Unzeit - Marlen Schachinger - E-Book

Unzeit E-Book

Marlen Schachinger

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Beschreibung

In ihrem neuen Werk legt Marlen Schachinger Erzählungen vor, die von dichter Bilderflut und auffallender Genauigkeit der Sprache durchdrungen sind. Anhand verschiedener Einzelfiguren greift die Autorin wesentliche Themen des 20. und 21. Jahrhunderts auf: Politische Systeme, begrenztes – grenzenloses Europa, Kapitalismus, Neoliberalismus – Sozialismus, die menschliche Gier, der gewollte Rückzug in künstliche Idyllen… Marlen Schachingers Figurenrepertoir beginnt bei Theresia, die auf das Sterben wartet: Es ginge doch nicht an, dass der Tod sie vergäße! En passant wird der Bogen von Zwangsarbeitern bis zum Eisernen Vorhang und dessen Entfernung gezogen. Eine Erzählung folgt einer exzellenten, jüdischen Physikerin namens Marietta, deren Arbeiten konfisziert werden, und die auch danach, an ihrem Fluchtort, einer Gesell schaft mehr sein will, als nur a useless burden; lesend folgt man einer HR-Mana gerin in den Feierabend, nach einem ganz normalen Arbeitstag, bei dem es einzig darum ging, die Produktion zu erhöhen, das Menschen material auszubeuten oder in die Arbeitslosigkeit zu kicken… Bis man Lou und Anna begegnet, zwei Linzer Kellnerinnen, die auf jeweils unterschiedliche Art und Weise ver suchen, mit den politischen Umständen des Jetzt fertig - zuwerden. Marlen Schachingers Erzählungen bilden Zeit ab, stellen die Verhältnisse der Welt dar, welche Realitäten einzelner widerspiegeln. Manchmal zynisch, oft ironisch, sind sie real, ein Abbild der Gegenwart, schlicht: am Puls der Zeit. Die eine Unzeit ist.

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Marlen SchachingerUnzeit

Marlen Schachinger

Unzeit

Erzählungen

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1241-2eISBN 978-3-7013-6241-7

© 2016 OTTO MÜLLER VERLAG GmbH, SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.at, SalzburgDruck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. StefanCover: Leopold Fellinger

Inhaltsverzeichnis

I

Hinter Mauern

II

More than a useless burden

III

Grenzgänge

IV

Dich rufen

V

Tote Seelen

VI

Was heißt schon Freiheit?

VII

Suche und sei es in China

VIII

Das Auge verpflichtet zu sehen

IX

Gegessen wird, was eingekocht

X

Stiller Frieden

XI

Schrei vor Glück oder: Zurück!

I Hinter Mauern

… und Theresia wartete auf das Sterben, das kommen musste, auch sie holen musste, es ging doch nicht an, dass der Tod sie vergaß, nahm er die anderen allesamt mit sich, Michael, Michl-Mischa und Michal, zu tun gab es seit langem nichts mehr, für sie, seit sie nicht hinauskonnte, in den Garten zumindest, gab es keinen Grund, hier zu liegen und zu atmen, aber das ließ sich nicht beenden, das Atmen, weil man mit sich übereingekommen war, dass jetzt Schluss sein müsse, mit dem Atmen, dem Leben, und beschlossen hatte sie es siebenhunderteinundachtzig Mal, das wusste Theresia, auch ohne einen ihrer Zettel aus der Tasche des Schürzenkleids zu Rate zu ziehen – lesen hätte sie die Notiz ohnehin nicht können, da machten ihre Augen nicht mehr mit, bloße Gewohnheit war ihr die Winzigkeit der Buchstaben geblieben, die sie früher nötig gehabt hatte, um für jede Nachricht möglichst wenig Papier zu benutzen, nun, seit geraumer Zeit schon, rutschten sie ihr übereinander, die Buchstaben, das war nicht weiter schlimm; alles Niedergeschriebene befand sich ohnedies eingeprägt in ihr Gedächtnis, sie brauchte nur die Augen zu schließen; das hatte sie gestern auch getan, ihre Urenkelin Marie-Therese, die sich eine Pause als Dorfschreiberin gewünscht hatte, war nach Hause gekommen, zu ihr, um sie zu sehen, und hatte eine Notiz am Boden gefunden, im Schlaf musste sie aus der Schürzentasche gerutscht sein, und Marie-Therese wollte wissen, was das sei, und danach, weshalb Theresia denn nun weine, und statt einer Antwort hatte Theresia leise gefragt, wie es heute sei, in Rechnitz, denn dort feierten sie im Schloss ein Fest, das hatten sie im Radio erzählt, und die Gäste der Stellungsbauprominenz ermordeten währenddessen zweihundert nichtmarschfähige Juden, nur so, während dieses Abschiedsfests, um sie am nächsten Tag von Zwangsarbeitern verscharren zu lassen, irgendwohin mussten die Leichen ja, und die Zwangsarbeiter, Mitwisser, die man nicht mehr brauchen konnte, war ja ein Abschiedsfest gewesen, die erschoss man alsdann gleichfalls; wo das Erdloch ist, in dem man sie verscharrte, daran will keiner sich erinnern, das ist in diesem Land so üblich … aber Marie-Therese hatte nichts verstanden, kein Wort, hatte sich kurz neben Theresia gehockt, ihr das Zettelchen in die Hand gedrückt, ›Da‹ hatte sie gesagt, sonst nichts, und Isabella war ins Zimmer gekommen, um Scheiter nachzulegen, damit Theresia es warm habe, und Marie-Therese hatte ihre Mutter leise, doch nicht leise genug, gefragt, ob die Uromi jetzt komplett gaga geworden sei – besorgt hatte ihre Stimme geklungen, auch wenn die Wortwahl anderes nahelegte, und Jan war hereingekommen, hatte sich zu Theresia gesetzt, an seinem linken Pulloverärmel hing noch Heu, ebenso wie in seinem Haar, er hatte ihren Kopf gestreichelt, ›Nicht weinen‹ und sein -ei- klang wie eh und je und mehr wie ein ›ej‹, der Laut ›ei‹ wollte ihm nie so recht gelingen, und weil Theresia lächelte, bloß ein wenig, mit dem linken Mundwinkel, hatte er jenes Wort nochmals gesagt, ›nicht wejnen, nicht‹, damit das Lächeln auch ihr Auge erreiche, dabei war doch den Augen ohnehin nicht mehr zu trauen, was nicht weiter schlimm war, Theresia hatte ihr Gedächtnis, darin war alles notiert, in winzigen, dicht aneinandergedrängten Buchstaben, und ihr Gehör: nach wie vor dasjenige eines Luchs’, und Isabellas Antwort an ihre Tochter war eine Zurechtweisung, Marie-Therese solle nicht in dieser schnoddrigen Art reden, die hatte sie natürlich auch gehört, und Jans -ej-, das Rascheln des Taschentuchs, ein Ton, der in Theresias Ohren kratzte, weshalb vergaßen sie fortwährend, dass sie Stofftüchern den Vorzug gab?, manchmal, ja manchmal dachte Theresia, das Gedächtnis der Jungen lasse nach, und ihr Gehör, zu viel war da um ihre Ohren, an Gedanken und Sorgen und Plagen, und sie lächelte Jan zu, von der Ofenbank aus, der ihr die Träne abgetupft hatte, nur ihr rechtes Auge konnte noch weinen, in ihrer Hand, festumschlossen die Nachricht, und Jan hatte Isabella angesehen, dann Theresia, war aufgestanden, um zu niemandem Bestimmten im Raum zu sagen, dass er und die neuen Nachbarn linkerhand, die vor ein paar Monaten erst aus der Stadt ins Dorf gezogen waren, gemeinsam beschlossen hätten, die Mauer niederzureißen, diejenige hinten im Garten, er habe lange genug hinter Mauern gelebt, es sei an der Zeit, dass man die entferne, und Isabella hatte ihm zugehört, die Ofenklappe geschlossen, sich die Hände an ihren Jeans abgewischt, bevor sie die Arme um Jans Hals geschlungen hatte, und Theresia hatte ihnen von der Ofenbank aus zugesehen, Jan und Isabella, es war gut, dass sie nun den Hof führten, miteinander, und Theresia hatte sich gefragt, ob ihr Leben auch ein solches hätte werden können, wie dasjenige ihrer Enkelin, sonnenblumengelb, so nannte Theresia Isabellas Leben für sich, und sie wusste, dass es gut war, und mehr noch: Sie wusste, dass sie heute Nacht sterben wollte, spätestens morgen Früh, dass jetzt ein für alle Mal Schluss sein müsse, mit Atmen und Leben…

… in die Stimmen der Tiere hatte sich ein Klopfen geschlichen, Theresia sah zu Michael im hölzernen Rahmen, der auf dem Nachtkästchen stand, seit er nicht mehr bei ihr war, schaute zum Fenster, das nach Südwesten wies, irgendwo dort lag Spanien, dachte sie, müsste dort liegen, und Frankreich, über der Stuhllehne hing die Strickjacke, sie schlüpfte in ihre Holzpantinen, heute Morgen klapperten diese nicht über den Ziegelboden der Arkade, das Klopfen drang zu laut von hinten herüber, und Theresia trat fester auf, um zu übertönen, was so ungewohnt klang, dieses Klopfen, Ungewohntes war noch nie gut gewesen, dabei war der Himmel im Süden blau, keine Flieger zu sehen; die beiden Ziegen, das Schwein im Stall, alles schien zu sein wie an jedem Morgen, trotzdem war nichts, wie es sein sollte, seit Michael gegangen war, die Dorfstraße hinunter, wie die anderen zuvor, unter Thomas’ Augen – nicht nach Norden sehen, lieber nicht! –, und Theresia war froh, dass ihr Hof nach Süden offen war, ein Hof und ein weiterer Hof bilden ein Viereck, geteilt durch ein Steinmäuerchen, ausreichend hoch, um allein zu sein, niedrig genug, um hinüberzurufen, von der Leiter aus, während man die Früchte an den Obstbäumen prüfte, ›die Ringlotten wären bald, die Marillen ebenso …‹, und nein, das Klopfen heute Morgen stammte nicht von der Nachbarin, das war nicht der Klang eines Teppichs, der gereinigt wurde, nein, es kam vom rückwärtigen Garten her –, die Ringlotten, die Marillen, ihre Mutter würde herüberkommen, mit dem dicken Bauch solle ihre Tochter auf keine Leiter, sonst erhänge sich das Kind, hebe sie die Arme über den Kopf, und ob das denn jetzt habe sein müssen, ausgerechnet jetzt?, und Theresia dachte daran, dass man im Dorf ohnehin schon fand, sie passe nicht hierher, in dieses Dorf, wieso habe er sich eine Solche nehmen müssen, eine von dort, aber er sei ja auch anders, so hatten sie getuschelt, und Theresias Ohren, die diejenigen eines Luchses waren, hatten es gehört, sie hatte geschluckt und gelächelt, sich noch mehr Mühe gegeben, sie würde es schon lernen, eine Bäuerin zu sein, und Michael hatte gesagt, sie solle sich nicht grämen, ihn fänden sie ja auch komisch, hatte er gesagt, anders eben, und das, obwohl er die Dorfstraße hinunter war, wie die anderen zuvor, nur die Armbinde, die wollte er nicht, und Theresia hatte am Gemeindegraben gestanden, ins Wasser geblickt, braun vom Regen des gestrigen Tags, Michael wollte sie nicht nachsehen.

Das Klopfen hörte nicht auf, Stein auf Stein, so klang es, was sollte es nutzen, hinzugehen?, ihr Kleid spannte über dem Bauch, sie würde die Schürze höher binden, den Knopf, der nicht mehr schloss, darunter verbergen, warum ausgerechnet jetzt?, hatte ihre Mutter gefragt, und manchmal dachte Theresia, dass so ein Bauch immer noch runder werden konnte, wenn alles andere spitz und knochig an ihrem Körper geworden war, die Knie, das Kinn, die Ellenbogen, und sie holte die Ziegen Mille und Molle aus dem Stall, es war besser, nicht alleine nach hinten zu gehen, nicht um zu schauen, sondern um die Ziegen nach hinten zu bringen, in diesen Zeiten war es nicht gut, allzu viel zu sehen, zu hören, und Stimmen gesellten sich zum Klopfen, nein, nur eine, die Thomas-Stimme, sein bellendes Schreien. Theresia entriegelte das Scheunentor, das Klopfen hörte auf, ihre Holzpantinen klangen dumpf auf dem gestampften Lehmboden, auf dem sie durch die Scheune ging, Mille und Molle neben sich, bis zum rückwärtigen Tor, dieser Haken klemmte stets, und sie zog das Tor zu sich heran, so gut dies eben ging, drückte den Haken gleichzeitig nach oben, Mille stieß den Kopf ungeduldig gegen das Holz, Theresia wickelte sich das Seil fester ums Handgelenk, kaum wäre es offen, würde Mille ziehen, ungeduldig vor Gier, und Molle würde die Beine in den Boden stemmen, bis Mille auf und davon wäre; ja, so war sie Michal zum ersten Mal begegnet, er war herbeigeeilt, Thomas’ Gezeter im Nacken, hatte die Ziege eingefangen, ihr Mille zurückgebracht, wortlos, aber ein Nicken in den Augen – wie jetzt –, nur einige wenige Sekunden, von oben, ein kleines Nicken, ein wären-die-Zeiten-andere, und still wandte sie den Kopf, fort von Michal, nach Süden, band Mille an den Nussbaum, Molle etwas weiter hinten an den Zwetschgenbaum, noch nicht reif, keinesfalls, und sie prüfte Früchte, hielt nach Schädlingen Ausschau, um aus den Augenwinkeln zu sehen, was Thomas offenbar befohlen hatte, der einzige im Dorf mit richtigen Fremdarbeitern zur Erntehilfe, großen, starken Männern von drüben, an harte Arbeit gewohnt die meisten, die anderen im Dorf aber hatten Mädchen aus dem Gymnasium als Aushilfen bekommen, solche mit einer weißen Haut, die allerhöchstens Tintenflecken an den Fingern hatten, für die Feldarbeit viel zu schwach, tagelang hätte man denen erst einmal zu essen geben müssen, und die Augen zu groß in den weißen Gesichtern. Thomas hatte zu Theresia und den anderen im Dorf gesagt, dass es ihre Schuld sei, die wären ja dort gewesen, die Männer, am Bahnhof, und wären sie in die Stadt gegangen, hätten sie sich auch welche aussuchen können, er hätte dann schon die Papiere gemacht, so aber habe er drei für sich geholt, und Theresia dachte an Michael, es war gut, dass er nicht da war, Michael hätte nicht nur die Fäuste in den Hosentaschen geballt, den Kopf rot vor Wut, wie der alte Hias, er hätte den Mund aufgemacht, mit Sicherheit, und alles Wegziehen und Zureden hätte nichts genutzt, und Michal, der oben stand, nickte ihr zu, nur mit den Augen. Denn von unten schrie Thomas, weitermachen solle er, der Trottel, höher müsse das werden, was dauere bloß derart lange, und Theresia drehte den Kopf nach Süden, ging durch den Obstgarten, durch die Scheune zurück, beide Tore eingehakt, stand dann im Innenhof und wusste nicht so recht, wohin mit sich, denn dort hinten wuchs eine Mauer. Thomas ließ eine Mauer bauen, zwischen ihnen, zwischen ihren Grundstücken, eine Mauer, die an den folgenden Tagen höher und höher stieg, der Holler verschwand dahinter, die Robinien und bald auch der Nussbaum, und Theresia fragte sich, wo er die Ziegel hernahm, woher er Zement bekam, und was Michael dazu sagen würde, schon konnte sie die Tanne oben im Garten der Winkel-Müller nicht mehr sehen, und als ihre Mutter kam, um die Ringlotten vom Baum zu holen, war die Mauer über das Dach der Scheune hinaus gewachsen, fortwährend das Klopfen und Klappern, all die Tage einer Woche über, und Thomas’ Stimme hinter der Wand. Dass sie den Schwager nun wenigstens nicht zu sehen brauche, hatte sie der Mutter gesagt, und sie fragte sich, ob Michael das gleichfalls gut finden würde, und sie war mit dem Wassereimer ins Haus zurückgegangen, die Mutter hatte ihrem Wanken zugesehen, kurz nur, »Essen musst mir mehr.«, hatte sie gesagt, und Theresia hatte genickt, eine Antwort, so eine, wie sie noch vor Monaten gegeben hätte, war nicht nötig, und die Mutter ließ trotzdem ihr »Ausgerechnet jetzt!« in den Topf am Herd fallen, ohne Zucker einzukochen, das brauchte eine Ewigkeit, aber Not mache erfinderisch, und halten werde es schon, ein paar Monate, bis Allerheiligen, ob sie wenigstens etwas gehört habe, von Michael, und der Kochlöffel wies auf ihren Bauch, ob sie es ihm geschrieben habe, und der Mutterkopf nickte nach Norden, zur Mauer hin, dass der Thomas eine Mauer baue …

… am Abend setzte sie sich nach hinten, zum ersten Mal, seit Thomas angefangen hatte, mit diesem Mauerbau. Ihre Augen zählten wieder und wieder die Ziegelreihen, sechsundvierzig lagen aufeinander, um die Scheune zu bilden, ohne Dach, und Thomas’ Mauer war höher, um vierunddreißig Ziegelreihen höher, achtzig Reihen also, sechsundvierzig die Scheune und vierunddreißig mehr, und sie zählte und zählte die Reihen ab, bis es zu dunkel wurde, um die Fugen zu sehen, die Hände über dem Bauch gefaltet, dort, wo das Kleid klaffte, weil die Knöpfe nicht mehr schlossen, achtzig Reihen wartete sie auf den Mond, der längst schon da sein müsste, sichtbar sein müsste, aber da war nichts am Himmel, nur die Mauer war zu sehen, darüber ein paar Sterne. Dass Thomas ihr den gestohlen hatte! Zumindest während jener ersten Nachtstunden, so dass der Mond erst jetzt, und sie wusste, ohne eine Uhr zu haben, dass es viel zu spät war, um noch wach zu sein, dass er ihr den Mond gestohlen hatte, stundenlang, weil er jetzt erst, zu einer Zeit, da sie lange schon schlafen sollte, über die Mauer lugte. Er hatte ihr den Mond genommen. Und Michael. Husten drang aus Thomas’ Stall. Dass man alles hören konnte, aber nichts sehen, wegen dieser Mauer, nachts war sie rotgrau, am Tag ziegelrot, und zwischen den Reihen das Gemisch aus Sand und Lehm und Kies und Zement, wo er den bloß her hatte?, wahrscheinlich war das für einen wie ihn nicht schwierig, dafür sorgte schon sein Abzeichen, drei Fremdarbeiter, die Mutter hatte gesagt, Theresia müsse unbedingt auch einen beantragen, sie sei allein am Hof, schwanger obendrein, und Theresia hatte stumm den Kopf geschüttelt. Deshalb war die Mutter zu Thomas gegangen, Bürgermeister, Schwiegersohn, auch wenn ihre Anna im Kindbett gestorben war, man war doch irgendwie miteinander verwandt, oder nicht?, und sie, Theresia, hatte Thomas lachen hören. Welche Worte er der ›Frau Ehedem-Schwiegermama Studienrat‹ ins Gesicht geschlagen hatte, fragte Theresia ihre Mutter nicht, als sie zurückkam, die roten Flecken am Hals erzählten genug. Es war besser, nichts von Thomas zu wissen.

Im Herbst, sie war kurz davor zweiundzwanzig geworden und von Michael hatte sie seit Monaten keine Feldpost bekommen, auch keine Grüße zum Geburtstag, im Herbst dann fielen die Nüsse und das Kind, die Mauer aber stand immer noch, und das Husten dahinter war schlimmer geworden, und Theresia hatte das Kind Michl genannt, und sie dachte, es sei viel zu klein für so einen Vater, und Thomas hatte Michal befohlen, die Mauer vorne weiterzuführen, dort, wo ihr Gemüsegarten an denjenigen grenzte, denn Anna bewirtschaftet hatte, bevor sie gestorben war, am Fieber, und Theresia sah Michl an, den sie neben den Beeten in eine Schublade gelegt hatte, die Haselnussstaude ließ ihn schlafen, während Theresia Ziegenmist ausstreute, damit im nächsten Jahr alles gedeihe, ihr und dem Kind, wovon zu leben wäre, während Thomas Ziegel hinzufügen ließ, Reihe um Reihe, und die Dorfbewohner gingen jenseits des Gemeindegrabens vorbei, die Köpfe nach Südwest gewandt, um nicht hinzusehen, einzig Liesl kam zu Theresia in den Garten, nichts nutzen würde ihm das, sei der Krieg erst vorbei, bald schon, bald, an Hitlers Südostwall, der die Rote Armee aufhalten solle, glaubte keiner im Dorf – außer Thomas, und der schickte sogar Kinder in den Krieg, nichts anderes waren die Buben, die für ihn die Dorfstraße hinabzogen, wie Michael, wie all die anderen vor ihm, und die Frauen im Dorf, die zuvor noch voller Stolz gewesen waren, auf ihre Männer, pressten nun die Lippen zu festen Strichen, und Theresia hob Haselnuss um Haselnuss aus dem Gras auf, legte sie zu Michl, der in der Schublade schlief, und Michal blickte von oben herüber, kurz nur, auf sie und das Kind, seine Augen dunkler als gewohnt. Dass der Winter rasch vorbei gehe!, im Stall gab es bloß noch Molle, die Ziege, Mille war auf und davon, niemand hatte sie aufgehalten, und das Schwein war geschlachtet, der Husten hinter der Mauer klang schlimmer denn je zuvor, und greinte Michl des Nachts, erzählte Theresia ihm leise wieder und wieder die gleiche Geschichte, aus ihren Brüsten kam kaum mehr Milch, und die Geschichte, die Theresia erzählte, ging so: Oben auf der Anhöhe stand einst eine Burg, darin hausten grausige Raubritter, keiner war vor ihnen sicher, der mit seinen Waren von Wien nach Südmähren, von Südmähren nach Wien reiste, bis die Bauern im Landstrich beschlossen, nun sei es wahrhaftig genug; sie luden ihre Fässer, zogen des Wegs, und es geschah, was geschehen musste, die Ritter raubten den Wein, die Bauern flohen mit lautem Geschrei, um in der Sicherheit ihrer Höfe der Dinge zu harren: Bald schon war man auf der Burg lustig, bald elend, dann tot; denn vergiftet hatten die Bauern den Wein, wie zuvor die Raubritter die Gegend, und in den Jubel der Bauern, in ihre tagelange Feier zogen unbemerkt andere Raubritter, wüteten schlimmer als diejenigen zuvor, und die Bauern, nüchtern und still, berieten sich und entschieden: Niemals käme Besseres nach!, und so ertrug man das Unwesen der Raubritter, still klagend, wanderte tagtäglich die Mauer, welche sie errichtet hatten, entlang, den Blick nach Süden gewandt … – nein, der letzte Satz gehörte nicht zur alten Sage, Theresias Vater würde über die Unterschlagung des guten Herzogs, der irgendwann einmal allem ein Ende machte, den Kopf schütteln; aber wie sollte sie sonst ihrem Sohn und dem Husten hinter der Mauer mitteilen, dass es besser war, ganz fein still zu sein? Auf schöne Tage zu hoffen, schien ihr nach allem, was im Dorf geschehen war und worüber keiner sprach, ein größerer Hohn …

… nein, und gestorben war sie die ganze Nacht über nicht, auch nicht am Morgen, obgleich sie sich bemüht hatte, die Katzen hatten der Kater wegen, die auf ihnen ritten, geschrieen, die halbe Nacht hindurch, und jetzt, am Morgen, war Jan hereingekommen, hatte Theresia Kaffee gebracht, weshalb sie denn bereits auf sei, und dass er jetzt hinausgehen werde, dass sie beginnen wollten, die Mauer abzureißen, bevor die Sonne hoch stehe, die Arbeit mühsam werde, dass Isabella noch schlafe, Marie-Therese sicher auch, dass sie deshalb hinten anfangen würden, und ob sie, Theresia, noch irgendetwas brauche, ›Tu’s nich’‹, hatte sie gesagt, zu leise, und Jan, der schon im Gehen gewesen war, hatte einzig den Kopf gewandt, ihr zugelächelt, und die Tür ins Schloss gezogen, Theresias Finger fuhr über die Ofenkachel, streichelte die Risse darin, Michael hatte ihn gesetzt, in einem anderen Leben, wie Theresia schien, ausgebrochen war die winkende Hand der Frau, und dem Mann neben ihr fehlte der Kopf, nun, sagte Theresia leise, nun müsse sie endlich sterben, alle seien sie schon gegangen, Michael, Michl und aller Wahrscheinlichkeit nach auch Michal, es könne doch nicht sein, dass der Tod sie vergessen habe …

… später dann, im Winter, ging sie manchmal mit dem Kind zur Mutter hinauf, wischte die Mahnungen bei Seite, sie werde dem Jungen mit der Kälte den Tod holen, ausgerechnet jetzt, wenn alles fast vorbei sei, nein: sein müsse, sagte die Mutter, und Theresia ging an den Feldern entlang immer weiter hinauf, in Acht nehmen solle sie sich, die Russen wären bald da, im Radio habe die Mutter es gehört, zu schweigen habe man, sonst nehme es ein Ende wie beim Pfarrer, aber bald, schon bald, und Theresia dachte an die Mauer, achtzig Ziegel in Reihen aufeinandergeschichtet, und dass sie sich ausgerechnet hatte, die Mauer müsse demnach 6,4 m hoch sein, und Weihnachten kam, und Neujahr, und von Michael keine Zeile, Geselchtes hatte sie ihm geschickt, von Siri der Sau, das hatte sie ihm dazugeschrieben, damit er wisse, dass das Schwein auch nicht mehr da sei, damit er bald käme, aber was waren zweihundert Gramm?, in das andere Paket hatte sie ein bisschen Biskuit gepackt, Feldpost kam keine mehr an, schon lange nicht, und zu niemandem im Dorf, nur die Meldungen, wer gestorben sei, für Führer und Vaterland, wer weiß, ob die Pakete ihn überhaupt noch erreichten?, aber bald schon, bald, im Feindsender hätten sie es gesagt, hatte die Mutter erzählt, weil sie wusste, dass Theresia kein Radiogerät besaß, nur den Volksempfänger, der auf der Kredenz oben verstaubte, den sie nie auch nur ansah, mit Thomas im Nachbarhof wäre es zu gefährlich gewesen, anderes zu hören, still sein, ganz still, das sagte sie auch Michl jede Nacht, wenn er greinte, still sein, still, die Raubritter feiern hinter der Mauer, aber bald schon, bald, und Heilige Drei König, und dann hieß es, die Fremdarbeiter müssten sich alle melden, Theresia konnte Thomas toben hören, weil einer von seinen dreien fehlte. Und Theresia hatte plötzlich Angst, dass es derjenige wäre, den sie Michal genannt hatte, ohne zu wissen, wie er wirklich hieß, damals, und dann war es dabei geblieben, Michal und aus, und Maria Lichtmess, da war die Rote Armee bereits bei Güns, Palmsonntag, Ostern, und im Dorf sagten sie, der Stephansdom in Wien brenne, und Theresia konnte sich dieses Feuer nicht vorstellen, weil sie den Dom nie gesehen hatte, erst als die Front durch das Dorf lief, da konnte sie das Brennen sehen, lichterloh, es brannte und brannte, Schule, Kirche, dreizehn Häuser, weit war es zu sehen und zu riechen, legte sich in jeden Mund, der geöffnet wurde, vierzehn Stallungen, einundzwanzig Scheunen, sechs Presshäuser, und der Geruch blieb an den Flimmerhärchen in der Nase haften, Tischlerei und Gasthaus waren nur mehr schwarze Höhlen, aus denen müde Augen blickten, und das Brennen hörte erst kurz vor Christi Himmelfahrt auf, obwohl die Frauen, die man im 43er Jahr in die Feuerwehr beordert hatte, weil es für den Löschwagen keine Männer mehr gab, obwohl die Frauen alles getan hatten, was zu tun gewesen war. Angst hatte man, vor den Russen, vor der deutschen 8. Armee, vor Thomas, und erst danach, als die Russen im Dorf waren, stand er plötzlich wieder da, derjenige, der Fremdarbeiter, der sich an der Thaya versteckt hatte, und da wusste Theresia, dass es nicht Michal gewesen war, und der Fremdarbeiter und die Russen patrouillierten und schossen, und Thomas sprang auf den Wagen, auf und davon. Bis er einige Wochen später nochmals zurückkam; wieso – das wusste keiner zu sagen, aber sie hatten ihn gesehen, die anderen, sie hatten ihn auf seinem Wagen gesehen, oben, am Feldrain, und sie kamen zusammen, die überlebenden jungen Männer, die ins Dorf heimgekehrt waren, und Thomas war den Hügel hinunter, zu seinem Hof. Und dann konnte Theresia hören, was hinter der Mauer im Garten geschah, halbtot prügelten sie ihn, und wenn später die Rede darauf kam, sagten die Dorfleute, was geschehen sei, könnten sie sich nicht erklären, dass sie hinschlugen, obgleich er sich nicht mehr bewegte, erst aufhören konnten, als er keinen Laut von sich gab, nicht einmal mehr zuckte, dass sie erst aufhören konnten, als sie glaubten, dass er tot sei, dass all das Zusammenlaufen der älteren Männer, ihr Schreien und Wegzerren, ihr Brüllen vom Christentum und dessen, was recht sei, nicht in ihre Ohren gedrungen war, dass all das sie nicht erreicht hatte, und Theresia hatte es gehört, den letzten Schrei des einen, jetzt hätten sie ihn umgebracht, und sie hatte Michl im Arm auf die Stirn geküsst und an die dunklen Augen Michals gedacht, sein Blick an jenem Tag, als sie die Nüsse aufsammelte, sie neben das Kind in die Schublade legte, und Michals Blick, von der Mauer herab, auf sie, auf das Kind, und dann die Stille …

… Michael kam lange nach allen anderen die Dorfstraße herauf, Michl konnte da schon laufen und sprechen, und Theresia hätte Michael beinahe nicht erkannt, so fremd war er ihr, dünn und größer als zuvor, und er sah das Kind an, sah sie an, und auch ihm war alles fremd, sie, das Kind, das Haus, der Garten, die Mauer, lange standen sie stumm dort, sie sagte ihm, es seien achtzig Ziegelreihen, 6,4 m sei diese Mauer hoch, verputzt sei sie auf der anderen Seite, weißgetüncht sogar, das habe sie an Michals Händen gesehen, an den weißen Kalkspritzern, und dass Michal dort oben sitzen könne, nachts, wenn sie im Garten auf den Mond warte, alles höre man, was hinter der Mauer geschehe, selbst das Husten, aber man sehe nichts, rein gar nichts, und dass sogar der Mond auf sich warten lasse, und dass die Männer Thomas halbtot geprügelt hatten, und Michael hatte genickt, ›Gut so‹, war alles, was er sagte, und Theresia fügte hinzu, dass Thomas nicht tot gewesen sei, das hätten sie nur geglaubt, im Dorf, dass er fort sei, sobald er wieder ein bisschen laufen konnte, auf und davon, nur wohin, das wisse keiner im Dorf, und dass sie ihren Sohn Mischa zu rufen begonnen habe, wenn keiner sie höre; und nach der Christmette kam Liesl zu Theresia, legte den Arm um sie, das Leben müsse weitergehen, sie, Theresia, habe einen Sohn, es seien zahllose andere auch gefallen oder würden nach wie vor vermisst, und Theresia hatte sie angesehen und den Kopf geschüttelt, wie könne es denn weitergehen, das Leben, wenn es so sei?, hatte die Arme ausgebreitet, dort oben, am Friedhof, und ihre Arme hatten das ganze Dorf umfasst, wie könne es denn weitergehen?, und dann hatte sie Mischa an die Hand genommen, war heimgegangen, und die Mauer blieb, nein, blieb nicht bloß, sie wurde im Norden noch ergänzt, und plötzlich endete die Welt hinter dem Hügel an einem Stacheldraht. Ja, sie ging hinauf, mit dem Kind, und dann weiter, nach Nordwesten, mit den anderen, allesamt Männer, da waren alle Männer des Dorfes, und Liesl und sie, Theresia, Mischa am Arm, an den Waldrand gingen sie, wobei Theresia für sich immer hinzufügte, dass man das hier keinesfalls ›Wald‹ nennen konnte, diese zwanzig Bäume, ein Windschutz, ja, aber kein Wald, Wald, das gäbe es dort, wo sie her sei, und Berge, das hier seien nur Bäumchen, Hügelchen – welche die Ortsansässigen ›Beri‹ nannten –, und Theresia dachte dabei stets an Beeren, Him-, Brom- und Stachel- und fand deshalb den Beri-Namen für diese leichten Erhebungen zutreffend, aber Berge waren das keine, auch keine Hügel, und der Wald kein Wald, und dort standen sie, die Männer, Liesl und Theresia, an ihrer Hand Mischa, hinter sich das Wäldchen, das kein Wald war, und sie sahen aus sicherer Entfernung zu, was geschah, viel war da ohnedies nicht zu sehen, nicht mit bloßem Auge, aber Sepp, der Jäger, erzählte, was er im Gucker beobachtete, reichte ihn schließlich weiter, weil die anderen drängten, so dass auch Theresia sah, was sie später ›Eisernen Vorhang‹ nannten, und sie dachte an die Mauer, die Thomas Michal zu bauen befohlen hatte, und daran, dass Michael ›Gut so!‹ dazu gesagt hatte; aber das hier, das war alles andere als gut, und über die Mauer wuchs mittlerweile wilder Wein, Theresia hatte ihn gesetzt, damit es nicht nach Gefängnis aussähe, so hatte sie es Mischa erklärt, und Theresia stand neben Liesl und den Männern und sah zu, was nicht zu sehen war, und dachte, hier würde wilder Wein auch nichts helfen, aber im Dorf sagte man ›Gut so!‹, die Kommunisten wolle man nicht hier haben, gut so, wenn die dahinter blieben, gut so, wenn man mit denen nichts zu tun hätte, die Russen hatte man lange genug zu ertragen gehabt, gut so, und Theresia dachte an Michal, irgendwo dort – oben, drüben, wo auch immer, während sie alldem den Rücken zuwandte und mit Mischa an der Hand nach Hause ging, nach hinten in den Garten zur Mauer, und was Michal angerührt hatte, dieses Gemisch aus Sand, Lehm, Kies und wenig Zement, bröselte auf der unverputzten Seite heraus, wenn sie mit der Hand über die Mauer strich …

… einhundertundzwölf weitere Male hatte sie die Luft angehalten, und der Druck im Kopf, im Brustkorb vermittelte ihr das Empfinden, ihr Gesicht weiche an den hinteren Schädelknochen zurück, bevor das Bild zu kippen schien, und sie dachte, sie müsse aussehen, wie eine dieser Uhren des spanischen Malers, die irgendwo hingegossen waren, als würden sie in der Sonne schmelzen, ihre Urenkelin hatte so eine in ihrem Zimmer, nicht das Bild, nur ein Poster, und Theresia hielt das Ausatmen an, der Druck im Kopf wuchs, sie dachte, ihr Kopf könne nicht mehr auf der Wirbelsäule ruhen, sondern würde in ihren Rücken rollen, nach hinten und unten, ihre Kehle gierte nach Luft, und jeden Versuch, den sie abzubrechen hatte, weil sie wie jetzt gegen ihren Willen Luft einsog, meist durch den Mund, nein, sie schnappte nicht danach, aber gierig und geräuschvoll geschah es, dieses Einatmen, das sie sogleich durch ein Ausatmen abbrach, und dann musste sie sich stets ein wenig ausruhen, bevor sie es erneut versuchen konnte, einhundertundzwölf weitere Male, und sie wartete darauf, dass Jan hereinkäme und sagte, was gesagt werden musste, und die Scham fraß sich in ihre Augen, selbst wenn nichts mehr entziffert werden könnte, weil der Regen, der Schnee seit langem alles getilgt hätte, selbst dann würden sie sich wundern, würden sie Theresia als die Älteste befragen…

… es begann, weil ihr Sohn die Haare Michaels hatte und Michals Augen darunter, weil die Mauer ihre Welt begrenzte und ihr den Blick nahm, weil Michal nicht mehr auf der Mauer saß, deshalb hatte eines Abends ihre Hand den Stift genommen, als wüsste sie, was zu tun sei, hatte ein kleines Stückchen Papier in die Schürze gesteckt und war in den hinteren Garten gegangen, dort sitzend, und ihre Hand hatte geschrieben, dass 6,4 m Höhe dem Mond erst um halb elf gestatteten, über die Mauer zu klettern, und ihre Finger hatten unter den Weinranken eine Ritze gesucht, Sand und Lehm herausgekratzt, den Schnipsel hineingesteckt, und am nächsten Tag, als sie die Zwetschgen erntete, suchten ihre Augen immer wieder nach jener Stelle in der Mauer, und weil sie diese nicht entdecken konnte, wanderten weitere Wörter aufs Papier, und nachts, als alle Männer im Dorfgasthaus waren, der einzige Ort, an dem es bereits einen Fernsehapparat gab, und Mischa schlief, zusammengerollt, wie es seine Art war, da tasteten ihre Hände die Mauer nach einer weiteren Ritze ab, und der Wein war vergiftet, aber es kam nie Besseres nach, und Mischa musste in der Schule die Sage hören, korrigierte den Lehrer, bekam eine Kopfnuss, und zur Strafe hatte er hundert Mal zu schreiben: ›Erst als ein edler Herzog das Gesindel vertrieb und eine neue Burg baute, konnte Ruhe einkehren.‹, daran glaubten jedoch weder Mischa noch seine Mutter, an die Ruhe, und jeden Tag schob Theresia, was nicht zu sagen war, weil keiner es hätte hören wollen, zwischen die Mauerritzen, eine Mauer, sechs Komma vier Meter hoch und zweiundfünfzig Meter lang, das ist viel Platz für Nachtgedanken, und wenn ihr die Welt allzu unbegreiflich wurde, rechnete sie sich aus, wie viele Ziegel Thomas vermutlich benötigt hatte, und in anderen Nächten, wie viele Handgriffe Michal gebraucht hatte, um all diese Ziegel aufeinanderzuschichten, und manchmal hörte sie Schüsse, von hinter der Mauer, hinter dem Beri, von drüben, und die Jungen, die verließen das Dorf, weil hier kein Bleiben sei, sagten sie, am sprichwörtlichen Ende der Welt, das sei kein Leben, hier, und Theresia ging dorthin, wo nichts mehr war, ihren Sohn an der Hand, sah geblümten Stoff im Stacheldraht, die Reste eines Sommerkleids, irgendwo dahinter Michal, und sie schaute ihrem Sohn beim Wachsen zu, klug war er und schön, manchmal hätte sie sich deshalb gerne bei ihm erkundigt, wie das denn sein könne, dass er Michaels Haare und Michals Augen hatte, groß waren beide gewesen, groß und schlank, und es drängte sie, ihren Sohn zu fragen, ob es deshalb so gekommen sei, weil sie währenddessen an denjenigen gedacht hatte, der nicht bei ihr gewesen war, Michael und Michal, still, fein still hatte man zu sein, es war besser die Wörter nicht zu sprechen, sie auf Zettel zu schreiben, ob es deshalb sei – und tief, tiefer als alle anderen zwischen die Ritzen der Mauer …

… und Jan kam herein, zum Essen, wusch sich die Hände im Bad, weißt, was wir gefunden haben?, rief er Isabella zu, diese Mauer, die hielt nur noch aus Gewohnheit!, beginnst du, die Ziegel abzutragen, in etwa auf zwei Meter herunter, dann sind die Ziegel plötzlich allesamt innen hohl, nein, kein Hohlblock, vorne und hinten sind Ziegelscherben, dazwischen Brocken, Steine, und auf unserer Seite lauter kleine Papierknödel, einer an den anderen gepresst, ja, darin, und dazwischen, in die Ritzen zwischen die Ziegel, wie Pappmaché!, gehalten hat es, trotzdem, wer weiß wie lang, irgendwann wäre die vermaledeite Mauer sicher auf uns gestürzt, was sich die bloß gedacht haben, oben, hätten sie nur oben die Fugen mit Papiergemisch gefüllt, das hätte man ja verstanden – aber unten?, wo das Gewicht lastet!, und Isabella sagte, das sei eben 1944 gewesen, während des Kriegs, und dann zuckte Isabella mit den Schultern, ob er es schon gehört habe, im Radio, sie hätten gerade eben …, rot-blau, ja, sie hätten es in den Nachrichten gebracht, rot-blau, und Jan war zur Tür hinaus, hatte sie ins Schloss fallen lassen, lauter als sonst, und Theresia sah zu den Photographien, die an der Wand oberhalb der Essbank hingen, Michael 1904–1944, Mischa als Kind, Mischa bei seiner Hochzeit mit Johanna, Mischa mit seiner Tochter Isabella, Mischa kurz vor seinem Tod, Isabella und Jan – und Theresia dachte daran, wie man Isabella gesagt hatte, wieso denn so einer, einer von drüben, nur weil der jetzt weg sei, der Eiserne Vorhang, wieso sie das denn Not habe, so einen, und zum ersten Mal konnte Theresias Stimme kaum aufhören zu schreien …, und Isabellas Tochter Marie-Therese, die erste, die studierte, Marie-Therese, die ein Buch geschrieben hatte und jetzt Dorfschreiberin war, dort, nahe beim Südostwall, und Theresia sah von Bild zu Bild, nur Michal fehlte, und weil sie ihn jetzt sitzen sah, auf der Bank, unter den gerahmten Photos, ihr gegenüber saß er, die Hände ruhten auf dem Tisch, weil sie ihn dort sitzen sah, wusste sie, dass es nun geschehen würde, dass es dieses Mal sein würde, beim eintausendeinunddreißigsten Versuch …

II More than a useless burden

1894, Jahr der Fertigstellung der Tower Bridge, der Entdeckung des Pestbazillus und der Erfindung des Edinsonschen Guckapparates Kinetoskop, 1894, Gründung der »Austria«, erste Schwimmvereinigung für Frauen sowie des Wiener Zweiges der »Ethischen Gesellschaft in Österreich«, 1894, das Jahr, als Gabriele Possanner von Ehrenthal als erste Österreicherin zur Doktorin der Medizin promoviert und Zeitschriften wie »Frauenleben« und »Frauen-Werke«1 herausgegeben werden, 1894, im Monat April, und ein Mädchen namens Marietta wird geboren, Etta genannt.

Wien

Immer wieder Wien, und einzige Tochter unter drei Söhnen, Mariettas Weg in die Schule, Montag bis Freitag, fünfklassige Übungsschule der k. k. Lehrerbildungsanstalt, Hegelgasse 12. Marietta ist noch zu klein, um, wenige Häuser weiter, Hegelgasse 19, die Klassen des Privaten-Mädchen-Obergymnasiums des »Vereins für Erweiterte Frauenbildung« zu besuchen.

Jene Zeit, als Marietta Lesen und Schreiben zu lernen beginnt, ist eine Epoche der Ersten-Male, und in den Gymnasialklassen beginnt Dr. Cäcilie Wendt ihre Unterrichtstätigkeit. Wenige Monate vor Schulbeginn war aus Cäcilie eine Frau Doktor geworden, Mathematik und Physik, und der Rektor der Wiener Universität hatte gesprochen:

»Es ereignet sich heute an unserer Universität zum erstenmale, dass unter den Candidaten des Doctorates eine Dame sich befindet, und da erscheint es mir von Bedeutung, dass Sie, mein Fräulein, sich ein Wissensgebiet gewählt haben, welches zu den abstractesten und schwierigsten gehört, welche der Menschengeist geschaffen, dass Sie aber trotzdem Ihr Fachrigorosum mit Auszeichnung abgelegt und durch eine vorzügliche Dissertation Ihre Vertrautheit mit diesem Fache, der Mathematik, nachgewiesen haben, zum Beweise, dass Anlage und Begabung selbst für die schwierigsten Wissenschaftsgebiete nicht an das Geschlecht gebunden sind.«2 Überzeugungsarbeit leisten, beweisen, eine Frau nach der anderen, immer wieder zu jener Zeit zum ersten Mal, und Marietta hineingeboren, in diese Ersten-Male, zwei Jahrzehnte davon geprägt. Denn so manche wird Cäcilie folgen; auch Marietta, später.

Vorerst plagt sie sich mit Schreibschrift und artigen Zöpfen. Dass sie alle überfliegen wird, steht in den Sternen, die zu jener Zeit der Ersten-Male noch hell und ganz leuchten; allem keimenden Hass zum Trotz.

Wien – Berlin – Frankfurt am Main – Göteborg – Göttingen – Paris – Wien

Und der Vater, Dr. Markus Blau, ein k. k. Hof- und Gerichtsadvokat, und die Mutter Florentine, eine geborene Goldenzweig. Nomen est omen, denn sie werden Marietta einen starken Ast zur Heimat geben, und die blaue Weite, denn Marietta soll lernen, mehr als zu ihrer Zeit zumeist erlaubt wurde, sie soll Jahr um Jahr die Schule besuchen, das Mädchengymnasium, Hegelgasse 19, und als dieser Ort zu eng wird, übersiedelt die Schule in die Rahlgasse 4, und Marietta weiß, was sie will, jetzt ebenso wie später, Kinder-Nervenärztin möchte sie werden, da wohnt die Familie schon draußen, im Cottageviertel, in der Grinzingerstraße 93, nicht mehr in den inneren Bezirken eins bis drei.

Marietta soll studieren, aber nicht Medizin, nein, Physik und Mathematik, vor allem die aufstrebende Physik, Alphateilchen3, ß-Strahlung, zehn Jahre bevor jeder dritte Studierende dieses Faches eine Studentin sein wird, Protonen, Mariettas Welt, y-Strahlung, Absorption, Neutronen, Mariettas Lied, bis ihr die Krankheit die Lunge belegt, müde und schwach, sie hat »die Motten«, so sagt man; sie hat sich angesteckt, bei einem anderen, vielleicht durch Milch, die sie trank, und sie muss hustend um Luft ringen, gelblich-grüner Schleim, Nachtschweiß. Eine Ruhezeit.

Verordnete Pause.

Danach die Auszeichnung, Doktorat wie zuvor Matura, und dazu die Eltern-Sorgen, Tod des Vaters, die Mutter versorgt weiterhin. Das Zentralröntgeninstitut in Wien, die Röntgenröhrenfabrik in Berlin, ein bisschen eigenes Geld, und Assistentin am Institut für Physikalische Grundlagen der Medizin in Frankfurt am Main, zweieinhalb Jahre Deutschland, und wieder Wien. Weil die Mutter erkrankt ist, und keiner sich sonst sorgen kann. Wien ist Marietta gut, und Wien ist Marietta nicht gut, weiß und schwarz, alles fügt sich ineinander, denn Marietta kann tun, was sie möchte: Forschen; daran hängt ihr Herz. Das Familienvermögen erlaubt es, dass sie ohne Bezahlung am Institut für Radiumforschung tätig ist – wie einhunderteinundsiebzig andere auch4. Marietta will beweisen, was sie kann, und nach sieben Jahren schreibt ihr einer zu: minutiöse Präcision, theoretisches und experimentelles Können, Ausdauer und peinlichste Gewissenhaftigkeit.5 Weshalb Marietta ein Stipendium des »Verbandes Österreichischer Akademikerinnen« erhält, und dieses sowie die verbesserte Gesundheit der Mutter ermöglichen Marietta Göttingen und Paris, den Gott Professor Pohl und die gestrenge Marie Curie, von Alpha-Partikeln in Beryllium ausgelöste Neutronenstrahlen.

Von Paris jedoch führt kein Weg nach Deutschland zurück, denn Göttingen ist schon braun gesprenkelt, und Marietta wieder in Wien.

Marietta denkt, sie könne sich nun um eine Assistentinnenstelle bewerben, um Entgelt für ihre Arbeit, denn sie leiste Wesentliches, und sie fragt mit leiser Stimme, überlegt und langsam, wie es ihrer Art entspricht. Sie sind Frau und Jüdin, das ist einfach zu viel, sagt man ihr, und sie kann es nicht ändern, das eine nicht, das andere nicht.

Dass dies nicht nur ihr bestimmt, nimmt allem nicht den Stachel, der sich ins Fleisch bohrt, Jahr für Jahr. Frau und Jüdin, und Hans Pettersson, ein Schwede in Wien, im Streit mit Rutherford und Chadwick aus Cambridge, Pettersson, der sagt, am Wiener Radiuminstitut könne man alles machen. Er ist es, der die Atomzertrümmerungsgruppe leitet, und er bittet Marietta.

Er schlägt Marietta vor.

Er weist Marietta darauf hin und zu.