gleichzeitig innen wie auch außen erschüttert. Heiligkeit existiert in solchen Momenten, in denen wir gelöst sind von unsrem Ego und dennoch fest verbunden mit unserem Selbst und etwas anderem. Sie ruht im Duft am Kopf eines neugeborenen Babys und in der Erschöpfung seiner Mutter nach den Wehen. Sie ist wie der Moment bei einer Feier, in dem man sich ein Stück Kuchen mit denen teilt, die man liebt, und man den ersten Bissen zu sich nimmt und alle Genussrezeptoren heilig, heilig, heilig funken. Heiligkeit ist das, was ich nicht kommen sah und das mir den Atem raubt, weil ich feststelle, dass sie meine Einsamkeit unterbrochen hat.