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Beschreibung

Der Begriff des »Gesellschaftlichen Zusammenhalts« entwickelt sich immer mehr zu einer Leitvokabel sowohl liberal-demokratischer als auch autoritär regierter Gesellschaften. Die Beiträge dieses Bandes hinterfragen seine Verwendung aus historischer und globaler Perspektive. Mithilfe empirischer Fallstudien machen sie die Vielfalt von Konzeptionen und Praktiken gesellschaftlichen Zusammenhalts sichtbar und legen damit ihre Kontextabhängigkeit sowie geschichtliche Einbettung offen. So wird es möglich, die gegenwärtige Konjunktur des Begriffs zu erklären und einer unreflektierten Universalisierung entgegen zu treten.

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Cover for EPUB

Matthias Middell (Hg.)

Varianzen des Zusammenhalts

Historisch und transregional vergleichende Perspektiven

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Der Begriff des »Gesellschaftlichen Zusammenhalts« entwickelt sich immer mehr zu einer Leitvokabel sowohl liberal-demokratischer als auch autoritär regierter Gesellschaften. Die Beiträge dieses Bandes hinterfragen seine Verwendung aus historischer und globaler Perspektive. Mithilfe empirischer Fallstudien machen sie die Vielfalt von Konzeptionen und Praktiken gesellschaftlichen Zusammenhalts sichtbar und legen damit ihre Kontextabhängigkeit sowie geschichtliche Einbettung offen. So wird es möglich, die gegenwärtige Konjunktur des Begriffs zu erklären und einer unreflektierten Universalisierung entgegen zu treten.

Vita

Matthias Middell ist Professor für Kulturgeschichte und Sprecher des FGZ sowie des Standorts Leipzig.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Matthias Middell: Einleitung – Statt eines gesellschaftlichen Zusammenhalts viele Varianten in Zeit und Raum

Abstract

Literatur

Dirk van Laak: Vom Zensus zur Zusammenhalts-Studie. Über Wandlungen der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung seit dem 19. Jahrhundert

Abstract

1.

»Gemeinschaft« oder »Gesellschaft der autonomen Individuen«?

2.

Instrumente der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung

3.

Zwei Beispiele: Jugendforschung und die Sozialfigur des »kleinen Mannes«

4.

Zusammenfassung

Literatur

Barbara Lüthi, Maren Möhring und Christiane Reinecke: Historisch-semantische Annährungen an den Begriff Integration und seine Funktion in Migrationsdiskursen: Von nationalstaatlichen zu transnationalen Perspektiven

Abstract

1.

Begriff und Kritik der Integration in der Migrationsforschung

2.

Das bundesdeutsche Integrationsparadigma

3.

Integrationsdebatten in transnationaler Perspektive: Das Beispiel Schweiz und Frankreich

4.

Fazit

Literatur

Therese Mager: Politische Karriere und Bedeutung eines Konzepts: cohésion sociale in Frankreich

Abstract

1.

Aufstieg (und Niedergang) der cohésion sociale im französischen politischen Kontext: Ein kurzer historischer Abriss

2.

Stand der Forschung: Akademische Antworten auf cohésion sociale

3.

Welche Art Kohäsion, unter welchen Umständen und für wen?

3.1

Definition von cohésion sociale im Verlauf der Zeit

3.2

Verortung der cohésion sociale in einer Krise oder einem Problem

3.3

Entwicklung des Verständnisses von Exklusion: Wer profitiert nicht in vollem Umfang vom republikanischen Versprechen?

4.

Diskussion: Die Gründe für cohésion sociale erforschen

4.1

Das Soziale in den Irrungen und Wirrungen der Globalisierung praktizieren: cohésion sociale als Versprechen des Wohlfahrtsstaates

4.2

Fracture sociale: Mit cohésion sociale den sozialen Verwerfungen entgegenwirken?

5.

Fazit

Literatur

Untersuchte Reden der Präsidenten (ohne die oben zitierten)

Jacques Chirac:

François Hollande:

Emmanuel Macron:

Nicolas Sarkozy:

Ursula Lehmkuhl: Soziale Kohäsion im multikulturellen Kanada: Historische Entwicklungen, systemische Spannungen und ungelöste Probleme

Abstract

1.

Historische Grundlagen ethnischer Pluralität in Kanada

2.

Die Stille Revolution: Ein Wendepunkt in der kanadischen Diversitätspolitik

3.

Vom Bikulturalismus und Bilingualismus zum Multikulturalismus

4.

Die Entwicklung der kanadischen Politik des Multikulturalismus

5.

Das »vertikale Mosaik«: Die Spezifik von Ungleichheitskonstellationen in Kanada

6.

Multikulturalismus und »sozialer Zusammenhalt« in der wissenschaftlichen und intellektuellen Debatte

7.

Sozialer Zusammenhalt in Kanada: Wo stehen wir heute?

Literatur

Constanze Blum: Social cohesion im südlichen Afrika: Diskurse, Institutionen und Praktiken

Abstract

1.

Die Historizität der Debatte um nationale Versöhnung als Voraussetzung für social cohesion in der Region

1.1

Frühe Versöhnungsdiskurse: Simbabwe als Referenz für die Region

1.2

Nationale Versöhnung als Reizthema der Opposition in Namibia

1.3

Ein neues regionales Leitbild? Die Truth and Reconciliation Commission in Südafrika

1.4

Transnationale Verschränkungen und regionale Diskursentwicklung

2.

Social cohesion: Ein neuer Begriff im südlichen Afrika

2.1

Institutionen zu social cohesion in Südafrika

2.2

Social cohesion-Diskurse in Regierung und Parlament

2.3

Social cohesion-Debatten in Simbabwe und Namibia: Ein selten genutzter Begriff

3.

In Richtung eines regionalen Begriffsverständnisses

Literatur

Berichte und weitere Dokumente

Interviews

Man Zhang: »Aus den Massen schöpfen und in die Massen hineintragen«: Staatspopulismus im heutigen China

Abstract

1.

Politik der Massenlinie und Gerechtigkeit

2.

Volksempörung (minfen) und Massendiktatur

3.

Staatspopulismus in der Zeit nach Mao

4.

Schluss

Literatur

Paolo Zucconi: Im Schatten Russlands: Ostmitteleuropa zwischen Populismus, Geschichte und Geopolitik

Abstract

1.

Die Visegrád-Gruppe und das Fehlen einer regionalen Außenpolitik

2.

Der Aufstieg des Populismus: Zwischen Affinität und Animosität gegenüber Russland

3.

Der Ukrainekrieg 2014 als Problem: Zwiespältigkeit in der Außenpolitik

4.

Die Rolle historischer Bindungen

5.

Zusammenfassung

Literatur

Medienartikel

Dokumente

Alexander Yendell und Gert Pickel: Antimuslimische Einstellungen als zentrale Ressource des Rechtspopulismus und Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland und Europa

Abstract

1.

Theorien zur Erklärung der Wahl rechtspopulistischer Parteien

2.

Antimuslimische Einstellungen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

3.

Deskriptive Ergebnisse für den Fall Deutschland und die Wahl der AfD

4.

Die Faktoren für die Wahl der AfD und die Bedeutung antimuslimischer Einstellungen: Multivariate Analysen

5.

Antimuslimische und antiislamische Einstellungen und Demokratie

6.

Der Blick nach Europa: Rechtspopulismus und antimuslimische Einstellungen

7.

Fazit: Antimuslimische Einstellungen als Treibstoff rechtspopulistischer Mobilisierung und europaweite Gefährdung eines demokratischen Zusammenhalts

Literatur

Leon Walter, Jonas Rees und Michael Papendick: Erinnerungskulturen in der Post-Migrationsgesellschaft: Eine empirische Analyse von Motivationen und Bedingungen der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland

Abstract

1.

Erinnerung, soziale Identität und gesellschaftlicher Zusammenhalt

2.

Methode

3.

Ergebnisse

3.1

Einschätzungen zur NS-Vergangenheit – Verantwortung der Zivilbevölkerung, potenzielle Täter‑, Opfer- oder Helfer:innenschaft

3.2

Interesse am Themenfeld Geschichte und Intensität der Auseinandersetzung mit dem NS

3.3

Familiengeschichte, Migrationsgeschichte und deutsche Erinnerungskultur

3.4

Familiengeschichte, Identität und gesellschaftlicher Zusammenhalt

3.5

Analyse offener Antworten: Was wünschen sich Befragte mit Migrationsgeschichte für die deutsche Erinnerungskultur?

4.

Diskussion

Literatur

Anhang

Christoph Richter, Janine Patz, Noah Marschner und Axel Salheiser: Klimaschutzregression: Angriffe auf Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt

Abstract

1.

Fundament und ideologische Brücken der Klimaschutzregression

2.

Einflusskanäle und Strategien der Klimaschutzregression

3.

Effekte der Risiko- und Externalisierungsgesellschaft

4.

Die Internalisierung der Folgen der Ausbeutung und Klimazerstörung

5.

Die Attraktivität klimaregressiver Angebote von rechts

6.

Klimaschutzregression als Gefahr für den demokratischen Zusammenhalt

Literatur

Johannes Gemkow und Sonja Ganguin: Strukturwandel der Öffentlichkeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt

Abstract

1.

Öffentlichkeit und Zusammenhalt aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive

2.

Zum (dritten) Strukturwandel der Öffentlichkeit

2.1

Die drei Phasen von Öffentlichkeit

3.

Funktionaler Ansatz der Öffentlichkeit

3.1

Forumsfunktion

3.2

Legitimationsfunktion

3.3

Integrationsfunktion

4.

Die Semantik des Zusammenhaltsbegriffs im Kontext einer funktionalen Öffentlichkeit

5.

Öffentlichkeitstheorie des Digitalen

6.

Die Semantik des Zusammenhaltsbegriffs im Kontext einer digitalen Öffentlichkeit

7.

Fazit

Literatur

Astrid Lorenz, Luisa Pischtschan, Katharina Kolb, Mario Hesse und Thomas Lenk: Ungleichwertige Lebensverhältnisse als Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts? Eine vergleichende Untersuchung von Interviews mit kommunalen Entscheider:innen und lokalen Gruppendiskussionen in Deutschland

Abstract

1.

Theoretisch-konzeptionelle Überlegungen

2.

Methodischer Rahmen und Daten

3.

Bewertung der Lebensverhältnisse durch Entscheidungsträger:innen aus der Kommunalpolitik und -verwaltung

3.1

Einschätzung und Einordnung der Lebensverhältnisse

3.2

Gleichwertigkeit und Maßstäbe

3.3

Das Narrativ des Abgehängtseins als ostdeutsches Phänomen?

4.

Sichtweisen der lokalen Bevölkerung

4.1

Einschätzung und Einordnung von Lebensverhältnissen

4.2

Maßstäbe und Vergleichsdimensionen zu Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse

5.

Resümee und Ausblick

Literatur

Henriette Rodemerk, Tabea Falk, Charlotte Höcker, Johanna Niendorf und Oliver Decker: »Fürsorge, Nachbarschaftshilfe, Stalking – eine Interpretationssache?« – Zusammenhalt und Antifeminismus am Fallbeispiel Erzgebirge

Abstract

1.

Antifeminismus

2.

Der Sozialraum Erzgebirge

3.

Methode und Vorstellung des Materials

4.

Empirische Erkenntnisse zu Zusammenhalt und Antifeminismus

4.1

Verbundenheit und Uhies’sche

4.2

Der Erzgebirger: Engel und Bergmänner im Kreis der Familie

4.3

Die Blicke der Anderen vs. die Einsamkeit der Großstadt

4.4

Zur Einzelkämpferin werden

5.

Fazit

Literatur

Christian Meier zu Verl, Christian Meyer und Hanna Grauert: Hermeneutiken des Verdachts: Institutionelle Diskriminierungspraktiken und Rassismus in öffentlichen und privaten Räumen der post-migrantischen Gesellschaft. Eine videoanalytische Untersuchung

Abstract

1.

Institutionelle Praktiken: Differenz, Alterisierung, Diskriminierung und Rassismus

2.

Videoanalytische Untersuchung diskriminierender Praktiken

2.1

Diskriminierende Alterisierungspraktiken in öffentlichen Räumen

2.1.1

Die praktische Erzeugung von Öffentlichkeit in öffentlich zugänglichen Räumen

2.1.2

Praktiken der räumlichen Reorganisation als Teil des Konflikts

2.1.3

Diskriminierende Praktiken doppelter Alterisierung

2.2

Diskriminierende Alterisierungspraktiken in privaten Räumen

2.2.1

Diskriminierende Alterisierung durch Praktiken des Zeitdrucks

2.2.2

Diskriminierende Alterisierung durch Praktiken der Eskalation

2.2.3

Diskriminierende Alterisierung durch Praktiken der Fremdzuschreibung

2.2.4

Diskriminierende Alterisierung und Praktiken des Beleidigens und Drohens

2.2.5

Diskriminierende Alterisierung im ambivalenten Zusammenspiel von Eskalation und Deeskalation

3.

Fazit

Literatur

Autorinnen und Autoren

Einleitung – Statt eines gesellschaftlichen Zusammenhalts viele Varianten in Zeit und Raum

Matthias Middell

Abstract

Das Cluster 3 des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt widmete sich in der Forschungsphase von 2020 bis 2024 dem Variantenreichtum von Konzepten und Praktiken sozialer Kohäsion sowohl im diachronen als auch im synchronen Vergleich. Auch wenn wir noch weit von einer Globalgeschichte des gesellschaftlichen Zusammenhalts und einem Verständnis, wie diese verschiedenen Varianten miteinander interagieren, entfernt sind, zeigen die in diesem Band versammelten Fallstudien doch auf, wie man sich dem Problem dieser Varianz nähern kann. Die Einleitung situiert die Aufsätze im gesamten Forschungsprogramm des Instituts und verdeutlicht die Gründe für die Konjunktur der Zusammenhaltsrhetorik in den 2010er Jahren, die durch die Multikrise der 2020er Jahre sogar noch akzentuiert wurde und in einen internationalen Wettbewerb um die wirksamste Form des Zusammenhalts bei der Bewältigung globaler Herausforderungen geführt hat.

Keywords: Vergleich; Kulturtransfer; Pfadabhängigkeit; Globalgeschichte

Dieser Band gibt Einblicke in die Untersuchungen, die im Cluster 3 des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt 2020–2023 durchgeführt wurden.1 Das über elf Standorte in verschiedenen Teilen der Bundesrepublik und die an den beteiligten Universitäten und Forschungsinstituten vertretenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen spannende Institut wurde 2020 gegründet mit dem Ziel, Konzepte und Praktiken des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu analysieren. Der Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts hatte in den 2010er Jahren in Deutschland eine bis dahin nicht gekannte Prominenz erlangt und wurde von völlig unterschiedlichen politischen Parteien und sozialen Bewegungen als ein ebenso erstrebenswertes wie bedrohtes Gut beschrieben. Rainer Forst hat angesichts der vielen Bedeutungen, die dem Begriff gegeben wurden, von einem leeren Signifikanten bzw. einem Chamäleon gesprochen,2 während Matthias Quent, Axel Salheiser und Dagmar Weber die Verwendungskontexte anhand eines randomisierten Samples von deutschen Tageszeitungen mit 672 Artikeln (die den Begriff in den Jahren 2014–2019 nutzten) differenziert haben und fast die Hälfte der Bezüge auf gesellschaftlichen Zusammenhalt im diskursiven Feld von »demokratischer Kultur« feststellten, gefolgt von »Migration und Integration« (mit einer auffälligen Häufung 2015 und 2016, der ein Nachlassen der Thematisierung folgt), »Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit« sowie »Ehrenamt und Engagement«.3 Gleichzeitig bestätigten sie Forsts Hilflosigkeit gegenüber einem nur vage fixierbaren Bedeutungskern nachdrücklich: »Typischerweise wurde der Zusammenhaltsbegriff in den Zeitungen verwendet, ohne ›Zusammenhalt‹ zu definieren oder tatsächliche Wirkungszusammenhänge zu benennen, schlüssig darzustellen oder gar zu hinterfragen.«4 Dabei stieg die Zahl der Erwähnungen von 29 im Jahr 2014 auf 199 im Jahr 2019 an, wobei die größten Sprünge (jeweils eine Verdopplung) von 2014 auf 2015 und von 2015 auf 2016 festzustellen sind.5

Diese Zahlen rechtfertigen noch nicht, die Emergenz des Begriffs gesellschaftlicher Zusammenhalt genau auf den Krisenmoment der Auseinandersetzung um die Migrationswelle von 2015/16 zu datieren, aber zusammen mit der nachfolgenden wissenschaftlichen und politischen Aufmerksamkeit lässt sich doch die Hypothese plausibilisieren, dass zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit für eine neue Selbstbeschreibung der Gesellschaft gesehen wurde. Der Aufstieg einer Protestbewegung wie Pegida und die nachfolgende mehrfache Häutung der Alternative für Deutschland zu einer bei Wahlen und Umfragen erfolgreichen Partei stärkten dieses Gefühl, es bedürfe einer neuen Kategorie, um zu verstehen, was vorfällt.

Begleitet wurde diese diskursive Innovation vom Aufstieg des Etiketts des Rechtspopulismus, denn als Gegenteil von gesellschaftlichem Zusammenhalt erschien nun eine mit diesem Rechtspopulismus verbundene Polarisierung, mit der viele Autoren eine nachlassende Handlungsfähigkeit von Gesellschaften bei der Bewältigung aktueller Krisen assoziierten. Im bereits zitierten Zeitungssample von Quent, Salheiser und Weber bildet sich dies im Aufstieg der Sorge um »Fragmentierung der Gesellschaft« ab 2016 zum wichtigsten diskursiven Feld ab, mit dem gesellschaftlicher Zusammenhalt assoziiert wurde.6 Zwar waren rechtspopulistische Tendenzen auch schon vor 2015 im westlichen wie im östlichen, im südlichen und nördlichen Europa und in Österreich und der Schweiz beobachtet worden, für Deutschland schien dagegen eine solche Tendenz aufgrund des fortwirkenden Erbes der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Auseinandersetzung mit ihr wenig wahrscheinlich. Die Erfolge von Pegida und AfD wurden für längere Zeit mit dem Hinweis auf die Besonderheit Ostdeutschlands erklärt, wo eben diese Auseinandersetzung mit dem NS weniger tiefgehend (wenn überhaupt) stattgefunden habe und aus der gerade untergangenen SED-Herrschaft eine Diktaturaffinität der Bevölkerung fortdauere.

»Gesellschaftlicher Zusammenhalt« drückt also eine tiefe Sorge aus um die Stabilität und die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft in einem Moment, der als Krisenakkumulation erlebt wird. Dies erklärt auch das Überleben der semantischen Neuerung, nachdem ihr ursprünglicher Anlass im engeren Sinne, nämlich die Konfrontation mit dem Scheitern der EU-Flüchtlingspolitik, bereits wieder abgeklungen war. Der Begriff erwies sich als flexibel genug, um neue Krisenerfahrungen aufzunehmen. Und die blieben am Anfang der 2020er Jahre bekanntlich nicht aus, so dass sogar der Begriff der Multikrise die Runde machte.7 Die Covid-19-Pandemie führte in eine anhaltende Debatte über die Rolle wissenschaftlicher Expertise und darauf gegründeter Politik und legte offen, dass die Verbindung von Wissenschaft und Politik von einem Teil der Bevölkerung skeptischer beurteilt wurde als dies zuvor angenommen worden war. Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wiederum animierte eine Auseinandersetzung über die vielfältigen Konsequenzen eines Endes europäischer Exzeptionalität in Bezug auf die Friedensdividende, von der viele Teile Europas seit 1989 in einer Welt fortgesetzter geopolitischer Konflikte profitiert hatten. Je komplexer die Krisen, desto intensiver die Beschwörungen gesellschaftlichen Zusammenhalts, wobei nicht immer klar wird, ob es sich um einen bereits verlorenen Gesellschaftszustand handelt, der zurückgewonnen werden muss, oder ob das Warnen vor einem noch bevorstehenden dystopischen Zustand dessen Vermeidung garantieren soll. Eine ganze Industrie der Umfragen versucht, der Gesellschaft den Zusammenhaltspuls zu messen,8 und an der Zahl der Indikatoren lässt sich erkennen, wie unterschiedlich dabei vorgegangen wird, wo die Schwerpunkte gesetzt werden und wie umfassend man sich das Problem vorstellt.9

Gegenüber der Erwartung, dass es sich um einen Modebegriff handele, kann man fast zehn Jahre nach seiner ersten Konjunktur feststellen, dass der Begriff gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht nur in Deutschland Beharrungskraft zeigt, sondern drauf und dran ist, zu einem gesellschaftlichen Schlüsselbegriff mit vielen Schattierungen in den unterschiedlichsten Teilen der Welt zu werden. Ob er tatsächlich eine globale Leitvokabel wird, bleibt noch zu erforschen, aber schon jetzt können wir nach unseren ersten Untersuchungen festhalten, dass er Diskursfelder im südlichen Afrika,10 im westlichen Europa und in Ostasien strukturiert, in Kanada und den USA eine zentrale Rolle spielt und in Ostmitteleuropa an Bedeutung gewinnt, wovon in diesem Band noch im Detail die Rede sein soll. Und das heißt keineswegs, dass er nicht auch in Lateinamerika11 oder im Nahen und Mittleren Osten12 oder im Pazifik13 anzutreffen wäre.

Bei Durchsicht der hier nur exemplarisch genannten Reports und Analysen zeigt sich, dass die begriffliche Unschärfe, die der wissenschaftlichen Untersuchung scheinbar hinderlich ist, einen großen Vorzug der Terminologie des gesellschaftlichen Zusammenhalts für die politische Debatte ausmacht. Sie erlaubt, unterschiedliche, aber doch eng miteinander zusammenhängende Phänomene je nach Dringlichkeit und Gelegenheit zu verhandeln: soziale und ökonomische Ungleichheit, Inklusion und Exklusion in multikulturellen und multiethnischen Gesellschaften, Stabilität des politischen Systems und Veränderungen der politischen Kultur, affektive Bezüge auf eine vorgestellte (nationale, ethnische, kulturelle) Gemeinschaft und vieles anderes mehr. Es scheint beinahe so, als trage zur Popularität des Begriffs gesellschaftlicher Zusammenhalt bei, dass er sich gegen die Aufsplitterung in Soziologien einzelner Aspekte wehrt und damit das Multimodale von Gesellschaftstheorien wieder in Erinnerung bringt. Ob Einkommensunterschiede oder Einstellungsunterschiede die Spaltungen von Gesellschaften mehr befeuern, ob Rassismus schlimmer sei als Rechtsextremismus, ob sinkende Realeinkommen oder enttäuschte Erwartungen mehr Wut erzeugen, ob der Ausschluss aus demokratischer Partizipation oder die Kränkung durch exkludierende Erinnerungskonstruktionen mehr Frustration erzeugt, ob die Generationen unterschiedliche Prioritäten in Bezug auf globale Herausforderungen haben oder die Erderwärmung eine neue, Generationen und Weltregionen übergreifende Klimagerechtigkeit notwendig macht – all diese Fragen werden in den Diskussionen um gesellschaftlichen Zusammenhalt mitverhandelt und hängen je nach Standort, Standpunkt und historischem Moment auf je andere Weise miteinander zusammen.

Hieraus ergeben sich vielfältige Vergleichsmöglichkeiten. Das vielfältige Messen des gesellschaftlichen Zusammenhalts legt nahe, dass dieser Vergleich zu einem Ranking führen könne, das uns erlaubt, auf einen Blick zu erkennen, welche Regierung und welche Gesellschaft die Herausforderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts am besten bewältigt. Allerdings trägt ein solcher Vergleich auch eine Vielzahl normativer Annahmen in sich. Von vielen Autoren wird der Vergleich auf der Deutungsachse demokratischer vs. autoritärer Zusammenhalt organisiert.14 Diese Debatte ist erkennbar geprägt von der Erfahrung mit rechtspopulistischen Regimes in Ostmitteleuropa und Lateinamerika, besonders in Polen und Ungarn, vor allem aber mit der Präsidentschaft Donald Trumps in den USA.15 Die Gewissheit, dass Zusammenhalt per se liberal-demokratisch sei, ist mindestens erschüttert, und dies öffnet den Blick auf ein breiteres Panorama von Varianten des Zusammenhalts, seiner Legitimierung und seiner institutionellen Organisation. Damit rückt ins Blickfeld, wie Gesellschaften weltweit ihren Zusammenhalt begründen und praktizieren. Es erscheint nicht mehr angemessen, sie wie auf einem Zeitstrahl anzuordnen, bei dem die Entfernung vom teleologischen Endpunkt eines perfekten demokratischen Zusammenhalts sichtbar gemacht werden kann. Dieser modernisierungstheoretische Universalismus16 wird immer stärker in Zweifel gezogen. In einer multiplexen Weltordnung, die sich nach den Befunden von Amitav Acharya, Antoni Estevadeordal und Louis W. Goodman in den letzten Jahren herausgebildet hat,17 tritt die Verschiedenheit der Konzepte gesellschaftlichen Zusammenhalts deutlicher hervor, und zugleich werden diese Konzepte und Praktiken immer stärker als Gegenstand eines globalen Wettbewerbs angesehen. Dabei geht es nicht allein um die Überlegenheit des jeweiligen Gesellschaftsmodells nach innen, sondern auch um dessen Attraktivität für andere. Allianzen werden auf der Grundlage von Werteübereinstimmungen vorgeschlagen und geopolitische Lagerbildungen werden mit einer ähnlich gelagerten Herstellung gesellschaftlichen Zusammenhalts begründet.18 Ob für eine Typologie allein die Unterscheidung zwischen demokratischem und autoritär erzeugtem Zusammenhalt ausreichend ist, hängt nicht nur von politischen Bündnisoptionen ab, die mit solchen Differenzierungen beeinflusst werden sollen, sondern auch von der Aufmerksamkeit für die wechselseitigen Lern- und Anpassungsprozesse.

Denn die Wege, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erzeugen, zu erhalten und auszubauen, sind keineswegs strikt voneinander getrennt, sondern gesellschaftliche Akteure beobachten (mithin: vergleichen) immer häufiger, wie es anderen Gesellschaften gelingt, globale Herausforderungen und interne Krisen zu bewältigen, ohne eben den Zusammenhalt zu gefährden. Die Phase der Covid-19-Pandemie war ein Lehrbeispiel für solche wechselseitigen Beobachtungen. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Bürger und Grenzkontrollen für die Handelsunternehmen wurden ebenso auf ihre Zweckmäßigkeit geprüft wie die Durchsetzung einer Impfpflicht (soweit genügend Impfstoff zur Verfügung stand). Dabei ließ sich die Zweckmäßigkeit der Maßnahmen scheinbar einfach aus den Effekten auf die Infektionsbilanz ableiten, aber immer schwang die Sorge mit, an welchem Punkt die Grenze der Belastbarkeit des Zusammenhalts erreicht wäre. Das Angebot der Varianten war riesig und reichte von der strikten Abriegelung von Infektionsherden zum Schutz der nicht betroffenen Bevölkerung (etwa in China) bis zur Akzeptanz hoher Infektionsraten im Interesse einer möglichst schnell zu erreichenden »Durchseuchung« und darauf gegründeten erworbenen Immunität (ein oft mit Schweden assoziiertes Modell). In beiden Fällen wurde die Zumutbarkeit extremer Einschränkungen der Bewegungsfreiheit bzw. einer hohen Freizügigkeit um den Preis hochschnellender Infektionszahlen nicht nur in den jeweiligen Ländern bedacht, sondern auch in vielen anderen Ländern vergleichend diskutiert, um für die eigene Strategie Argumente zu generieren.

Zusammenhalt existiert also nicht nur in Varianten, die es kontrastiv zu vergleichen gilt, sondern seine Manifestationen werden von den Akteuren selbst verglichen und damit viel stärker miteinander verflochten als es diejenigen wahrhaben wollen, die auf eine strikte Unterscheidung unterschiedlicher Typen des Zusammenhalts drängen. Diese Verflechtungsgeschichte des Zusammenhalts wird im Übrigen noch akzentuiert durch die Mobilität der Menschen zwischen verschiedenen Gesellschaften. In dem Maße, wie der Anteil zugewanderter Menschen in den verschiedensten Gesellschaften steigt, wandern auch andere Erfahrungen mit der Historie von Zusammenhalt ein – sei es in Form von Praktiken der Gemeinschaftsorganisation, sei es in Form von Vorstellungen vom Gemeinwohl oder sei es in Form der Erinnerung an gelungenen Zusammenhalt in der Vergangenheit. Hieraus entfaltet sich ein ganzes Forschungsprogramm von Vergleichen und Verflechtungsanalysen, das langfristig angelegt ist und dessen Erfolg von der Zahl der einbezogenen Fälle abhängt. In der ersten Forschungsphase des FGZ war eines von drei Clustern dieser Analyse der Varianzen des Zusammenhalts gewidmet.

Wir sind dabei davon ausgegangen, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt auch deshalb zu einem vieldiskutierten Problem und zu einem vielfältig beschworenen Ideal künftiger Entwicklung wurde, weil etwaige Vorgängerbegriffe wie Gemeinschaft, Nation, Gesellschaft, Wohlfahrtsstaat, Solidarität, Multikulturalismus oder Sozialismus aus den unterschiedlichsten Gründen an Stellenwert verloren hatten. Wir sind von der Hypothese ausgegangen, dass sich dieser Wandel zwischen 1989 und 2015 vollzogen hat und zunächst einmal mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus in Ostmitteleuropa und der Sowjetunion sowie den karibischen und afrikanischen Ausläufern zu tun hatte, in dem der gesamte Instrumentenkasten einer Herstellung gesellschaftlichen Zusammenhalts, den die kommunistischen Parteien entwickelt hatten, entwertet wurde. Gleichzeitig setzte der Siegeszug einer neuen Leitkategorie ein, die eine noch nicht verbrauchte langfristige Zukunftsvision versprach: Globalisierung als Beschreibung der Situation nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, in der Wirtschaften noch enger zusammenrückten, Produktivitätsvorteile durch fortschreitende Arbeitsteilung (und die Erschließung neuer Arbeits- und Rohstoffmärkte) generiert würden und damit (jedenfalls mittel- bis langfristig) der allgemeine Wohlstand gehoben würde. Gesichert würde diese Idylle durch die Dominanz des liberalen Regierungsmodells, wie Francis Fukuyama in Aussicht stellte, während Samuel Huntington energisch widersprach und neue Konflikte voraussagte.19 Nationalstaaten schienen eine untergehende Spezies zu sein, ihr Ende wurde rasch annonciert, ohne dass die Begeisterung über die Entdeckung grenzüberschreitender Verflechtungen bereits das Problem gelöst hätte, wie künftig demokratische Partizipation und Sicherung auch der sozial Schwächeren gegen Abstieg und Marginalisierung organisiert sein würden.

Die Globalisierungseuphorie der 1990er Jahre stieß zu Beginn der 2000er Jahre auf wachsenden Protest und Widerstand, zunächst von links,20 ehe der »Globalismus« zum Feindbild des Rechtspopulismus wurde. Die Konjunktur der Begrifflichkeit um den gesellschaftlichen Zusammenhalt verweist dabei auf das Scheitern einer liberalen Illusion, wonach sich die sozialen, kulturellen und ökonomischen Widersprüche innerhalb einer einzelnen Gesellschaft dadurch überwinden ließen, dass man sie ins Globale skaliert. Zwar erschien den Globalisierungsgewinnern (zu denen neben den Besitzenden und den Konsumenten im globalen Norden auch die neu entstehenden Mittelschichten im globalen Süden gehörten) der Mechanismus einer globalen Ausweitung des Spielfeldes durchaus attraktiv, aber eine größere Zahl von Menschen nahm die damit einhergehenden Krisen (die sich zunächst regional in den späteren 1990er Jahren in Lateinamerika und Osteuropa, später in einer umfassenden Wirtschafts- und Finanzkrise manifestierten) zum Anlass, die eigenen Chancen, dauerhaft auf der Sonnenseite anzukommen, neu (und skeptisch) zu kalkulieren.21 Angesichts dieser Abstiegsängste büßte das liberale Angebot viel von seiner Glaubwürdigkeit ein und parallel begann der Aufstieg einer populistischen Kritik, die auch in der Vergangenheit bereits mehrfach bereitgestanden hatte, um in der Wunde der nicht erfüllten liberalen Versprechen zu bohren.22

»Gesellschaftlicher Zusammenhalt« scheint das Gegengift zu bieten. Die Terminologie ist allerdings offen genug, um sich mit dem Rassismus und der Xenophobie des Rechtspopulismus einerseits und mit dem Streben nach Solidarität und demokratischer Mitwirkung andererseits verbinden zu lassen. Er dient der Ablehnung des Globalismus durch Le Pen, Wilders, Orbán und Putin, aber er dient auch der Präsentation Chinas als Garant des globalen Freihandels durch Xi Jinping. Er motiviert viele Menschen für Ehrenamt und solidarische Entwicklungshilfe und er dient der Begründung von harten Maßnahmen gegen Geflüchtete und Asylsuchende. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist offensichtlich ein schillernder Begriff, und je größer wir den Kreis der internationalen Vergleiche schlagen, desto verwirrender wird die Vielfalt der Varianten.

Das Unbehagen an der Komplexität des Gegenstandes kann aber selbstverständlich kein Motiv sein, die Varianzen des Begriffsverständnisses in Vergangenheit und Gegenwart zu ignorieren. Vielmehr gebietet die Größe der Aufgabe zwar Demut gegenüber voreiligen Verallgemeinerungen, aber zugleich gilt es eben die Aufgabe anzunehmen und damit auch einen Beitrag zur Einordnung der deutschen Debatten um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den internationalen Rahmen zu leisten.

Dieser Band ist eine erste Frucht dieses Bemühens. Das Cluster 3 hatte innerhalb des FGZ zum Ziel, die skizzierte Varianz der Verständnisse von gesellschaftlichem Zusammenhalt in den Mittelpunkt der Untersuchungen zu stellen, denn es erschien von Anfang an unplausibel, dass überall auf der Welt nach dem gleichen Rezept gesellschaftlicher Zusammenhalt hergestellt oder seiner Auflösung entgegengetreten würde.

Dies ist nicht nur wenig plausibel, weil die Herausforderungen ganz unterschiedliche sind, sondern auch, weil verschiedene Denk- und Politiktraditionen mobilisiert werden, um Funktionsäquivalente zu dem herzustellen, was der Begriff heutzutage beschreiben soll. Das wiederum lenkt die Aufmerksamkeit auf die historischen Voraussetzungen, unter denen von gesellschaftlichem Zusammenhalt gesprochen wird. Selbst für einen engen Testfall wie den Deutschen Bundestag hatte Cord Schmelzle konstatiert, dass 2018 der gesellschaftliche Zusammenhalt zwar konkurrierende Vokabeln überflügelt, aber keineswegs ausgelöscht hatte: Er wurde insgesamt 403-mal in Bundestagsreden erwähnt, während »Gerechtigkeit« (250), »Integration« (354), »Solidarität« (275) und »Wohlstand« (320) zwar dahinter lagen, aber nicht verschwunden waren.23

Deshalb beginnt dieser Band auch mit einer historischen Analyse der Selbstbeobachtungen der deutschen Gesellschaft. Dirk van Laak berichtet von zahlreichen historischen Situationen, in denen sich allzu homogene Vorstellungen von sozialem Zusammenhalt durch Ungleichheit, Diversität, externe Einflüsse und Herausforderungen als nicht mehr haltbar erwiesen. Die Reaktionen darauf sind häufig sprunghafte Verstärkungen der Ablehnung des Herausfordernden. Die deutsche Geschichte kennt reichlich Beispiele für Ausbrüche von Fremdenhass, Antisemitismus und Rassismus, die einhergingen mit Ängsten vor Abstieg aus scheinbar gesicherten Positionen und mit heftig artikulierten Ansprüchen auf ein größeres Stück vom Ressourcenkuchen. Die Bilanz bei van Laak bleibt allerdings mit Blick auf die Bundesrepublik eher verhalten positiv, denn der historische Rückblick zeigt, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt immer wieder neu ausgehandelt wird, niemals der gleiche bleibt und in diesen Transformationen Lernprozesse ablaufen, die das vordem kaum für aushaltbar gehaltene Heterogene dann doch ertragbar erscheinen lassen. Gerade die Krisen des Zusammenhalts sind insofern Momente, in denen sich entscheidet, wie der Zusammenhalt in Zukunft aussehen wird. Ganz von selbst, so lehrt uns van Laaks Blick in den Rückspiegel, geht es allerdings nicht, sondern es braucht Stichwortgeber, die die neuen Erfahrungen in kurzen Sätzen aufbereiten, so etwa Altbundespräsident Wulff mit der Feststellung, der Islam gehöre zu Deutschland, oder Angela Merkels berühmtes »Wir schaffen das!«, mit dem der Mut angesprochen werden sollte, das Unausweichliche auch anzupacken. Der durchaus umstrittene Slogan legt zugleich offen, dass in pluralen Gesellschaften (und welche moderne Gesellschaft wäre das nicht) Uneinigkeit über den einzuschlagenden Weg das Grundprinzip ist. Diese Uneinigkeit wegzuwünschen, kommt einem Aufruf zur Selbstverstümmelung gleich, weil nur die Auseinandersetzung über den besseren Weg sicherstellt, dass zunächst einmal alle Optionen auf den Tisch kommen. Wie gut Regierungen dann damit umgehen können, dass ihnen auch nach getroffener Entscheidung vorgehalten wird, möglicherweise einen weniger günstigen Weg eingeschlagen zu haben, ist eine andere Frage. Aber auch hier bedeutet das Bekenntnis zu einer Streitkultur (ob nun explizit über eine differenzierte Medienlandschaft oder hinter den verschlossenen Türen eines geheim tagenden Politbüros) zunächst nichts weiter als die Einsicht, dass der Zusammenhalt nicht der Suche nach der besseren Lösung für eine Herausforderung geopfert werden sollte.

Dirk van Laak macht in seinem historischen Vergleich noch auf ein zweites Problem aufmerksam. Damit Zusammenhalt über die immer weiter wachsende Vielfalt moderner Gesellschaften diskursiv organisiert werden kann, bedarf es einer Komplexitätsreduktion. Aus der intellektuellen Produktion vor allem soziologischer Gesellschaftsbeobachtung ergibt sich ein breites Angebot mehr oder minder überzeugender »Sozialfiguren«, die im Gelingensfalle zum Ausgangspunkt für umfassendere Gesellschaftsnarrative werden, in denen es um das Schicksal dieser Sozialfiguren geht. Sie sind weder »konkrete Individuen noch […] fiktionale Gestalten, sondern figurative Darstellungen, in denen grundlegende gesellschaftliche Erfahrungen der betreffenden Zeit verdichtet sind.«24 Warum bestimmte dieser Sozialfiguren breite Resonanz finden und wie sie mit den Narrativen, die soziale Bewegungen und politische Organisationen für die Bindung ihrer Anhängerschaft entwerfen, korrespondieren, bleibt weiter zu erforschen. Aber es zeigen sich auch Kontinuitäten, die die liberalen Gesellschaften seit langem begleiten. Die Idee vom »menu peuple«, wie dies während der Französischen Revolution genannt wurde, von den »kleinen Leuten« oder dem »einfachen Volk« oder von den »nowheres« ohne Erfolgsaussichten in den globalen Kontexten der Gegenwart, spielen unter diesen Sozialfiguren insofern eine besondere Rolle, als ihnen beinahe unhinterfragt eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Zusammenhalt zufällt. Verbindet sich ihre Beschreibung mit einem prekären Status, mit Einkommens- oder Anerkennungsverlusten, kippt ihre scheinbar zentrale Rolle in die des verratenen oder betrogenen Volkes, die dem Populismus seit jeher seinen Nährboden liefert.25

Der historische Rückblick belegt nachdrücklich die Vielfalt der Formen, die gesellschaftlicher Zusammenhalt annehmen kann, er zeigt die konkreten Momente, in denen dieser Zusammenhalt auf den Prüfstand gebracht wird, weil Neues ihn herausfordert (sei es Zuwanderung, Jugendrevolte oder politischer Protest), und er zeigt die Unterschiedlichkeit der Begriffe, die für seine Beschreibung genutzt wurden. Er steht faktisch ständig unter Beobachtung und wird in den verschiedensten Konstellationen gesellschaftlicher Selbstanalyse (durch Journalisten, Künstler, Akademiker) mit Hilfe illustrierender Anekdoten oder faktenschwerer Statistik thematisiert. Das aktuelle Interesse am gesellschaftlichen Zusammenhalt ist nur die Fortsetzung einer langen Geschichte sozialer Selbstproblematisierung, und es könnte bereits erheblich zur Entspannung gegenwärtiger Sorgen um den Zusammenhalt beitragen, sich diese Geschichte bewusst zu machen.

Ebenfalls aus der Perspektive einer Begriffsgeschichte wenden sich Barbara Lüthi, Maren Möhring und Christiane Reinecke einem zentralen Problem des Zusammenhalts zu, nämlich der Integration Zugewanderter. Der Vergleich der höchst diversen Integrationsstrategien in Frankreich, in der Schweiz und der Bundesrepublik zeigt ein intensiv umkämpftes semantisches Feld. Die Autorinnen diskutieren die Beziehung zwischen »Assimilation« und »Integration« für Gesellschaften, die sich sehr lange als ethnisch-kulturell homogen ansahen, und solche, die aus ihrer Unterschiedlichkeit im Sinne eines »melting pot« kein Hehl machten. Dabei war auch den USA ein schockierend exklusionistischer Rassismus bekanntlich nicht fremd, aber gegenüber erwünschter Immigration erwies sich die nordamerikanische Gesellschaft als integrationsbereit. Demgegenüber trug in den europäischen Beispielen der Integrationsbegriff noch relativ lange Spuren des Assimilationsparadigmas, wurde prioritär die Einordnung in eine sogenannte Aufnahmegesellschaft gefordert. Dem stellen sich Positionen entgegen, die Integration als einen Aushandlungsprozess um Partizipationsmöglichkeit verstehen und beobachten, dass diese Perspektive zuletzt an Gewicht gewonnen hat, weil sich die Kräfteverhältnisse ändern: die Zahl der Zugewanderten ist größer geworden, sie fordern selbstbewusster Mitgestaltungsmöglichkeiten ein, und eine alternde Gesellschaft mit zunehmend beklagtem Fachkräftemangel ist auf Zuwanderung angewiesen. Dabei unterscheiden sich die Integrationspfade historisch erheblich: im Fall der Bundesrepublik spielten die sogenannten Vertriebenen (die in der DDR als Umsiedler schon rasch zu ehemaligen Übersiedlern wurden) eine wichtige Rolle für eine grundsätzlich positive Konnotation von Integration in den 1950er und 1960er Jahren, die sich leicht mit dem Narrativ von Wohlstand und sozialen Aufstieg verbinden ließ. Die folgende Periode einer Anwerbung und Zuwanderung von sogenannten Gastarbeitern war verbunden mit der Erfahrung, dass Migration nicht einfach an- oder auszuschalten sei und dass gelingende Integration auch der Schaffung politischer Voraussetzungen bedurfte. In der Schweiz dagegen blieb lange die Angst vor sogenannter Überfremdung und die Weigerung vorherrschend, das Land als Einwanderungsland anzusehen. Frankreich wiederum zeichnete sich durch eine lange Immigrationsgeschichte und eine entsprechend lange Debatte um Assimilation und Integration aus, beharrte aber auf dem republikanischen Citoyen-Konzept, in dem Rassen- und ethnische Zugehörigkeit keine Rolle spielen sollten. Damit war der Weg zu einem Modell des stark community-orientierten Multikulturalismus, wie Großbritannien ihn ausprobiert hatte, verstellt, auch wenn die Realität vor allem der Pariser Vorstädte genau eine solche Ghettoisierung nach Herkunftskriterien sichtbar werden ließ.

Der Vergleich zeigt, dass unter »Integration« sehr unterschiedliche Dinge verstanden und sehr unterschiedliche historische Erfahrungen mobilisiert werden, dass weder Eingliederung in eine homogen gedachte »Leitkultur« noch Multikulturalismus allgemein geteilte konzeptionelle Grundlagen für einen gelingenden Umgang mit Zuwanderung sind, sondern Europa eher wie ein Flickenteppich der Integrationsstrategien erscheint, in dem mit ganz verschiedenen Ansätzen experimentiert wird. Es nimmt angesichts dieser Tatsache kaum wunder, dass es so schwer ist, sich auf eine gemeinsame europäische Politik des Umgangs mit Migration zu einigen, denn jede Anpassung an eine Gemeinsamkeit fordert die migrationspolitische Säule des jeweils national gedachten gesellschaftlichen Zusammenhalts heraus.

Dies unterstreicht auch Therese Mager am französischen Beispiel, indem sie aufzeigt, dass dort cohésion sociale bereits zum Problem wurde, als die 30 glorreichen Jahre des Nachkriegsbooms zu Ende gegangen waren und damit die Umverteilungsmöglichkeiten des Wohlfahrtsstaates immer begrenzter erschienen. Interessanterweise war gerade die cohabitation zwischen Präsident Chirac und Premierminister Jospin 1998 erfolgreich mit einem Gesetz, das den sozialen Zusammenhalt mit einer ganzen Reihe von Mindestsicherungen wiederherstellen sollte. Im Kontext der Lissaboner Erklärung des Europäischen Rates aus dem Jahr 2000 schien sozialer Zusammenhalt im Wechselspiel mit einer wissensbasierten Wirtschaft und nachhaltigem Wachstum zu den zentralen Säulen eines europäischen Gesellschaftsmodells zu werden, das in Frankreich seine institutionelle Abbildung in ministerieller Verantwortung und interministerieller Koordination durch eine Generaldirektion für den sozialen Zusammenhalt erhielt, die sich um Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit kümmern sollten. Unter der Präsidentschaft Emmanuel Macrons verlor der Begriff dagegen – ganz gegen den Trend im Nachbarland – an Glanz und Gebrauchshäufigkeit. Dies scheint auf den ersten Blick der unter französischen Sozialwissenschaftlern kursierenden Interpretation zu widersprechen, wonach die Faszination für den Begriff sozialer Zusammenhalt mit tiefen Krisenerfahrungen und einem grassierenden Gefühl der Bedrohung des Erreichten einherginge. Gelbwestenproteste und der Aufstieg des Front National scheinen für eben jene Prekaritätsfurcht und Polarisierung zu stehen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Macron wandte sich allerdings von Chiracs paternalistischem Ansatz ab, bei dem der Staat die Hauptverantwortung trägt. Er konzentrierte sich wie sein Vorgänger Hollande stärker auf den Ausgleich zwischen Metropole und ländlichen Gebieten, vor allem aber verfolgte er die Vision einer sich selbst ermächtigenden Gesellschaft, die ihre globale Konkurrenzfähigkeit zurückgewinnt durch vielfältige Reformen. Der soziale Zusammenhalt ist dabei eher ein Beiprodukt und nicht der entscheidende Hebel. Die Zunahme der Proteste im Lande weisen allerdings darauf hin, dass das Bedürfnis nach Zusammenhalt als Verteilungsgerechtigkeit nicht nachgelassen hat.

Den Blick über den Atlantik unternimmt der Beitrag von Ursula Lehmkuhl, die sich mit Kanadas Multikulturalismus beschäftigt. Sie konstatiert das scheinbar paradoxe Zusammenspiel anhaltender massiver Ungleichheit und eines oftmals ins Vorbildhafte stilisierten gesellschaftlichen Zusammenhalts im Musterland des Multikulturalismus und rekonstruiert die Kontroversen, die sich seit den 1970er Jahren um dieses Konzept gerankt haben. Eine beinahe exzeptionelle Diversität, die mit der Geschichte des Siedlerkolonialismus, den zahlreichen europäischen, karibischen und asiatischen Zuwanderungswellen, aber auch der enormen Größe des Landes und seiner regionalen Vielfalt sowie schließlich mit dem Kampf der metis und der first nations um die Anerkennung ihrer Rechte zu tun hat, hat interessanterweise gerade zu einem starken Zugehörigkeitsgefühl geführt, das den Mosaikcharakter Kanadas als eine positive Eigenheit in den Vordergrund rückt. Dies wurde durch die radial-separatistischen Bestrebungen des Parti Québécois eher noch befeuert, weil es eben nicht zum Auseinanderbrechen des Landes infolge der durchaus beträchtlichen Polarisierung, sondern zu einem immer wieder neu auszubalancierenden Kompromiss des Bilingualismus führte, den Pierre Elliot Trudeau 1971 zu einem Konzept der Anerkennung aller Kulturen als Essenz der kanadischen Identität weiterentwickelte. Dieser Multikulturalismus stieß allerdings gerade im frankophonen Québec auf Widerstände, weil er eben nicht nur das Verhältnis von Mehrheiten und Minderheiten im gesamten Staatsgebiet, sondern auch in einzelnen Provinzen regelte. Gegen eine Politik der Reduzierung von Diskriminierungen erhoben sich immer stärker Stimmen, die weitere (oftmals nicht frankophone) Zuwanderung strikt ablehnten und immer wieder mit der Aussicht auf ein Referendum spielten, das den Multikulturalismus durch einen radikalen Separatismus ablösen sollte.

Lehmkuhl weist abschließend auf drei Punkte hin, die für die weitere Diskussion um Typen des gesellschaftlichen Zusammenhalts wichtig sind. Zunächst hat das Konzept des Multikulturalismus für einen längeren Zeitraum einen Rahmen gegeben, in dem sich die Dynamiken von Zuwanderung und Verhandlung der Rechte Indigener auffangen ließen. Die Diskussion hat zwar eine politische Polarisierung (bis hin zu expliziten Abspaltungsbemühungen in Québec) nicht völlig verhindern können, aber doch Schritt für Schritt eine Differenzierung des Konzepts und seiner politischen Konsequenzen mit sich gebracht, mithin Vertreter ganz unterschiedlicher Positionen in eine gemeinsame Debatte über die Grundlagen kanadischer Identität eingebunden. Dies wäre zweitens nicht möglich gewesen, wenn nicht gleichzeitig eine Politik des materiellen Ausgleichs und der erhöhten Chancen für die first nations zur Partizipation betrieben worden wäre. Als diese Dualität von Bemühungen um Verteilungsgerechtigkeit und kulturelle Anerkennung von Minderheiten schwächer wurde, verlor auch der Multikulturalismus viel von seiner Überzeugungskraft. Neben der Verteilungskapazität des Wohlfahrtsstaates zeigen drittens die soziologischen Untersuchungen der kanadischen Gegenwartsgesellschaft ein weiterhin hohes Maß an sozialer Aufwärtsmobilität, so dass Erwartungen an einen gelingenden Aufstieg mit der Erzählung vom für alle offenen gesellschaftlichen Zusammenhalt zusammenpassen.

Dies sieht im südlichen Afrika, von dem Constanze Blum in ihrem Beitrag berichtet, teilweise ganz anders aus. Hier ist der Begriff social cohesion neueren Datums und verbindet sich mit der Enttäuschung über die gescheiterten Hoffnungen der 1990er Jahre, als sich die Region vom britischen Kolonialismus und dem Apartheidregime befreite. Auch hier hilft die Begriffsgeschichte weiter: social cohesion wird neuerdings genutzt, um Fragen zu diskutieren, die mit reconciliation und economic justice/freedom nur noch ungenügend artikuliert werden können. Von Simbabwe über Namibia bis Südafrika verliert die Idee der nationalen Wiederversöhnung als Grundlage des Zusammenhalts an Attraktivität, weil sich die Einsicht Bahn bricht, dass »reconciliation was not a moral project, but an elite project«, wie die Autorin aus einem der von ihr in Windhoek geführten Interviews zitiert. Damit gewinnt seit den 2010er Jahren social cohesion als neue Forderung an Gewicht, begonnen mit statistischen Untersuchungen zum Zustand des Zusammenhalts und seiner Grundlage, einer gerechten Verteilung der Ressourcen. Die Diskussion um gesellschaftlichen Zusammenhalt dient also zuerst einmal der Selbstaufklärung über die inzwischen erreichte Transformation. Als die beiden zentralen Gefahren werden die himmelschreiende Ungleichheit (einschließlich der sie begünstigenden und den Staat schwächenden Korruption) und eine daraus entspringende Gewaltbereitschaft im Inneren der Gesellschaften angesehen.

Für eine Globalgeschichte des gesellschaftlichen Zusammenhaltes zu beachten ist allerdings nicht nur die Verknüpfung der aus westlicher Soziologie übernommenen Kategorie social cohesion, sondern auch der Verweis auf die Kosmologie des Miteinander (Ubuntu). Damit soll der spezifisch afrikanische oder südafrikanische (der Begriff stammt aus der Zulu- und Xhosa-Sprache) Charakter dieser Anerkennung wechselseitiger Kokonstituierung betont werden. Es mag offenbleiben, ob die Verschränkung mit einem kulturindustriellen Mechanismus wie den Ubuntu Awards dazu beiträgt, eben diesen afrikanischen Charakter in der imaginierten Unbeflecktheit zu erhalten, aber entscheidend ist das Bemühen, bei allen in Peer Review-Verfahren beglaubigten Messungen des Zusammenhalts dessen Universalismus zurückzudrängen und auf lokale und regionale Wurzeln eines je eigenen Verständnisses hinzuweisen. Dies korrespondiert mit dem postkolonialen Anspruch, für globale Probleme partikulare Lösungen zu entwickeln und diese so ins Gespräch zu bringen, dass keine von vornherein Priorität beanspruchen kann.

Constanze Blum macht darauf aufmerksam, dass dieses Streben nach postkolonialer intellektueller Unabhängigkeit eine regionale Verständigung über Ländergrenzen erleichtert, sich aber sozial auch den neu entstandenen Mittelschichten im südlichen Afrika zuordnen lässt – mit symbolischen Orten wie den Pfingstkirchen und Einkaufszentren.

Noch stärker als das südliche Afrika nach der Apartheid ist das China seit Deng Xiaoping vom Aufstieg einer neuen Mittelschicht gekennzeichnet. So erstaunt es nicht, auch hier eine Debatte zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zu finden, von der Man Zhang berichtet. Allerdings legt sie den Schwerpunkt auf eine von der Kommunistischen Partei mobilisierte Theorietradition des Maoismus, die sie als Staatspopulismus kennzeichnet. Die KP hält sich zugute, eine langwährende Zersplitterung der chinesischen Gesellschaft überwunden und ein nation-building in Gang gesetzt zu haben, das zur Voraussetzung für die heutigen ökonomischen Erfolge geworden sei. Gesellschaftlicher Zusammenhalt als Realisierung chinesischer Ideale der Gerechtigkeit und der gemeinsamen Interessen habe seine Realisierung gefunden, weil die Partei sich immer wieder an den Bedürfnissen der breiten (zunächst bäuerlichen) Massen orientiert habe und nicht (wie der Leninismus in der Sowjetunion) eine Avantgarde-Position beansprucht habe. Indem sie der sogenannten »Massenlinie« folgte, habe die Partei die angeborene Weisheit und Kraft des Volkes aufgegriffen und umgesetzt. Dies rechtfertigte immer wieder voluntaristische Eingriffe in die Wirtschaftsentwicklung (wie den »Großen Sprung« mit seinen desaströsen Folgen) und ein Zurückdrängen von Bürokratie und Rechtsnormen. Dies wurde durch die Reformen in den 1980er und 1990er Jahren konterkariert, und der Aufschwung der Marktwirtschaft ging einher mit einer Ausweitung berechenbarer Rechtsverhältnisse. Seit 2006 propagierte die KP allerdings mit dem Slogan der »Harmonischen Welt« wiederum einen populistischen Politikstil, der die Proteste gegen die wachsende Ungleichheit eindämmen sollte. Spätestens ab 2012 schloss sich Xi Jinping dem zunächst von seinem Konkurrenten Bo Xilai propagierten Staatspopulismus an und verband ihn immer konsequenter mit einem aggressiven xenophoben Sinonationalismus. Allerdings blieb er dabei deutlich misstrauischer als einst Mao gegenüber einer Entfesselung des Massenprotests und hegt den zurückgekehrten Populismus in dieser entscheidenden Frage ein.

Paolo Zucconi schlägt die Brücke zurück nach Europa und untersucht die Attraktivität des Putinschen Russland für die Staaten Ostmitteleuropas. Die Visegrád-Gruppe hat zwar seit ihrer Gründung 1991 nie zu einer wirklich kohärenten gemeinsamen Außenpolitik gefunden, aber der Zusammenschluss von Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen bildete zunächst einen losen Verbund zur Bewältigung der spezifischen Probleme der EU-Erweiterung, bevor er vor allem entlang der Achse Warschau-Budapest langsam zu einem Kraftzentrum des Populismus innerhalb der EU wurde. Dabei wirkte wiederum die Migrationskrise von 2015 als Beschleuniger. Allerdings erwiesen sich die völlig unterschiedlichen Positionen gegenüber Russland als schweres Hindernis für die Formulierung einer gemeinsamen Haltung, auch wenn man sich in der Ablehnung westeuropäischer Vorschläge zum Umgang mit den Geflüchteten einig war. Diese Widersprüchlichkeit hat es verhindert, dass der Aufstieg eines spezifisch ostmitteleuropäischen Populismus die EU gesprengt bzw. in die Handlungsunfähigkeit getrieben hat und eine (mehr oder minder) geschlossene Unterstützung der Ukraine nach dem Angriffskrieg unmöglich geworden wäre. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Rücksichtnahme auf fortbestehende Energieabhängigkeiten nicht nur in Ungarn, sondern jüngst auch in der Slowakei zur Vorsicht gegenüber russischen Interessen führte, wie Zucconi aufzeigen kann.

Der zweite Teil der Beiträge analysiert den Aufstieg von Rechtspopulismus und die verschiedenen Erscheinungsformen der Polarisierung in der deutschen Gesellschaft mit Blick auf globale Herausforderungen, die in Form von Zuwanderung und Intensivierung der kulturellen Kontakte in transnationalen Bewegungen direkt in die Gesellschaft hineinwirken und als solche thematisiert werden (wie etwa der Klimawandel, geopolitische Konflikte und steigende Migrationszahlen).

Alexander Yendell und Gert Pickel zeigen auf, wie antimuslimische Einstellungen von Rechtspopulisten genutzt werden, um globale Trends in eine Opposition zu den Interessen von »Volk« und »Nation« zu bringen. Sie fragen danach, in welchem Umfang antimuslimische Einstellungen zu Wahlentscheidungen für rechtspopulistische Parteien führen und prüfen die Hypothese, dass es kulturelle Bedrohungen (und nicht in erster Linie materielle Benachteiligungen) sind, die breite Unterstützung des Rechtspopulismus mobilisieren. Muslimische Migranten und Migrantinnen triggern einen Antiislamismus, den sich rechtspopulistische Parteien zunutze machen. Das herangezogene Datenmaterial erlaubt zunächst nur die Prüfung der Hypothese für den europäischen Raum, eine genauere Analyse erfolgt für die Bundesrepublik und kommt zu dem Schluss, dass es eine direkte Korrelation zwischen antimuslimischen und antiislamischen Einstellungen und der Wahl der Alternative für Deutschland gibt. Andere Faktoren treten dagegen stark in den Hintergrund. Dieses Einstellungsset korreliert wiederum mit der Bereitschaft zu Ausländerfeindlichkeit und einer Einschränkung demokratischer Pluralität, zugleich aber mit einer sehr kritischen Haltung gegenüber den existierenden demokratischen Institutionen. Damit lässt sich ein Modell des Zusammenhalts, das Ethnonationalismus und eine Verankerung Deutschlands in einem imaginiert bedrohten (christlichen) Abendland propagiert, mit einem pluralistisch gedachten demokratischen Zusammenhaltsmodell kontrastieren. Dieser Befund für die Bundesrepublik wird anschließend für 17 europäische Länder getestet, und für elf der 17 Länder lässt sich die ermittelte Korrelation zwischen Islamophobie und Wahlentscheidung für rechtspopulistische Parteien nachvollziehen. Jenseits einer ganzen Reihe von regionalen Variationen konstatieren die Autoren für den gesamten europäischen Raum, dass antimuslimische Einstellungen einer pluralen Demokratie, die sich vom Ethnonationalismus entfernt, entgegenstehen. Die rechtspopulistische Verschwörungserzählung vom »Großen Austausch« mobilisiert offenkundig erfolgreich gegen die demokratischen Institutionen und für einen produktiven Umgang mit Migration. Die völkische Begründung des Zusammenhalts, die Fremde und insbesondere Muslime konsequent ausschließen will, ist in einem Teil der europäischen Bevölkerung fest verankert und in einigen Gesellschaften des östlichen Mitteleuropa soweit common sense, dass sie zu Mehrheitsentscheidungen bei Wahlen für Rechtspopulisten führt.

Diese völkische Sicht auf einen Zusammenhalt ist selbstverständlich nicht ohne Geschichte. Deshalb gehen Leon Walter, Jonas Rees und Michael Papendick der Frage nach, wie in einer Post-Migrationsgesellschaft (als die sie die Bundesrepublik kennzeichnen) 2021 der Nationalsozialismus bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen erinnert wird. Dabei fokussieren sie auf Personen mit internationaler Familiengeschichte und prüfen in ihrer Befragung die Hypothese, dass diese Personen ein geringeres Interesse an der Beschäftigung mit dem NS hätten. Personen mit internationaler Geschichte halten die deutsche Bevölkerung in höherem Maße für verantwortlich für die NS-Verbrechen und vermuten, dass sie selbst eher auf der Opfer- als der Täterseite gestanden hätten. Sie zeigen sich auch leicht überdurchschnittlich interessiert an Geschichte. Allerdings zeigt sich auch, dass Menschen mit internationaler Herkunft sich seltener als Teil der deutschen Erinnerungskultur begreifen und auf die Frage nach dem wahrgenommenen Zusammenhalt auch deutlich zurückhaltender antworten. Dies geht einher mit benannten Defiziten, die von diesen Menschen in der deutschen Erinnerungskultur (häufig: im schulischen Geschichtsunterricht) wahrgenommen werden: eine gründlichere und kritischere Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte, eine gleichgewichtigere Behandlung anderer Weltregionen, Zeiträume und Konflikte neben dem Holocaust und der NS-Geschichte, Revolutionsgeschichte und Emanzipationsbewegungen sowie eine Geschichte des Rassismus. Vergleicht man diese Ergebnisse mit Studien zu anderen Ländern, dann lässt sich verallgemeinern, dass wachsende Immigration und zunehmende Identifizierung als Einwanderungsgesellschaft eine erhöhte Anforderung an Repräsentation der Geschichte der Zugewanderten im Schulunterricht mit sich bringen.26 Im Unterschied zu den USA, die durch heftige History Wars gekennzeichnet waren,27 blieb die Auseinandersetzung um das Geschichts-Curriculum in Deutschland bis vor Kurzem vergleichsweise unterkühlt und lief auf die Frage hinaus, inwieweit sich Zuwanderer in die deutsche Leitkultur und die daraus abgeleiteten Schwerpunkte des Geschichtsunterrichts einfügten. Erst die jüngsten Debatten um den Antisemitismus in der Kritik am Vorgehen der israelischen Armee im Gaza-Streifen nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 hat die größtenteils unter der Oberfläche liegenden Konflikte offensichtlich gemacht und zu einer neuen Dimension von Polarisierung geführt.

Eine andere, aber nicht minder wirksame Ebene der Polarisierung, in der rechtspopulistische Bewegungen sich die Mobilisierung einer wachsenden Zustimmung erhoffen, betrifft die Debatte um notwendige Maßnahmen gegen den Klimawandel. Der Beitrag von Christoph Richter, Janine Patz, Noah Marschner und Axel Salheiser geht zunächst dem Naturverständnis völkischer Ideologien nach und sieht ihn im direkten Gegensatz zur wachsenden Aufmerksamkeit für globale Klimagerechtigkeit. In den letzten Jahren ist es zu einer Verbindung von ethnonationalistischen Vorstellungen von Naturschutz als Heimatschutz (die aus der Metaphorisierung der »invasiven Arten« die scharfe Ablehnung von Immigration ableiten) mit dem libertären Kampf gegen staatliche Interventionen28 gekommen, die zwar zahlreiche Paradoxien und Widersprüche hervortreibt, aber trotzdem an Attraktivität gewinnt.29 Als Gemeinsamkeit findet sich die Suche nach einem gesellschaftlichen Zusammenhalt, der sich den Zumutungen einer pluralen und partizipativen Weltgesellschaft entziehen und sich gegen sie abschotten will.

Wie die Verbreitung und Akzeptanz von rassistischen, xenophoben, demokratiekritischen und klimaschutzregressiven Positionen mit dem Strukturwandel der klassischen Massenmedien zusammenhängen, erörtern Johannes Gemkow und Sonja Ganguin und setzen sich mit der in der Kommunikationswissenschaft dominierenden Annahme auseinander, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt und die integrative Wirkung der Massenmedien unmittelbar miteinander zusammenhängen. In den fortlaufenden, durch die Digitalisierung zuletzt akzelerierten Wandlungsprozessen der Öffentlichkeit ändert sich offensichtlich die Rolle von Medien immer wieder neu und dabei durchaus grundlegend. Aktuell ergeben sich sowohl neue Möglichkeiten zur Verbreitung und Rezeption antidemokratischer Inhalte als auch Chancen der Neukonstituierung von demokratischer Öffentlichkeit. Dagegen richtet der Beitrag von Astrid Lorenz, Luisa Pischtschan, Katharina Kolb und Thomas Lenk, der das Verfassungsziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse anhand von Einschätzungen durch Kommunalpolitiker und -politikerinnen sowie in Gruppendiskussionen mit Bürgerinnen und Bürgern untersucht, den Blick zurück auf die materiellen (und infrastrukturellen) Voraussetzungen von Zusammenhalt. Regionalpolitik, die der Vermeidung von Vernachlässigungen und der Umverteilung von Ressourcen dient, gewinnt sowohl innerhalb der Bundesrepublik als auch in der Europäischen Union an Bedeutung – bis zu dem Punkt, dass wohlhabendere Regionen die Grenze ihrer Belastbarkeit deklarieren und gegen die Redistributionsmechanismen vorgehen. Dabei ist die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nur bedingt messbar und stark abhängig von subjektiven Perzeptionen und den diesen zugrundeliegenden Vergleichsparametern. Unter den Ergebnissen der Studie fällt auf, dass weder Unterschiede zwischen Stadt und Land noch zwischen Entscheidungsträgern und Bürgern besonders hervorragen, dagegen die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland weiterhin auffällig sind und vor allem in einem Narrativ des Abgehängtseins und Hinweisen auf ungleiche Lohn- und Rentenniveaus kulminieren. Dass dabei auch Fremdzuschreibungen eine große Rolle spielen – so berichtet ein Diskussionsteilnehmer davon, so lange nach dem Abgehängtsein gefragt worden zu sein, bis er sich nach beträchtlichem rhetorischem Widerstand endlich darauf einließ, es »zuzugeben« –, schließt den Bogen zu den Überlegungen im vorherigen Beitrag über die Rolle von Medien.

Das Projekt »Geschlechterdemokratie im Erzgebirge« akzentuiert noch einmal die Unterscheidung in plural-demokratischen und repressiven Zusammenhalt mit der Frage nach der Bedeutung von Antifeminismus. Henriette Rodemerk, Tabea Falk, Charlotte Höcker, Johanna Niendorf und Oliver Decker gehen in einer Reihe von Gruppendiskussionen den berichteten und wahrgenommenen Geschlechterverhältnissen in einer ostdeutschen Region nach, die sich einerseits durch eine hohe Identifikation der Bewohner mit dem Raum als Heimat und Ort eines besonderen Zusammenhalts und andererseits durch eine hohe Präsenz demokratiekritischer und antidemokratischer Positionen (und für manche als »Experimentierfeld der extremen Rechten«30) kennzeichnen lässt. Ein vergleichsweise hoher Prozentsatz an Zugehörigkeit zu (meist protestantischen) Glaubensgemeinschaften (ca. 40 Prozent gegenüber 20 Prozent in Sachsen insgesamt) und ein deutlich überproportionaler Anteil evangelikaler Positionen lassen sich in Verbindung bringen mit antifeministischen Einstellungen, vor allem gegenüber der Legalität von Schwangerschaftsabbrüchen, aber auch gegenüber Homosexualität. Ein Vergleich mit anderen Regionen in Deutschland und im Ausland, die als bible belt Berühmtheit erlangt haben, erfolgt jedoch nicht – den Akteuren sind transnationale und transregionale Bezüge31 oder auch eine Historisierung der eigenen Transformationserfahrungen offensichtlich weniger wichtig als ein quasi essentialisierendes Beharren auf erzgebirgischen Besonderheiten. Die Autorinnen schlussfolgern auf eine »repressive Harmonie« und einen »repressiven Zusammenhalt« als Gegenentwurf zu einer pluralen, »modernen« Demokratie.

Unseren Band beschließt eine Videoanalyse sozialer Situationen in öffentlichen und privaten Räumen, um aufzudecken, in welchem Maße und in welcher Form etwas beobachtet werden kann, was Christian Meier zu Verl, Christian Meyer und Hanna Grauert als »Hermeneutik des Verdachts« bezeichnen und als Ausdruck von Alteritätskonstruktionen charakterisieren, der dem Zusammenhalt in einer postmigrantischen Gesellschaft gefährlich werden kann. Da sich die Gesellschaft durch Zuwanderung verändert, wird eine Zusammenhaltsvorstellung, die Homogenität zur Grundlage hat, zunehmend dysfunktional, während der Umgang mit Alterität erlernt und in das Selbstbild der Gesellschaft aufgenommen werden muss. Für Diskriminierung und Rassismus sollte in einem solchen, von der fortschreitenden Pluralisierung der Gesellschaft ausgehenden Konzept von gesellschaftlichem Zusammenhalt möglichst geringer Raum bestehen. Diese normative Leitvorstellung gilt es allerdings mit den Beobachtungen von sogenanntem Alltagsrassismus abzugleichen, um die Wegstrecke ermessen zu können, die zwischen Ideal und Wirklichkeit noch zurückzulegen ist. Eine auf Videoaufnahmen gestützte ethnographische Untersuchung hilft dabei, die flüchtigen Praktiken festzuhalten und damit ins Bewusstsein auch derer zu rücken, die die Teilnahme an solchen Praktiken weit von sich weisen. Alterisierung wird als eine Form der exkludierenden Herstellung von Zusammenhalt sichtbar, und zugleich wird eine bestimmte Form von Zusammenhalt den als Fremde markierten Personen normativ entgegengehalten. So zeigt auch diese Untersuchung eine bereits innerhalb der deutschen Gesellschaft vielfach anzutreffende Varianz von Zusammenhaltskonzepten und -praktiken, die nicht mit der Suche nach »dem« einen sozialen Zusammenhalt in der Bundesrepublik zusammenpasst.

Diese Varianz steigert sich, wenn wir den geographischen Bogen größer schlagen und wenn wir historisch weiter zurückblicken. Aber sie steigt nicht in eine beliebige Zahl von Varianten, sondern es lassen sich Muster herausarbeiten, nach denen Individuen, Milieus, Bewegungen, Eliten und »einfache Leute« den für sie jeweils relevanten Zusammenhalt imaginieren und proaktiv herzustellen versuchen. Diese Muster ergeben sich daraus, dass Gesellschaften auf die gleichen globalen Herausforderungen reagieren (wenn sie von ihnen auch unterschiedlich betroffen sind und über unterschiedliche Ressourcen verfügen, mit diesen Herausforderungen umzugehen). Sie ergeben sich aber auch daraus, dass die Reaktionen auf globale Herausforderungen nicht isoliert voneinander stattfinden, sondern eine intensive wechselseitige Beobachtung von Akteuren stattfindet, welche Strategien erfolgversprechend sind und in Reichweite der eigenen Handlungsmöglichkeiten liegen. Aus diesem Beobachten und Lernen ergibt sich eine Dynamik, die die Lösungen von gestern heute weiter attraktiv erscheinen lässt oder als nicht mehr zeitgemäß.

Es treffen also innerhalb einer Gesellschaft verschiedene Konzepte von Zusammenhalt aufeinander, die wiederum von Mustern beeinflusst sind, die in anderen Gesellschaften parallel erprobt werden oder früher als aussichtsreich erschienen. Angesichts der großen Fülle empirischer Befunde und der nicht unbeträchtlichen Geschwindigkeit des Wandels solcher Konzepte von Zusammenhalt ist noch enorme Forschungsarbeit zu leisten, bevor eine Globalgeschichte des Zusammenhalts mehr ist als eine Fülle von Fallstudien und normativ aufgeladenen Erwartungen.32 Wir sollten jedoch vor dieser Aufgabe nicht erschrecken, sondern vielmehr Inspiration aus der Debatte über den globalen Aufstieg populistischer Bewegungen und Regierungen33 ziehen, mit der der Begriff und das Problem des gesellschaftlichen Zusammenhalts so virulent geworden ist.

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Vom Zensus zur Zusammenhalts-Studie. Über Wandlungen der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung seit dem 19. Jahrhundert

Dirk van Laak

Abstract

Der Beitrag versucht, kursorisch und in zwei Fällen exemplarisch unterschiedliche Modi der gesellschaftlichen Selbstbefragung zu rekonstruieren. Diese Selbstbefragung wird als eine zur Organisation moderner Gesellschaften unerlässliche Aufgabe skizziert, die vor allem empirisch-statistische Methoden, später auch systematische Befragungen nutzte, um Verwaltungswissen zu den Verhältnissen und den Bedürfnissen der Bürger:innen zu generieren. Dies diente zur Vermessung der jeweiligen Verfasstheit einer Gesellschaft, wobei sich eine spezifische Spannung zwischen den säkularen Tendenzen zu einer Individualisierung bzw. Autonomisierung gegenüber einer Vergemeinschaftung zeigten. Wiederkehrende Motive dieser Erhebungen werden am Beispiel der Jugendforschung sowie der fortgesetzten Rede von den »kleinen Leuten« diskutiert. Beide Diskurse waren von der Sorge geprägt, nachwachsende oder vermeintlich an die soziale Peripherie geratende Schichten der Gesellschaft zu »verlieren« bzw. deren Haltungen als potentielle Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu identifizieren. In der Rückschau erweist sich die starke Kontextabhängigkeit einer Interpretation der jeweiligen Ergebnisse unterschiedlicher Selbstbeobachtungen und wird schließlich die Forderung vertreten, stärker auf Vorgeschichten, fortlaufende Motive und zeitliche Abläufe zu achten, um Prozesse der Ausbalancierung zwischen Autonomisierung und Zusammenhalt einzuschätzen.

Keywords: Selbstbeobachtung; quantitative Sozialforschung; Demoskopie; Jugendforschung; kleine Leute

Moderne Gesellschaftsformen, die, zumal in ihren spätmodernen Varianten, einen weithin anonym bleibenden Bürger voraussetzen, benötigen eine rechtliche Verfasstheit, ein institutionelles Gerüst sowie möglichst umfassende Daten über die Bevölkerung, um Akte der ordnenden wie der leistenden Verwaltung zu vollziehen.34 Zeitgleich mit der Verbreiterung von politischer Souveränität und gesellschaftlicher Autonomie hat sich in Europa und den USA seit dem frühen 19. Jahrhundert, später dann auch in anderen Teilen der Welt, eine in ihrer politischen Entität zunehmende wachsende Gesellschaftsschicht herausgebildet, die sogenannte Mitte, die in ihrer Ordnung einzuschätzen für politisches Handeln immer wesentlicher geworden ist, weil gesellschaftliche Prozesse gesteuert, administriert und letztlich auch zusammengehalten werden müssen.

Dass ein »Zusammenhalt« notwendig sei, ist eine politische und soziale Grundannahme, die wiederum zu Prozessen der sozialen Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung geführt hat.35 Im 19. Jahrhundert waren diese zunächst von Vorstellungen einer kohärenten Kultur und Sprache, dann auch eines geschichtlich gewachsenen und möglichst homogenen Volkes wie auch einer wehrhaften Nation geprägt. Diese und andere kohäsive Ideologeme sind durch vornehmlich literarische, künstlerische, propagandistische und ritualisierte Bemühungen erzeugt und verstärkt worden.36

Zum nation building gehörte es, bei jedem Einzelnen so etwas wie Zugehörigkeit zu einer nationalen Einheit zu denken sowie die Bereitschaft, darin voll aufzugehen, vorauszusetzen, um Staatsbürger eines Landes, einer Volkswirtschaft, einer Kultur, möglichst auch einer Sprache sowie einer Kommunikationsgemeinschaft zu sein. Die damit erzeugten Kohäsionskräfte sind inzwischen ebenso gut erforscht wie die Verwerfungen dieser Bestrebungen, namentlich die Konstruktion von auswärtigen Feinden und die Marginalisierung von Minderheiten, die problematische Kontrolle und Abwehr von Migrationsprozessen oder die Bereitschaft zu »ethnischen Säuberungen«, die vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um sich griffen, um so etwas wie eine »völkische« Homogenität herzustellen.37 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser politischen Entwicklungen stehen Beschwörungen eines Zusammenhalts wie sie mitunter auch in den Schwüren zur »Nation« oder »Vaterlandsliebe« gefordert wurden, seither zurecht unter Verdacht.

Zu den ab dem frühen 19 Jahrhundert einsetzenden Prozessen von nation building