In Nordschweden gibt es Strecken, auf denen Touristen pro Stunde nur ein Auto
entgegenkommt. Selbst auf der fast schnurgeraden Europastraße 4 kann das Verkehrsaufkommen so gering sein. Anders vor Umeå, der Hauptstadt der Provinz Västerbotten, Kulturhauptstadt des Jahres 2014. Dort rauscht auf der großen Einfahrtstraße 363 für nordschwedische Verhältnisse erstaunlich viel Verkehr, weil die Stadt in den vergangenen Jahren stark
gewachsen ist. Nun ist diese Strecke aber schon lange vor der Stadt so eintönig, dass die Einwohner etwas dagegen unternehmen wollten. Sie bauten
Kunstwerke, stellten Skulpturen an der E4 auf. Die silbrige Außenhaut einer Kapelle beispielsweise weckt die Lebensgeister der Autofahrer
rechtzeitig vor der Fahrt über die Stadtgrenze auf. Innerhalb Schwedens gibt es solche Kunstwerke vor einer
Stadt sonst wohl nicht. Es ist also einzigartig. Fürs Aufwachen auf langen eintönigen Straßen sorgt sonst höchstens das auch am Tage eingeschaltete Frontlicht der Autos, witzeln manche
Schweden.
Der aus Einkaufs- und Fachmarktzentren bestehende Gürtel um die Stadt wirkt nicht attraktiv. Ebenso muss man im modern gestalteten
Zentrum interessante Viertel mit der Lupe suchen. Denn die funktionalistische
Denkweise in Beton-, Stahl- und Glasarchitektur führt zu einer entsetzlichen Eintönigkeit, die vor allem in den Städten Nordschwedens weit verbreitet ist. Die 1960er Jahre waren auch in Schweden
geprägt von Optimismus, Fortschrittsglauben, Wirtschaftswachstum und dadurch
steigendem Wohlstand.
Picknickkorb mit Leckereien
Aber es gibt auch schöne Seiten,wenn man die Stadt mit dem Fahrrad oder zu Fuß am Ume älv erkundet. Im Sommer tummeln sich hier tagsüber Familien und Studenten auf dem Rasen am Flussufer, dem im Zentrum besten
Platz. Beliebt ist es, sich aus einem nahen Café eine Decke mitzunehmen, dort auch einen Picknickkorb mit Leckereien zu kaufen,
sich auf dem Rasen zum Gespräch mit Freunden niederzulassen und Freiheit und Geselligkeit zu genießen. Neben einem, durch viele Blumen paradiesisch wirkenden, kleinen Park steht
die Kaffeebude eines Studentencafés. Kaffee, Kuchen und Eis genießend, kann man Studentinnen beim Sonnenbaden zuschauen, Väter entwenden den Kindern die Fernbedienung ihrer Motorboote und werden selbst
wieder Kinder. Selbst die Angestellten aus den städtischen Betrieben nehmen an diesem Sommerleben teil Sie speisen auf den
Sonnendecks der Restaurantboote, die auf dem Fluss schwimmen, den im nahen
Botten und in den Flüssen gefangenen Fisch. Umeå weist offiziell die meisten Sonnenstunden Schwedens auf.
So entspannt diese Szenen wirken, lange störte ein großer Parkplatz die Ruhe am Wasser. Entweder parkten dort Einheimische. Oder dort
versammelten sich Liebhaber amerikanischer Straßenkreuzer zur Classic-Car-Woche an einem Sommerwochenende und ließen die Motoren aufheulen.
Polierte Schlitten
Schweden lieben den American-Way-of-Life und rollen mit polierten Schlitten auch
heute noch wie in den Straßen von San Francisco durch die Innenstädte. Hier wirkt es noch belebend in den an Wochenenden und in der Urlaubszeit
oft menschenleeren nordschwedischen Stadtzentren. An solchen Tagen lockt es die
Nordschweden aus ihren oft einsam gelegenen Hütten und Ferienhäusern in den Wäldern und auf den Schären in die Stadt, um wie bei einem Straßenrennen Spalier zu bilden und begeistert zu applaudieren. Die Chance für eine schöne, natürlich wirkende, Uferpromenade als Freizeitraum für Bürger wurde lange vertan. Das wissen auch die Entscheidungsträger, die aus der Stadt ein Kraftzentrum Nordschwedens formen wollen, bis zum
Jahr 2050 soll die Stadt 200.000 Einwohner umfassen. Aktuell weist Umeå über 115.000 Einwohner auf, davon wohnen 76.000 im Stadtgebiet, die anderen im
Umland. Wenn man bedenkt, dass auf etwa zwei Drittel der Fläche Schwedens nur etwa 20 Prozent der schwedischen Gesamtbevölkerung lebt, ist Umeå eine herausragende Stadt in Nordschweden. Aber gilt dies auch in kultureller
Hinsicht? Die Lokalpresse sieht das nicht so, denn sie ist nicht so
gesellschaftskonform wie die deutsche. Sie verhält sich weit kritischer und macht sich darüber lustig, dass bis zum Jahre 2014 die Zeit wie in einer Sanduhr verrinnen
werde. Am Ende müsse man hier wohl Kulissen aufstellen, witzelte ein Autor der Zeitung „Västerbottens Kuriren“ schon im Sommer 2010. Wenn man sich heute den Bebauungsplan anschaut, der am
Ufer ein Kulturzentrum mit Bibliothek und frauenhistorischem Museum vorsieht,
ist man nicht weit gekommen.
Futuristisches Kulturzentrum
Der Neubau mit seiner futuristisch wirkenden Kulisse bietet zwar ästhetischen Genuss, wird es aber auch zur Entwicklung eines Lebensraums, in dem
Bürger in qualitativ anspruchsvollen Geschäften mit benachbarten lebendigen Werkstätten wie es zum Beispiel in Graz versucht wird, beitragen? Vielleicht ist es
auch der eher kühlen Art der Stadtbevölkerung zuzuschreiben, der man als Ortsfremder sehr häufig begegnet. Die Menschen auf dem Land sind da anders. Sie laden gerne zum
Kaffee oder Bier ein.
Vor drei Jahren haben umfangreiche Bauarbeiten begonnen. Sie umfassen das
Flussufer nahe dem Zentrum. Es soll nichts „Verstaubtes“ angeboten werden. Umeå ist eine junge Stadt, stark gewachsen seit 1945, da der schwedische Staat viel
Geld in den Aufbau von Bildungs-, Dienstleistungs- und Forschungsunternehmen
investiert hat: besonders in den Aufbau der Universität und des bedeutendsten Krankenhauses Nordschwedens. So sollen vor allem junge
Menschen motiviert werden, im Norden bei Familien und Freunden zu bleiben. Man
betont bewusst die moderne Kunst und Architektur, zumal Umeå nur wenig traditionelle Bauten hat. Die Holzstadt ist im Verlaufe ihrer
Geschichte mehrfach abgebrannt. Zuerst zerstört im nordischen Krieg mit Russland im 18. Jahrhundert, dann fand 1888, zu
Mittsommer, ein verheerender Stadtbrand statt; zu den wenigen Juwelen der alten
Holzarchitektur gehört das hübsche ehemalige Krankenhaus an der Birkenallee in Zentrumsnähe.
Für gut 72 Millionen Euro entstand am Ufer ein weißes dreistöckiges Gebäude, ein Kulturzentrum, das „Kulturäven“. Moderne Architektur, belebt durch eine aus wellenartig geschwungene Fassade,
an ein Kreuzfahrtschiff erinnerndes Gebäude, von dessen Heck aus der strömende Fluss zu sehen ist. Schafft es die erwarteten Illusionen, wenn die
Besucher auf jedem Stock an langen Fensterfassaden spazieren gehen? Es
beherbergt auf 15.000 Quadratmetern eine Bibliothek, Geschäfte, Kinos sowie Multifunktionsräume für Tanz, Musik und Theater. Solch eine Konstruktion entspricht den Bildungszielen
eines Wohlfahrtsstaates für den Kern des sozialen städtischen Lebens. Die gesellschaftlichen Gruppen vor Ort können sich dort treffen, aber auch informieren: Die Schweden gehen gerne und
regelmäßig in Bibliotheken. Selbst kleine Orte besitzen daher eine Bibliothek.
Renommierte Architekten
Neuester Clou: das erste frauenhistorische Museum Schwedens mit den Themen
Macht, Geschlecht, Widerstand und Kampf um die Gleichstellung wird im Herbst
2014 eröffnet. So ergibt sich die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit der Universität, die auf dem Gebiet der Frauenforschung innerhalb Schwedens führend ist. Nur so ist zu verstehen, dass das Museum mit 345.000 Euro für die Jahre 2014/15 vom Staat gefördert wird. In das Museum einbezogen werden auch die frauenhistorischen
Sammlungen der allerdings weit entfernten Universitätsbibliothek Göteborg. Dort lagert ein reicher Fundus an Filmen, Büchern, Zeitschriften, Fotos und historischen Quellen. Mit dieser Einrichtung zu
vergleichen sind nur das Frauenmuseum „Kvindemuseet“ im dänischen Aarhus und die englische Bibliothek „Women's Library London“.
Die Schöpfer des Kulturhauses sind auch in Deutschland bekannt: Es sind die Architektenbüros Norska Snöhetta aus Norwegen und White aus Schweden. White hat zum Beispiel in München die Mensa der TU München gestaltet, den neuen Bahnhof in Umeå Ost und Teile des vom Stadtteil Gammlia ans Flussufer verlegten Bildermuseums.
Norska Snöhetta ist in Deutschland durch den Entwurf der norwegischen Botschaft in Berlin
und der John-Cranko-Ballettschule in Stuttgart bekannt. Die Architekten wollen,
dass sich das Kulturhaus räumlich jederzeit neuen Situationen anpassen kann; daher werden dessen Räume bewusst so gebaut, dass sie leicht umzugestalten sind zum Beispiel für Forschung, Kreativität und Erleben.
Klar ist: Das Kulturhaus soll die Innenstadt beleben. Aber werden solche
Einrichtungen überhaupt von Einheimischen und Touristen genutzt? Ein Blick auf das Kulturhaus
der noch weiter nördlich liegenden Nachbarstadt Luleå zeigt, das es eine nur im Stadtkern ästhetisch und kulturell ansprechende Innenstadt schon beleben kann. Es kommen
viele Touristen aus dem In- und Ausland dort hin. Ihr Hauptinteresse ist es,
zur berühmten von historisch wertvollen Holzhäusern umgebenen Kirche zu pilgern, die zurecht den Rang eines Weltkulturerbes
innehat. Denn diese Häuser zeigen, wie die Gesellschaftsstruktur des Mittelalters aussah. Alt-Luleå ist seit dem Mittelalter kirchliches Zentrum des Raumes. Aber die
Kunstausstellungen des Kulturhauses bleiben weniger beachtet. Und abends ist
das Stadtzentrum leer. Nur noch ein paar Einheimische sitzen auf der Terrasse
einer Bar am Kulturhaus, von der aus sie Spaziergängern auf der hölzernen Uferpromenade zuschauen und den in die paradiesische Inselwelt fahrenden
Booten nachschauen. Ein ähnliches abendliches Szenario ist auch in Umeå nach der Zeit als Kulturhauptstadt zu erwarten.
Wenig gemütlich
Mehr aber nicht: Das Kulturzentrum wirkt eher wie ein Fremdkörper. Trotz erheblicher Investitionen findet man nicht einmal die Andeutung
einer gemütlichen Atmosphäre wie in Kopenhagens Stadtviertel Nyhavn oder Trondheims Zentrum um den
Nidaros-Dom und das Flussviertel mit den bunt leuchtenden Holzhäusern. Die Fußgängerzone im Zentrum Umeås könnte deutlich aufgewertet werden. Heute dient sie rein dem Konsum, nicht aber
der Kreativität. Zwar sorgen immerhin Straßenmusiker im Studentenalter am einzigen Platz, an dem man zum Zuhören sitzen kann, für Aufheiterung. Doch bieten sonst nur Cafés und Restaurants Sitzgelegenheiten an. Plätze zum Verweilen ohne Konsumzwang existieren nicht im Zentrum. An Geschäften dominieren nur solche minderer Qualität wie Handy-Geschäfte sowie Fast-Food-Restaurants und Pizzerien, obwohl die Geschäftsleute offiziell auf Erlebnis-Gastronomie setzen. Hier rächt es sich auch, dass man die großen Einkaufszentren an den Rand der Stadt gelegt hat, da man dort als Käufer günstigere Preise erwartet. Die Preise für Speisen sind, abgesehen von den viel zu früh gegen 18 Uhr schließenden Cafés, fast durchgehend astronomisch hoch wie leider oft in Skandinavien üblich. Das Durchschnittsalter in der Stadt liegt aber bei 38 Jahren; solche
Menschen wollen etwas erleben. Hier gibt es aber für gut 36.000 Studierende und die übrige Bevölkerung nur eine richtige Kneipe, den im englischen Stil eingerichteten Pub „Lottas Krog“ in der Nähe der städtischen Bibliothek, der allenfalls die Ansprüche nach einem gemütlichen Abend mit Bier und gutem Steak erfüllt. Wenn Sportveranstaltungen wie die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 mit Public Viewing anstehen, ist damit zu rechnen,
dass auch die im amerikanischen Stil errichtete Sportbar „All Star“ und das gegenüber liegende gute Restaurant Invito mit italienischer und norrländischer Küche gut besucht sind.
Larsen plante Bildermuseum
Da das Stadtzentrum wenig Platz für Kultur wie Galerien oder Kunsthandwerk bietet, bleibt dem Besucher nur noch
der Marsch zum Bildermuseum, einen Bau des Kopenhagener Architekten Henning
Larsen, in Deutschland als Erbauer der Siemens-Konzernzentrale in München, des Redaktionsgebäudes des „Spiegel“ in Hamburg und der Kunsthalle A. Würth in Schwäbisch Hall bekannt. Wie das Spiegel-Hochhaus liegt auch das 2012 eröffnete Bildermuseum am Wasser. In den Augen der Kulturschaffenden ist es natürlich einzigartig und aufregend, wie Museumsdirektorin Katarina Pierre sagt. Von
hier aus sieht man direkt in die Fluten des Flusses, das gegenüberliegende Ufer wird durch den Stadtwald belebt. Larsen kam es auf die Lage des
Gebäudes an der Uferpromenade und auf die Nähe zum Stadtzentrum an. Das Museum ist eigentlich ein Turm: 22 mal 22 Meter im
Grundriss, bei einer Höhe von 36 Metern mit einer Außenhaut aus edelstem Material, Lamellen, aus sibirischer Lärche gefertigt. Dadurch erhält der Turm ein geschmackvolles Äußeres mit typisch dänischer Handschrift. Dabei ließen sich die Gestalter von den Birkenalleen der Stadt und der Wasserspiegelung
des Flusses inspirieren. Der Bau ist der Umgebung angepasst. Die Stadt bewies
also einen guten Griff mit der Auswahl dieses Architekten. Es ist nicht der übliche Betonklotz am falschen Platz. In die Lamellenhaut sind die Fenster in größere und kleiner Öffnungen integriert, das genaue Gegenteil des in den USA entworfenen und in der
ganzen Welt nachgeahmten Stahl-Glas-Baus. Durch diese Nischen fließe das Tageslicht in die drei übereinander liegenden, 240 Quadratmeter großen, lebendig und dynamisch wirkenden Ausstellungssäle, schreiben die dänischen Architekten, die die Innenräume selbst aus weißem geölten schwedischen Kiefernholz aus Schweden verkleidet haben. Außen wie innen entspricht das Gebäude der nordeuropäischen Natur.
Präsentieren andere Museen wie das Leipziger Bildermuseum Künstler vom Mittelalter bis zur Moderne in einem monolithisch geschlossenen und
außen mit einem leichten Glaskleid versehenen Gebäude, sieht sich das Museum in Umeå als öffentliche Kunstgalerie für internationale Gegenwartskunst, Design, Architektur sowie moderne
Kunstfotografie und Filmkunst.
Wechselnde Ausstellungen
Jährlich soll es über 25 wechselnde Ausstellungen geben. Begleitet werden diese durch Lesungen,
Aufführungen, Konzerte und Workshops, in denen es um lokale und globale Probleme aus
den Gebieten von Ethik, Ästhetik und dem sozialen Bereich gehen soll. Bedeutende lokale Künstler wie Stieg Larsson mit seinen bekannten Figuren Lisbeth Salander und
Mikael Blomqvist scheint es nur in der Literatur zu geben. Doch wird Larsson in
Umeå wenig Raum gegeben, was viele Besucher überraschen wird. Er ist schließlich der bekannteste Sohn der Stadt. Andere Prominente sind Musiker und
Wintersportler. Die Ausstellungen versuchen eher allgemeine regionale und sogar
globale Probleme zu behandeln. So widmete sich eine jüngere Ausstellung der Bergbaustadt Kiruna: „Kirunatopia – Symbol für die Modernisierung und Kolonisierung des Nordens“ wurde sie genannt. An Kiruna lässt sich exemplarisch die jüngere Entwicklung Norrlands zeigen, zumal auch in Väster- und Norrbotten schon früh Bergwerke gegründet wurden, die bis heute betrieben werden. Diese Problemstellung geht bis ins
Jahr 1635 zurück: Der Reichsrat Carl Bonde drückte damals seine Hoffnung aus, dass die nördlichste Region Norrland, die von Kiruna im Norden bis Umeå im Süden reicht, sich aufgrund des Vorkommens von Eisenerz „zum schwedischen Westindien“ entwickeln könnte. Dazu ist es auch mit dem Industriezeitalter dank seiner enormen Ressourcen
an Eisenerz, Holz und Wasserkraft gekommen. „Die Modernisierung Norrlands verlief schnell und dramatisch. So kam es zu
scharfen Konflikten und moralischen Diskussionen“, schreibt der Historiker Sverker Sörlin.