Vanas Erbe - Lucian Frey - E-Book

Vanas Erbe E-Book

Lucian Frey

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Beschreibung

Ein aufziehender Krieg zwingt die junge Nirvy, ihr angestammtes Heim zu verlassen und ihre Ausbildung zur Kriegerin auf der renommierten Schule Nordgard fortzusetzen. Doch Nirvy ist kein Mädchen, wie jedes andere, und ihre Besonderheiten rufen schnell Widersacher auf den Plan, gegen die sie sich behaupten muss. Währenddessen haben jedoch auch die Handlanger des Feindes ihre Augen auf Nirvy geworfen und zögern nicht, zur Tat zu schreiten. Nur mithilfe ihrer Freunde kann es gelingen, sie abzuwehren und die Hoffnung auf eine bessere Welt zu bewahren.

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Seitenzahl: 598

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Texte: Copyright © 2025 Lucian Frey

Umschlaggestaltung:Wyndagger

Karte:Copyright © 2024 Lucian Frey; Pinsel und Werkzeuge zur Verfügung gestellt von (Map Effects - Fantasy Map Builder); Schriftart »Devinne Swash« von Dieter Steffmann; Textur: Bild von rawpixel.com

Stilistisches Lektorat:Nina Paschke

Verantwortlich

für den Inhalt:Fidelis Kurzschenkel

Autorenservice Hattersheim

Schulstraße 62

65795 Hattersheim

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

2. Ausgabe | 08/25

1. Ausgabe | 04/24

Inhalt

Karte

Ankunft in Nordgard

Der erste Schultag

Skarns Enkelin

Ein Tag am See

Nichts als Ärger

Sirans Wachsamkeit

Vátnfall

Zurück nach Nordgard

Im Seuchenraum

Konfrontation am See

Geist-Traum

Stínhavn

Aufbruch nach Vátnfall

Ein Rätsel

Des Rätsels Lösung

Vladr

Böses Erwachen

As’Saifs Gnade

Verfolgung durch Mór

Ankunft in Dubransk

Eine gerechte Bezahlung

Mannwolf

Die Jäger und die Gejagten

Herr der Seelen

Der Wert eines fremden Lebens

Vânors Fluch

Die einmalige Gelegenheit

In der Wolfshöhle

Feuer über Dubransk

Wolfszorn

Halvors Wahnsinn

Der erste Tag eines neuen Lebens

Karte

Kapitel 1

Ankunft in Nordgard

Die Sonne schien durch die Bäume und erhellte den Wald mit ihrem Licht. Es war Sommer, selbst hier im Vorgebirge. In den Baumkronen sangen Vögel und im Unterholz an den Rändern des Hohlwegs raschelte es.

Nirvy saß auf dem Wagen, lenkte das Maultier und lauschte verträumt auf die Geräusche ringsum. Die Hufe der Pferde auf der Straße, die Räder des Wagens und die Vögel. Und der Wind. Obwohl er heute nur leicht wehte, schien er ihr Botschaften zuzuflüstern, wenn er über ihre Haut strich.

»Bist du aufgeregt?«

Die Stimme ihres Vaters riss Nirvy aus ihren Tagträumen. Sie drehte den Kopf und sah zu ihm hoch. Auf seinem Kriegspferd gab Avaron eine eindrucksvolle Erscheinung ab. Er war hochgewachsen und sowohl schlank als auch muskulös. Jetzt musterte er sie mit seinen blauen Augen, die in seinem ernsten Gesicht standen.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Nirvy, die in der Tat aufgeregt war.

»Deine Beine«, antwortete Avaron knapp. »Bis eben haben sie sich unablässig bewegt.«

Nirvy kicherte ertappt. »Ich habe es nicht einmal bemerkt. Ja, ich bin aufgeregt«, fuhr sie nach einer Pause fort. »Nicht mehr lange und du bist fort.«

Avaron lächelte. »Ich glaube, wenn du erst dort bist, wirst du mich schnell nicht mehr vermissen. Vergiss nicht; in Nordgard wirst du viele neue Leute kennenlernen, die meisten davon in deinem Alter. Es wäre ein Wunder, wenn dich überhaupt niemand mögen würde.«

Nirvy nickte, wandte den Blick jedoch ab und betrachtete wieder den Weg vor dem Wagen. Auf eine der berühmtesten Meisterschulen des Nordens gehen zu können, war etwas Besonderes, doch Nirvy hatte Angst. Zum ersten Mal in ihrem Leben wäre sie für lange Zeit von ihrem Vater getrennt und fernab von ihrem Heimatdorf. Eine ganz neue Welt, von der sie nun weniger als eine Wegstunde entfernt war.

Doch Avaron überließ sie nicht ihren Gedanken. »Keine Sorge, Nirvy. Hunderte Schüler sind bereits erfolgreich in Nordgard ausgebildet worden und daran gewachsen. Auch viele Schüler, denen du um Längen voraus bist. Als ich nach Nordgard gekommen bin, war ich jedenfalls noch ein blutiger Anfänger. Sobald du dich dort eingewöhnt hast, wirst du dich bestimmt wohlfühlen – wahrscheinlich sogar wohler als zu Hause. Denn du wirst von Menschen umgeben sein, die dir ähnlich sind.«

Nirvy lächelte ihm zu. Bereits seit Wochen versuchte ihr Vater, ihr gut zuzureden. Sie selbst hatte ihre anfängliche ablehnende Haltung abgelegt, doch die Aufregung war geblieben.

»Es ist schon alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich bin bloß aufgeregt. Und das ist wohl jeder, oder?«

»Das bestimmt«, meinte Avaron. »Ich auch. Mein Mädchen verlässt das Haus, um erwachsen zu werden. Welcher Vater wäre da nicht aufgeregt? Aber ich bin auch ziemlich stolz auf dich. Und ein bisschen auch auf mich. Ich denke, ich habe was Gutes aus dir gemacht.«

Über seine Worte freute sie sich sehr. So liebevoll, wie Avaron war, ging er dennoch mit Lob sparsam um.

Sie lehnte sich ein wenig zurück und betrachtete gedankenverloren ihren flachen Bauch. Unter ihrer bronzenen Haut zeichneten sich sacht ihre Muskeln ab, die sie durch das regelmäßige Üben im Rahmen ihrer häuslichen Ausbildung erhalten hatte. Als ihr Vater vor fast zwei Jahren ihrer Ausbildung zur Kriegsmeisterin zugestimmt hatte, war für Nirvy ein lang gehegter Traum in Erfüllung gegangen.

Doch nun war dieser Abschnitt vorüber. Die Lage an der Grenze verschlechterte sich zusehends. Deshalb hatte die Fürstin von Vesthris Avaron nach Vátnfall gerufen, der mächtigen Grenzfestung des Nordens, die die Landbrücke zum Festland bewachte.

Für Nirvy bedeutete das, dass ihr Vater ihre Ausbildung nur weiterführen konnte, wenn sie ihn nach Vátnfall begleitete. Doch das hatte Avaron strikt abgelehnt.

»Kinder – und du bist immer noch ein Kind – gehören nicht in den Krieg«, hatte er gesagt. »Sie verlieren dort ihre Seele, bevor sie überhaupt ausgewachsen ist.«

Und so war die Entscheidung gefallen, Nirvy auf eine der vielen Meisterschulen des Nordens zu schicken – nach Nordgard. Diese Schule bildete Meister fast aller Art aus und hatte eine ausgezeichnete Reputation.

Nun war der letzte Abschnitt ihrer zweiwöchigen Reise gekommen. Die Zeit des Abschieds von ihrem Vater, der sie bisher durch alle Lebenslagen begleitet hatte, rückte immer näher.

»Hörst du das Wasser?«, fragte Avaron. »Das ist der Hvitdrift. Er entwässert den See, an dem Nordgard liegt, und fließt von hier aus bis nach Vátnfall. Wenn der Weg auf das Ufer trifft, sind wir angekommen.«

Nirvy nickte und blickte in den Wald. Hinter den Bäumen konnte man den Gebirgsfluss noch nicht sehen, doch man hörte das rasch fließende Wasser. Noch viel stärker als der Wind übte das Wasser eine starke Faszination auf Nirvy aus, was sie dem Umstand verdankte, dass sie vom Volk der Inari abstammte. Diese nahmen die Natur auf eine ganz andere Weise wahr als die restlichen Völker. Manchmal meinte Nirvy, im Wind oder im Plätschern des Wassers Worte vernehmen zu können. Doch so sehr sie auch lauschte, konnte sie nie auch nur eines deutlich verstehen. Manchmal, wenn sie hinhörte, konnte sie gänzlich die Zeit vergessen, denn die Stimmen der Vanahír, der mächtigen Geister der Welt, verstummten niemals.

Die Straße führte nun hangabwärts, tiefer hinunter in das Tal des Hvitdrift. Die Bäume standen hier lichter und Nirvy erhaschte einen ersten Blick auf das Wasser. Fast sechs Schritte war der Hvitdrift hier breit. Das Wasser floss rasch über das steinige Bett und bildete hier und dort Wirbel.

Nirvy sprang vom Wagen, als sie das Wasser erreichten. Angenehm floss es um ihre Füße und Schenkel, nachdem sie ein Stück in die Furt hineingelaufen war. Sie beugte sich hinunter und trank, dann wandte sie sich wieder um. Ihr Vater beobachtete sie still. Sein Gesichtsausdruck war ungewöhnlich ernst, ja fast traurig.

»Was ist?«, fragte Nirvy.

Avaron schüttelte den Kopf und sein Gesicht hellte sich wieder auf.

»Nichts«, meinte er. »Los, komm! Lass uns das letzte Stück noch hinter uns bringen.«

Mit diesen Worten trieb er sein Pferd an und ließ es durch die Furt waten. Nirvy zog sich wieder auf den Wagen hoch und folgte ihm vorsichtig. Der Weg stieg jetzt wieder an, doch bald wandte er sich nach links und führte am Ufer entlang. Die Bäume wurden immer lichter und schließlich führte die Straße aus dem Wald heraus.

Vor ihnen, eingebettet in ein weites Tal, erstreckte sich ein großer See mit klarem Wasser. Und direkt voraus, auf einer Klippe über dem See, erhob sich eine Burg. Eine befestigte Garnison, die einst einer Hundertschaft Soldaten als geschützte Unterkunft gedient hatte. Von dort aus hatte sie das Umland gesichert, als ihr Heimatland Vesthris und das Nachbarland Valheim vom Nordkönigreich bedroht worden waren. Direkt an der Klippe hatte man einen breiten Turm errichtet. Eine rechteckige Umfassungsmauer ging davon aus und umschloss ein Gelände von etwa sechzig auf fünfzig Schritt. Über allem ragte ein hoher schmaler Wachturm auf.

»Nordgard«, sagte Avaron. »Seit über fünfzehn Jahren war ich nicht mehr hier. Es sieht immer noch so aus wie in meiner Erinnerung.«

Das letzte Stück des Weges legten sie schnell zurück. Die Straße verlief vom Waldrand aus geradewegs zum Fuß der Klippe und stieg dann an. Nun wurden weitere Gebäude sichtbar, die vor den Toren der Festung erbaut waren. Und auch erste Anzeichen von Leben zeigten sich. Irgendwo zwischen den Hütten bellte ein Hund, Pferde wieherten und Menschen liefen herum. Nirvys Herz schlug vor Aufregung schneller. Sie waren angekommen. Sie war in Nordgard.

Als sie die ersten Hütten passierten, wurden sie plötzlich gerufen.

»Avaron!« Winkend näherte sich ein großer, schlaksiger Mann, der ein Kriegspferd am Zügel führte.

Ihr Vater lachte auf. »Tirados! Schön, dich zu sehen!«

Er sprang aus dem Sattel, um Tirados zu empfangen.

»Ich habe mich gefragt, ob du selbst kommen würdest, als ich erfahren habe, dass deine Tochter nun hier als Schülerin aufgenommen wird«, sagte Tirados und lächelte Nirvy an. »Sei gegrüßt, Nirvy. Ich bin Tirados.«

»Meine Grüße«, sagte Nirvy und erhob sich. Obwohl Tirados und ihr Vater im gleichen Alter sein mussten, schien es, als ob die Zeit an Tirados schneller vorbeigegangen sei. Im Gesicht trug er einen kurzen, aber vollen Bart mit grauen Strähnen zwischen dem Braun. Seine Augen waren wachsam, aber eingerahmt von Lachfältchen, die ihm ein freundliches Aussehen gaben.

»Ich bin Lehrer hier in Nordgard«, sagte Tirados. »Da du den Kriegerlehrgang besuchst, wirst du mich in Zukunft wohl oft sehen. Mein Lehrauftrag ist die Gruppentaktik, aber ich unterstütze meine beiden Kollegen auch bei den Kampftechniken.«

Nirvy nickte nervös. Sie wusste nichts zu erwidern. Doch Tirados schien das auch nicht zu erwarten.

»Einst waren Tirados und ich gemeinsam Schüler auf Nordgard«, erklärte Avaron. »Und später dienten wir zusammen im Heer. Ich verließ schließlich die Truppe und Tirados schied vier Jahre später auch aus.«

»Knie verdreht«, sagte Tirados und rümpfte verächtlich die Nase. »Und du, Nirvy? Erinnerst du dich an mich?«

Avaron lachte. »Natürlich nicht. Sie war damals erst zwei Jahre alt.«

Nirvy wurde heiß. Wäre ihre Haut nicht so dunkel gewesen, wäre sie sicherlich errötet. Dass ein jetziger Lehrer sie bereits im Kleinkindalter getroffen hatte, war ihr peinlich.

»Nun, es ist schon lange her«, sagte Tirados. »Und das Heute ist so oder so wichtiger. Nichts für ungut, aber ich muss weiter. Ich bin in den Stallungen.« Er nickte zu einem großen hölzernen Gebäude hinüber. »Vielleicht hast du später noch Zeit, mich dort zu treffen?«

»Bestimmt«, sagte Avaron. »Das Zugtier muss untergebracht werden. Ich werde bald ebenfalls dort sein.«

Tirados wandte sich ab und ging seiner Wege.

»Komm, Nirvy«, sagte Avaron. »Lass uns hineingehen.«

Er ging voran und Nirvy folgte ihm. Das Geschehen kam ihr unwirklich vor. So als ob ihr Vater sich jeden Moment umdrehen könnte, um zu verkünden, dass sie sich geirrt hatten und dass es noch nicht an der Zeit war, Abschied zu nehmen.

Doch er drehte sich nicht um. Er verschmolz mit den Schatten unter dem Torbogen. Kurz darauf lenkte auch Nirvy das Gespann hinein. Das Torgewölbe war niedriger, als Nirvy es erwartet hatte. Große Wagen konnten hier nicht voll beladen hindurchfahren und ein Reiter musste seinen Kopf einziehen.

Der Torbogen öffnete sich in einen Burghof. Ringsherum, an die Mauern angelehnt, standen viele Gebäude, von denen Nirvy nur die Schmiede auf Anhieb identifizieren konnte. Von hier aus war zu sehen, dass der Bergfried nicht separat stand, sondern in ein großes Hauptgebäude eingebettet war, das sogar die Ringmauer in der Höhe überragte.

Auf dem Burghof war nicht viel los. Nur von der Schmiede erklangen Geräusche und zwei Frauen überquerten gemeinsam den offenen Bereich. Im Schatten eines kleinen Gebäudes in der Mitte der Umfassung saß jedoch ein alter Mann. Als er sie bemerkte, winkte er und erhob sich von seinem Sitz. Avaron machte die Zügel seines Pferdes am Wagen fest und bedeutete Nirvy, abzusteigen.

Sie sprang vom Wagen und folgte rasch ihrem Vater, der bereits auf den Alten zuging. Der Mann war bestimmt über sechzig Jahre alt und vermutlich schon in seinen jungen Jahren nicht besonders groß gewesen. Weiße Haare fielen ihm bis auf die Schultern und umrahmten ein freundliches Gesicht. Er trug ein langes schwarzes Gewand, das sehr schlicht geschnitten und unverziert war. Eine Waffe trug er nicht.

»Seid gegrüßt und willkommen in Nordgard«, sagte der Fremde. »Mein Name ist Hervar. Ich bin der Leiter dieser Schule.«

»Sei gegrüßt, Hervar«, sagte Avaron. »Erlaube mir, dir meine Tochter vorzustellen. Dies ist Nirvy. Sie wird hier die Kriegerschule besuchen.«

»Ich grüße dich«, sagte Nirvy leise und deutete eine leichte Verbeugung an.

Hervar lächelte. »Ah!«, sagte er. »Nirvy. Nordgard fühlt sich geehrt, dass endlich eine Inara den Weg in unsere Hallen findet.«

Eine kurze Pause entstand. Weder Nirvy noch Avaron ergriffen das Wort, sodass Hervar weitersprach.

»Ihr seid die Ersten, die Nordgard heute erreichen. Wir erwarten in Kürze den Gemeinschaftszug aus Vátnfall. Wolltet ihr euch ihm nicht anschließen?«

»Nein«, sagte Avaron. »Wir sind nicht über Vátnfall gereist und außerdem wollte ich Nirvy persönlich hierherbringen. Viele alte Erinnerungen werden wach, wenn ich diese Mauern sehe, und diese wollte ich mir nicht entgehen lassen.«

Etwas schwang in der Stimme ihres Vaters mit, das Nirvy nicht deuten konnte. Doch Hervar kannte Avaron nicht und schien es überhaupt nicht zu bemerken.

»Nun gut«, sagte er. »Nirvy sollte hier draußen bleiben und ihre Sachen abladen. Bald sollten auch die Wagen aus Vátnfall kommen. Dann werden wir die neuen Schüler herumführen. In den Briefen hast du geschrieben, dass der Wagen hierbleiben wird. Ist das noch aktuell?«

»So ist es«, sagte Avaron. »Das Zugtier ebenfalls. Ich werde es später persönlich zu den Stallungen bringen.«

Hervar deutete eine Verbeugung an und trat einen Schritt zurück.

»Gut, Nirvy«, sagte Avaron. »Deine Sachen kannst du hier abstellen.«

Sie entluden den Wagen. Ihr Vater nahm die Kiste entgegen, die Nirvy ihm anreichte. Nirvy stellte ihren Beutel daneben.

»Und jetzt«, sagte er mit einem schiefen Lächeln, »ist es an der Zeit, Abschied zu nehmen.«

Nirvys Herz machte einen Satz, obwohl sie seit vielen Wochen wusste, dass dieser Moment kommen würde.

»Kopf hoch, meine Kleine«, sagte Avaron leise und hob sie in seine kräftige Umarmung. »Vielleicht sehen wir uns eher wieder, als du denkst.«

Nirvy unterdrückte ihre Tränen und genoss diesen vorerst letzten Kontakt. »Pass gut auf dich auf«, bat sie.

»Das werde ich«, versprach Avaron und küsste ihre Stirn. Dann setzte er sie sanft ab. »Bis bald.«

Er schwang sich in den Sattel des Pferdes und griff die Zügel des Maultiers. Dann setzte er sich in Bewegung und ritt zum Tor. Noch ein letztes Mal winkte er ihr zu, bevor er das Tor erreichte. Er musste tatsächlich den Kopf beugen, um durch den niedrigen Bogen zu reiten. Dann war er fort und Nirvy starrte auf das verlassene Tor, durch das er verschwunden war.

»Seit wann wurdest du von deinem Vater ausgebildet?«, fragte Hervar.

»Seit meinem elften Lebensjahr«, antwortete Nirvy. »Also seit zwei Jahren.«

»Hast du bereits Waffen erhalten?«, fragte er weiter.

»Nein«, sagte sie. »Ich wachse noch. Hoffentlich.«

Hervar lachte kurz auf. »Na, das will ich doch meinen. Mit welchen Waffen hast du bisher geübt?«

»Schwert, Axt, Schild und Speer«, antwortete Nirvy, was Hervar mit einem Nicken quittierte. »Bist du ein Krieger?«, fragte sie dann.

Der Schulleiter lächelte. »Nein, das bin ich nicht. Die Kunst des Tötens ist nicht mein Gebiet. Ich möchte lieber erschaffen. Ich unterrichte hier Kunsthandwerk.«

Er lachte erneut, als er Nirvys überraschten Blick bemerkte. »Ich kann deine Verwunderung verstehen. Viele messen dem Schatten des Krieges große Bedeutung zu und vergessen dabei, dass Nordgard auch für seine gute Künstlerschule bekannt ist. Zwar werden hier weit weniger Künstler ausgebildet als Krieger, doch in diesem Jahr werden es immerhin siebzehn sein. Und als Schülerin stehen dir alle Fächer offen, die wir anbieten. Solltest du also das Bedürfnis verspüren, etwas über die Kunst zu erfahren, die du mit deinen Händen erschaffen kannst, so will ich dich gern in meinem Unterricht begrüßen.«

Nirvy verbeugte sich respektvoll, sagte jedoch nichts.

»Nun«, sagte Hervar. »Ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird, bis der Rest der Schüler hier eintreffen wird. Ich möchte dich dennoch bitten, solange zu warten.«

»Lang kann es nicht mehr dauern«, sagte Nirvy, die froh war, endlich etwas Nützliches beisteuern zu können. »Noch vor zwei Tagen war der Wagenzug in unserer Hörweite. Wir sind schneller vorangekommen, aber ich denke nicht, dass sie weiter als eine Wegstunde zurückgefallen sind.«

»Tatsächlich?«, sagte Hervar. »Nun, das ist gut. Dann wird es sicher nicht mehr lang dauern.«

Er ließ sich wieder auf seinem Sitz im Schatten nieder. Nirvy entfernte sich ein Stück und setzte sich abseits des Schattens auf dem Boden. Hier war das Gebäude nicht im Weg und sie konnte sich in Ruhe umsehen.

Sie roch das Feuer und hörte die Geräusche der nahen Schmiede und verspürte sofort ein angenehmes, vertrautes Gefühl. Ihr Vater war zwar ein Krieger gewesen, doch er hatte die Armee verlassen und seitdem als Werkzeugschmied gearbeitet. Sehr oft hatte sie ihm bei der Arbeit geholfen, auch wenn es nur einfache Aufgaben gewesen waren. Jetzt verspürte sie den Wunsch, hinüberzugehen, um zu sehen, woran gearbeitet wurde. Doch sie hielt sich zurück. Sie hatte immerhin noch fast ein Jahr Zeit, sich die Schmiede anzusehen. Dennoch fühlte sie sich gleich ein wenig wohler. Nicht nur Schüler und Lehrer waren hier, sondern auch andere Leute, die hier ihrer Arbeit nachgingen. Die Garnison war nicht so groß wie ihr Heimatdorf und ähnelte einem Gutshof.

Ein Geräusch ließ sie aufmerken. Ein Fuhrwerk wurde gerade durch das Tor gelenkt. Kurz darauf kam ein weiteres. Bald war klar, dass es der Zug aus Vátnfall sein musste. Nachdem der zehnte Wagen auf den Hof gefahren war, war es auf der freien Fläche deutlich enger und belebter. Nicht nur die neuen Schüler waren mit dem Zug gekommen, sondern auch von der Schule benötigte Warenlieferungen.

Nirvy hielt sich im Hintergrund, um nicht im Weg zu sein, und betrachtete die vielen Menschen. Einige waren noch sehr jung, manche jünger als Nirvy, andere in ihrem Alter. Es gab auch neue Schüler, die älter waren als Nirvy. Die Älteren wirkten selbstsicherer und wurden häufig von den Jüngeren verfolgt. Vermutlich dachten sie, dass sie sich allein durch ihr Alter besser auf Nordgard auskennen würden.

Schließlich kam das Geschehen allmählich zur Ruhe. Die Kisten und Säcke der Schüler waren abgeladen und standen neben Nirvys eigenen Habseligkeiten. Die Schüler versammelten sich nach und nach um Hervar. Nirvy erntete erste neugierige Blicke, denn sie war den Schülern, die zusammen gereist waren, unbekannt. Vorerst sprach niemand sie an.

Wie zuvor Nirvy begrüßte Hervar nun jeden der neuen Schüler persönlich, danach wandte er sich an alle.

»Kommt! Wir werden uns nun das Gelände und die Gebäude ansehen. Folgt mir bitte!«

Er führte sie durch das Festungstor nach draußen, auf den Platz vor der Befestigung. Hier waren die Stallungen angesiedelt sowie die Gebäude, die dem Dienstpersonal und Leuten, die in der Nähe arbeiteten, als Unterkunft dienten. Diese waren gebaut worden, als die Garnison in Nordgard nicht mehr gebraucht worden war, und hatten keinen Platz mehr in der Festung gefunden.

Stolz präsentierte Hervar ihnen die Kampfbahn für die Krieger und die Jäger. Diese war ein großes Oval, das von einem Erdwall umgeben war, in dem verschiedene Flächen für die Kampfübungen ausgewiesen waren. Nirvy sah einen weiten Sandplatz, Bereiche mit Zielscheiben für Bogenschützen, Strohpuppen und Holzpfähle. Sie konnte nicht anders, als zu lächeln. Schon konnte sie sich vorstellen, sich hier mit ihren Mitschülern zu messen. Auch in den Gesichtern vieler anderer Schüler sah sie die gleiche Vorfreude.

Sodann zeigte Hervar ihnen das Innere der Festung. Schmiede, Kornspeicher, Bäckerei, Zeughaus, Brunnen, Schneiderei – Nirvy befürchtete, Wochen zu brauchen, bis sie sich alles gemerkt hatte.

Schließlich betraten sie das große Hauptgebäude der Burg. Nirvy, die auf dem Dorf aufgewachsen war, hatte erst einmal in ihrem Leben derart große Gebäude gesehen. Damals war sie mit ihrem Vater nach Westhang gereist, der mächtigen Hauptstadt von Vesthris, um seine Familie zu besuchen. Das Gebäude war über fünfzehn Schritte breit und mit dem Bereich, in den der Turm eingebettet war, war es fast vierzig Schritte lang. Auf drei Etagen im Hauptgebäude, weitere drei im Turm und zwei Kellergeschosse verteilte sich eine Vielzahl von Räumen, die sie während der Führung nicht alle von innen gezeigt bekamen, um keine Zeit zu verschwenden.

Nirvy war beeindruckt. Sie hatte sich alles kleiner und enger vorgestellt. Doch als sie die Gesichter der anderen Schüler sah, konnte sie darin nicht das gleiche Erstaunen erkennen. Leise wandte sie sich an einen Jungen, der neben ihr lief.

»Findest du das alles nicht beeindruckend? Es ist alles so groß.«

Der Junge runzelte die Stirn. »Hast du Vátnfall nicht gesehen? Das ist eine Festung. Nordgard ist dagegen bloß ein Turm mit Mauer.«

Nirvy war ein wenig ernüchtert. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Vátnfall noch nicht gesehen. Trotzdem ist es nicht mit meinem Heimatdorf zu vergleichen.«

Schulterzuckend ging der Junge weiter und beachtete sie nicht weiter. Schweigend durchlief sie den letzten Teil der Führung.

Sie kamen jetzt wieder im Grundgeschoss an. Hier duftete es nach Essen und Nirvy wurde schlagartig bewusst, wie hungrig sie war. Mittlerweile war es später Nachmittag und sie hatte zuletzt morgens gegessen.

Hervar führte sie nun am Eingang vorbei zu einer großen Tür. Dahinter offenbarte sich eine geräumige Halle. Der Boden war mit Holz getäfelt und an den Wänden hingen Wandteppiche sowie die Banner des Nordens und des Westens. Drei lange Tische mit Bänken standen hier, und weiterhin zwei runde Tische mit Stühlen. Dort saßen zwei Frauen. Sie erhoben sich, als die Schüler hereinkamen.

»Dies ist das Herzstück von Nordgard«, erklärte Hervar und machte eine umfassende Geste in den Raum hinein. »Hier speisen Schüler und Lehrer gemeinsam, hier verbringen wir unsere Winterabende und hier lauschen wir der Musik und den Dichtungen unserer Schüler. In Kürze werdet ihr hier eure erste Mahlzeit einnehmen, ein Festmahl zur Feier eurer Ankunft. Doch zunächst bezieht ihr eure Quartiere.«

Damit wies er auf die beiden Frauen, die auf das Ende seiner Rede warteten.

»Die Mädchen folgen mir, bitte«, sagte die eine und ging voran.

Nirvy und acht weitere Mädchen folgten der Frau die nahe Wendeltreppe hinauf ins erste Obergeschoss. Direkt über der Halle öffnete sie eine Tür. Der Raum hier war ebenfalls groß, doch anders als die Halle wirkte er nicht so. Die Decke war niedriger und er enthielt viele Bettnischen, sodass er kleiner zu sein schien.

Alle Mädchen bekamen nun eine Bettnische zugeteilt und wurden angewiesen, dort ihre Sachen unterzubringen. Nirvy sah sich ihre Nische zunächst nicht an, sondern ging hinunter in den Hof, um ihre Kiste und den Beutel zu holen. Die Kiste war schwer; sie enthielt nicht nur Nirvys Habseligkeiten, sondern auch einiges, das sie vielleicht brauchen würde. Sie hinaufzutragen war mühsam, denn sie war schon immer klein und zierlich gewesen. Daran hatte auch die Ausbildung an der Waffe kaum etwas geändert und Avaron hatte bald aufgegeben, ihre Kraft vergrößern zu wollen. Stattdessen hatten sie sich darauf konzentriert, ihre Beweglichkeit zu verbessern.

Schließlich hatte sie es geschafft und nahm ihre Bettnische genauer in Augenschein. Es war ein schlichtes Bett mit einer Matratze, die mit Wolle gefüllt war. An den kurzen Seiten war das Bett von Holz eingefasst, an der langen Seite hing ein weißer Vorhang. Die steinerne Wand hatte ein kleines, schmales Fenster, das die Nische erhellte. Über dem Bett war ein stabiles Brett angebracht, auf dem Nirvy ihre Habseligkeiten unterbringen konnte. Dort stand bereits eine Kiste. Offenbar würde sie die Nische mit einem anderen Mädchen teilen. Ihr Herz machte einen kleinen Satz. Sie hatte befürchtet, allein schlafen zu müssen.

Nicht nur die Kiste des fremden Mädchens stand dort. Es lagen auch einige Stapel aus Schriftblatt herum. Es gab auch ein kleines Tintenfass und ein Schreibrohr. Nirvy war zwar neugierig, was das andere Mädchen wohl lernte, doch sie beherrschte sich und sah sich die Blätter nicht an. Sie stellte ihre Kiste ebenfalls auf das Regal und legte ihren Beutel darauf. Dann ging sie hinunter in die Halle.

Hier war jetzt mehr los als zuvor. Offenbar waren nun auch die Schüler hier, die nicht heute neu angekommen waren. Auf der Westseite der Halle waren hohe Fenster, weshalb der Raum von den Sonnenstrahlen durchflutet wurde. Der Raum sah einladend aus und es roch so gut, dass Nirvys Magen laut knurrte. Sie sah sich nach einem freien Platz um und ließ sich neben einem breitschultrigen Jungen mit blonden Haaren nieder, der sich mit seiner Nachbarin unterhielt. Als Nirvy sich setzte, blickte er kurz zu ihr herüber. Er musterte sie und runzelte die Stirn. Doch dann nickte er ihr zu.

»Meine Grüße«, sagte er. »Ich bin Neron. Und das hier ist Skalis.« Er wies auf seine Nachbarin.

»Seid gegrüßt«, sagte Nirvy und stellte sich ebenfalls vor.

»Nirvy?«, fragte das Mädchen. »Ich habe noch niemanden getroffen, der so heißt.«

Nirvy zuckte mit den Schultern. Sie hatte nichts mit der Auswahl ihres Namens zu tun gehabt und Avaron hatte seine Gründe gehabt, sie so zu nennen.

»Welche Schule besuchst du?«, fragte Neron jetzt, ohne weiter darauf einzugehen.

»Die Kriegerschule«, antwortete Nirvy.

Überraschung spiegelte sich auf den Gesichtern der beiden wieder.

»Echt?«, fragte Skalis. »Ich wäre jede Wette eingegangen, dass du auf die Heilerschule gehst.«

»Warst du denn bereits in der Ausbildung?«, fragte Neron.

Nirvy nickte. »Ich werde seit zwei Jahren ausgebildet.«

Nerons Stirnrunzeln schwand ein wenig. »Skalis und ich besuchen auch die Kriegerschule. Morgen Vormittag sind die Orientierungskämpfe. Da werden wir dann sehen, was du so kannst.«

»Orientierungskämpfe?«, fragte Nirvy. »Was ist das?«

»Die erste Prüfung für die neuen Schüler«, erzählte Skalis gut gelaunt. »Sie treten gegen andere Schüler an. So testen die Lehrer, wie weit die Ausbildung der Schüler ist. Außerdem haben die älteren Schüler dann Gelegenheit, gegen einen unbekannten Gegner anzutreten. Meistens ist es ein großer Spaß.«

Nirvy schauderte. Ihre Vorstellung von einem großen Spaß deckte sich nicht unbedingt mit der Vorstellung, von einem erfahrenen Schüler vor allen anderen fertiggemacht zu werden.

Die beiden Älteren wandten sich wieder ab und überließen Nirvy sich selbst. Sie blickte sich um und sah sich die anderen Leute an. Die Halle war jetzt gut gefüllt. Mehr als einhundert Personen waren hier. Mehr Menschen, als in ihrem Heimatdorf lebten. Das Stimmengewirr war überwältigend. Selbst auf den Straßen von Westhang war es nicht so gewesen. Sie war fasziniert von all den jungen Menschen. Zu Hause hatte es nicht so viele Kinder in ihrem Alter gegeben, die meisten waren viel jünger oder älter als Nirvy gewesen. Hier waren alle Schüler etwa in ihrem Alter, die jüngsten höchstens zwei Jahre jünger als sie, und keiner sah älter aus als sechzehn Jahre. Jungen waren hier in der Mehrzahl, doch es gab immerhin etwa dreißig Mädchen. Bei den Jungen fiel ihr eine Gruppe ins Auge, die sich von jenen unterschied, die sie bisher gesehen hatte. Sie hatten schwarze Haare und etwas dunklere Haut, als die Menschen aus dem Norden. Waren das junge Männer, die aus Eldamir hierhergekommen waren, um in der Jägerschule ausgebildet zu werden?

Nirvys Gedanken wurden unterbrochen, als Hervar sich von seinem Sitz erhob und Ruhe in der Halle einkehrte.

»Nun, da wir uns jetzt alle hier eingefunden haben, möchte ich einige Worte an euch richten«, begann er seine Ansprache. »Ich möchte alle neuen Schüler herzlich willkommen heißen. Und ein ebenso herzliches Willkommen zurück entbiete ich allen, die während der unterrichtsfreien Tage nicht auf Nordgard geblieben sind. Möge das kommende Jahr erfolgreich und lehrreich verlaufen und möget ihr euch hier stets wohlfühlen.

Bevor wir das Festessen genießen, möchte ich unseren Neuen einige grundlegende Regeln näherbringen. Dass ein respektvoller Umgang selbstverständlich ist, sollte ich eigentlich nicht zu erwähnen brauchen. Ich tue es dennoch, denn schnell wird es in hitzigen Momenten vergessen. Nordgard ist ein Ort, an dem Kameradschaft großgeschrieben wird. Bitte verhaltet euch alle dementsprechend. Dazu gehört auch die Wahl der Sprache. Obwohl die meisten Schüler aus Valheim oder Vesthris kommen, ist es dennoch nicht gestattet, in diesen Mauern die Sprache des Nordens zu verwenden. Es widerspricht den Regeln des Respekts, unsere Freunde aus Eldamir und der Eohsmark zu übergehen, die unserer Sprache nicht mächtig sind. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Schüler aus Eldamir und der Eohsmark, welche bitte ebenso die Gemeinsprache verwenden mögen.

Unterricht ist an fünf Tagen der Woche. Am sechsten Tag erledigen die Schüler ihre zugewiesenen Pflichten. Und der siebte Tag steht – insofern keine Pflichten übrig geblieben sind – den Schülern zur freien Verfügung. Ich bitte alle unsere älteren Schüler, den Neuankömmlingen bei Fragen stets zur Seite zu stehen, damit sie sich hier bald zurechtfinden und in der Gemeinschaft wohlfühlen können.

Sämtliche Regeln, die auf Nordgard herrschen, findet ihr in einem Buch, das hier in der Halle ausliegt. Ich bitte euch, es in den nächsten Tagen aufmerksam durchzulesen, damit es nicht zu Konflikten kommt.

So möchte ich das Festmahl mit den besten Wünschen für euch alle eröffnen. Ich freue mich auf das, was uns im kommenden Jahr erwarten wird, und darauf, eure Entwicklung zu beobachten.«

Er deutete eine Verbeugung an und ließ sich wieder auf seinen Sitz nieder. Schüler, Lehrer und auch Nirvy klopften auf die Tische. Hervar lächelte und bedeutete ihnen, sich zu erheben, um sich etwas zu essen zu holen.

Viele Schüler folgten seiner Geste sofort, auch Nirvy, die Hunger hatte. Während Hervars Ansprache waren Schüler, die offenbar Küchendienst hatten, hereingekommen und hatten die in der Küche zubereiteten Speisen auf einem langen Tisch aufgereiht.

Bald schon bildete sich davor eine beträchtliche Schlange, doch da Nirvy schnell gewesen war, hatte sie bereits bald etwas gefunden, das ihr zusagte.

Sie aß Getreidebrei aus unreif geerntetem Dinkel und gegarte Karotten. Dazu gab es ein Stück Hühnerfleisch. Zu Hause hatte sie nur sehr selten Fleisch gegessen, da sie nicht genügend Tiere hatten, um regelmäßig zu schlachten.

Neron und Skalis jedoch, die viel mehr als Nirvy auf ihre Teller getan hatten, erzählten, dass es in Nordgard mehr als genug zu essen für alle geben würde und sogar meistens an zwei Tagen in der Woche ein Gericht mit Fleisch – zumindest im Sommer.

»Im Winter ist die Straße nach Nordgard zeitweise unpassierbar und es muss dann auf die Vorratskammer zurückgegriffen werden«, erklärte Neron. »Doch wenn die Straße in den warmen Monaten befahrbar ist, werden wir aus dem Heeresdepot von Vátnfall versorgt. Sparen müssen wir deswegen meistens nicht.« Dies sagte er mit einem Seitenblick auf Nirvys winzige Portion.

Nirvy lächelte peinlich berührt. »Das ist schon genug für mich, mehr als ich normalerweise essen würde.«

Noch immer satt vom üppigen Mahl stieg Nirvy später die Treppe vom Waschraum hinauf in den Schlafsaal. Draußen dunkelte es, doch der Raum wurde von zwei Öllampen erhellt, die an der Decke brannten. Sie ging hinüber zu ihrer Bettnische, zog den Vorhang zur Seite – und zuckte unwillkürlich zusammen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie sich ihre Schlafnische mit einer anderen Schülerin teilte. Diese saß im Bett, eingehüllt in eine dünne Decke, und blickte auf, als Nirvy den Vorhang zurückzog.

Nirvy schaute in ein hübsches, von strohblonden Haaren umschlossenes Gesicht. Als sie sah, wie Nirvy zusammenzuckte, bildete sich ein freundliches Lächeln auf ihren vollen Lippen.

»Nicht erschrecken«, sagte die Fremde leise. »Ich habe mich schon gefragt, wann du kommst. Komm herein.«

Ein wenig zögerlich stieg Nirvy auf das Bett und zog den Vorhang wieder vor. Der Stoff dämpfte das Licht und hüllte die Nische in eine Art Halbdunkel, es war jedoch genug, um noch verschiedene Details ihrer Bettnachbarin ausmachen zu können. Anders als viele Frauen aus dem Norden hatte dieses Mädchen einige weibliche Rundungen, ohne dabei jedoch kräftig zu wirken.

»Ich bin Ylvie«, sagte das Mädchen und blickte Nirvy offen an.

»Nirvy«, stellte diese sich vor, immer noch ein wenig unsicher.

»Du siehst ungewöhnlich aus«, sagte Ylvie. »Woher stammst du? Bist du aus Eldamir?«

»Nein«, antwortete Nirvy. »Ich komme aus Vesthris.«

»Aber deine Haut ist so dunkel.«

Nirvy lächelte schief. »Meine Eltern waren Inari. Auch Inari haben normalerweise helle Haut, doch einst gab es viele, die so wie ich aussahen. So sagt es zumindest mein Vater.«

Ylvies Augen weiteten sich, als Nirvy den Namen ihres Volkes erwähnte. »Aber du bist in Vesthris aufgewachsen?«

Nirvy nickte. »Von meinem Volk weiß ich nichts. Ich war noch nie auf Ïsgol.«

»Schade«, meinte Ylvie. »Man hört so manches Gerücht über die Inari, aber kaum jemand weiß, welches davon auch wahr ist.« Sie winkte ab. »Aber das ist jetzt egal. Sag, welchen Lehrgang belegst du?«

»Ich möchte Kriegerin werden. Und du?«

Ylvie legte den Kopf schief. »Ich bin hierhergekommen, um Kriegsheilerin zu werden. Ich bin jetzt bald zwei Jahre hier. Und morgen ist meine erste Waffenübung! Deine auch? Ich bin jetzt schon aufgeregt.«

Nirvy lächelte. Ylvie strahlte eine Warmherzigkeit aus, die es ihr leicht machte, sich mit ihr vertraut zu fühlen und die Anspannung ein wenig abzulegen.

»Morgen ist auch meine erste Waffenübung hier«, sagte sie. »Auch ich bin aufgeregt, denn ich habe bisher nur mit meinem Vater zusammen geübt.«

»Aber immerhin hattest du schon eine Waffe in der Hand und kannst damit umgehen. Ich hingegen kann noch gar nichts.«

»Die Grundlagen lernst du bestimmt schnell«, sagte Nirvy. »Es ist nicht schwer, wenn man sich geschickt anstellt.«

»Vielleicht kannst du mir einige Ratschläge geben, wenn es so weit ist?«, fragte Ylvie.

Nirvy nickte. »Bestimmt.«

»Schön«, sagte Ylvie und schenkte ihr ein breites Lächeln. »Weißt du, meine frühere Bettnachbarin war Künstlerin. Sie war nett, aber auch langweilig. Man konnte gar nichts Interessantes mit ihr reden. Du siehst allein schon interessanter aus. Wenn der Rest von dir genauso ist, wird das bestimmt ein gutes Schuljahr.«

Nirvy kicherte leise. »Wer weiß? Du bist heute die Erste, deren erste Reaktion auf mich kein Stirnrunzeln war. Für mich ist das ein guter Beginn.«

Ylvie lachte. »Na dann sind es doch gute Voraussetzungen, oder?«

Eine Weile sprach keine von ihnen. Dann ergriff Ylvie wieder das Wort: »Lass uns schlafen, ja? Ich möchte morgen früh noch in den Waschraum, dann dauert morgens alles ein bisschen länger.«

Nirvy stimmte mit einem Nicken zu. Still begann sie, sich bettfertig zu machen. Ylvie tat es ihr gleich.

»Deine Wäsche kannst du hier aufhängen, wenn du sie morgen wieder anziehen möchtest«, meinte sie und deutete auf Schnüre, die am Fußende des Betts gespannt waren. »Hier kannst du sie auch zum Trocknen aufhängen, wenn du sie gewaschen hast.«

»Danke«, sagte Nirvy. Sie nahm das Angebot sofort wahr und hängte ihre knielange Hose aus dunklem Leinen und ihr neues Hemd an der Leine auf. Die Ärmel ihres Hemds waren kurz und der untere Saum befand sich etwa eine halbe Handbreit über ihrem Bauchnabel. Obwohl sie es nicht gewöhnt war, so etwas zu tragen, gefiel es ihr. Vielleicht, weil es für sie etwas Besonderes war.

Ylvie musterte sie flüchtig. »Wie alt bist du?«

»Dreizehn«, antwortete Nirvy. »Im Winter werde ich vierzehn.«

Ylvie schien überrascht, doch Nirvy kannte diese Reaktion. »Ja. Ich bin sehr … schlank.«

Ylvie lachte herzhaft. »Das hast du eindeutig nicht zum ersten Mal gesagt! Mich schätzen alle immer älter ein. Dabei werde ich erst im Sommer sechzehn.«

»Und ich bleibe hoffentlich nicht immer so flach wie jetzt«, antworte Nirvy.

»Ach«, meinte Ylvie. »Manchmal dauert es ein bisschen, aber dann geht das schneller, als du denkst.« Sie deckte sich zu und lud Nirvy mit einer Geste ein, zu ihr zu kommen. Hier im Norden war es nicht üblich, allein zu Bett zu gehen, und auch Nirvy war es nicht gewohnt. Sie zögerte daher nicht und legte sich neben sie.

Sie konnte es immer noch nicht ganz glauben. Sie war in Nordgard. Mit einem schmerzhaften Stich dachte sie an ihren Vater, der jetzt bereits auf dem Weg nach Vátnfall war und den sie wohl erst in einem Jahr wiedersehen würde. Neben ihr hörte sie Ylvie leise atmen. Obwohl sie sich erst wenige Minuten kannten, kam sie ihr bereits liebenswert vor. Vielleicht hatte Avaron recht gehabt, als er sagte, dass sie hier bestimmt Leute treffen würde, die sie mögen würden? Mit diesem Gedanken schlief sie ein.

Kapitel 2

Der erste Schultag

Eine sanfte Berührung weckte Nirvy.

»Guten Morgen!«, sagte Ylvie fröhlich, als Nirvy sich streckte und die Augen aufschlug.

Durch das kleine Fenster schien die Morgensonne. Nirvy blickte hinaus auf den Innenhof und atmete die frische Luft ein, die hereinwehte.

»Wir haben noch ein wenig mehr als eine Stunde Zeit«, teilte ihr Ylvie mit. »Dann beginnt der Unterricht. Bis dahin sollten wir fertig sein.«

»Woher weißt du, wie spät es ist?«, fragte Nirvy verschlafen.

»Sieh genau hin«, sagte Ylvie und deutete aus dem Fenster. »Auf dem Dach des Brunnenhauses befindet sich eine Sonnenuhr.«

Nirvy fand sie nach einigem Suchen. Der Stundenschatten hatte gerade die fünfte Stunde passiert und wanderte auf das erste Viertel der sechsten zu.

»Der Unterricht beginnt im Sommer zur siebten Stunde«, erklärte Ylvie. »Bis dahin sollten wir uns gewaschen und gegessen haben.«

Nirvy strich sich durch ihr zerzaustes Haar. Eine ausgiebige Wäsche hatte sie auf jeden Fall nötig. Auf der Reise hatte sie sich zwar waschen können, doch Seife hatte es nicht gegeben.

Ylvie schien ihre Frage zu erahnen. »Im Waschraum gibt es Seife.«

Nirvy blickte zu ihr hoch. »Sieht es schon so schlimm aus?«

Ylvie kicherte. »Du bist schon ziemlich zerzaust. Aber auch nicht viel schlimmer als ich. Komm, zieh dir was an, dann kümmern wir uns darum.«

Es dauerte eine ganze Weile, sämtliche Knoten aus ihrem Haar zu lösen. Doch als Nirvy und Ylvie schließlich die Halle betraten, um zu frühstücken, war erst etwas mehr als die Hälfte der sechsten Stunde vergangen. Sie holten sich etwas zu essen und ließen sich auf einer Bank nieder.

»Mit welcher Waffe kämpfst du?«, fragte Ylvie. »Oder hast du dich noch nicht entschieden, welche Waffe am besten zu dir passt?«

»Mein Vater hat mit mir eine Menge Waffen erprobt«, sagte Nirvy. »Besonders oft habe ich mit dem Schwert geübt, manchmal auch mit Axt und Schild. Ich habe auch Interesse an der Schwertlanze. Doch mein Vater kann mir darüber nichts beibringen.«

»Dann ist es gut, dass du hier bist!«, sagte Ylvie. »Hier kannst du jede Waffenkunst erlernen, die dich interessiert. Ich bin noch unsicher, welche die beste Wahl für mich ist. Tilrun sagt immer, dass das Schwert die beste Waffe ist. Aber andererseits hat sie genauso wie ich noch nicht an den Waffenübungen teilgenommen, also kann es auch sein, dass sie nur Stuss redet.«

»Ich glaube nicht, dass man sagen kann, dass es eine beste Waffe gibt«, meinte Nirvy. »Wer jedoch das Schwert beherrscht, der hat die Grundlagen der meisten anderen Waffen schon erlernt. Das Einschätzen der richtigen Distanz und die Beinarbeit zum Beispiel. Also kann es nicht schaden, sich zuerst auf das Schwert zu konzentrieren. Du hast ja auch noch den Vorteil, dass du von einem Schildmann geschützt wirst, der sich um dich kümmert.«

»Das stimmt schon«, antwortete Ylvie. »Ich will mich aber nicht zu abhängig davon machen, dass es mein Schildmann schon richtet. Ich hoffe, dass ich nicht zu lange gewartet habe. Schließlich bin ich schon eine ganze Weile hier. Ich habe Angst, dass es jetzt zu spät für die Waffenausbildung ist.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Nirvy. »Aller Anfang ist zwar schwer. Aber sobald er gemacht ist, wird es immer leichter. Du wirst schon sehen.«

Ylvie lächelte. »Danke. Ich hoffe, es ist, wie du sagst. Und ich hoffe, dass ich mich heute nicht zu sehr blamiere. Fjor ist heute auch da, und ich will nicht, dass er sieht, wie ich mich ungeschickt anstelle.«

»Wer ist Fjor?«, fragte Nirvy.

Ylvies Augen verengten sich. Sie nickte leicht in Richtung eines anderen Tischs. »Fjor ist der große Blonde. Und er ist auch der größte Arsch, den die Welt je gesehen hat. Leider habe ich das erst herausgefunden, nachdem ich mit ihm geschlafen habe.«

Nirvy, die gerade einen Schluck Wasser aus ihrem Becher genommen hatte, verschluckte sich und musste heftig husten.

»Alles in Ordnung?«, lachte Ylvie und klopfte ihr auf den Rücken.

Nirvy nickte, immer noch hustend. Tränen standen ihr in den Augen und sie versuchte, sie weg zu blinzeln. »Tut mir leid. Ich bin nur nicht gewöhnt, so etwas zu hören.«

»Echt?«, sagte Ylvie, immer noch grinsend. »Ich dachte, du kommst vom Dorf?«

»Das ist auch so«, sagte Nirvy, die sich mittlerweile wieder beruhigt hatte. »Aber ich habe noch nicht …« Eine kleine Pause entstand, da sie nicht wusste, was sie sagen sollte. »Und ich habe auch noch niemanden ›Arsch‹ genannt.«

»Nun, das solltest du mal machen«, meinte Ylvie. »Du glaubst nicht, wie befreiend das ist. Und er kann mich sowieso nicht hören. Was macht es also?«

Nirvy wurde wieder heiß. Die Situation war ihr peinlich. Doch Ylvie schien nicht weiter nachfragen zu wollen und kam wieder auf Fjor zurück.

»Jedenfalls wäre es peinlich, wenn ich mich jetzt vor ihm dumm anstelle. Schließlich soll er sehen, was er einfach hat fallenlassen, weil er das Gehirn von einem Eichhörnchen hat.«

Nirvy lachte. »Wenn er das nicht jetzt schon sieht, ist es noch viel kleiner.«

Ylvie hob einen Finger und grinste. »Gut gesagt. Auf, lass uns gehen.«

Sie gehörten zu den Ersten, die sich an der Kampfbahn einfanden. Es waren schon einige der neuen Schüler anwesend, doch bislang noch keine Schüler, die schon länger auf der Schule waren. Die Ausnahme bildeten zwei etwas abseitsstehende Jungen. Ein schlanker, den Nirvy auf fünfzehn Jahre schätzte, und ein breitschultriger mit dunklen lockigen Haaren.

»Halvor und Namar«, kommentierte Ylvie leise, während sie sich einen Sitzplatz auf dem Erdwall suchten. »Ich selbst habe ihn noch nie kämpfen sehen, doch es heißt hier, Halvor ist ein geschickter Krieger, wenn auch nicht der Stärkste. Aber er ist sehr schweigsam. Wenn er redet, dann nur mit Namar, dem Jäger.« Dabei deutete sie unauffällig in die Richtung des Dunkelhaarigen.

»Sind die Jäger etwa heute auch dabei?«, stöhnte Nirvy. Sich vor noch mehr Menschen zu blamieren, als sie erwartet hatte, schien ihr noch viel schlimmer.

»Ich glaube nicht. Die bleiben meistens unter sich«, sagte Ylvie. »Sieh!«

Tatsächlich kam jetzt eine Gruppe ebenfalls dunkelhaariger Jungen aus dem Tor. Namar nickte Halvor zu und schloss sich ihnen an. Halvor tat es nun Ylvie und Nirvy gleich, setzte sich auf den niedrigen Wall, der um die Kampfbahn aufgeschüttet war, und wartete auf das Eintreffen der restlichen Schüler und der Lehrer.

Lange dauerte es nicht mehr. Die meisten Schüler schienen gewartet zu haben, bis sich die Lehrer auf den Weg machten. Nirvy erkannte Tirados wieder, der neben einer Frau mit athletischem Körperbau und einem stattlichen Mann mit kurzen grauen Haaren lief. Dieser schien der Älteste der drei zu sein und er strahlte Ruhe und Kraft aus, als er die Kampfbahn betrat.

Es waren jetzt fast fünfzig Schüler anwesend, die auf dem Gras des Erdwalls saßen oder standen und auf den Beginn des Unterrichts warteten.

Auch die Lehrer warteten, bis Ruhe eingekehrt war, dann trat der Grauhaarige vor.

»Ich wünsche euch einen guten Morgen«, sagte er. Seine Stimme war tief und ruhig. »Seid willkommen in dieser ersten Stunde des Schuljahres. Für viele von euch ist es der erste Tag hier. Und für manche ist es sogar der erste Tag in der Meisterausbildung.«

Er machte eine kurze Pause und musterte die Schüler. Nirvy betrachtete ihn und bemerkte, dass einige Narben sein Gesicht zierten. Ebenso fehlte ihm das linke Ohr.

»Erlaubt mir, uns vorzustellen«, fuhr er fort. »Mein Name ist Eluvir. Meine Kollegen sind Klaris und Tirados. Ihr werdet sehr häufig mit uns zu tun haben, daher spare ich mir Persönliches. Ihr werdet uns alle schon noch gut kennenlernen.

Traditionell beginnen wir im Kriegerlehrgang das Schuljahr mit Orientierungskämpfen. Viele von euch sind neu hier und wir können euch deshalb noch nicht einschätzen. Bei den Kämpfen erhalten wir einen ersten Eindruck von euch, und während die Kämpfe im Gang sind, haben wir auch Zeit, uns mit euch über eure Ziele zu unterhalten. Wichtig für euch ist, dass die Kämpfe keine Prüfung sind. Ihr könnt nicht versagen und ihr könnt auch nicht bestehen. Sie sind bloß der anschauliche Teil unserer Einschätzung von euch. Seid also entspannt, konzentriert und mutig, wenn es ans Kämpfen geht.«

Erneut schwieg er kurz.

»Die Kriegsheiler und jene Krieger, die heute zum allerersten Mal kämpfen, werden an den Orientierungskämpfen nicht teilnehmen«, sagte er dann.

Neben Nirvy schnaufte Ylvie erleichtert auf.

»Da ihr ohnehin Anfänger seid, können wir nicht feststellen, wie fortgeschritten ihr seid. Ich bitte euch, zu warten und den Kämpfen zuzusehen. Beobachtet die Kämpfe aufmerksam – von jedem Kampf lässt sich etwas lernen. Wenn wir damit fertig sind, wird Klaris mit euch erste Lektionen angehen.«

Er wies auf einen Schuppen außerhalb des Walls. »Damit es nicht gleich am ersten Tag des Schuljahrs zehn Schwerverletzte gibt, werdet ihr mit Holzwaffen kämpfen. Ihr findet alles, was ihr benötigt, dort drin. Bitte lasst euren erfahrenen Mitschülern den Vortritt, damit sie ihre angestammten Waffen holen können.«

Bei diesen Worten hatten sich bereits einige der älteren Schüler erhoben und holten ihre Waffen aus dem Schuppen. Nirvy wartete, wie ihr geheißen, und folgte schließlich den neuen Schülern, als es schien, dass keine Ansprüche mehr geltend gemacht werden würden.

Im Schuppen gab es eine Vielzahl hölzerner Waffen. Allen war gleich, dass sie abgerundete Spitzen hatten. Manche waren aber mit Metall beschlagen, um die natürliche Balance und das Gewicht einer echten Waffe darzustellen. Nirvy wusste bereits, wonach sie suchen wollte, und fand schnell ein einhändig zu führendes Schwert.

»In Ordnung«, sagte Eluvir, als alle Schüler sich mit Waffen ausgestattet hatten. »Ziel des Kampfes wird es sein, euren Gegner kampfunfähig zu machen. Das bedeutet, dass ihr bestenfalls einen tödlichen Treffer landet. Über das Ende des Kampfes entscheidet der Pfiff eines Lehrers.«

Er setzte eine kleine Pfeife an die Lippen und blies kräftig hinein. Ein schrilles Pfeifen erschallte.

»Heute kämpft ihr ohne Schutzausrüstung, mit Ausnahme der Augenmaske und der Lederkappe. Deswegen gibt es bestimmte Regeln, die ihr befolgen sollt. Achtet bitte immer auf die Gesundheit eures Gegners. Verboten sind schwere Schläge und Stiche gegen den Kopf. Auch verboten sind Schläge, Stiche und Tritte, die zwischen die Beine zielen. Beachtet auch, dass ihr Treffer abschwächt, indem ihr den Schlag abbremst, wenn ersichtlich ist, dass ihr treffen werdet. Gibt es noch Fragen?«

Er blickte in die Runde, doch niemand meldete sich zu Wort.

»Gut«, sagte Eluvir und zog ein Pergament aus seinem Hemd. »Dann können wir beginnen.«

Er las das Pergament, zeigte es dann seinen Kollegen. Sie debattierten leise, doch bald waren sie sich einig.

»Sven«, sagte Tirados. »Du wirst beginnen.«

Ein Junge in Nirvys Alter erhob sich mit bleichem Gesicht. Als Waffe hatte er ein Schwert gewählt und er trug einen runden Schild in der linken Hand.

»Ist das die Waffe, mit der du stets geübt hast?«, fragte Klaris. Ihre Stimme war weich und passte nicht zu ihrem drahtigen Äußeren.

Sven nickte.

»Gut«, sagte Klaris. »Wir denken, Neron wird ein guter erster Gegner für dich sein.«

Neron war sichtlich erfreut, für den Kampf ausgewählt worden zu sein. Lächelnd stieg er hinunter in die Sandgrube und spielte dabei lässig mit seinem langen Falx, dem nach vorn gekrümmten Schwert, das viele Krieger des Nordens gern einsetzten.

»Seid ihr bereit?«, fragte Eluvir. »Sodann, auf meinen Pfiff.«

Der Kampf begann und bereits wenige Augenblicke nach Eluvirs Pfiff war klar, welcher der beiden der bessere Kämpfer war. Neron drängte Sven trotz des Schilds schnell in die Defensive, und dieser hatte Probleme, auf die Schläge seines Kontrahenten zu reagieren oder den Schild offensiv einzusetzen. Schnell war der Kampf vorbei. Neron griff auf der Schwertseite von Sven an und nutzte die Vorwärtskrümmung seiner Waffe, um einen Schnitt anzudeuten, der Sven in einem echten Kampf zumindest das Auge, wenn nicht sogar das Leben, gekostet hätte.

Eluvirs Pfiff ertönte. »Gut«, sagte er. »Sven, hast du häufig gegen Gegner mit Schwert und Schild geübt?«

Der immer noch bleiche Sven nickte.

»Das sieht man«, sagte Eluvir. »Es ist schon gut zu sehen, dass deine Bewegungen flüssig sind. Ihr könnt euch wieder setzen.«

Nirvy zitterte jetzt. Sie wollte nicht in Svens Haut stecken. Und sie wollte nicht hinunter in die Kampfbahn, um vor allen anderen Schülern lächerlich gemacht zu werden. Zwar hatte keiner der Zuschauer gelacht, als Sven besiegt worden war, doch es war ersichtlich, dass niemand mit einem Sieg des Jüngeren gerechnet hatte.

»Nirvy.«

Es dauerte eine Weile, bis das Wort zu ihr durchdrang. Das Herz sank ihr in die Hose. Sie war tatsächlich schon die Zweite!

»Nirvy?« Diesmal war es Tirados, der ihren Namen sagte. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht winkte er ihr zu. »Kommst du?«

Ylvies Hand legte sich auf ihre Schulter. Nirvy war dankbar für diese Geste der Freundlichkeit. Zitternd erhob sie sich. Obwohl sie aufgeregt war, fiel ihr auf, dass die anderen Schüler mehr tuschelten wie zuvor bei Sven. War sie anders?

»Ist das die Waffe, an der du ausgebildet wurdest?«, fragte Klaris, als sie bei den Lehrern angekommen war und die Maske aus Draht und Leder entgegennahm, die ihre Augen schützen sollte.

Nirvy versuchte zu antworten, doch nur etwas Unverständliches kam aus ihrem Mund.

»Bitte?«, fragte Klaris nach.

Nirvy räusperte sich und atmete tief durch. »Meistens«, sagte sie und bemühte sich, dass ihre Stimme nicht zitterte. »Wir haben auch manchmal mit einer Handarmbrust experimentiert.«

»Eine Handarmbrust?«, wiederholte Klaris laut genug, dass auch die anderen Schüler es vernehmen konnten. »Das ist eine interessante Kombination, die ich vorher noch nie gesehen habe. Es tut mir leid, dass du deine Waffe in diesem Kampf nicht einsetzen kannst. Möchtest du stattdessen einen Schild tragen?«

Nirvy schüttelte den Kopf. »Ich habe auch manchmal mit dem Schwert als einzige Waffe geübt.«

»In Ordnung«, sagte Klaris. »Fjor! Du wirst gegen Nirvy antreten.«

Nirvys Blick huschte zu Ylvie und dann zu dem jungen Krieger, der sich erhob. Ihr Herz schlug noch schneller, wenn das überhaupt möglich war. Ihre Hände waren schweißnass und sie wischte sie an ihrer Hose ab.

Fjor stand jetzt vor ihr. In seinen Händen hielt er eine Schwertlanze.

»Bist du sicher, dass du mit dieser Waffe kämpfen möchtest?«, fragte Eluvir.

Fjor blickte ihn kurz unsicher an, doch dann nickte er.

»Ich habe in der letzten Zeit viel geübt«, sagte er.

Eluvir bestätigte seine Worte mit einem Nicken und die Lehrer traten aus dem Kampfplatz heraus.

Nirvy beruhigte sich ein wenig, als sie ihren Gegner sah. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, um erahnen zu können, was er vorhatte. Fjor war hochgewachsen, aber schlank gebaut. Er würde schnell und flink sein, so wie sie. Nur hatte er mit der Schwertlanze über einen Schritt mehr Reichweite. Also musste sie dafür sorgen, dass er diesen Vorteil möglichst nicht ausspielen konnte. Sie atmete durch und schüttelte ihre angespannten Muskeln.

Dann erklang der Startpfiff.

Fjor bewegte sich wie erwartet. Mit einer fließenden Bewegung führte er die Schwertlanze gegen ihre Körpermitte. Nirvy bog sich zur Seite und entging dem Stoß mühelos, ohne mit ihrer Waffe parieren zu müssen. Er versuchte den Stoß in einen Schnitt gegen ihre Seite zu verwandeln, doch sie wehrte ihn ab, drehte sich leicht und kam ihm zum ersten Mal nahe. Fjor hatte jedoch aufgepasst – mit dem stumpfen Ende wehrte er ihren Stoß ab und trieb sie zurück.

Mit den nächsten Schlägen versuchte er, sie auf Distanz zu halten. Manchmal schlug er nach ihren Beinen, andere Schläge führte er gegen ihren Kopf. Nirvy gelang es aber immer, auszuweichen oder den Schlag abzulenken.

Als sie sich kurz voneinander lösten, atmete Nirvy durch. Bisher lief der Kampf für sie nicht optimal. In dieser Distanz würde Fjor früher oder später einen Treffer landen. Sie musste aggressiver vorgehen, wenn sie diesen Kampf für sich entscheiden wollte. Unter seinem nächsten Schlag duckte sie sich hindurch und sprang auf ihn zu. Überrascht drehte er ihr erneut das stumpfe Ende der Waffe zu und parierte so ihren Schlag. Doch Nirvy ließ sich dieses Mal nicht wieder zurückdrängen. Mit der freien Hand griff sie nach der Schwertlanze.

Fluchend versuchte auch Fjor, Nirvy zu packen, und erwischte dabei ihr Hemd. Er hatte eine Menge Kraft, und er zog so heftig, dass der Ausschnitt ein gutes Stück weit aufriss, als er versuchte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber es half ihm nichts. Nirvy sah eine ungeschützte Stelle und stieß das Schwert gegen seine Rippen, vielleicht etwas fester als geplant.

Fjor schrie überrascht auf und ließ sie los. Gleichzeitig ertönte der Pfiff. Aufgeregtes Murmeln lief durch die versammelten Schüler. Ein gewaltiger Stein fiel von Nirvys Herz. Sie hatte ihren ersten Kampf gewonnen! Sie hatte sich nicht blamiert. Sie sah zu Fjor, der immer noch überrascht schien.

»Nun, wenn das nicht ein interessanter Kampf war«, sagte Eluvir ruhig. »Nirvy. Beachte, dass du das nächste Mal deinen Stich nicht gegen die Rippen führst, wenn du die freie Auswahl hast. Zwischen den Rippen eines Sterbenden kann sich eine Waffe leicht verklemmen und du könntest sie verlieren.«

Nirvy nickte, brachte ihr verrutschtes Hemd wieder einigermaßen in Ordnung und machte Anstalten, sich wieder zu setzen.

Doch Tirados hielt sie auf. »Einen Moment bitte, Nirvy. Solange du keinen Kampf verlierst, kämpfst du weiter.«

Nirvys aufkeimende gute Laune zerplatzte. Während sich die Lehrer erneut berieten, schaute sie sich die Reihen der Schüler an. Ihre Gesichter hatten sich verändert. Die neuen Schüler schienen bestärkt zu sein; es war ihnen nicht unmöglich, den ersten Kampf zu gewinnen. Andere Schüler unterhielten sich. Sie sah, wie einer eine Bewegung andeutete, die sie zuvor ausgeführt hatte. Doch Fjor, der bereits wieder saß, funkelte sie wütend an. Auch sein Nachbar, der leise auf ihn einredete, blickte nicht freundlich.

Doch sie kam nicht dazu, sich Gedanken darüber zu machen, denn die Lehrer waren sich gerade einig geworden.

»Wir denken, Nemdes ist ein guter nächster Gegner«, sagte Eluvir.

Dem Mädchen, das sich jetzt lächelnd erhob, sah man an, dass sie eine geübte Kämpferin war. Sie war viel älter als Nirvy, vielleicht sogar bereits sechzehn Jahre alt. Sie war wie Klaris athletisch gebaut, aber ein wenig größer als diese. Mit einer lässigen Geste strich sie sich die kurzen, rötlich braunen Haare aus dem strengen Gesicht und nahm vor Nirvy Aufstellung. Sie trug Schwert und Schild; die Waffen, mit denen auch Nirvys Vater üblicherweise kämpfte. Nirvy war recht zuversichtlich gewesen, sich auch im nächsten Kampf ganz gut schlagen zu können, bis sie den selbstsicheren Ausdruck auf Nemdes’ Gesicht bemerkte.

»Keine Sorge«, sagte Nemdes leise. »Gleich kannst du dich wieder setzen und zusehen.«

Nirvy antwortete nicht. Der abfällige Kommentar des Mädchens ärgerte sie. Auf einmal hatte sie keine Lust mehr, sich wieder zu setzen.

Nemdes griff sofort an, als der Startpfiff ertönte. Anders als Sven setzte Nemdes Schwert und Schild perfekt ein. Mit flüssigen Bewegungen bedrängte sie Nirvy und gab sich keine Blöße.

Ihr blieb nichts weiter übrig, als Nemdes’ Druck auszuweichen. Aber sie kannte das schon von den Übungen mit ihrem Vater. Sie würde versuchen, Nemdes in eine Position zu bringen, in der sie den Schild nicht mehr offensiv nutzen konnte.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Nachdem sie einen Stoß von Nemdes’ Waffe pariert hatte, machte Nirvy einen Schritt nach vorn und nicht zurück, so wie Nemdes es erwartetet hatte. Mit der linken Hand griff sie den Schild ihrer Kontrahentin und drehte ihn, bis er zwischen ihr und Nemdes’ Waffe war. Nemdes wandte sich fast schnell genug um, doch Nirvys Klinge lag schon an ihrem Hals.

Ein Pfiff ertönte und Nirvy lächelte sanft, während Nemdes wütend Sand wegtrat. Dieser zweite Sieg fühlte sich besser an als der erste. Denn anders als Fjor hatte Nemdes von Anfang an auf sie herabgesehen.

»Gut«, sagte Eluvir. »Schöne Technik bei beiden. Doch es scheint mir, als ob sich auch unsere erfahreneren Schüler noch einmal mit den Gefahren vertraut machen sollten, die von einer freien Hand ausgehen.« Er nickte Nemdes zu und entließ sie somit.

»Nun, ein dritter Kampf soll es also sein«, fuhr er fort. »Wie auch immer er ausgeht, er soll vorerst der letzte für dich sein.«

Nirvy nickte. Sie fühlte sich nun viel besser als vor dem ersten Kampf. Mittlerweile war sie fast so entspannt wie beim Üben mit ihrem Vater. Sie atmete einmal durch und wartete, bis die Lehrer ihren nächsten Gegner ausgewählt hatten.

Sie waren sich schnell einig.

»Halvor!«, rief Tirados und winkte ihn herbei.

Der Junge, den sie zuvor nur flüchtig aus der Entfernung gesehen hatte, kam heran. Er hatte kurze hellbraune Haare und ein schmales Gesicht. Seine Miene schien ausdruckslos, doch seine grauen Augen blickten sie aufmerksam an. Stumm nickte er ihr zu, ein kurzes Zeichen von Höflichkeit. Nirvy erwiderte es.

Eluvirs Pfiff ertönte zum wiederholten Mal. Nirvy war vorsichtig. Halvor trug eine Langaxt. Mit einem Schwert war es sinnlos, eine solche Waffe statisch zu parieren, da sie eine Menge Kraft übertrug, die man abfangen musste. Ihr Vater hatte sie ausgebildet, Schlägen von großen Äxten auszuweichen oder ihre Schlagrichtung mit dem Schwert zu manipulieren.

Halvor wirbelte die Axt herum, ließ sie kreisen, mal über dem Kopf, mal vor dem Körper, um die Schwungkraft, die er ihr damit gab, zu erhalten. Als klar war, dass Nirvy sich nicht in den Bereich seiner Waffe begeben würde, übernahm er die Initiative. Mit einem Ausfallschritt ließ er die Axt auf sie heruntersausen. Als Nirvy zurückwich, ließ er sie sofort wieder nach oben kreisen. Noch zwei weitere Versuche wagte er, aber Nirvy ließ sich nicht darauf ein, seine Waffe zu parieren. Stattdessen ging sie selbst in die Offensive. Doch Halvor war flinker, als es den Anschein gehabt hatte. Anstatt ihren Stoß zu parieren, wich er seitlich aus.

Nirvy ahnte, was kommen würde, drehte sich nach rechts und bog gleichzeitig ihren Oberkörper nach links. Dem Schlag entging sie dennoch nicht.

Ein leiser, kurzer Laut entwich ihrem Mund, als der hölzerne Axtkopf auf ihren Brustkorb traf und die Luft aus ihren Lungen presste. Der Aufprall war so heftig, dass Nirvy das Gleichgewicht verlor und zur Seite geschleudert wurde. Mit dem Gesicht voran schlug sie im Sand auf.

Der Endpfiff ertönte. Eluvirs Stimme nahm einen scharfen Ton an, als er sprach: »Achte auf die Kraft, mit der du zuschlägst, Halvor! Was wäre passiert, wenn du ihren Kopf getroffen hättest?«

Sie hörte Halvors Antwort nicht, weil er leise und in eine andere Richtung sprach, doch als sie sich herumrollte, sah sie in sein besorgtes Gesicht.

»Bist du verletzt?«, fragte er rasch. Seine Stimme war dumpf, aber nicht tief.

Sie schüttelte den Kopf. »Es geht schon«, murmelte sie. Tatsächlich schmerzte die Stelle, an der er sie getroffen hatte, heftig und sie musste sich beherrschen, ihre Tränen zurückzuhalten.

»Es tut mir leid«, sagte Halvor und hielt ihr eine Hand hin, die sie dankbar ergriff. »Ich hatte nicht erwartet, dich jetzt schon zu treffen.«

Ohne Mühe zog er sie auf die Beine. Nirvy klopfte sich den Sand vom Körper.

»Alles in Ordnung?«, fragte Klaris.

Nirvy nickte zur Antwort.

»Ihr könnt euch setzen.« Die Lehrerin deutete zu den restlichen Schülern hinüber.

Nirvy ging zurück zu ihrem Platz, wo sie von Ylvie erwartet wurde. Diese warf Halvor, der sich ebenfalls gerade setzte, einen finsteren Blick zu.

»Unmöglich, dich derart fest zu schlagen«, sagte sie. »Abgesehen davon, dass man sowieso keine Mädchen schlägt, sollte man wenigstens seine Kraft besser beherrschen.«

Nirvy lächelte, trotz ihrer Schmerzen. »Er sagte, es wäre keine Absicht gewesen.«

»Echt?«, sagte Ylvie. »Bist du sicher, dass es keine Rache war für Fjor und Nemdes, die du besiegt hast?«

»Denkst du das?«, fragte Nirvy ernst.

Ylvie legte den Kopf schief. »Ehrlich gesagt, denke ich das nicht«, gab sie zu. »Halvor hält sich meistens von dieser Art Leute fern. Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt jemanden mag, außer Namar. Fjor sagte, dass viele der Krieger glauben, dass er im Denken nicht der Allerschnellste ist. Aber was Fjor sagt, muss auch nicht immer stimmen – ist ja auch nicht gerade das hellste Licht der Welt.«

»Er hat zu mir gesagt, er hätte nicht erwartet, mich jetztschon zu treffen. So langsam im Kopf kann er nicht sein, wenn er sich sogar einen Plan für einen Kampf zurechtlegt. Und auch mit der Waffe war er schnell.« Nirvy hob ihr Hemd ein wenig an und schaute sich die Stelle an, an der sie getroffen worden war. Trotz des Schmerzes sah sie eher unspektakulär aus. Ein wenig Haut war aufgeschürft, und die Stelle schimmerte ein wenig rötlich.

Auch Ylvie schaute hin. »Ich habe noch niemanden mit so dunkler Haut gesehen«, sagte sie. »Selbst deine Schramme sieht anders aus als bei den Jungen aus dem Norden.«

Nirvy zuckte mit den Schultern und ließ das Hemd wieder los.

»Hast du schon häufig Wunden behandelt?«, fragte sie Ylvie.

Diese grinste. »Schon eine ganze Menge. Die Schüler sind verpflichtet, bei Verletzungen zu uns Kriegsheilern zu kommen. Oft sind es nur Kleinigkeiten, aber so bekommen wir Übung mit richtigen Wunden. Manchmal habe ich das Gefühl, manche verletzen sich absichtlich. Nur um zu mir zu kommen. Ist das nicht süß?«