Unzustellbare Briefe - Anna Mitgutsch - E-Book

Unzustellbare Briefe E-Book

Anna Mitgutsch

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Beschreibung

Sie faszinieren – im Guten wie im Schlechten. Anna Mitgutsch schreibt Porträts außergewöhnlicher Menschen: In Briefform ergründet sie Bruchstellen im Leben, zeichnet fein ziselierte Psychogramme und schildert das Unausgesprochene in vergangenen Beziehungen. Die Großmutter im Böhmerwald, die erste große Liebe im Amerika der Hippiezeit, die feministische Dichterin in West Virginia. Es sind Begegnungen, die das Bild einer ganzen Generation aufleben lassen. Literarisch kunstvoll, eindringlich, couragiert. Geschichten, bei denen Mitgutsch aus Erlebtem, Erfahrenem schöpft und immer wieder die eigene Biografie mit erfasst – von der Kindheit in Oberösterreich, den zahlreichen Reisen und Aufenthalten in England, Korea und Israel, bin hin zu den prägenden Jahren in den USA.

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Seitenzahl: 344

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Buch

Sie faszinieren – im Guten wie im Schlechten. Anna Mitgutsch schreibt Porträts außergewöhnlicher Menschen: In Briefform ergründet sie Bruchstellen im Leben, zeichnet fein ziselierte Psychogramme und schildert das Unausgesprochene in vergangenen Beziehungen. Die Großmutter im Böhmerwald, die erste große Liebe im Amerika der Hippiezeit, die feministische Dichterin in West Virginia. Es sind Begegnungen, die das Bild einer ganzen Generation aufleben lassen. Literarisch kunstvoll, eindringlich, couragiert.

Autorin

ANNAMITGUTSCH, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

http://www.anna-mitgutsch.at

Anna Mitgutsch

UNZUSTELLBARE BRIEFE

Erzählungen

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Der autobiografische Anteil dieser Erzählungen ist fiktionalisiert und literarisch verfremdet. Die Briefe sind erdacht und nicht an reale Personen adressiert, sondern nach einem literarischen Gestaltungsprinzip konzipiert. Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt, jedoch nicht immer völlig vermeidbar und von der grundsätzlich geschützten Kunstfreiheit erfasst.

Copyright © 2024 Anna Mitgutsch

Luchterhand Literaturverlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung buxdesign / München

unter Verwendung eines Motivs von © Ruth Botzenhardt

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-30829-2V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

Inhalt

Was du für mich warst

Fast eine Schwester

Die schönsten Augenblicke

Wir haben uns zu früh aus den Augen verloren

Alan, my love

Verführerin

Später Abschied von einer Dichterfreundin

Mein Entdecker, meine Amour fou

Mein Mentor, mein Freund

Nichts ist gegenwärtiger als Ihre Sätze

Vielleicht ist Glück doch auch ein wenig Zufall

Diva

Das lautlose Ende einer Freundschaft

Precious Monster

American Gigolo

Suburban Housewife

Meine Freundin, meine Rivalin

Warum konnten wir nicht einfach Freunde sein?

Was du für mich warst

Du lehrtest mich das Geschichtenerzählen. Du lehrtest mich, dass es keiner Leistung und keiner Bestechung bedarf, um geliebt zu werden. Du lehrtest mich die Lieder deiner Kindheit, über die du schwiegst. Du fülltest meine Kinderjahre mit Wärme und Phantasie, und am Ende blieb nichts als das Haus deiner alten Tage und auch das ist nun verschwunden. Sogar dein Name auf dem Grabstein wurde von deinem Enkel, der die Grabstatt erbte, getilgt. In wessen Gedächtnis außer dem meinen lebst du noch fort? Ich setze meine Erinnerung in die Welt der Worte, wie du es tun musstest, um in der Abgeschiedenheit zu überleben. In einem Austragshäusl auf einer Lichtung des Böhmerwaldes, zwei Stunden auf Schmugglerpfaden südlich der tschechischen Grenze, eine Stunde vom Dreiländereck des Hochfichts, auf einem gerodeten, mit Granitfindlingen durchsetzten Berghang. Das Haus, der steinerne Brunnen davor, an dem man sich an kühlen Sommermorgen wusch, die Himbeerschläge und Heidelbeeren am Waldrand, die Pilze im regentriefenden Unterholz, die Blumen der Hochebene, die ich seither nirgends mehr gefunden habe, und die Stille, in der deine Geschichten vom Kristallpalast am Ufer des damals unerreichbaren Plöckensteinsees, dieses schwarzen Auges der Finsternis, ihr Geheimnis bewahren. Ich wünschte, du hättest mir mehr von dir erzählt.

Ich weiß erst seit kurzem, wann du geboren bist, zu Anfang des Winters vor fast hundertfünfzig Jahren, aber Geburtstage wurden nicht gefeiert, zu ungeplant und gefährdet waren Geburten, um das Schicksal auf sie aufmerksam zu machen. Es gibt kein einziges Foto von dir als junge Frau, auch nicht als zweiundzwanzigjährige Braut. Du musst diesen Häuslerssohn mit dem tatarischen Aussehen und der karpatischen Herkunft sehr geliebt haben, um das Dorf im Tal mit dieser ärmlichen Bauernkate zu tauschen, die nur Armut, Einsamkeit und schwere Arbeit versprach. Die Ehe und vielleicht auch die Liebe hielt über vierzig Jahre, sie überdauerte zwölf Schwangerschaften, vier tote Kinder, die Hungersnot nach dem Ersten Weltkrieg, die schwächliche Konstitution des Mannes, die dir alle Lasten der Landwirtschaft auflud, während er sich als Waldarbeiter verdingen musste. Am Ende seines Lebens war sein Körper so ausgeschunden, dass er nicht mehr aufrecht gehen und den Kopf nicht mehr heben konnte. Du hast ihn um achtzehn Jahre überlebt und mir nie von ihm erzählt, aber erwähnt hast du ihn stets wie einen, auf dessen Urteil man sich verlassen konnte. Der Vater, sagtest du, nie nanntest du ihn beim Namen und nie: mein Mann. Von dieser Liebe gibt es späte Fotos, auf denen ihr an der sonnenbeschienenen Hausmauer sitzt, zwischen den jüngsten halbwüchsigen Kindern, wie schwer arbeitende Leute am Feierabend, gelöst und zufrieden in einem schweigsamen vorsichtigen Behagen, die Hände im Schoß und einander leicht zugeneigt, immer noch, nach so vielen Jahrzehnten und Schicksalsschlägen. Nach dem elften Kind schenkte er dir eine schöne, schwarz lackierte Nähmaschine mit Goldverzierung und dieses Kind, meinen Vater, liebtest du ein wenig mehr als die anderen zehn, weil es so zart war und das erste Jahr nur knapp überlebte, wo du doch das Jahr zuvor ein zwei Monate altes Mädchen verloren hattest. War denn der Tod eines Säuglings ein großer Verlust? Man taufte die Kinder am Tag ihrer Geburt, spätestens am nächsten, damit sie wenigstens als Christenkinder starben. Hast du um diese kaum in die Welt gekommenen Kinder getrauert oder war ihr Tod eine Erleichterung bei dem kargen Leben? Vielleicht war das Verenden der einzigen Kuh im Stall eine größere Katastrophe, jedenfalls ein größerer Schaden für die Lebenden. In der Zeit der Hungersnot, als die Soldaten mit Bajonetten das Heu nach versteckten Lebensmitteln durchsuchten, als das Brot aus Kleie und Schrot in der Schüssel zu Grütze zerfiel, gingst du mit deinen jüngeren Kindern über die Grenze hamstern und schmuggeln. Drüben, in der Tschechoslowakei, gab es Verwandte, einen Hausierer, der mit alten Kleidern handelte, wo man ein paar Lebensmittel eintauschen oder vielleicht erbetteln konnte.

Sechzig Jahre lang lebtest du in diesem Haus am Waldrand, kamst nie weiter fort als in die Dörfer im Tal, sonntags in die Kirche, an Besuchstagen zu deinen Verwandten. Vielleicht bist du später, als alte Frau, ein paarmal im Auto eines Enkels gesessen, aber den größten Teil deines Lebens warst du zu Fuß unterwegs, im Winter durch kniehohen Schnee, im Sommer unter der brennenden Mittagssonne der Waldwiesen. Es war kein außergewöhnliches Leben, so lebten die meisten Frauen deines Standes, sie hatten keine andere Wahl. Die Welt, von der in den Zeitungen stand, die Geschichte, von der wir in Büchern lesen, kam stets nur als Verheerung in dein Leben, als Hungersnot nach den Kriegen, als Raub und Brandschatzung in den Jahren von Inflation und Arbeitslosigkeit, als Angst um die Söhne an der Front, als du nachts auf den Hausstufen gesessen bist und Himmel und Sterne um ihr Leben angefleht hast. Aber fromm warst du nicht, in deinem Haus wurde niemand zum Beten angehalten und am Sonntag bliebst du oft daheim. Wem das Leben so viel Härte zumutete, der brauchte sich dafür nicht zu bedanken, und bitten konntest du unter freiem Himmel, wenn dich Verzweiflung überkam. Doch wenn ich die Fotos deiner alten Jahre betrachte, scheinst du mir zu entschlossen und illusionslos, um zu verzweifeln. Nur in deinen Augen hält sich etwas wie Erbarmen mit den Menschen und ihren Verblendungen, aber vielleicht ist es auch nur Müdigkeit von zu viel leben. Es ist ein Gesicht, dem man harte Entscheidungen zutraut, auch Uneinsichtigkeit, sogar Ungerechtigkeit. Gab es Dinge in deinem Leben, die du bereutest? Ein jeder Mensch, selbst der gerechteste, wird schuldig im Lauf seines Lebens. Welche Schuld hast du auf dich geladen und mitgeschleppt bis zum Tod? Deine älteste Tochter hasste dich selbst noch als Fünfzigjährige und war doch deine Nachbarin auf dem nächst gelegenen Hof, auf den sie sehr jung geheiratet hatte. Ihre Kinder trieben sich auf den Wiesen rund um dein Haus herum, aber deine Stube betrat keines von ihnen. Wenn wir, die Kinder deiner jüngeren Söhne, um deinen Tisch saßen, war oft ein weiteres Kind dabei, der uneheliche Sohn deines Zweitältesten und einer Dienstmagd auf seinem Hof, ein gnadenhalber Geduldeter, der das bekam, was übrigblieb, dem du mit einer widerwilligen, zornigen Geste den Teller hinwarfst wie einem Hund. Ich verstand nicht, warum du so unfreundlich zu ihm warst, er tat mir leid, ich hätte gern gefragt, warum magst du ihn nicht, aber das wagte ich nicht. Gibt es vielleicht einen Grund außer der Pietätlosigkeit deines Enkels, warum dein Name auf dem Familiengrab fehlt? Was weiß ich denn schon? Ich war ein Kind und deine Nähe war meine Zuflucht. Nichts weiß ich, am wenigsten, wie du wirklich warst für jene, mit denen du auf gleicher Höhe und in angemessenem Abstand verkehrtest. Und wenn ich dich verkläre? Was macht das schon aus? Du empfingst mich jedesmal mit einer Freude, als würde dir etwas geschenkt, eine wertvolle Leihgabe, die du vorsichtig ein kleines Stück ihres Weges führen durftest, ohne Besitzanspruch, mit so viel behutsamer Liebe, dass sie mich siebzig Jahre später noch berührt. Vielleicht hast du deine Liebe ungerecht verteilt. Ich war eines deiner jüngsten Enkelkinder, es gab noch andere, die ich nicht kannte, die ich nie kennenlernte, zu viele Menschen, die deine Liebe brauchten. Schon möglich, dass sie nicht für alle reichte. Die Bauern mochtest du nicht, mit meiner Mutter, der stolzen Bauerstochter, lagst du in einem hasserfüllten Krieg, und wenn ich nach einem Besuch am Abend ins Dorf zurückmusste, gingst du mit mir durchs Holz bis zu den Feldrainen, wo man die Dörfer in der Ferne sehen konnte. Von da weg kannst du schon allein gehen, sagtest du jedesmal. Das war deine Grenze.

Mit zweiundzwanzig kamst du als Braut in das Haus, in dem du zwölf Kinder zur Welt brachtest, deinen kranken Mann pflegtest, die Tiere versorgtest, die Ernte einbrachtest, bis alles so sehr dein Haus und dein Leben war, dass es nichts anderes mehr gab. Ich habe ein Foto von dir bei der Heuernte, die hoch getürmte Fuhre auf der abschüssigen Bergwiese, zwei Ochsen davorgespannt, und du thronst hoch oben bis zu den Hüften im Heu, ein weißes Kopftuch übers Haar gebunden, und nimmst eine Garbe auf, so gelassen und leicht, als würdest du Blumen um dich herum verteilen, während dein Mann von der Anstrengung, die Garbe mit der Heugabel zu dir hinaufzuheben, ganz verbogen dasteht. Ist es vermessen zu fragen, ob du glücklich warst, oder durfte es den Luxus dessen, was wir heute Glück nennen, in einem so kargen Leben nicht geben? War es schon Glück, genug Essen auf den Tisch zu stellen, dass alle Mägen satt wurden, das Nötigste zu haben, um Kleidung zu kaufen und manchmal ein kleines Geschenk, eine Rippe Schokolade am Sonntag nach der Messe, ein lackiertes Holzpferdchen unter dem Christbaum? Ich weiß, dass du bei aller Nüchternheit an phantastische Geschichten glaubtest, vom Kristallpalast am Grund des Plöckensteinsees, von den Fischen im See, die nachts nach ihrer von Fischern gefangenen Brut riefen, von der wilden Jagd und unheimlichen nächtlichen Begegnungen, von den Rauhnächten mit ihren Geistern und Vorahnungen, von übernatürlichen Kräften, die unerwartet jederzeit auftauchen und das Schicksal bestimmen konnten.

Mit achtundsechzig, mitten im Krieg, übergabst du das Haus an einen deiner Söhne und zogst aufs Altenteil. Es war nicht viel mehr als eine aus grob verputzten Granitfindlingen in den Hang hineingebaute Stube mit einem Vorhaus, einer winzigen Vorratskammer und einem Holzschuppen, der sich in Geröll und Brettern im steinigen Hintergrund verlor. Dort haustest du noch siebzehn Jahre bis zu deinem Tod. Mit seinen quadratischen Fenstern, je zwei nach Süden und nach Westen, den tiefen Fensternischen mit dem Wasserkrug und den Sträußen aus Wiesenblumen, den blauen Bergen in der Ferne, wurde mir deine Stube als Kind zum Inbegriff vollkommener Ruhe, der Ort, wo die Zeit zum Stillstand kommt und sich schläfrig dehnt. Die Sonne schien auf den glattpolierten Bauerntisch und streifte dein Bett. Nichts Unerwartetes konnte hier geschehen. Vor dem Essen und in der kalten, trüben Jahreszeit flackerte das Herdfeuer hinter der Ofentür, die Bank rund um den Herrgottswinkel war glatt und fast so hoch wie der Tisch, an Heiligenbilder erinnere ich mich nicht. Ein Sessel, gehobelte Fußbodenbretter, eine Kommode und eine Truhe neben der Tür. Mehr gab es nicht, mehr brauchte es nicht für ein Zuhause.

Als du in deiner Stube aufgebahrt lagst, ein Kreuz zwischen den gefalteten Händen und Kerzen zu deinen Füßen, nahmst du den ganzen Raum ein. Man hatte dich nicht aufs Bett gelegt, sondern bereits auf die Bahre, mit der man dich aus dem Haus, über die Wiese und durch das Waldstück bis zur Straße tragen würde. Was wusste ich damals vom Sterben? Ich war ein Kind. Alte Leute starben. Der Tod hatte nichts mit mir zu tun. Ich fragte mich nicht, wie du gestorben bist, mitten im Sommer. Es kam mir nicht in den Sinn, dass du das bisschen Zärtlichkeit, das meine Kindheit gewärmt hatte, mit dir fortnahmst. Ich erinnere mich an keine Trauer, ganz gewiss an keine Tränen. Ich war bestürzt und peinlich berührt, als mein Vater beim Begräbnis weinte. Während du dalagst, so streng und fern, dass du mir fremd vorkamst, stritten deine erwachsenen Kinder um das Sparbuch, das verschwunden war, und bezichtigten einander des Diebstahls. Wie viele Menschen waren in dem kleinen Raum, wie viele hatten überhaupt Platz? Kinder leben in einer anderen Wirklichkeit als die Erwachsenen, sie haben nicht den Überblick, aber sie sehen genauer und anders. Ich hatte immer geglaubt, wenn einer stirbt, dann bleibt seine Seele, der Rest seines Bewusstseins, noch eine Weile im Raum, unfähig, sich bemerkbar zu machen, aber als eine Gegenwart, die man ahnt, wenn man sich still verhält und versucht, die Ruhe des Todes in sich aufzunehmen. Ich stellte mir vor, wie du dagelegen bist und gehört hast, wie die Schublade aufgezogen wurde, wie jemand nach dem Sparbuch wühlte, es an sich nahm und die Lade leise wieder zurückschob, und dass es dir bereits gleichgültig war, welches deiner Kinder sich mit dem armseligen Rest deiner Lebensangst bereichert hatte.

Als ich nach zwei Jahrzehnten Abwesenheit zum Einschichthof zurückkam, war er verkauft, restauriert und aufgestockt. Wie eine bescheidene Kopie aus einem Wüstenrotkatalog sah er aus, die Besitzer, ostdeutsche Aussteiger und Schafzüchter, baten mich hinein in eine Stube, die ich nicht wiedererkannte. Eine tatkräftige Frau und ein schwermütiger Mann, sie hatten sich das Leben auf dem Land anders vorgestellt, sie waren einsam und alles war ihnen fremd, die Menschen im Dorf, die Landschaft, der Wald, der Schnee, der von November bis April die Zufahrtswege unbefahrbar machte. Das war in den achtziger Jahren. Aber dein Austragshäusl dicht neben dem Wohnhaus war noch dasselbe wie in meiner Kindheit. Ich war erstaunt, wie klein es gewesen war. Ein einziger Raum mit buckligen Wänden und tiefliegenden, kleinen Fenstern. Die Decke hatte sich an einer Ecke aus dem Gebälk gelöst und hing in die Stube wie eine hölzerne Spinnwebe, ausgerechnet über deinem schmalen, hohen Bett, auf dem nach zwanzig Jahren noch Tuchent und Polster aus blau gestreiftem Leinen lagen. Der Bauerntisch, an dem ich deine köstlichen Herrenpilzgerichte mit Rahm und Semmelknödel gegessen hatte, war verschwunden, und zwanzig Jahre Staub und Schmutz lagerten auf Herd und Fensterbänken. Nur ein Kalender hing noch an der Wand, abgerissen bis auf die erste Juniwoche des Jahres 1960, dein Todesdatum.

Ich erinnere mich an deine Oblatentorten, die du für mich aus dem Nachbardorf geholt hattest, je eine Stunde Weg an ein paar abgelegenen Bauernhöfen vorbei. Du warst damals schon weit über siebzig und nicht mehr gut auf den Beinen, aber du gingst eine Stunde ins Dorf hinunter und den steilen Berghang wieder hinauf, als sei es selbstverständlich, dass du mir jeden Wunsch erfülltest. Es waren keine Küsse und keine Umarmungen, sondern diese selbstverständlichen Handlungen, die mich deiner Liebe vergewisserten. Ich erinnere mich an die Abende, bevor du mich in mein Bett auf dem Dachboden brachtest. An die Geborgenheit deiner hellblauen gestärkten Kleider, die so sauber und frisch rochen. Es scheint mir in der Erinnerung, als läge dieser helle, saubere Geruch über den Feldern und Wiesen, die sich in sanften Schwüngen ins Mühltal hinuntersenkten und zu den blauen Hochwaldhängen anstiegen. Und er überlagerte auch die dunkle Feuchtigkeit im Vorhaus, wenn du bei Nachteinfall die Haustür mit dem schweren Holzbalken verriegelt hast. Dann waren wir beide sicher und geborgen, wie man sich nur als Kind fühlen kann, wenn man Menschen und Orten noch zutraut, dass sie Geborgenheit garantieren. Es muss deine beruhigende Gegenwart gewesen sein, die mir jede Angst vor dem Dachboden mit den Wespennestern an den Dachbalken unter dem rohen Asbestdach nahm. Ich musste über hohe Deckenbalken klettern, um zum Bett mit der knisternden Strohmatratze zu kommen. Vierunddreißig Jahre später sah ich, dass es kein Fußboden, sondern nur lose Bretter waren, über die man vorsichtig balancieren musste, um an die Dachluke mit dem nun eingeschlagenen Fenster zu gelangen, aus dem man einen verfilzten Jungwald überblickte. In meiner Erinnerung hingen oben unter dem Dachfirst weißlich-graue Hornissennester und die Wipfel der hohen Tannen rauschten, wie ich sie nie wieder und nirgends sonst rauschen gehört habe, so beruhigend und mit einer fast jenseitigen Zeitenthobenheit in der abgeschiedenen Menschenferne. Seit meiner Kindheit sehne ich mich nach diesem Rauschen und habe doch stets nur einen schwachen Nachhall davon gehört. Manchmal huschten Schatten durch die Dunkelheit, es müssen Fledermäuse gewesen sein, aber das Bett schwebte über den losen Planken wie ein Schiff, mit sauberem, blau gestreiftem Bettzeug, das nach Großmutter roch.

Es waren glückliche Tage und Nächte, die ich in diesem Haus und den Wiesen, dem Wald dahinter, in den Granitspalten und Höhlen, im Unterholz und dem kleinen Teich unterhalb des Hauses verbracht habe. Von Zeit zu Zeit treibt es mich noch immer hinauf auf die Hochebene, als müsse ich mit meinen Erinnerungen das Vergehen der Zeit anhalten, das Vergessen aufhalten. Als ich vierzig Jahre nach deinem Tod zurückkehrte, war dein Haus verschwunden. Nur ein Haufen loser Granitsteine war übriggeblieben, unbenutztes Baumaterial für den Wintergarten anstelle des Austragshäusls, ebenerdig, mit tropischen Pflanzen hinter der breiten Glasfront. Sie nahmen sich eigenartig aus in der kargen Landschaft voller Granitblöcke und verwildertem Jungwald. Ich fand auch die Felsspalten und Höhlen oberhalb des Hauses, in denen ich gespielt hatte, nicht mehr. Nur sechzig Jahre, und alles ist ausgelöscht und getilgt, dein Name auf deinem Grab, das Haus, sogar die Tannen in der Lichtung sind längst gefällt.

Fast eine Schwester

Du warst meine erste Freundin, meine erste Feindin, meine uneinholbare Rivalin. Meine frühesten Erinnerungen sind so fest mit dir verknüpft wie die Eindrücke vom Bauernhof unserer Großeltern, und sie stehen lebendiger vor mir als die Umgebung, in der ich aufwuchs, die Vorstadtsiedlung, die mir in der Erinnerung seltsam menschenleer erscheint. Aber auf dem Bauernhof warst du. Mit dir musste gerechnet werden, da half kein Rückzug. Das halbe Jahr, das du jünger warst als ich, zählte nicht. Außer uns beiden gab es noch keine Kinder auf dem Hof und an die Dorfkinder, mit denen wir manchmal spielten, erinnere ich mich nur unscharf.

Wir kämpften im gemeinsamen Gitterbett verbissen um die Decke, in der Bauernstube, wo es im Winter ein wenig wärmer war als in der eisigen guten Stube im Obergeschoß. Den nächtelangen Kämpfen im Gitterbett wurde irgendwann ein Ende bereitet, denn in der Stube schlief auch die Bäuerin, unsere Tante, mit ihrem Mann, sie fühlten sich von unserer Gegenwart gestört. Am Morgen standen wir verschlafen nebeneinander am Holzgatter unseres Nachtgeheges und wurden von unseren rivalisierenden Müttern in graue Overalls gesteckt. Unsere Mütter waren einander als junge Mädchen sehr nah gewesen, zwei Verbündete in einer feindseligen, lebensfeindlichen Welt. Doch nun setzten sie unseren unbarmherzigen Kampf um Vorherrschaft und Beachtung fort, oder gaben sie ihn uns vor? Wer hätte das so genau sagen können. Wenn wir am Abend in das hölzerne Schaff mit den Aluminiumringen zum Baden gestellt wurden, stritten Klara und meine Mutter darum, welche von uns beiden als erste im frischen, unverbrauchten Wasser baden durfte oder, wie sie es sahen, im Dreck der anderen gewaschen werden musste. Mir prägte sich der leicht bittere Duft des vom brennheißen Badewasser erhitzten Aluminiums so nachdrücklich ein, dass ich ihn seither jedesmal rieche, wenn ich in ein heißes Bad steige. Das ihre sei ein Kind der Liebe, ich dagegen ein Kind der Pflicht, argumentierte Klara. Das Kind der Liebe war der Sonnenschein, der den bäuerlichen Haushalt erhellte, blond, mit gelocktem Haar, das sich um das Gesicht kräuselte wie das Haar des wächsernen Christkinds in der Krippe, stämmig, gesund und fröhlich. Und vor allem Großvaters Liebling. Bravs Dirnderl, so nannte dich der alte Bauer und du übersetztest es in deine Kindersprache, napfDini, ein Spiel, das ihr so oft wiederholt habt, bis es dein Kosename wurde. Keines seiner Enkelkinder hat er so sehr geliebt wie dich. Ich war seine älteste Enkelin und zugleich dein finsterer Schatten. Mich nannte er sonderbarer Mensch, ich hatte in seinen Augen von Anfang an etwas Ernstes, Erwachsenes, etwas Fremdes, das sein bäuerliches Misstrauen erregte.

Durch dich lernte ich alles, was mein späteres Leben bis heute bestimmte: die enge Bindung an Frauen, die ich bewundere und beneide, an denen ich nur das sehen kann, was ich nie erreichen und nie verkörpern werde, eine Bewunderung, die mich in mutlosen Stunden vernichtet. Wir spielten zusammen an den Bächen rund um das Dorf, in der Morgenkühle der sauren Wiesen, unter den Weiden, die über die Ufer ins klare Wasser hingen, man sah die blauen Kiesel auf seinem Grund und manchmal huschte ein winziger Fisch, den wir nie erwischten, zwischen den glatten Steinen hindurch. Während die Erwachsenen in der Ferne die Felder bearbeiteten, durchnässten wir unsere Strümpfe und Kleider beim Pflücken von Dotterblumen, die an den sumpfigen Rändern der Bäche wuchsen. Wenn wir allein waren, bestimmte ich, was wir spielten, ich war diejenige, die mit der Autorität der Älteren den Ton angab und die Ideen hatte. Wir verwandelten die Wege hinter dem Heustadel in Moraste und kneteten den Lehm genussvoll zwischen Fingern und Zehen. Der Hofgarten unter den breiten Kronen der Obstbäume und einer Trauerweide, deren Laub bis zum Boden hing und ein schattiges Versteck abgab, war unser bevorzugter Spielplatz. Von hier aus fielen die Wiesen mit einer sanften Neigung, die erst ganz unten steiler wurde, zur Großen Mühl ab. Hier, an der Rückseite des Dorfes, hinter den rohen Holzwänden der Wirtschaftsgebäude ging am Abend über dem flachen Horizont die Sonne unter, so einsam, als befände man sich auf einer menschenleeren Heide. Bei der Heuernte im Juni saßen wir hoch oben auf den Heufuhren, die gegen Abend durchs Hoftor schaukelten, und um sechs Uhr morgens kauerten wir verschlafen auf den Brettern der Leiterwagen, Sensen und Rechen zu unseren Füßen, wenn die Erwachsenen in die Waldwiesen aufbrachen.

Wir haben nie unsere Erinnerungen verglichen, weder die guten noch die schlechten. Ich weiß nicht, ob die Morgenkühle und das Gefühl grenzenlosen Abenteuers, wenn der Leiterwagen die Dorfstraße hinunterrumpelte und zum Böhmerwald abbog, in dir das gleiche unbändige Glück, am Leben zu sein, hervorrief, und ob du dich daran erinnertest, wie uns manchmal ein Knecht einen verschreckten Feldhasen brachte, in der Mittagsstunde, wenn die Luft über den halb abgemähten Wiesen vibrierte und die Grillen ohrenbetäubend zirpten.

Ich weiß nicht, ob sich diese ersten Gerüche und Sinneseindrücke so nachhaltig in dein Gedächtnis eingegraben haben wie in meines, als sei alles Spätere nur mehr ein Widerhall, im besten Fall ein Abglanz eines überwältigenden Beginns. Du hast diese Gegend und das bäuerliche Leben nie verlassen, für dich blieben sie Lebensraum und wurden nie zum verlorenen Paradies. Ich hätte gern gewusst, wie du mich in deinem Gedächtnis aufbewahrt hast, als prägende Gegenwart für das ganze Leben, so wie ich dich? Vielleicht hattest du ganz andere Erinnerungen oder sie hatten eine andere Bedeutung. Gewiss fehlte dir diese eine Erinnerung, vielleicht stand sie als blasses Detail im Glanz deiner glücklichen Kindheitsjahre. Es muss im Sommer gewesen sein, kurz vor der Zwetschgenernte, als die ersten, noch kostbaren Pflaumen reiften. Im Hofgarten gab es einige Zwetschgenbäume und in Großvaters Hausgarten reiften sie am Spalier an der Sonnenseite des Austragshäusls früher als auf den Bäumen. Wir standen auf den Hausstufen zum Wohnhaus, als er uns rief, er hätte was für uns, mit dieser Stimme, mit der Erwachsene wunderbare Überraschungen ankündigten. Haltets die Hände auf, sagte er und nestelte in seinen Hosentaschen. Wir standen vor ihm, zwei kleine Mädchen, nicht älter als fünf Jahre, und streckten ihm vier erwartungsvolle Hände entgegen, zwei Schalen, um seine Geschenke aufzufangen. Er füllte deine Hände mit den ersten Pflaumen des Jahres, nur deine Hände, und mir blieb die schwierige Aufgabe, meine leeren Hände mit gekränkter Würde zurückzuziehen. Wer nicht existierte, dem nützte kein Aufbegehren. Ich erinnere mich nicht, ob ich nachher einen Teil deiner Beute forderte, ob ich mit dir darum stritt, ob ich weinte oder mich schweigend zurückzog. Ich weiß nicht mehr, was ich damals fühlte, ich habe nur siebzig Jahre später, nachdem ihr beide tot seid, das lebhafte Bild der zu zwei Schalen geformten Kinderhände und der ungerechten Verteilung eines zugegebenermaßen vergänglichen und bedeutungslosen Glücks vor Augen.

Als unser Cousin geboren wurde, fochten wir unseren letzten Kampf auf dem Bauernhof aus. Die Erwachsenen waren angespannt, das Erstgeborene war zwei Jahre zuvor kurz nach der Geburt gestorben, die Frauen waren mit der Gebärenden beschäftigt, und wir stritten und balgten uns wie zwei Kater im Frühjahr und wurden später von unseren Müttern verhauen. Doch es gab auch Zärtlichkeit zwischen uns, Zeiten der Eintracht, in denen du mich bei meinem Kosenamen riefst. Auch später, als Klara mit dir auf den Hof deines Vaters in ein anderes Dorf zog und du noch sechs Geschwister bekamst, blieb eine Nähe zwischen uns, eine Zuneigung, die keiner Beteuerungen bedurfte. Wir freuten uns, einander wiederzusehen, wie zwei durch widrige Umstände getrennte Schwestern, mit jenem vertraulichen Wiederanknüpfen dort, wo wir unterbrochen worden waren, das mit einem geflüsterten, weißt eh, begann. Damit vergewisserten wir uns, dass nichts verlorengegangen und nichts zwischen uns gekommen war.

Als wir in die Volksschule gingen, kamst du oft im Sommer auf einige Tage zu uns auf Besuch, wir unternahmen die üblichen Ausflüge, die unsere Stadt zu bieten hatte. Auf den Fotos sitzen und stehen wir nebeneinander auf Bänken, im Gras, vor dem Eingang zur Bergbahn. Du bist auf allen Fotos lebendiger als ich, noch immer stämmig, blond, ganz und gar gegenwärtig und der Freude am Leben und am Augenblick rückhaltlos hingegeben. Es muss beglückend gewesen sein, als Erwachsener deine stürmische Dankbarkeit zu empfangen. Das Strahlen, das von dir ausging, machte deine bäuerliche Unbeholfenheit wett, ja, es verlieh ihr einen Charme, eine Frische, so als bekäme man einen wolkenlosen Sommermorgen zum Geschenk, einen Morgen, der einen makellosen, vom Glück gesegneten Tag verspricht. Deine bloße Anwesenheit rief Freude, Zuversicht und Zuneigung hervor.

In den Jahren der Pubertät verloren wir einander. Ich erinnere mich an einen Besuch am Stephanitag, als die Verwandtschaft in der Bauernstube zusammensaß, zu viele Menschen, die sich im Lauf der Jahre fremd geworden waren. Ich konnte dich nicht erreichen, nicht einmal durch Blicke stummen Einverständnisses. So verschlossen und unerreichbar, nein unberührbar, bist du dort am Fenster in der Stube gesessen, in der wir Kinder gewesen waren, als ginge dich das alles nichts mehr an. Du bist mir ausgewichen und ich wusste nicht mehr, wie ich mich dir nähern konnte. Was hatte man dir angetan, wovon du mir damals nicht erzählen konntest, damit die Eintracht der Familie in der guten Stube heil blieb, obwohl sie für dich aus den Fugen geraten war? Und warum verstand ich nicht zu fragen? Später kamen mir bruchstückhaft erlauschte Gerüchte zu Ohren, ich konnte mir keinen Reim darauf machen, ich wollte sie auch nicht verstehen. Dieses Andeuten und mitten im Satz Verstummen, Denunziationen, die nie ausgesprochen wurden, nicht nur in der Verwandtschaft, auf dieselbe hinterhältige Weise warst du Dorfgespräch, keine fünfzehn Jahre alt, und deine Eltern in der öffentlichen Meinung schuldlose Opfer deiner Schamlosigkeit. Niemand nahm dich in Schutz. Von Erziehungsanstalt und Maßnahmen, die unter den Sammelbegriff Weggeben fielen, war die Rede. Du hast dich selber rechtzeitig aus dem Dorf entfernt und auf deine Weise über das Gerede triumphiert.

Mit siebzehn hast du überstürzt geheiratet, sichtbar schwanger in ein zu enges weißes Kleid eingenäht. Ich machte Matura und du hast geheiratet, im selben Monat, jede von uns an einem Etappensieg, jede im Begriff, der elterlichen Gewalt zu entrinnen. Auf deinem Hochzeitsfoto strahlst du, wie du immer gestrahlt hast, aber es ist auch etwas Geducktes in deinem Gesichtsausdruck, etwas wie eine diebische Freude, entkommen zu sein oder es ihnen gezeigt zu haben. In den Augen der Erwachsenen hattest du eine gute Partie gemacht, einen jungen Bauern mit einem beachtlichen Erbe, das in Stück Rindern und Joch Grund gemessen wurde. Mit zwanzig warst du Bäuerin auf einem angesehenen Bauernhof in einem kleinen Dorf, das man von deinem Elternhaus und auch vom Hof unserer Großeltern zu Fuß erreichen konnte. Ich weiß nicht einmal, wie viele Kinder du deinem zehn Jahre älteren Mann geboren hast, man hörte von keinen Skandalen mehr. Du warst eine verlässliche, besonnene Ehefrau und er ein hart arbeitender, treuer Mann, und zusammen habt ihr einen großen Hof bewirtschaftet, Kinder großgezogen, die Schwiegereltern versorgt, wie es von euch erwartet wurde. Du wurdest beleibt und frühzeitig matronenhaft, dein Haus ein Schmuckstück des Dorfes, deine Geranien auf den Fensterbänken eine Augenweide. Ihretwegen, und weil du noch immer jene schlichte Lebensfreude ausstrahltest, an der die Menschen sich wärmten, wurdest du zur Ortsbäuerin gewählt, es muss ein Ausdruck von Wertschätzung des ganzen Dorfes gewesen sein.

In jenen Jahren habe ich dich einige Male besucht, aber immer waren Dritte dabei, Verwandte, die dir näherstanden als ich. Wir waren einander fremd geworden, so fremd, dass wir nicht mehr unbefangen miteinander reden konnten, sondern uns stattdessen mit verschämten Komplimenten belogen. Und dann brach der Kontakt völlig ab. Viele Jahre lang habe ich mir vorgenommen, dich zu besuchen. Einen Nachmittag lang war ich in deinem Nachbarhaus zu Gast, in einem Dorf von fünf oder sechs Bauernhöfen, und als ich wegfuhr, hoffte ich, du würdest nicht gerade in diesem Augenblick aus dem Fenster schauen oder aus dem Hoftor treten und mich erkennen. Ich nahm mir vor, dich ein anderes Mal zu besuchen, später, ohne Zeugen. Ich dachte, wir hätten alle Zeit der Welt, den Kontakt wieder anzuknüpfen, irgendwann.

Und dann erfuhr ich, dass du krank warst, etwas mit dem Herzen, hieß es. In der Verwandtschaft, die mich längst nicht mehr zur Familie zählte, kursierten unverständliche Diagnosen, von einem bösartigen Tumor am Herzen, Eiweißablagerungen, die das Herz erdrückten. Etwas Vererbtes, hieß es, das immer schon da gewesen und zu spät erkannt worden sei, das in dir bereits als Kind zu wachsen begonnen hatte, als wir im Frühling über die vom Tau nassen Hofwiesen zum Bach hinuntergerollt waren und an den sumpfigen Ufern Blumen gepflückt hatten. Damals schon, als du der kleine Sonnenschein warst und die alten Jahre unseres Großvaters erhelltest, war das Ende deinem Körper eingeschrieben gewesen. Jetzt redete man von einer dringend notwendigen Herztransplantation, und dass das Spital in Innsbruck dich abgewiesen habe, du seist schon zu schwach und würdest die Operation nicht überstehen. Damals hätte ich dich gern besucht, aber man sagte mir, du wolltest keine Besucher, also ließ ich mir von der einzigen Verwandten, die ab und zu noch anrief, vom Fortschreiten deiner Todeskrankheit berichten.

Ich erfuhr zufällig von deinem Tod, durch eine beiläufige Erwähnung deines Begräbnisses. Warum hat es mir keiner gesagt, warum hat mich niemand zum Begräbnis eingeladen, fragte ich, als hätte ich ein Anrecht. Aber warum hätte man mich benachrichtigen sollen? Ich habe deinen Mann nur ein einziges Mal, bei eurer Hochzeit, gesehen, und an die älteren deiner Kinder erinnere ich mich als Kleinkinder, die im Hof mit den Hühnern spielten. Ich wäre wie ein Fremdkörper unter den Trauergästen gestanden, als sonderbarer Mensch, als der ich in der Verwandtschaft galt. Ich weiß nicht einmal, wo du begraben bist, und es gibt niemanden, den ich fragen möchte.

Gewiss gibt es viele Menschen, die sich mit großer Liebe an dich erinnern, die untröstlich um dich getrauert haben. Deine Mutter hat dich überlebt und sechs oder sieben Geschwister. Das ganze Dorf wird bei deinem Begräbnis gewesen sein, deine Kinder und Enkelkinder und die Verwandten; alle, außer mir. Einmal, an einem Sonntagnachmittag im Sommer, kam deine jüngere Schwester überraschend auf Besuch. Sie saß in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa und erzählte von ihrem Leben. Sie sah meiner Mutter so ähnlich, dass ich vor lauter Staunen über die Ähnlichkeit das meiste, was sie sagte, nicht mitbekam. Nach einer halben Stunde ging sie wieder und keine von uns beiden schlug ein Wiedersehen vor.

Dein Leben war von Menschen erfüllt gewesen, die du geliebt und deren ganzes Glück du bedeutet hast, aber niemand außer mir und deiner Mutter erinnerte sich an napf Dini, das kleine Mädchen mit den blonden Ringellocken, das sich mit den Händen am Rand des Gitterbettes festhielt und mit unsicheren Beinchen Samba tanzte, während es einen Schlager der Besatzungszeit krähte. Zweiundfünfzig Jahre bist du alt geworden, aber es war ein erfülltes Leben, wie ich höre, und ich glaube nicht, dass du jemals längere Zeit damit gehadert hast oder dachtest, es wäre dir etwas vorenthalten worden. Außer durch den frühen Tod, der allem ein Ende setzte, was noch hätte kommen können. Das Leben, das dich von Anfang an wie ein goldener Morgen umgeben hatte, war gut zu dir gewesen. Du hast immer napf Dini bleiben dürfen, die brave kleine Dirn, die dankbar und voll unschuldiger Freude die Geschenke entgegennimmt, die ihr in die Hände gelegt wurden und die sich mit kluger Umsicht den Schlingen des Schicksals gerade noch rechtzeitig entzieht, dein ganzes Leben lang mit der unberührbaren Unschuld des Glückskinds, des Kindes der Liebe und der Daseinsfreude. Wie käme ich dazu zu glauben, dein Leben sei beschränkt gewesen, bloß weil du keine Bücher gelesen hast und nicht gereist bist und nur über Dinge nachgedacht hast, die für dein und das Wohlergehen deiner geliebten Menschen wichtig waren?

Die schönsten Augenblicke

Wir sehen uns selten, bei Lesungen, in Abständen von vielen Monaten rufst du an, wenn etwas Wichtiges in deinem Leben passiert, dann möchtest du es mir erzählen, immer noch, nach so langer Zeit. Und jedesmal, wenn ich dich wiedersehe, schießt mir die Zuneigung wie ein heißer Strom durch den Körper. Ich möchte dich umarmen, dich einschwören auf unsere gemeinsame Zeit, meine besten, freiesten Jahre, die uns niemand nehmen kann und die mir bestätigen, dass ich eine glückliche Jugend hatte. Ein jedes Mal, wenn wir uns sehen, versuche ich, dir das zu sagen, aber du winkst ab, die guten Jahre kamen für dich später, als dich Beruf, Mann und Kind wieder fest im heimatlichen Boden verankert hatten. Damals brach die Kluft zwischen uns auf, die wir zuvor zehn Jahre lang so leicht, so spielend übersprungen hatten. Diese Jahre sind für dich nichts, eine Unterbrechung, das zielstrebig in kürzester Zeit absolvierte Studium, um ins Elternhaus und in dein vertrautes Umfeld zurückzukehren. Du lebst nicht in der Vergangenheit, du lebst in der Gegenwart und unsere gemeinsamen Erinnerungen bedeuten dir nichts.

Ich weiß, dass du dir mein Leben nicht vorstellen kannst, ich will auch gar nicht von meiner Gegenwart erzählen. Wenn ich dich wiedersehe, bin ich zwanzig und alles Unglück der letzten fünfzig Jahre fällt von mir ab. Ich sehe dich und bin wieder die Studentin, die sich alles zutraut und vor nichts zurückschreckt und sei es noch so waghalsig, die an der jordanischen Grenze durch den Stacheldraht schlüpft, trotz der Tafel mit der Aufschrift Lebensgefahr in drei Sprachen, um die bizarren Felsformationen zu fotografieren. Erinnerst du dich an unsere Reisen? Und wie erinnerst du dich? Wenn wir uns wiedersehen, möchte ich nicht über die Gegenwart reden, sondern mich gemeinsam mit dir erinnern, die vielen Bilder durch Worte wieder zum Leuchten bringen, die auch nach fünfzig Jahren so frisch in meinem Gedächtnis sind. Unsere Reisen, das ist es, was mich mit dir verbindet. Sie mögen im Vergleich zu deinen späteren Unternehmungen mit deinem Mann schlecht organisiert und frustrierend gewesen sein. Später warst du nicht mehr gezwungen, auf meine schwächere Kondition Rücksicht zu nehmen und darauf, dass ich sparen musste. Du warst Sportlerin, kräftig, durchtrainiert, ich dagegen war abgemagert bis auf die Knochen und war verbissen aufs Hungern aus. Ich weiß, wie viel Geduld und Nachsicht ich dir abverlangte. Ich wurde oft krank, in Täbris wachte ich mit Schmerzen auf, die wie Messer in meinen Eingeweiden wühlten, ich lag im Bett und hatte hohes Fieber. Du brachtest mir stark gewürzten Kebab und frisches, noch warmes Fladenbrot, es machte die Schmerzen noch schlimmer, aber wie hättest du das wissen sollen? Bei jeder Reise überfiel mich irgendwann das heulende Elend, auf dem Dach einer Jugendherberge, auf den Stufen irgendeines Treppenaufgangs, und du bist neben mir gesessen, hast mir zugeredet, mir beruhigend den Rücken gestreichelt, mir köstliches Essen gebracht. Nie hast du mich angefahren, nie gefordert, ich möge mich zusammenreißen.

Als du zum ersten Mal im Frühstücksraum des Studentenheims erschienst und deine Studienrichtungen nanntest, sagte meine damalige Freundin: eindeutig eine Sportlerin, keine Anglistin. Ich habe dich nie nach deinen akademischen Leistungen beurteilt, du warst die bessere Freundin, großzügig, unbeschwert, unerschrocken. Möglich, dass unseren Gesprächen die quälende Tiefe fehlte, es waren Gespräche im Gehen, beim Wandern auf den Mönchsberg, über das hügelige Alpenvorland, mit der Natur zu einer leichten Sommermusik verflochten, sonnengesprenkelt, hitzedurchglüht, euphorisch aus grundlosem, jugendlichem Übermut. Ich war oft Gast bei euch zu Hause, im ersten Stock des alten Bürgerhauses mit dem Dachgarten. Damals war ich gern bei euch, ließ mich von deiner Mutter verwöhnen, genoss die humorvolle Aufmerksamkeit deines Vaters. Deine Mutter wurde erst misstrauisch, als ich das Weltbild, nach dem sie dich erzogen hatten, ins Wanken brachte. Nach unserer Türkei-Reise, als du nicht mehr bereit warst, türkische Gastarbeiter für minderwertige Menschen zu halten. Sie nahmen dich spürbarer an die Leine finanzieller Abhängigkeit, ich dagegen war vogelfrei, niemand überwachte, niemand unterstützte mich. Ich musste mich nicht zwischen zwei Welten entscheiden. Als du schließlich die Entscheidung trafst und unsere gemeinsame Zeit in die Vergangenheit jugendlichen Leichtsinns abschobst, hatten wir uns schon weit genug voneinander entfernt, dass es mich nicht mehr traf.

Ich habe dir und unseren Reisen, unseren gemeinsamen Jahren einen Roman gewidmet, du hast ihn als reißerisch und übertrieben bezeichnet. Aber vielleicht erinnerst du dich wenigstens an unsere Osterferienreise in die Türkei, an die Mohnfelder von Anatolien, den täglichen Weg über die Galata-Brücke und den starken morgendlichen Kaffee bei einem Kaffeesieder auf der Brücke, unsere Unterkunft im Patientenzimmer des Spitals österreichischer Nonnen und die langen Gespräche von Bett zu Bett, die enge Wendeltreppe bis zur Spitze des Minaretts in Izmir und den Blick über die Stadt auf den Hügeln zwischen den Berghängen. Die Taxireise bei klagender Steppenmusik durch menschenleeres verdorrtes Land, und wir beide mit drei fremden Männern, die uns unterwegs bei jeder Rast zum Tee einluden und uns ritterlich vor einem Hotel absetzten, wo man mich um den größten Teil meines mitgebrachten Bargelds erleichterte. Wenn du dich an nichts davon mehr erinnerst, so doch wenigstens an den glücklichen, ausgelassenen Abend, als du so etwas wie eine Epiphanie hattest, die Erkenntnis, dass die Fremde befreiend und die Einstellung deiner Eltern falsch war. Da hast du mich hochgehoben und bist mit mir im Zimmer im Kreis getanzt vor Freude und Dankbarkeit.

Und all die anderen Reisen, immer in den Bussen der Einheimischen von Stadt zu Stadt, von Norden nach Süden, in der heißen mediterranen Sonne Griechenlands, Spaniens, Marokkos, oft zu Fuß auf Landstraßen, erschöpft und hoffnungsvoll an Bushaltestellen, an denen den ganzen Tag lang kein Autobus vorbeifuhr, in der versengten Landschaft aus roter Erde und braunem Steppengras. All die Abenteuer, an denen wir erst verzagten, um sie einander später beim Betrachten der Fotos zu erzählen und darüber zu lachen. Manchmal kam es zu Verstimmungen, meist ging es darum, dass ich mir gutes Essen in einem Lokal, ein komfortables Hotel nicht leisten konnte, aber sie dauerten nie lang. Erinnerst du dich an die Sonnenblumenfelder der Sierra Nevada und die jungen Gitanas in ihrer bunten Tracht? An die schmalen, gewundenen Gassen und die weißen Häuser der Judería in Granada? An die filigrane Schönheit der Alhambra, in der wir einen ganzen Tag lang von Saal zu Saal wanderten, beinah allein? An den Stierkampf in Málaga, wo uns das Mitleid mit dem Stier in hilflose Wut versetzte? An die Auto-Rowdys in Algeciras, die uns mit Hupen und Zurufen durch die nächtlich leere Stadt verfolgten, und wir uns in immer engere Gassen und Durchgänge flüchteten, bis wir, zum Umfallen müde und ohne Unterkunft, schließlich um vier Uhr früh auf der Parkbank vor einer Kirche erschöpft einschliefen? In Marokko die hennagefärbte Zimmervermieterin, die nicht von unserer Seite wich und fortwährend hintergründig lächelte? Wie wir uns im Labyrinth des Basars von Fès unter den sonnenflirrenden Matten verirrten, die bestickten Kleider, die wir uns kauften und später nie trugen, den starken arabischen Kaffee, nach dem wir süchtig wurden? An die Nacht auf einem Campingplatz des Bergdorfs im Atlasgebirge, wo wir auf eine Hippie-Kommune trafen?