Albors Asche - Marlen Schachinger - E-Book

Albors Asche E-Book

Marlen Schachinger

4,8

Beschreibung

Valerian hat sein Zimmer seit 21 Jahren, drei Monaten und sechs Tagen nicht verlassen. Vom Fenster aus beobachtet er, was in Albor vor sich geht, notiert alles akribisch in seiner Chronik. Eines Morgens taucht eine Fremde auf und zieht in die leerstehende Kirche neben Valerian ein. Sie trägt ein auffallend gemustertes Kleid, ihr Haar ist rot und bodenlang. Albors Männer beginnen die Kirche zu belagern, um einen Blick auf die Fremde zu erhaschen. Albors Frauen, denen die erkalteten Ehebetten zu schaffen machen, intrigieren und streuen Gerüchte. In Albor wird Andersartigkeit nicht hoch geschätzt, diese Erfahrung macht Pastora spätestens, als die Schere des Friseurs ihr vor aller Augen das Haar nimmt und das ›Komitee zur Aufrechterhaltung der Tugend und Ehrbarkeit‹ sich in ihr Leben mischt. In Albor wird auch nicht gemordet, selbst wenn Pastora eines Morgens über eine Leiche stolpert und weitere Tote sich bis zum Fluss hin sammeln. Valerian weiß um die Geschehnisse der Vergangenheit - die Schuld der einen und das Schweigen der anderen. Mit zunehmender Sorge um die Fremde beobachtet er die Veränderungen in Albor, die mit ihrer Ankunft beginnen und ihren Lauf nehmen, unaufhaltsam, denn alles ist in Fluss und man steigt keinesfalls zweimal in den gleichen...

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Marlen SchachingerAlbors Asche

Marlen Schachinger

Albors Asche

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1229-0eISBN 978-3-7013-6229-5

© 2015 OTTO MÜLLER VERLAG GmbH, SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.at, SalzburgDruck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. StefanCoverfoto: Leo Fellinger

Für Zoë,weiblicher Vorname,französische Form zu altgriechisch ζωή,›die einfache Tatsache des Lebens, welche allen Lebewesen gemein ist‹.›zoe‹ meint dabei nicht nur die Erhaltung der Art,sondern gemäß Aristoteles’ ›eu zen‹,dass der Mensch um des guten Lebens willen geboren wurde. – Platon, sein Lehrer, zieht skeptisch an seinem Bart und fügt hinzu, ›zoe‹ sei doch stets gebunden an das Schicksal,es könne demnach gut oder schlecht gelebt werden.Und weil sich jedes Leben im Irgendwo befindet, dasseinen eigenen Regeln folgt, auch wenn diese uns anreale Orte, reale Gegebenheiten erinnern, wollen wires mit Albor und Aristoteles versuchen.Platon war ohnedies zuvor schon da;und bringt sich ungefragt selbstim literarischen Dialog ins Spiel …

… Ich glaubt’, ein Brunnenhaus sei feuerfest,nun ist ein Häuflein Kohle hier der Rest!Die Quelle aber rieselt frisch und reinauch über Kohlen in die Welt hinein …

(Gottfried Keller: Aus der Feuer-Idylle)

 

 

 

 

… What have I becomemy sweetest friend.Everyone I knowgoes awayin the end.And you could have it all,my empire of dirt,I will let you downI will make you hurt …

 

(Klangraum der Coverversion von Johnny Cash: Hurt.

   Text & Komposition: Trent Raznor/Nine Inch Nails)

Inhaltsverzeichnis

I  Meteorologie, altgriechisch, μετεωρολογiα, Untersuchung der überirdischen Dinge und Himmelskörper

II  Zaungäste verlachen

III  Tithorea Tarricina, eine der Nymphalidaen, auch Tarricina Langflügel oder Creme-Getupfter Tigerflügel genannt

IV  Brot wecken

V  Rosa micrantha, wärmeliebender Strauch, dessen Laub nach Äpfeln duftet

VI  Schinkenschnitten

VII  Geschichte der Landschaft, 424 Seiten, erste Auflage 2013; Format: 24,1 mal 15,7 cm; 2,2, cm dick

VIII  Kofferscheren

IX  Physiologie der Atmung, Ventilation: Inspiration (Einatmung), Exspiration (Ausatmung) – Vitalkapazität eingeschränkt, behindert

X  Selbstbestimmte Scherereien – klippklapp

XI  Ätzmattieren mit Fluorwasserstoffsäure, zuvor Flusssäure (seit 1668). Nicht zu verwechseln mit der Technik des Amelierens, nicht zu verwechseln mit Amelie, ›die Tapfere, die Tüchtige‹

XII  Heiliger Bonaventura, honorarfreies Lesen ist nicht vorgesehen

XIII  Hinweise an die Bevölkerung Albors: 22 und sechs folgende Tage ›Nachgedacht‹

XIV  Dachschaden im Namen des Vaters, der Tochter und der Heiligen Agatha

XV  denken – – – –

XVI  Schaflieder, schneebeflockt

XVII  nach-

XVIII  Geistertänze, kennst du schlecht

XIX  – – – – Ende des Denkens

XX  In Albor gibt es keine Toten

XXI  Schnee: häufigste Form des festen Niederschlags; ab- wie aufbauende Schneeumwandlungen bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt

XXII  Schief und krumm – alles Ansichtssache

XXIII  Schmelzmetamorphose

XXIV  Zwölf Gänse, ein Geschenk Gottes, an welchen man auch glauben mag

XXV  Komitee, das, Substantiv, Neutrum, französisch ›comité‹, [leitender] Ausschuss, der [von den Mitgliedern einer Gruppe] mit einer bestimmten Aufgabe betraut ist

XXVI  Wer an Boden verliert, sinnt auf Rache; das ›Komitee zur Aufrechterhaltung der Tugend und Ehrbarkeit Albors‹ ebenso

XXVII  Licht, der für das Auge sichtbare Teil elektromagnetischer Strahlung; wird an der Grenzfläche zweier Medien unterschiedlicher optischer Dichte gebrochen

XXVIII  Tage gestohlen

XXIX  Damit du weiß- / Philipp, geboren am 17.2., Enkel des Generals / ›fifaltra, fifealde‹

XXX  Ohrenschmetter und Schlingen

XXXI  My Empire of Dirt / 26.12. / Vollmond

XXXII  Namen finden sich nicht in Bootsplanken

XXXIII  liebenswert: Adjektiv, Liebe verdienend, schwache Beugung mit Artikel: dem Liebenswerten sei die Welt

XXXIV  In weißes Leinen, mit Kränzen geschmückt, rückwärtige Spiegelstücke, Elfenbeinkämme für die fortwandelnde Fülle

XXXV  Feigensüße Funken fliegen stets im Wind

XXXVI  Albors Dirt: Aschenkreuze werden auch im März nicht folgen

I  Meteorologie, altgriechisch, μετεωρολογια, Untersuchung der überirdischen Dinge und Himmelskörper

In dieser Nacht hatte er, ebenso wie in den vergangenen Nächten, kaum geschlafen. Maria zog seit einundzwanzig Jahren, zwei Monaten und zweiundzwanzig Tagen ihre Spuren, in manchen Zeiten mehr, in anderen weniger. Er konnte ihre Silhouette über die Wand huschen sehen, und legte er sich ins Bett, ruhte ihr Gesicht bereits am Kissen. Dies hätte ihn nicht sich sorgen lassen, fremd war ihm jedoch, dass ihre Züge sich zu verändern begonnen hatten, sich verzerrten, und schloss er die Augen, rüttelte sie ihn wach … So ließ sich keine Ruhe finden. Er stand auf und trat an sein Schreibpult, die Chronik lag vor ihm, er prüfte erneut Thermometer – dreiundzwanzig Komma neun Grad – und Uhrzeit – vier Uhr sieben und siebzehn Sekunden –, sein Distrometer schwieg, er betrachtete die wenigen zuvor geschriebenen Zeilen:

13. SEPTEMBER, VIER UHR DREIZEHN: Statt der für diese Jahreszeit üblichen sechzehn Grad weist das Thermometer dreiundzwanzig Komma sieben Grad auf. Ein Faktum, das sich nicht erklären lässt. Keine Föhnlage zu verzeichnen. Die Morgennebel, welche in den vergangenen beiden Wochen den Tagesbeginn jeweils begleiteten, sind ausgeblieben. Eine Veränderung kündigt sich an, die noch nicht fassbar ist; mit einem außergewöhnlich milden Altweibersommer lässt sich dieser Temperaturanstieg nicht begründen.

Er sah auf den Hauptplatz. Albor schlief. Vier Uhr einundzwanzig, Lucia würde um drei viertel sieben mit dem Frühstück kommen, er hatte noch ausreichend Zeit, seine gestrigen Studien zur Hydrogeologie fortzusetzen. Er blätterte zurück:

OBGLEICH das Niederschlagsverhalten im ersten Halbjahr größtenteils ausgeglichen war und sich einzig mit geringen Abweichungen um das langjährige Mittel bewegte, konnten doch erst die ergiebigen Mainiederschläge die Grundwasservorräte (bis zu 150 cm) wieder auffüllen.

Zu ungenau! Was war nur los mit ihm? Gestern diese Unruhe, heute eine sonderbare Angespanntheit, niemals zuvor wäre ihm solch ein Lapsus passiert. Verärgert griff er nach dem Bleistift, setzte ein Einfügungszeichen nach ›Halbjahr‹, ein weiteres nach ›Abweichungen‹, ein drittes hinter das Wort ›Mittel‹. Er stand auf, trat an das Regal neben dem Fenster, griff nach dem letztjährigen Band ›Meteorologie Albors‹. Er hätte später nicht sagen können, was ihn bewogen hatte, aus dem Fenster zu blicken, vielleicht war es die Farbe Rot, die Bewegung, die er, obwohl sein Blick auf die bereits in jener Schrift blätternden Finger gerichtet geblieben war, dennoch aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ohne sich dessen gewahr zu werden, vergaß er zu tun, weswegen er aufgestanden war, legte das Buch achtlos am Schreibpult ab und starrte auf die Frau hinunter, die langsam, einen Koffer in der rechten Hand, über den Hauptplatz ging. Vier Uhr dreiundvierzig, das Sonnenlicht, ja, auch das war absonderlich: Weshalb ging an diesem Morgen die Sonne eindeutig früher auf? – Aber das würde er erst Stunden später realisieren; jetzt, in diesem Moment nahm er einzig ihre Schritte über den Platz wahr, ihr Innehalten, bevor sie sich, die Arme ausgebreitet, zu drehen begann, lachend über die Wellen, die hierdurch im Mosaik der marmornen Platten entstanden, wie einst er, als Kind … Sie sah zum Hirsch-Brunnen, den früher ein Einhorn geziert hatte, ging von Baum zu Baum, die Stämme berührend. Er betrachtete ihr rotes Haar, welches bei jedem Schritt von links nach rechts nach links über die Bodenplatten schwang, wehende Bögen zeichnete es in die Luft, und er verspürte eine plötzliche Freude, die er sogleich durch das Bedecken seines Mundes mit der Hand zurückzudrängen versuchte. Unter der Blutbuche blieb sie stehen, stellte den Koffer neben sich ab. Er griff nach dem Fernrohr. Sie hatte Sommersprossen, die sich über ihren Nasenrücken zogen, einunddreißig, und das Muster ihres Kleides glich in seinen Farben demjenigen der Regenbogenforelle, wiewohl die schwarzen Flecken des Tieres im Stoff winzig kleine Blumen darstellten, in deren Mitte jeweils ein grüngoldener Tupfer thronte, ihre Hand streichelte den Stamm des Baumes, das Herz, welches der Teufel vor vielen Jahren eingeritzt hatte. Von den sich darüber befindenden Initialen berührte sie nur das ›M‹, vor derjenigen des Teufels hingegen zuckte sie zurück; er sah hinüber, zum Balkon des Rathauses. Es gab kein anderes Wort für jenen Mann, bloß ›Teufel‹. Sie hob den Kopf, und er wich zurück, obgleich er sich sicher war, dass sie ihn, dort, wo er stand, in den Schatten des Zimmers, keinesfalls sehen konnte, ihre Augen waren blaugrün, wie das Meer. Sie bückte sich, nahm den Koffer wieder auf, ging weiter über den Platz, auf die verlassene Barbara-Kirche zu, und er konnte sie warten sehen, vor dem Portal, das Rot ihrer Haare und einen halben Koffer, bevor sie in jenem Gebäude verschwand. Erst da bemerkte er aufgrund seines überhasteten Einatmens, dem sogleich ein gegenläufiger Luftstrom folgte – ›Exspiration‹ analysierte sein Gehirn, doch das Volumen konnte er nicht berechnen, nicht einmal die Formel mochte ihm einfallen –, dass er seinen Atem, im Griechischen mit dem gleichen Wort bedacht wie ›Seele‹, offensichtlich angehalten hatte. Seine linke Hand griff nach der Kante des Schreibpults, langsam setzte er sich auf den Stuhl, rückte ihn zurecht, sodass er den Hauptplatz Albors ungehindert überblicken konnte, griff nach der Feder, smaragdgrün, zog sorgsam einen Strich unter die zuvor notierten Zeilen:

VIER UHR DREIUNDVIERZIG …

Als Lucia an die Tür klopfte, hatte er auf sieben Seiten die Ankunft der Fremden in Albor festgehalten, er hatte die wahrscheinliche Stärke ihres Haares berechnet, seine Spannkraft aufgrund der wehenden Bögen, die es in Luft und Kies zeichnete, hatte die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken vermerkt und die Schönheit ihrer Augen. Er hatte geschrieben, dass es ihn nicht wundere, dass sie, die Fremde, in die Barbara-Kirche einzog, denn nichts anderes bedeutete der Vorname dieser Heiligen als ›die Fremde‹, ihr Tag war der vierte Dezember, eine Märtyrerin unter Kaiser Gaius Galerius Valerius Maximinus, genannt Daja – so wurde es erzählt. Historisch belegen ließ sich Barbaras Existenz nicht, was der Legendenbildung immer schon förderlich gewesen war. Barbara, eine der vierzehn Nothelferinnen, Patronin der Sterbenden, wirkt gegen Feuer und Blitzschlag, Fieber, Pest und jähen Tod, hatte er notiert, und dass man deshalb diese Kirche, die hauptsächlich aus Holz gebaut worden war, ihr weihte, 1396, vielleicht auch erst 1398, das Schriftbild in den Annalen der Kirche war in all den Jahrhunderten verwischt worden, und dass sein Onkel 1984 die Kirchenbücher vor dem Wüten des Generals hatte retten können, grenzte ohnehin an ein Wunder, oder alle Nothelfer hatten zusammengewirkt – Achatius, Ägidius, Blasius, Christopherus, Cyriacus, Dionysius, Erasmus, Georg, Katharina, Margareta, Pantaleon, Veit – dreizehn, auf wen hatte er vergessen? Er hatte die Feder abgelegt, nach dem Bleistift gegriffen, auf dem Notizblock hatte er sich nochmals ihre Namen notiert, untereinander dieses Mal:Achatius,Ägidius,Blasius,Christopherus,Cyriacus,Dionysius,Erasmus,Georg,Katharina,Margareta,Pantaleon,Veit– natürlich! Eustachius, Helfer in allen schwierigen Lebenslagen, wie konnte ihm bloß Eustachius entfallen, ausgerechnet ihm, der von einem Unglück ins nächste taumelte? Er hatte hochgesehen, weil er das Knarren einer Tür vernommen hatte, war ans Erkerfenster getreten, da war sie wieder, die Frau, fünf Uhr einundzwanzig, um die Kirche zu umrunden. Sie hatte hochgesehen, ihm lächelnd einen Gruß zugewunken, woraufhin er derart erschrocken zurückgewichen war, dass ihm der Bleistift entglitten war – winken, die althochdeutsche Wurzel verwies noch auf ›sich biegen‹, und er hatte sich an dem festgehalten, was er wusste, ebenso wie an den vierzehn Nothelfern, Eustachius nicht vergessen, das Memorieren seines Wissens verschaffte Boden, auch weil das Aufschlagen des Stifts in seinen Ohren mahnend geklungen hatte, Eustachius, Pantaleon und Veit, er hatte seinem Rollen zugesehen, wie sich der Stift über die von unzähligen Schritten weichgeschliffenen Holzdielen hinweg bewegt hatte, um zwischen den vorderen Füßen der Wäschekommode zu verschwinden, und er hatte dabei nur ihr Lächeln gesehen, die erhobene Hand. Er war erneut ans Fenster getreten, hatte gewartet; bis Lucias Klopfen die Normalität eines Morgens einmahnte, und ohne seine Entgegnung abzuwarten, trat sie ein, stützte das Tablett an ihrer Hüfte ab, um den Lichtschalter zu betätigen, und sie fragte ihn, ob er vorankomme, mit dem Kinn auf sein Schreibpult weisend, er konnte an ihrem Hals sehen, wo sie des Nachts gewesen war.

An diesem Morgen blieb sie länger, befingerte den Pullover, der über der Sessellehne hing, trat an sein Bett, es schien, als rieche sie die Veränderung. Da sie an die aufgeschlagene Chronik trat, hatte er hastig das Buch geschlossen. Weshalb denn, was es zu verbergen gebe?, und sie hatte gelacht, in Albor geschehe doch ohnehin nichts, und seine geologischen Forschungen wären wohl kaum geheim, oder sollte er sich verrechnet haben, und dies nun verbergen wollen?

Nochmals erklang dieses Auflachen, welches bewirkte, dass er sie unwirsch anfuhr. Sie gehe ja schon. Er sah auf das Ziffernblatt der Uhr, sieben Uhr dreißig, zeitgleich erklang die Schulhupe, es sei an der Zeit, das Schultor aufzuschließen.

Erst, als Lucia endlich die Tür hinter sich schloss, trat er erneut ans Fenster, wartete.

Sieben Uhr einundvierzig, hatte er sich danach notiert, da war die Fremde abermals aus der Kirche herausgekommen, bog die wuchernden Hecken der Rosa micrantha zur Seite, um herüberzulinsen, zuerst zu den Kindern im Schulhof, dann zu Lucia, und er spürte die Angst hart in seiner Kehle. Aber Lucia hatte die Fremde nicht bemerkt, war vom Schultor – nach einem raschen Blick über die Schulter, hinüber zum Rathaus, hoch zum Balkon im zweiten Stock – in die Schule hineingegangen, die Kinder zur Eile mahnend. Die Fremde begann im – konnte man diese ausufernde Wildnis ›Garten‹ nennen? –, zu werken, sortierte und schichtete das Holz, welches neben der Kirche gelegen hatte, wohl jahrzehntelang … Er, der Chronist Albors, wenn auch selbst ernannt, er sollte es genauer wissen, und konnte sich dennoch nicht erinnern, es musste vor Maria geschehen sein, das zumindest vermochte er mit Sicherheit zu sagen, irgendwann, während seiner Kindheitsjahre, noch zu Zeiten des Generals … Man hatte alle Holzbänke, das Chorgestühl herausgerissen, nahm an sich, was zu verwenden war und überließ den Rest den Jahreszeiten. Unter den Holzplanken zerrte sie etwas hervor, warf zur Seite, was belastend darauf lag, eine hölzerne Statue, ein En-gel, sie sah zu ihm hoch und lächelte, er wich zurück, die Lehne presste sich in seinen Rücken.

Acht Uhr vierzehn, ihr Gehen, ihr Kommen, und er hatte notiert, was sie trug, wie viel es wog, einzeln und in seiner Gesamtheit, hatte ihre Bewegungen studiert, die Art und Weise, wie sie ihr langes Haar, im Nacken in zwei Strähnen geteilt, um sich selbst wand, bevor sie beide ineinander knotete, damit diese rote Flut ihr nicht im Weg sei, ja, alles an ihr floss, jede Biegung, jedes Beugen schien aus ihrer Mitte zu kommen, als würde sie nicht arbeiten, sondern tanzen. Um vierzehn Uhr dreiundzwanzig hatte sie beendet, was sie sich vorgenommen hatte, verschwand in der Kirche, die seit 30 Jahren keine mehr war, und kam nicht mehr heraus. Er hatte gewartet, seine Augen starr auf das wuchernde Grün zwischen den beiden Häusern gerichtet, bis sie zu brennen begannen. Beinahe hätte er deshalb übersehen, was am Platz geschah, das Kommen und Gehen, sich sammeln. Ersteres wäre fast noch unter ›üblich‹ zu subsumieren gewesen, hätte es nicht eine neue Richtung der Blicke aufgewiesen, zur alten Barbara-Kirche hin, die in all den Jahren für keinen von Interesse gewesen war, seit der General ihre Schließung entschieden hatte – wozu eine Kirche ohne Pfarrer?, und dafür, dass jener das Weite suchte, hatte man ja gesorgt.

Als Lucia mit dem Essen zu ihm heraufgekommen war, hatte sie vor Aufregung rote Flecken auf den Wangen, am Hals und Dekolleté, und er konnte im Lauern ihrer Zunge erkennen, wie bestrebt sie war, ihm mitzuteilen, was geschehen sei (Eine ist in die Kirche eingezogen, wir werden jetzt mit ihr reden, schließlich kann man nicht einfach so leerstehende Häuser besetzen, sagt Phi- – und rasch korrigierte sie sich in einem räuspernden Husten: der Bürgermeister.), er aber hatte, während Lucia mit ihren fahrigen Bewegungen den Raum beherrschte, nur dorthin gestarrt, wo seine Wäschekommode einen Schatten auf den Boden warf. Die Landhausdielen erschienen dunkler an jener Stelle, dunkler und leicht ergraut, und Lucia, irritiert von seinem Verhalten, war zur Kommode geeilt, hatte sich gebückt, und bevor er sagen konnte, sie solle es unterlassen, hatte sie den Bleistift aufgehoben, ihm das Schreibgerät in ihrer flachen Hand angeboten, den habe er wohl gesucht, was draußen geschehe, interessiere ihn bekanntlich ohnehin nicht. Abgebrochen war er, der Bleistift, irgendwo lag die Mine, in einer der Ritzen zwischen den Dielenbrettern vielleicht, und er hatte an die Augen der Fremden gedacht. Ungeduldig hatte Lucia ihre Finger bewegt, als würde sie ihm winken wollen, und da er sich nicht bewegte, hatte sie schließlich, ihn mit einem ärgerlichen Schlag ihrer Zunge tadelnd, seinen Stift auf dem Schreibpult abgelegt. Dort blieb der Bleistift – dreizehn Komma zwei Zentimeter lang, hell angespitzte Holzfläche in etwa neun Millimeter – liegen, ihm im Weg. Dennoch hatte er den Stift weder in die Vertiefung an der hinteren Kante des Pults geräumt noch ihn in den Spitzer geklemmt, die Kurbel gedreht: Die Zeugenschaft der Objekte solle man nicht verändern, nie.

II  Zaungäste verlachen

In den frühen Stunden eines Septembermorgens, die wärmer waren als jene in all den hundert Jahren zuvor, beschloss Pastora, es sei genug, stieg aus dem Fluss und sagte dem Wasserleben Lebewohl.

›Pastora‹, so hatte man sie irgendwann zu rufen begonnen, und ihr früherer Name versank in Vergessenheit, sodass schließlich sie selbst ihn nicht mehr wusste. Um der Wahrheit die Ehre zu geben … (Wobei sich hier die Frage stellt, was Wahrheit ist …, dachte Pastora. – Platon, du hast doch unsere Lektüre nicht vergessen, oder?, Platon schreibt, die Wahrheit sei natürlich in der Seele zu suchen. Nicht in den Sinnen und ihren Wahrnehmungen, denn trügerisch sind diese, wandelbar. Das Wahre aber ist unveränderlich, mit sich selbst identisch, ewig. – Wahrheit? Meinst du diejenige von heute oder jene von morgen? – Gut gedacht, meine Kleine, hatte er gesagt und ihr jenes Lachen geschenkt, das sie liebte, bevor er hinzufügte, die eine kenne Gewissheit, die andere hingegen nur die Mutmaßung. Und sie erinnerte sich, dass sie gelacht hatte, über ebenjenes Wort, das auf den ersten Blick auffallend schön klinge, auf den zweiten erst sich selbst entlarve. Gut beobachtet, lautete seine Antwort, und er hatte sie neckend an ihrem linken Zopf gezogen.)

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, es interessierte sie nicht, dass man sich erzählte, in jeder Vollmondnacht, falls sich der Mond mit einem in allen Regenbogenfarben strahlenden Hof umgebe, würden Pastoras Beine zu einem Fischschwanz, damit sie in jenen Stunden des Mondes, solange er bleibe, wer er sei: umkränzt und strahlend (ach, die trügerischen Sinneswahrnehmungen!), damit sie in jenen Stunden des Mondes, dem Fluss folgen, bis ins Meer und wieder zurück gleiten könne, dass man in jenen Nächten, stehe man am Flussufer, ihren schillernden Körper zu sehen vermöge, wenige Sekunden nur, und das offene, rote Haar, das mit dem Wasser sein Spiel treibe. Oder dass man sich erzählte, es sei möglich in ihrem Kielwasser, gebettet in ihr Haar, mit ihr zu ziehen, sorglos, und würde sie davon wissen, wäre ihr Lachen zu hören – über Wellen und Ströme hinweg.

Und gleichfalls, um der Wahrheit die Ehre zu geben, war, was Pastora den Menschen gegenüber empfand, meistens Erstaunen. Dort, wo Spanien und Afrika einander beinahe begegneten, kamen manche oftmals zum Fluss, kleine Flöße in Händen, auf denen sie Blumen und Kerzen arrangiert hatten, um wen auch immer, verborgen in Fluten oder Universen, zu bitten: Dass die Ernte gut ausfallen möge, die kranke Kuh gesunde, das schiefe Bein des kleinen Sohnes endlich gerade wachse oder den Nachbarn der Schlag treffen möge, verdient hätte er es ja. Manchmal, wenn Pastora, abgesehen davon sich mit der Strömung treiben zu lassen, nichts zu tun hatte, griff sie nach den mehrfach gefalteten Zettelchen, die sich auf diesen kleinen Flößen befanden, und las, worum man bat, bevor sie die Boote aufs Meer hinauszog, in die Weite der Fluten, dorthin, wo der Mond und die Erde ihr Spiel miteinander trieben. Die Wünsche der Menschen ließen sie lächeln, es schien ihr bizarr, sich alles vom Leben zu ersehnen, und sich dennoch niemals hineinzuwagen, denn das seichte Wasser am Ufer war nichts als ein kleiner Teil des Meeres, zögerlich sandten sie von dort Botschaften in die Fülle und hofften, ein klein wenig dieser Üppigkeit möge zu ihnen zurückkommen. Statt mit beiden Händen danach zu fassen, die Kostbarkeit zu packen und zu halten, sollte sie auch an manchen Tagen flau plätschern oder ihr wildes Spiel treiben, begnügten sie sich mit kümmerlichen Lebenskrümeln, die ihnen das Meer oder der Fluss vor die Füße spie – und bejammerten ihr Werk, denn nichts andres war dieses ihr Leben, das sie gestalteten, ohne irgendetwas zu begreifen: Möge sie bei mir bleiben, möge er mich lieben, möge er sie verlassen, mir bleiben, könnte ich und wäre er – ewiger Konjunktiv … Es fehlte ihnen an Mut … (›ονδρεια‹, ›andreia‹, fügt ihr Vater hinzu und ergänzt sogleich: Mut sei der Vernunft unterzuordnen, der Weisheit, ›σοφiα‹, ›sophia‹, und der Einsicht, ›φρόνησις‹, ›phronêsis‹; alles eine Frage der Begabung des Einzelnen und der Erziehung / Pastora nickt. / zur Glückseligkeit aller. / Sie nickt erneut, mittlerweile ein wenig gelangweilt. / Was für den Einzelnen gilt, im Kleinen, gilt im Großen für den Staat. / Pastora gähnt. / Ich fadisiere dich? – Nein, nein. Und: Natürlich habe ihr Vater recht, er erzähle ihr dies jedoch seit ihre Beine baumelnd von der Stuhlkante kaum die mittlere Querverstrebung erreicht hätten … – Deshalb ist es nicht weniger wahr, das Wahre ist … – Ewig! – Glaub mir, dass ich dich verlassen musste, bevor deine Füße den Boden erreichten, hat mich mindestens ebenso traurig gemacht wie dich. – Ich weiß, Papa, ich weiß. / Und sie schlang in Gedanken die Arme um ihn; doch einen Toten zu umarmen, blieb – unabhängig davon, wie lebendig er war – immer eine kühle Sache.)

Dennoch: An jenem einen Septembermorgen, der wärmer war als in all den hundert Jahren zuvor, beschloss Pastora in den frühen Tagesstunden, es sei genug. Auf dem Rücken schwebend war sie herangetrieben, vom Meer her, Stunde um Stunde, hatte dem Mond zum Abschied gewunken, sich der aufgehenden Sonne entgegengestreckt, war dem blaugrün glitzernden Ebro ins Land gefolgt, und die Glocken verkündeten die Vier, sie hatte sich sieben Mal um sich selbst gedreht, war untergetaucht, Fische im Haar, kleine, rotgoldene Flutenreiter, die sie freuten. Als sie wieder auftauchte, sah sie am Horizont im Morgenlicht ein Städtchen, sie ließ sich zum Ufer treiben, schüttelte die Fische sorgsam aus ihrem Haar, um sie in den Fluss zurückgleiten zu lassen. Im hellen Licht des Morgens waren selbst die weißen Monde ihrer Zehennägel am Grund zu sehen: ein guter Ort reinen Wassers. Sobald die Fische ihres Weges gezogen waren, stieg sie aus dem Fluss. So vieles, sagte sie sich, schenke das Leben noch zu entdecken, Landstriche, Wortfelder, Sprachräume, Menschenbilder, und sie beschloss, sich in die Mitte dieses Städtchens zu begeben, wie auch immer es heißen mochte, querte die Brücke, ›Willkommen in Albor‹ stand auf einer Tafel, der sie mit einer Verbeugung für ihre Freundlichkeit dankte, und ohne sich weiter umzusehen ging sie in jenes Städtchen, das sich, umgeben von Hügelketten, vor ihr auftat, und in dem die Bewohner das beginnende Leben dieses Tages und die Veränderungen, die es mit sich bringen würde, verschliefen.

Auf dem Hauptplatz, der Kirche gegenüber, in der sich lange schon kein Leben mehr geregt hatte, blieb sie stehen. Sie legte den Kopf in den Nacken: Himmelsblau, wolkenlos; unter ihren Füßen zeichneten Marmorsteinplatten ein Sternenmuster, umgeben von Wellen und Meeresgetier – kaum bewegte sie sich ein wenig, schien dieses Muster zu kreisen, die Wellen rollten heran und verebbten erneut, drehte man sich ein wenig langsamer um sich selbst. Ein Baumrund aus Akazie, Robinie, Birke, Esche, Kastanie, Linde, Ginko säumte den Platz, mittig eine Bank unter einer Blutbuche, daneben ein Brunnen, den ein seltsames Tier zierte, Hirschgeweih am Kopf, doch der Körper war derjenige eines Pferdes, und auf der Stirn trug es ein Wundmal, als habe dort einst anderes gethront, ein Horn vielleicht. Der Himmel noch immer von durchdringendem Blau, ja, dieser Ort war so gut wie jeder andere (Welch trügerische Ratgeber, die Sinne, gefährlich in ihrem Veränderungswahn! / Doch Pastora lachte ihres Vaters Stirnfurchen hinweg: Wer wolle schon Ewigkeit, außer er sei ein Baum? Und dann würde man sich wünschen, eine Linde zu sein, keine Blutbuche.), und ihre Fingerkuppen glitten über die Elefantenhaut ihrer Rinde, moosige Stellen, feucht vom Morgentau, ertasteten ein Herz, eingebrannt, vor Jahrzehnten wohl, und ihre Hand legte sich über die Verletzung, die nie gänzlich geheilt war, der Buchstabe ›M‹ und daneben – seltsam eckig – ein ›P‹ – dennoch: »Dieser Ort … ist so gut wie jeder andere«, und die Blutbuche stimmte ihr zu.

Hätte sie hochgesehen, nicht ins Blätterdach hinein, sondern zur Kirchturmuhr, hätte sie bemerkt, dass diese traurig auf eine Minute nach halb sechs wies, und wäre eine Uhr ihr Eigen gewesen, hätte sie sogleich gewusst, dass es erst kurz vor fünf war und diese Zeiger kraftlos herabhingen, wie die Bewohner des Städtchens, die sich in Gegebenheiten fügten, welche drei Männer seit Jahrzehnten schufen. Als sie über den Platz ging, rauschte es im Turmfenster, und sie sah der weißen Brieftaube zu, die sich aufplusterte, bevor der Vogel seine Flügel ausbreitete, noch einen Kreis über ihr zog, um danach hinter der Kirche über die grünruhenden Walrücken des Horizonts zu verschwinden. Ihre Zeit war die Vergangenheit, sie würde keine weiteren Nachrichten mehr überbringen.

Pastora stieg die sieben Stufen zum Portal der Kirche hinauf, ein haarfeiner Riss zog sich quer von der ersten zur zweiten, drückte die schwere metallene Klinke in Form einer Löwenpranke herab, das Holztor klemmte, sie stemmte sich gegen die verflossenen Jahre, um das Portal in seinen Angeln in Bewegung zu setzen. Als die beiden Flügel einen schmalen Spalt freigaben, entwich der angehaltene Atem der Zeit, und angeekelt wandte sie den Kopf ab. Es würgte sie in der Kehle, aber die Blutbuche hinter ihr gestattete kein Zurückweichen. Mit geschlossenen Nasenflügeln schob sie die Tür einige Zentimeter weiter auf. Staub kitzelte sie, und so kam es, dass sie dreizehn Mal hintereinander heftig niesend in ihr neues Zuhause eintrat. Die dreizehn, sagte sie sich, sei eine gute Zahl; willkommen, willkommen, und die aufgehende Sonne malte bunte Kringel über Rauchflecken an der Südwand, in denen sich die Jahrzehnte selbst zurückgelassen hatten. Pastora sah hinter sich, die Spuren, welche ihre nackten Füße am Steinboden hinterlassen hatten, ebenso wie ihr Haar, das bei jeder Bewegung von rechts nach links und wieder nach rechts geschwungen war, der Staub der Zeit war aus dem Weg gefegt worden, kräuselte sich nun entlang ihrer Trittspuren. Sie seufzte. Wie sollte das Leben beginnen, wenn die Last der Jahre alles bedeckte? Dort, wo einst ein Altar gestanden hatte, lag ein rissiger Teppich, zur Hälfte aufgerollt, Mäuse hatten mit seinen Fransen ihr Spiel getrieben, und an jener Stelle, an der eine Lilie im Gewebe blühte, hatten sie einen der Kelche verspeist. Pastora setzte sich, über Splitter und Holzplanken steigend, in die einzige Bank, die im Kirchenschiff stand, sie lauschte in die Stille, manchmal unterbrochen vom leisen Klirren der Luster im Wind. Man hatte hier gewütet, hatte alles entfernt, mit zornbebenden Händen, hatte herausgerissen, was einem in den Weg getreten war, das Chorgestühl, die Bänke; und was bei alldem Gebrause zur Seite gestoben war, hatte man liegen lassen, die Bilder, welche dem Zeitgeist nicht behagten, waren aus Rahmen gezerrt worden, die Engel ihrer Flügel beraubt. Pastora strich über die Sitzfläche der Bank, auf der sie saß, legte den Kopf auf die hölzerne Lehne vor sich, rieb mit ihrer Daumenseite einige Male auf ihr hin und her, bis Holzduft in ihre Nase stieg: Eiche, unverkennbar. Das war gut. Spinnen verabscheuten Eiche, und Pastora mochte keine Spinnen. Sie sah nach oben, zur Empore; purpurn und goldgelb glitzerten die Orgelpfeifen, grüngesprenkelt da und dort, wo sich das durch die Glasfenster flutende Licht über ihre metallenen Körper legte. Eine Pfeife hatte eine andere Ära aus ihrer ruhenden Reihe gezerrt. An den Seitenwänden standen sechs Gestalten in den Buntglasfenstern, und weil man wohl den zukünftigen Zeitgenossen nicht getraut hatte, befand sich unter jedem eine Tafel, so stellten sich die sechs Wächter Pastora mit Namen vor:

›Heiliger Antonio de Santana, der Du Dich mit Deinem Blut der Mutter Gottes als Diener verschriebst, Mann des Friedens und der Nächstenliebe, verhilf uns zu Kindern!‹

›Heiliger Bonaventura, der Du durch Deine Klugheit zweiter Stifter des Franziskanerordens genannt wirst, Fürst unter den Mystikern, lass auch uns auf gute Fügung vertrauen!‹

›Heilige Casilda von Toledo, in deren Schürze Brot zu Rosen gewandelt wurde, schütze uns vor Blutfluss, ehelicher Unfruchtbarkeit und Unglück!‹

Antonio, Bonaventura und Casilda, ein ABC an der Nordseite, und Pastora lächelte Bonaventura zu, der über sein Buch gebeugt stand und sich in seiner Versunkenheit nicht stören ließ, sehr sympathisch (ja, meine Liebe, außerdem war er derjenige Theologe, der sich mit der Aufnahme aristotelischen Gedankenguts in die theologische Tradition des Augustinus beschäftigte, ein Ausbund an Belesenheit, all die Schriften in seinem Gedächtnis verankert … ein Genie), und entlang der Südwand drei Frauen:

›Heilige Clara, Dein Wasser helfe, schütze vor Fieber und Augenleiden, verhüte die schwere Geburt, leite die Nadel der Stickerinnen und den Pinsel der Glasmaler!‹

›Heilige Barbara, Du holdseliges Wesen, die Du um Deiner Schönheit willen von deinem Vater in einen Turm gesperrt wurdest, auf dass seine Mauern Dich schützen mögen, bewahre uns vor Lavaströmen, Feuersbrünsten, segne unsere Waffen, unser Schießpulver, damit das Gute siege, und schütze uns vor unvorhergesehenem Tod!‹

›Heilige Agatha, die Du den Mut hattest des Stadthalters Brautwerbung abzulehnen, woran weder das Bordell der Aphrodisia noch der Männer rohe Gewalt etwas ändern konnte, der man die Brüste mit einer Zange zerriss und mit einer Fackel brannte, was davon geblieben war, lass uns stets ausreichend Agathawecken vorrätig haben, um alle Feuerherde zu löschen, schütze uns vor dem Heimweh, welches wie Feuer brennt, hilf bei Brandwunden und Kinderlosigkeit!‹

Wer auch immer diese Fenster, diese Tafeln in Auftrag gegeben hatte, war offenbar jemand gewesen, dessen Haus einmal gebrannt hatte, dieses hier bedurfte dringend des Wassers, vielleicht sogar des Clara-Wassers, dachte Pastora, und dass es nun an der Zeit sei, sich an die Arbeit zu machen … »Es ist an der Zeit, sich an die Arbeit zu machen«, sagte sie mit mehr Entschiedenheit in der Stimme, als sie in jenem Moment verspürte, und die Vehemenz ihrer Worte schreckte ein Rotbauchpärchen auf, welches sich hinter der Orgel niedergelassen hatte. Aufgeregt flatterten sie im wirren Hin und Her über- und untereinander, jede Route ihnen durch diese Störung abhandengekommen, stießen rasch hinab, zogen unvermittelt hoch – erst als Pastora leise zu summen begann, fanden sie ihren Weg durch das klaffende Loch im Dach des Seitenschiffs und verschwanden im Himmelsblau. Sie würden zurückkehren, wenn ihr Pulsschlag ruhiger geworden wäre, und bis dahin hätte Pastora ihre Säuberung aller Wahrscheinlichkeit nach beendet.

»Es ist gut.«

Sie öffnete eine schmale Tür, die linksseitig aus dem Altarraum wies. Eine Treppe führte dahinter um sich selbst gewunden in den Himmel hinauf, vorbei an jener Uhr, deren Zeiger hingen, vorbei an den drei Glocken, zwei kleine, eine große, die stumm und träge vor sich hinstarrten, wies den Weg, ausgetreten von schlurfenden Schritten, bis unter das Dach.

Sie sah aus jener Luke, aus welcher die Brieftaube nachrichtenlos gewichen war, blickte auf das Städtchen hinab, das schlief, betäubt durch den Atem der Vergangenheit, der nach wie vor in grauen Schleiern aus dem Kirchenraum waberte, benommen von der Ohnmacht ihrer Tage und Jahre.

»Alles wird gut«, und sie stieg, den Kerben im Holz folgend, die Treppe hinab, durchquerte den Altarraum, öffnete die gegenüberliegende Tür, hier musste einst die Sakristei gewesen sein: Hölzerne Wandverbauten umringten aneinandergereiht ein großes Pult, ließen nur einer Bassena, einem Waschtisch und einer weiteren, schmäleren Tür Platz. So niedrig war jene, als hätte der Architekt – und Pastora war sich seiner Männlichkeit sicher – beschlossen, die Herrlichkeit Gottes, die keinen mehr rührte, und die Zwergenhaftigkeit der Menschen, die Alltag war, in seinem Mauerwerk abzubilden. An einem Haken links des Türrahmens hing ein Schlüssel, groß wie ihre Handfläche, ein Engelshaupt bildete seinen Schlüsselkopf, sie griff danach, er entglitt ihr, fiel in den Marienbauch unter dem Haken, in dem sich irgendwann einmal, davon erzählten die krustigen Randringe, Weihwasser befunden hatte. Sie steckte ihn ins Schloss, drehte ihn mit beiden Händen, den metallenen Kopf haltend, die Engelsflügel kratzten ihre Handflächen, sie drückte mit aller Kraft. Kaum ließ sich die Tür öffnen, stolperte Pastora über die Schwelle und fiel einer Rosenhecke in die Arme. Auch hier war seit vielen Jahren kein Mensch mehr gewesen, und die Natur hatte sich zurückerobert, was man ihr zuvor zu nehmen bestrebt gewesen war. Langsam schob sich Pastora an der Wand entlang, den Saum ihres Kleides wieder und wieder aus Rosenranken befreiend. Als sie im Rücken der Heiligen Barbara, unter dem zweiten Seitenfenster des Ostens stand, wichen die Hecken zurück, weitete sich der Freiraum, um einem Ziehbrunnen seinen steinbelegten Platz zu lassen, wenige Schritte daneben harrte ein unordentlicher Scheiterhaufen Holz der Witterung. Sie sah in den Brunnen hinab, ein Froscheimer hing an der Kette, das Wasser, tief unten lag es, spiegelte ihr Gesicht im Blau. »Ein Dach mit Himmelsblick über dem Kopf, eine Bassena im Haus, ein Brunnen mit Wasser im Garten, umgeben von Rosen: ein guter Ort, um zu bleiben.« (Schicksal, nichts anderes; eine frei wählbare Lebensgestalt, und alsdann: schick dich darein. Du willst dir diesen Ort wählen? Warum nicht. Schuld hat, wer gewählt hat; Gott ist schuldlos. – Papa, du hast doch gesehen, dass Gott ausgezogen ist, vor langem schon …)

Und sie sah noch anderes, durch die Hecken hindurch bemerkte sie in einem Zimmer im Nachbarhaus, erleuchtet, eine Wand in verwässertem Zimt, darauf in Smaragdgrün gemaltes Blätterwerk, darin Vogelschwingen. Ein Mann trat in den Fensterblick (Jeder wählt sich seinen Dämon selbst! Erst wenn du das begreifst … – doch sie hörte ihm nicht mehr zu.), der Mann stand vom Stuhl auf, seine Schultern im weißblau gestreiften Hemd, sein Kopf war gesenkt, er las wohl oder schrieb. (Oh diese Philosophen, die meinen, sie könnten sich nicht Stufe für Stufe aneignen, was das Leben bedürfe, die glauben, sie könnten oben schwebend beginnen und die Mühen der Täler meiden … – Scht!, und Pastora legte ihm den Finger über die Lippen: Nicht jetzt, Papa, bitte, sei einmal still. / Dass seine Augenbrauen hochwanderten, sich sogleich wieder senkten, verkniffen, da er den Mann im Fenster, danach seine Tochter betrachtete, bemerkte sie nicht.) Der Mann blickte auf, am Fenster stehend, sah sie – grüßend hob sie ihre Hand, er senkte den Blick, sah zur Seite, sah hoch, sah sie, bedeckte seinen Mund – in diesem Moment kam Wind auf, der ihren Körper karessierte, Ostwind, er roch nach Zimt und Sternanis, es war gut, sie könnte mit ihm schwimmen, in den Regen tauchen, sie würden sich treiben lassen, neben- und ineinander …

Als Pastora die Augen erneut öffnete, war der Mann aus dem Fensterblick verschwunden. Sie dachte an sein schmales Gesicht mit den grünen Augen, die Backenknochen, welche hervortraten, das schwarze Haar hing ihm in die Stirn, graue Strähnen, welche die Zeit hineingewoben hatte, fanden sich an den Schläfen, und während ihre Augen sein Bild zeichneten, spazierte sie an der Kirchenwand entlang, über Geröll und Steine, huschte vorne am Portal vorbei, streichelte den Ginkostamm, hielt bei der Blutbuche kurz inne, sie umkreisend, ihre Wunde würde heilen, irgendwann, zum Ginko zurück, bog ums Kircheneck, ging die nördliche Seitenwand entlang, die zum Glockenturm führte. Die aufgereihten und eingelassenen Steinplatten erzählten, dass diese Kirchenseite einst dem Gedenken vorbehalten gewesen war, nicht normal-sterblicher Stadtbewohner, sondern offenbar demjenigen honoriger Herren, ein Pfarrer, ein Doktor ohne med. und ein weiterer Mann namens Jesus; der war jedoch bereits mit zweiundzwanzig Jahren verstorben. Das Bild, eingelassen in den Stein, zeigte einen jungen Mann mit Tonsur, den Blick ins himmlische Irgendwo gehoben, als gäbe es dort anderes zu entdecken und nicht nur blaue Weite, Vogelflugsaum.

Sie vergrub die Hände in den Taschen ihres Kleides, murrend und murmelnd stapfte sie um den Glockenturm herum, außen an der Apsis vorbei, die rechte Hand streifte das fachwerkliche Wandrund, langsam wandelte sich ihr Murren in Singsummen, und bei ihrer Rückkehr in die Sakristei, war daraus ein Dudeln geworden.

»Es ist an der Zeit, dass die Zeiten sich ändern«, und sie zerrte an der ersten Schranktür, die knarrend nachgab, Kerzenstummel, Motten, ein Liederbuch; nichts von dem, was sie suchte. So durchstöberte sie auch die restlichen Schränke, in denen ebenso wenig Nützliches gelagert war, abgesehen von einem Stapel Papier vielleicht. In einem Fach hatte eine Mäusefamilie Einzug gehalten, eingeladen durch die Oblatenschachteln wohl, schon aufgezehrt, was sich darin befunden hatte, dennoch blieb man dort wohnen, und mit einer Entschuldigung für die Störung schloss Pastora leise die Tür. Hinter der nächsten stapelten sich hölzerne Weinkisten, denen der Wein abhandengekommen war, in einer anderen fand sich eine Rolle Hanfschnur, eine Schere, leicht flugrostig im Alter, ein Hammer, in einer Schütte daneben Bleistiftstummel in unterschiedlicher Länge, im Fach darunter lagen Notenstapel, Mozart, Schubert, Haydn, sie würde Gesellschaft haben. Erst hinter der Kastentür ganz rechts entdeckte sie ein metallenes Lavoir mit einem Rostloch wenige Zentimeter unter dem Rand, durch welches sie ihren kleinen Finger stecken konnte, ein wunderbares Waschgefäß für die Bodenreinigung, Ausguss integriert. Sie drehte den Wasserhahn der Bassena auf, unwillig gab er ein bräunliches Rinnsal frei … Sie hatte Zeit und Geduld, irgendwann würde er sich schon zur Klarheit entschließen. Ein Seifenstück, durch den Staub der Vergangenheit rissig geworden, hatte in einer Schale am Waschtisch daneben gewartet, es würde genügen.