Vegan ist Unsinn! - Niko Rittenau - E-Book

Vegan ist Unsinn! E-Book

Niko Rittenau

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Beschreibung

Aussagen wie diese hört und liest man immer wieder. Die hinter dem Veganismus stehende Philosophie stellt jedoch Antworten auf Fragen bereit, die zunehmend an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnen: Was schulden wir den Tieren? Wie gehen wir verantwortungsvoll mit unseren Ressourcen um? Und wie ernähren wir die wachsende Weltbevölkerung nachhaltig? In seinem Bestseller Vegan-Klischee ade! hat Niko Rittenau anhand von Hunderten von wissenschaftlichen Publikationen gezeigt, dass eine vegane Ernährung - vorausgesetzt sie ist gut geplant und umgesetzt - in jeder Lebensphase den Nährstoffbedarf decken kann und was es dabei zu beachten gilt. Mit überwältigendem Erfolg. Was Rittenau in seinem Erstlingswerk in Bezug auf die Ernährungswissenschaft vorgelegt hat, erweitert er zusammen mit dem international bekannten Influencer Ed Winters (Earthling Ed) sowie dem Social-Media-Aktivisten Patrick Schönfeld (Der Artgenosse) nun um den Aspekt Ethik und die damit verbundenen Themenfelder. Anhand von typischen Vorurteilen gegenüber dem Veganismus zeigen die Autoren, welche Fehlschlüsse und Irrtümer diesen Einwänden zugrunde liegen und wie man diesen ohne erhobenen moralischen Zeigefinger begegnen kann.

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Niko Rittenau ist Ernährungswissenschaftler mit dem Fokus auf pflanzliche Ernährung. Er kombiniert seine kulinarischen Fertigkeiten mit dem Ernährungswissen seiner akademischen Laufbahn, um Innovationen zu kreieren, bei denen guter Geschmack auf Gesundheitsbewusstsein und nachhaltigen Konsum trifft. In Vorträgen und Seminaren zeigt er seine Version von bedarfsgerechter Ernährung für eine wachsende Weltbevölkerung und fördert die Achtsamkeit gegenüber hochwertigen Lebensmitteln. Niko absolvierte einen Bachelorstudiengang der Ernährungsberatung sowie ein Masterstudium in Mikronährstofftherapie und Regulationsmedizin.

Facebook: @niko.rittenau

Instagram: @niko_rittenau

YouTube: @nikorittenau

Patrick Schönfeld, auch bekannt als »Der Artgenosse«, ist Humanist und Tierrechtsaktivist. Unter seinem Pseudonym betreibt er einen der größten YouTube-Kanäle zum Thema Tierethik im deutschsprachigen Raum, auf dem er die gängigen Vorurteile und Vorwürfe, die vegan lebenden Menschen regelmäßig begegnen, aufgreift und diese auf sachliche, faktenbasierte und rationale Art entkräftet. Als Illustrator stellt er das Thema der Tierethik außerdem in Web-Comics zeichnerisch auf teils satirische und stets humorvolle Art und Weise dar. Neben seinem Online-Aktivismus kennt man den Dresdener auch von seinen zahlreichen Vorträgen zu den Themen Tierethik und Veganismus, in denen er auch live dem Publikum näherbringt, dass Veganismus mehr ist als eine Ernährungsform und warum das Thema vielfältige stichhaltige Argumente auf seiner Seite hat.

Facebook: @artgenosse

Instagram: @der.artgenosse

YouTube: @derartgenosse

Ed Winters, auch bekannt als »Earthling Ed«, ist Speaker, Tierrechtsaktivist und Produzent aus London. Er ist weltweit mit seinen Vorträgen zum Thema Veganismus aktiv, hat bereits an etwa einem Drittel aller britischen Universitäten Vorträge gehalten und war unter anderem Gastdozent an der Harvard University. Ed Winters ist darüber hinaus Mitbegründer und Co-Direktor von Surge, einer Tierrechtsorganisation, die 2016 den Official Animal Rights March gegründet hat, dem sich in 2019 weltweit über 41.000 Menschen angeschlossen haben. Im Jahr 2017 produzierte er den Dokumentarfilm »Land of Hope and Glory«, der die Zustände in britischen Mastbetrieben dokumentierte. 2018 eröffnete er mit Unity Diner ein gemeinnütziges veganes Restaurant in London. In 2019 startete darüber hinaus sein »The Disclosure Podcast« zum Thema Tierethik und veganem Aktivismus.

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Instagram: @earthlinged

YouTube: @earthinged

Niko RittenauPatrick SchönfeldEd Winters

VEGANISTUNSINN!

Populäre Argumentegegen Veganismus und wieman sie entkräftet

© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz 2021

Edition Kochen ohne Knochen

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 9783955756154

Ventil Verlag

Boppstraße 25, 55118 Mainz

www.ventil-verlag.de

Inhalt

Inhalt

Vorwort von Dr. Friederike Schmitz

Einleitung

1.Veganer*innen zwingen anderen ihre Meinung auf

2.Veganer*innen ist Tierleid wichtiger als Menschenleid

3.Veganismus fördert Essstörungen

4.Veganer*innen sind intolerant, militant, radikal, extrem und dogmatisch

5.Das kann doch jede Person für sich selbst entscheiden

6.Es ist unmöglich 100 % vegan zu leben

7.Viele hören nach kurzer Zeit wieder auf vegan zu leben

8.Pflanzen sind auch Lebewesen und haben Gefühle

9.Beim Anbau von Pflanzen werden auch Tiere getötet

10.Eierlegen schadet den Hühnern nicht

11.Milchkonsum schadet den Tieren nicht

12.Käse ist zu schmackhaft, um darauf zu verzichten

13.Veganes Essen schmeckt nicht

14.Tierische Produkte zu essen ist natürlich

15.Veganismus ist unnatürlich

16.Vegane Ersatzprodukte sind pure Chemie

17.Der Mensch ist ein Allesesser und Fleisch hat uns intelligent gemacht

18.Der Mensch braucht tierische Produkte für optimale Gesundheit

19.Veganismus funktioniert nicht ohne Supplemente

20.Vegane Ernährung begünstigt Depressionen

21.Sportler*innen benötigen Tierprodukte für optimale Leistungen

22.Vegane Ernährung im Kindesalter ist Kindesmisshandlung

23.Vegane Ernährung für Hunde und Katzen ist Tierquälerei

24.Einige indigene Völker essen fast nur Fleisch und sind bei bester Gesundheit

25.Echte Männer brauchen Fleisch

26.Gott erlaubt uns Tiere zu essen

27.Der Veganismus ist eine Religion

28.Der Veganismus ist eine Sekte

29.Soja ist ungesund und zerstört den Regenwald

30.Palmöl in veganen Produkten zerstört den Regenwald

Bildnachweise

Danksagung

Vorwort von Dr. Friederike Schmitz

Es sind oft dieselben Argumente, die in Diskussionen um Tierhaltung und Veganismus immer wieder vorgebracht werden – sei es bei der Gartenparty am Grill, in den Kommentarspalten unter fleischkritischen Artikeln oder nach tierethischen Vorträgen an Universitäten. »Veganes Bullshit Bingo« nennen wir es gern. Meist handelt es sich bei diesen beliebten Einwänden nicht um wohldurchdachte Argumente. Es sind vielmehr Schnellschüsse – abgefeuert, um sich mit der Bedrohung, als die der Veganismus offenbar wahrgenommen wird, nicht weiter auseinandersetzen zu müssen. Oder glaubt die Person am Grill, die eben noch ihren Rasen gemäht und ihren Rosmarinbusch gestutzt hat, ernsthaft, dass Pflanzen auch Gefühle haben? Hat sich der Verfasser, der in seinem Facebook-Kommentar den Veganismus als Sekte bezeichnet, etwa je mit den Charakteristika von Sekten beschäftigt? Oder scheren sich die Leute, die nach einem Tierethik-Vortrag die pflanzliche Ernährung abfällig als unnatürlich bezeichnen, sonst darum, wie natürlich ihre Lebensweise in all den anderen Aspekten ist? Wahrscheinlich nicht.

In diesem Sinne beruhen viele der populärsten Einwände gar nicht auf einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Thematik. Ich habe sogar oft den Eindruck, dass die so Diskutierenden sich kaum für die Wahrheit in der jeweiligen Sache interessieren. Denn sobald man auf das Argument kritisch eingeht, verteidigen viele es gar nicht, sondern bringen einfach ein anderes vor – quasi nach dem Motto neuer Schuss, neues Glück. Daraus folgt allerdings nicht automatisch, dass an keinem der vorgebrachten Argumenten etwas dran wäre. Manche können, mit etwas Ausarbeitung, zu ernstzunehmenden Kritikpunkten werden. Das gilt z. B. für die Idee, dass bei der Erzeugung pflanzlicher Nahrungsmittel auch oder sogar mehr Tiere sterben können als bei der Produktion von Fleisch oder Milch – die Widerlegung dessen ist nicht trivial. Bei einigen anderen muss man dagegen nur kurz logisch überlegen, um zu erkennen, dass der jeweilige Einwand nicht viel taugt. Dennoch kann man aus der gründlichen Beschäftigung damit etwas lernen.

Genau das zeigt auch dieses Buch: Die Antworten, die die drei Autoren formulieren, sind auch dann interessant und lehrreich, wenn man den betreffenden Einwand selbst absurd findet. Das Buch erklärt neueste Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft, liefert zahlreiche Fakten zur aktuellen »Nutztierhaltung« und steckt voller kluger Gedanken zur Ethik. Viele Überlegungen sind auch über das Thema des Veganismus hinaus gültig und gekonnt auf den Punkt gebracht. Dass beispielsweise Meinungsfreiheit nicht bedeutet, dass jede Meinung gleichermaßen akzeptabel wäre oder dass man persönliche Ansichten nicht kritisieren dürfe, ist eine Einsicht, die man Menschen generell auf Webseiten erst unterschreiben lassen sollte, bevor die Kommentarfunktion für sie freigeschalten wird.

Auch Lobbyverbände wie der Verband der Fleischwirtschaft fordern gern eine »Versachlichung« der Debatte um Tierprodukte und Ernährung. Eigentlich müssten sie daher dieses Buch bewerben, denn es versammelt diesbezüglich eine Fülle an gut belegten Informationen und rationalen Argumenten. Tatsächlich kommt es den Verbänden aber natürlich in die Quere, denn es entlarvt viele ihrer Aussagen als schlecht begründete Märchen. Auch damit leistet es einen wertvollen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Debatte, die mehr Faktenbezug und Vernunft dringend nötig hat.

Zweierlei darf aber zugleich bei all dem Fokus auf Fakten und Argumente aus meiner Sicht nicht aus dem Blick geraten: Erstens kann zur ethischen Reflexion mehr gehören als eine rein rationale Auseinandersetzung. Gefühle wie Mitgefühl oder Empörung zu erleben bzw. überhaupt erst zuzulassen, kann ein wichtiger Schritt in der Beschäftigung mit der Tierindustrie sein. Solche Gefühle sind es oft auch, die uns erst zum Handeln motivieren.

Daran schließt sich auch der zweite Punkt an, den ich hervorheben möchte: Kluge Argumente reichen leider oft nicht aus, um in der Gesellschaft jene Veränderungen herbeizuführen, die in Anbetracht der extremen Ausbeutung der Tiere und der katastrophalen anderen Folgen der Tierindustrie so dringend nötig sind. Damit der Veganismus tatsächlich als die Gerechtigkeitsbewegung wirken kann, als die er in diesem Buch bezeichnet wird, müssen noch viel mehr Veganer*innen über ihre eigene Lebensweise hinaus aktiv werden. Konsistente Überzeugungen und gut begründete Forderungen sind dabei aber natürlich unverzichtbar und dieses Buch liefert dafür jede Menge Material.

Dr. Friederike Schmitz

Autorin u. a. von »Tiere essen – dürfen wir das?«

und »Tierethik kurz + verständlich«

Einleitung

»Es urtheilen vielleicht über keinen moralischen Gegenstand so wenige Menschen richtig, als über die Rechte und Pflichten gegen die Thiere. Das gewöhnlichste ist, daß man gar nichts davon hören will, wie irgendetwas gegen dieselbe sollte unerlaubt sein.«1

Diese Worte aus dem 1787 erschienen Werk »Gerechtigkeit gegen Thiere« des Mainzer Philosophen Wilhelm Dietler beschrieben bereits Ende des 18. Jahrhunderts im allerersten deutschsprachigen Tierrechtsbuch den Umstand, mit dem sich die Tierrechtsbewegung auch über 200 Jahre später immer noch konfrontiert sieht: Trotz des großen Leids in der »Nutztierhaltung«, das sich seit deren Industrialisierung und Intensivierung ab Mitte des 20. Jahrhunderts nochmals deutlich verschlimmert hat, schert sich der Großteil der Bevölkerung immer noch herzlich wenig um die schweren Interessensverletzungen gegenüber (Nutz-)Tieren.

Die redliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Tierethik im Rahmen der veganen Lebensweise wird zudem durch die zahlreichen gesundheitsbezogenen Mythen erschwert, die – obwohl sie zumeist wenig Substanz haben – noch immer in den sozialen Medien kursieren und sich in den Köpfen vieler Menschen verankert haben. Denn wenn Menschen dem falschen Glauben folgen, dass sie zwingend tierische Nahrungsmittel für ihre Gesundheit benötigen, fällt eine objektive ethische Debatte über das Thema, was wir als Gesellschaft den Tieren schuldig sind, noch schwerer. All die detailreichen Ausführungen zur Nährstoffbedarfsdeckung im Rahmen der veganen Ernährung wurden im Vorgängerwerk »Vegan-Klischee ade! Wissenschaftliche Antworten auf kritische Fragen zu pflanzlicher Ernährung« bereits im Detail diskutiert. Daher bezieht das vorliegende Buch nur in einigen Kapiteln Stellung zu den gesundheitsbezogenen Aspekten der veganen Ernährung, da sie in aller Ausführlichkeit im Vorgängerbuch behandelt wurden.

Der Veganismus war niemals und wird auch niemals die Lösung für alle Probleme dieser Welt sein können und eine vegane Ernährung ist mitnichten (wie auch im Rahmen dieser Einleitung noch beschrieben wird) das gesundheitliche Wundermittel, zu dem sie von einigen Seiten ernannt wird. Der Veganismus ist eine soziale Gerechtigkeitsbewegung, um sozusagen anwaltschaftlich jenen Tieren Gehör zu verschaffen, die ansonsten in unserer Gesellschaft weitestgehend ungehört bleiben. Wenn eine vegane Ernährung richtig praktiziert wird, ist sie jedoch nicht nur eine einfache und effiziente Möglichkeit, Tierrechte zu wahren, sondern ist zugleich nachhaltig, ressourcenschonend und gesund.

Das vorliegende Buch entkräftet dabei nicht nur viele der gängigsten Vorbehalte und Vorurteile gegenüber dem Veganismus, sondern korrigiert auch eine Reihe falscher Vorstellungen und unhaltbarer Argumente, die sich innerhalb der veganen Bewegung festgesetzt haben und zu Lasten der Glaubwürdigkeit des Veganismus gehen. Dieses Buch zeigt anhand der aktuellen wissenschaftlichen Literatur, dass tierische Lebensmittel kein Monopol auf überlebensnotwendige Nährstoffe haben und eine vegane Ernährung bei entsprechend guter Planung in jeder Phase des Lebenszyklus bedarfsdeckend sein kann. Es geht – wie auch sein Vorgänger »Vegan-Klischee ade!« – noch einen Schritt weiter, erläutert, aus welchen Quellen die jeweilige Kritik am Veganismus stammt, und zeigt auf, welche Fehlinterpretationen dazu geführt haben, dass diese Vorurteile entstehen konnten.

Geschrieben wurde dieses Buch einerseits für vegan lebende Menschen, damit diese ein Nachschlagewerk haben, mit dessen Unterstützung sie fundiert auf die häufigsten Argumente gegen die vegane Lebensweise antworten können. Andererseits wurde es aber auch für alle Menschen geschrieben, die ein generelles Interesse an (tier-)ethischen Fragen haben. Diese erhalten hier die Quintessenz der Tierethik. Nicht zuletzt soll es auch denen, die (noch) skeptisch gegenüber dem Veganismus sind, Antworten auf ihre Vorbehalte liefern, um diese aufzulösen. Nach der allgemeinen Einführung in die Ethik im Rahmen dieser Einleitung folgen 30 Kapitel zu je einem (anti-veganen) Vorurteil. Jedes Kapitel schließt mit einer Tabelle ab, in der die Kernaussagen zum jeweiligen Vorurteil nochmals zusammengefasst und widerlegt werden. Sämtliche Quellenangaben zu den Literaturverweisen befinden sich am jeweiligen Ende der einzelnen Kapitel.

Mensch und Tier – ein widersprüchliches Verhältnis

Im Mai 2020 dokumentierten mehrere Handy-Kameras in Frankfurt am Ufer des Mains eine Szene, die kaum symbolischer für unser widersprüchliches Verhältnis zu Tieren hätte sein können.2,3 Zwei Angler hatten einen kolossalen, 1,5 m langen Wels an Land gezogen und dadurch zahlreiche Schaulustige angezogen, die sich staunend um den Fisch versammelten. Die bewundernde Stille und das vereinzelte heitere Gelächter wichen jedoch blanker Empörung, als einer der beiden Angler den nach Luft schnappenden Giganten mit einem Holzknüppel durch Schläge auf den Schädel betäubte und ihn anschließend tötete. Der Mann wurde daraufhin von den dabeistehenden Passant*innen wüst beschimpft. Eine ältere Dame fragte fassungslos, was denn das für ein Mensch sei, der so etwas tue, und es wurde sogar nach der Polizei verlangt.

Die Angler ließen sich von der gekippten Stimmung und den verbalen Anfeindungen allerdings nicht verunsichern und einer von ihnen richtete sich direkt an die Personen, die am lautesten gegen das Geschehen protestierten: »Essen Sie Tiere? Essen Sie Schwein?« – Eine Rückfrage, deren Legitimität sich kaum bestreiten lässt und eigentlich dazu hätte führen müssen, dass sich bedrücktes Schweigen einstellt, denn eines dürfte klar sein: Auch die Menschen, die mit so viel Entsetzen und Wut auf die Tötung dieses Fisches reagiert haben, werden sich höchstwahrscheinlich noch am gleichen Tag Wurst aufs Brot, ein Schnitzel in die Pfanne oder eben einen Fisch auf den Teller gelegt haben. Stattdessen setzten sie die moralisch aufgeladenen Anfeindungen fort und begriffen dabei nicht die Widersprüchlichkeit ihrer Aufgebrachtheit.

Dieser Vorfall führte in aller Deutlichkeit vor Augen, dass viele Menschen es mittlerweile nicht mehr ertragen, hautnah mitzuerleben, was es letztlich bedeutet, Fisch oder Fleisch zu essen. Zwar gibt es auch in der heutigen Zeit immer noch Menschen, die keinerlei Skrupel haben ein Tier zu töten, aber mehr und mehr Personen scheuen davor zurück ein direkter Teil der Tötung eines Lebewesens zu sein. So sagte auch Ex-Beatle Paul McCartney: »Wenn Schlachthäuser Wände aus Glas hätten, wären alle Menschen Vegetarier.«4 Würden Menschen zudem den immer wiederkehrenden Kreislauf der Milchwirtschaft aus unmittelbarer Nähe miterleben, in der Kühe zwangsgeschwängert, ihres Nachwuchses beraubt, ausgebeutet und weit vor ihrer eigentlichen Lebenserwartung geschlachtet werden (siehe Kapitel 11) oder die industriellen Produktionsmethoden der Eierindustrie kennen, in der männliche Küken am ersten Tag ihres Lebens vergast oder geschreddert werden, weil sie »wertlos« sind und ihre Geschwister unter unwürdigen Bedingungen eng zusammengepfercht durch Lichtmanipulation und die auf maximale Legeleistung hin optimierte Qualzucht im Akkordtempo solange Eier produzieren müssen, bis auch ihre Legeleistung nachlässt und sie getötet werden (siehe Kapitel 10), dann wären wohl sehr viel mehr Menschen nicht nur Vegetarier*innen, sondern Veganer*innen.

Die biologischen Erkenntnisse und ethischen Diskurse der letzten Jahrhunderte haben im Zusammenspiel mit der besseren Versorgungssicherheit sowie der wachsenden Verbreitung der Haustierhaltung offenkundig zu einer tiefgreifenden Veränderung des Mensch-Tier-Verhältnisses geführt. Nicht zu übersehen ist indes, dass diese Veränderung keineswegs abgeschlossen ist, sondern derzeit mit steigender Geschwindigkeit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt voranschreitet, sodass unser gegenwärtiger Umgang mit Tieren noch von derartig vielen Widersprüchen geprägt ist, dass sich damit ein ganzes Buch füllen lässt.

Zahlreiche Menschen kritisieren, dass männliche Küken in der Eierproduktion direkt nach dem Schlupf vergast oder geschreddert werden, aber es gilt als »wichtiger Schritt in Richtung Tierwohl«,5 wenn in der sogenannten Bruderhahn-Aufzucht die männlichen Küken nicht direkt nach dem Schlüpfen getötet werden, sondern stattdessen einige Wochen später als junge Hähne getötet und zu Fleisch verarbeitet werden. Was ändert sich am Akt des Tötens und wie kann es ein wichtiger Schritt in Richtung Tierwohl sein, wenn die Tötung einfach nur zeitlich um einige Wochen verschoben wird? Wir lieben unsere Haustiere und bezahlen bereitwillig hohe Tierarztkosten, damit es unseren Schützlingen gut geht, während wir parallel dafür zahlen, dass andere Tiere, die in keiner ethisch ausreichend relevanten Hinsicht von Hunden, Katzen oder Wellensittichen unterschieden werden können, unter scheußlichen Bedingungen aufgezogen, aus wirtschaftlichen Gründen oft nicht ausreichend medizinisch behandelt und letztlich gewaltsam aus dem Leben gerissen werden. Wir können uns auch nicht damit herausreden, dass wir nicht wüssten, wie die Tiere, die uns Eier, Milch und Fleisch liefern, in der Regel behandelt werden. Es gibt kaum einen Monat, in dem nicht neue Horroraufnahmen aus genau den Anlagen auftauchen, über die fast die gesamte Nachfrage nach diesen Produkten gedeckt wird. Die Bevölkerung weiß dank der Medien genau, dass sich etwas ändern müsste: »Mehr als vier von fünf Befragten (82 %) sind der Meinung, dass der Tierschutz von Nutztieren im Allgemeinen besser sein sollte, als das derzeit der Fall ist.«6 Und obwohl 85 % der Deutschen der Aussage zustimmen, dass Tiere wenigstens ein gutes Leben gehabt haben sollten, wenn sie für unsere Ernährung geschlachtet werden,7 meldete Der Spiegel 2020: »In den Regalen deutscher Supermärkte und Discounter dominiert Billigfleisch das Angebot. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung der Umweltschutzorganisation Greenpeace bei neun Ketten, darunter Aldi, Lidl, Rewe und Edeka. 88 Prozent des Frischfleisches der großen Lebensmittelhändler stammt demnach aus prekären Haltungsbedingungen.«8

Wer mit offenen Augen durch den Alltag geht oder in den Medien gezielt darauf achtet, wird beinahe täglich Beispiele für das finden, was der amerikanische Rechtsprofessor und Tierethiker Gary Francione als unsere »moralische Schizophrenie« im Umgang mit Tieren bezeichnet.9 Der Veganismus stellt den gegenwärtig erfolgreichsten Ansatz dar, dieses Durcheinander durch ein neues, konsequentes Mensch-Tier-Verhältnis zu ersetzen.

Was es bedeutet, vegan zu leben

Die Einbeziehung von Tierrechten in die Ethik und der häufig damit einhergehende bewusste Verzicht auf tierische Nahrung – insbesondere auf Fleisch – sind keineswegs Phänomene der Neuzeit, sondern können über die Jahrtausende hinweg bis weit in die Antike zurückverfolgt werden.10,11,12,13 Der Veganismus kann also auf eine lange Traditionslinie verweisen, obwohl seine konkreten Ursprünge eher auf Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in England zurückzuführen sind: Aus dem – im frühen 19. Jahrhundert oft auch nur als »vegetable diet« bezeichneten14 – Vegetarismus, der nicht selten einen vollständigen Verzicht auf tierische Lebensmittel und teils auch die Vermeidung von Leder, Wolle etc. bezeichnete,15,16,17 wurde über Jahrzehnte hinweg primär der Vegetarismus, wie wir ihn heute kennen: eine Ernährungsweise, die zwar Fleisch, aber nicht Eier und Milch(-Produkte) ausschließt. Da sich die ethischen Probleme des Eier- und Milchkonsums nicht übersehen ließen, waren die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts von einer lebhaften Diskussion darüber geprägt, was eine vegetarische Lebensweise aus- oder eben einschließen sollte.

Die Verweigerung der 1847 gegründeten Vegetarian Society, ein strengeres Verständnis des Begriffs Vegetarier zugrunde zu legen, führte in den 1940ern dazu, dass sich eine kleine Gruppe rund um Donald und Dorothy Watson sowie Elsie Shrigley nach etwas Neuem sehnte. Das Ergebnis war die 1944 gegründete Vegan Society, die sich von Anfang an scharf gegen die Ausbeutung von Tieren aussprach.18 Es sollten jedoch noch mehrere Jahrzehnte vergehen, bis sich die Mitglieder auf die Veganismus-Definition einigen konnten, die heute wohl auch von den meisten vegan lebenden Personen herangezogen wird:

»Der Veganismus ist eine Philosophie und eine Lebensweise, die danach strebt, alle Formen der Ausbeutung von und Grausamkeiten gegenüber Tieren – soweit es möglich und praktisch durchführbar ist –, sei es für die Ernährung, für Kleidung oder für irgendeinen anderen Zweck, zu vermeiden. Darüber hinaus fördert er zum Vorteil von Mensch, Tier und Umwelt die Entwicklung und Nutzung tierfreier Alternativen. Auf die Ernährung bezogen, bezeichnet der Veganismus die Praxis, auf alle Produkte zu verzichten, die ganz oder teilweise von Tieren stammen.«19

Abb. 1: Auszug aus der ersten Vegan News von November 1944 zum Thema Milchkonsum20

Auch wenn im Normalfall nur der erste Satz herangezogen wird, um in Gesprächen über den Veganismus eine Definition zu benennen, dürfte es sinnvoll sein, die Definition in ihrer Gesamtheit zu betrachten, denn so lassen sich einige wichtige Punkte adressieren, die in Diskussionen immer wieder für Verwirrung sorgen können.

Die von der Vegan Society gewählte Definition enthält gleich mehrere klärungsbedürftige Details. Dass sie derartig erläuterungsbedürftig ist, ist jedoch nicht pauschal ein Indiz dafür, dass es sich um eine unachtsam formulierte Definition handelt. Sie versucht ganz im Gegenteil auf durchaus weitsichtige Weise, einen sinnvollen Minimalrahmen abzustecken.

•»Der Veganismus ist eine Philosophie und Lebensweise, die danach strebt …«

Unter Philosophie ist in diesem Kontext eine ethische Einstellung gemeint. Die Vegan Society stellt also klar, dass der Veganismus ein (tier-)ethisches Anliegen ist. Der Ausdruck des Strebens nach dieser Lebensweise deutet bereits an, dass es nicht um Perfektion in der Umsetzung geht, da eine hundertprozentige vegane Lebensweise nach den Idealvorstellungen zumindest gegenwärtig praktisch nicht möglich ist (siehe Kapitel 6).

•»… alle Formen der Ausbeutung von …«

Unter Ausbeutung ist eine ungerechte Nutzung zu verstehen.21,22 Es geht folglich nicht darum, dass sich in jedem Fall zwingend jede Form der »Nutzung« von Tieren unter keinen Umständen mit den Idealen des Veganismus vereinen lässt, sondern dass in jenen Fällen, in denen es keine Alternative gibt (was entsprechend selten der Fall ist) eine für beide Seiten gerechte Lösung angestrebt wird und dabei keine Ausbeutung stattfindet. Vor allem mit Blick auf zukünftige Technologien wie Cultivated Meat muss deutlich zwischen Nutzung und Ausbeutung unterschieden werden. Vielmehr strebt der Veganismus danach, dass alle Formen der ungerechten und ungerechtfertigten Nutzung vermieden werden.

•»… und Grausamkeiten gegenüber Tieren …«

Das Oxford Dictionary definiert Grausamkeit wie folgt: »Ein Verhalten, das anderen physische oder psychische Schmerzen zufügt oder sie leiden lässt, insbesondere absichtlich.«23 Es zählt also die Kombination aus Absicht und Handlungsfolge. Auf der Basis dieser Definition sind unbeabsichtigte Ernteopfer, tote Insekten an der Frontscheibe eines Autos und vergleichbare Fälle keine direkten Widersprüche zur veganen Lebensweise, auch wenn sie selbstverständlich nicht als ethisch bedeutungslos betrachtet werden sollten. Angesichts der Tatsache, dass der Begriff Tier nicht weiter eingeschränkt wird, schließt die Definition alle Tiere ein. Inwiefern sie Ausbeutung erfahren, ist im Einzelfall von ihren jeweiligen Interessen abhängig zu machen.

•»… soweit es möglich und praktisch durchführbar ist …«

Diese Formulierung ist die zentrale Aussage der Definition. Sie verdeutlicht, dass der Veganismus von Menschen keine völlige Selbstaufopferung fordert. Im Zusammenspiel mit dem Begriff Ausbeutung ergibt sich die Interpretation, dass Menschen, die zwingend darauf angewiesen sind, Tiere zu Ernährungszwecken zu nutzen, berechtigt sind, dies zu tun, und sich dennoch als »vegan lebend« bezeichnen können – mehr dazu an späterer Stelle der Einleitung.

•»… sei es für die Ernährung, für Kleidung oder für irgendeinen anderen Zweck, zu vermeiden …«

Dieser Teil stellt klar, dass es dem Veganismus nicht ausschließlich um die Ernährung, sondern um alle Formen der ungerechten Nutzung geht. Abseits der Ernährung und Kleidung beschreibt dies auch Tierversuche für Kosmetik und Medizin, Tiernutzung zu Unterhaltungszwecken (Zoo und Zirkus) usw.

•»… Darüber hinaus fördert er zum Vorteil von Mensch, Tier und Umwelt die Entwicklung und Nutzung tierfreier Alternativen …«

Die Vegan Society wollte augenscheinlich sicherstellen, dass der Veganismus auch das Ziel verfolgt, die Entwicklung und Nutzung tierfreier Alternativen zu fördern. Eine Auskunft darüber, auf welche Weise diese Förderung erfolgen soll, trifft die Definition allerdings nicht. Von größerer Bedeutung ist, dass dieser Satz so gedeutet werden kann, dass der Veganismus sowohl für Menschen und Tiere als auch für die Umwelt Vorteile hat. Den digitalisierten frühen Ausgaben der Vegan News kann entnommen werden, dass die Gründungsmitglieder der Vegan Society davon überzeugt waren, dass eine Ernährung, die so weit wie möglich auf Tierisches verzichtet, neben den ökologischen Vorteilen auch am gesündesten für den Menschen sei.24 Dieser Teil der Definition wird an späterer Stelle dieser Einleitung ebenfalls noch im Detail besprochen und kritisch geprüft.

•»… Auf die Ernährung bezogen bezeichnet der Veganismus die Praxis, auf alle Produkte zu verzichten, die ganz oder teilweise von Tieren stammen …«

Der abschließende Satz der Definition der Vegan Society beschreibt, wie eine vegane Ernährung für die allermeisten Menschen aussieht: frei von jeglichen tierischen Produkten wie Fleisch, Fisch, Milch, Käse, Eier, Honig, Gelatine etc. Wenn in Zukunft tierische Lebensmittel im Rahmen der zellbasierten Landwirtschaft auch ohne Tierausbeutung produziert werden können, steht allerdings die Frage im Raum, ob dies dazu führen müsste, die Definition des Veganismus anzupassen. Eine offizielle Stellungnahme seitens der veganen Interessensvertretungen wie der Vegan Society oder ProVeg International steht zum aktuellen Zeitpunkt noch aus. Der letzte Teil der Veganismus-Definition steht außerdem (zumindest in einzelnen theoretischen Fällen) in einem gewissen Widerspruch zu der ebenfalls in der Definition enthaltenen Formulierung, dass die Vermeidung nur »soweit es möglich und praktisch durchführbar ist« gehen muss. Dies bedeutet zwar für den Großteil der Menschen einen kompletten Verzicht auf sämtliche tierische Produkte, aber ermöglicht im Falle von überlebenswichtigen Situationen, notwendige Ausnahmen zu machen.

Ist die vegane Ernährung immer zu 100 % frei von Tierprodukten?

Liest man die Definition des Veganismus nach der Vegan Society, wird deutlich, dass eine vegane Ernährung grundsätzlich auf alle Produkte verzichtet, die ganz oder teilweise von Tieren stammen. Damit ist für die meisten Personen diese Frage auch abgehakt und in den allermeisten Fällen muss hier auch nicht länger diskutiert werden; wenngleich es mehr von theoretischer als praktischer Relevanz ist, soll dennoch folgender Sonderfall adressiert werden: Wie wird mit dem unwahrscheinlichen Fall umgegangen, wenn sich herausstellen sollte, dass es doch Menschen gäbe, die aus welchem Grund auch immer tatsächlich auf tierische Nahrung angewiesen sind?

Hierzu sei auf die Passage der Veganismus-Definition der Vegan Society verwiesen, nach der tierische Produkte »so weit wie möglich und praktisch durchführbar zu vermeiden« sind. Erforderlich ist in diesem (fiktiven) Szenario also, dass die Form der Tierproduktnutzung keine unfaire Nutzung ist (also so wenig wie möglich und so harmlos wie möglich), sodass von einem möglichst fairen »Deal« gesprochen werden kann. Die schlachtungsfreie Haltung von Hühnern zur Gewinnung von Eiern wäre ein solches Beispiel und wäre in einem echten Bedarfsfall (und nur in diesem) mit dem Veganismus vereinbar. Es geht beim Veganismus nicht um pure Selbstaufgabe und Aufopferung, es geht vielmehr darum, das eigene gesunde Überleben, soweit es irgendwie möglich ist, nicht zulasten anderer Lebewesen zu gewährleisten. Nicht mehr und nicht weniger. Dementsprechend hält auch die Vegan Society ausdrücklich fest, dass vegan lebende Menschen beispielsweise nicht-vegane Medikamente nehmen sollen, wenn diese von einem Arzt als notwendig verschrieben werden und es keine Alternative zu diesen gibt, denn tote Veganer*innen helfen den Tieren nicht.25

Diesbezüglich muss mit aller Deutlichkeit nochmals die wissenschaftliche Datenlage herausgestellt werden, welche zeigt, dass nicht davon auszugehen ist, dass es Menschen gibt, die (zumindest in westlichen Ländern mit ausreichender Verfügbarkeit an Nahrungsergänzungsmitteln für kritische Nährstoffe) zwingend auf den Verzehr tierischer Lebensmittel angewiesen sind (siehe Kapitel 18). Daher wird in Bezug auf den Veganismus im allgemeinen Sprachgebrauch auch zumeist von einer rein pflanzlichen Ernährung gesprochen (wobei diese auch bakterielle Produkte sowie Pilze enthalten kann, die keine Pflanzen sind). Tierische Produkte besitzen grundsätzlich kein Monopol auf irgendeinen überlebensnotwendigen Nährstoff, und sämtliche Nährstoffe, die überwiegend oder ausschließlich in tierischen Produkten vorkommen, können im Rahmen einer veganen Ernährung über angereicherte Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel aufgenommen werden. Die Möglichkeit des Verzehrs von tierischen Produkten in gewissen Lebensumständen oder im Falle einer speziellen genetischen Disposition oder Erkrankung mit schwerwiegenden Einflüssen auf den Nährstoffbedarf ist daher also lediglich der Vollständigkeit halber erwähnt. Hierzulande ist aufgrund des reichhaltigen Lebensmittelangebots und der gut verfügbaren Supplemente nach derzeitigem Kenntnisstand nicht davon auszugehen, dass tierische Lebensmittel in irgendeiner Phase des Lebenszyklus aus gesundheitlichen Gründen zwingend einen Teil des Speiseplans bilden müssen.26,27 Durch zukünftige Technologien wie die Cellular bzw. Acellular Agriculture28 werden aber ohnehin auch tierische Lebensmittel wie Fleisch, Milch, Käse und Eier ohne Ausbeutung des Tieres produziert werden können, und somit gibt es selbst im unwahrscheinlichen Fall der gesundheitlichen Notwendigkeit für den Konsum tierischer Lebensmittel auch in seltenen Extremfällen eine ethisch vertretbare Option, diese Lebensmittel ohne den Umweg über das Tier zu produzieren.29

Was der Veganismus nicht ist

Immer wieder wird eine vegane Ernährung von ihren Vertreter*innen als die gesündeste unter allen Ernährungsweisen beworben, als wäre sie tatsächlich nur eine Ernährungsweise unter vielen, deren primäres Ziel die optimale Gesundheit des Menschen ist. So liest sich etwa in einer veganen Infobroschüre: »Eine richtig durchgeführte, abwechslungsreiche vegane Ernährung ist die gesündeste Kostform und die einzige wirklich gesunde Ernährung.«30 Derartige Aussagen lassen sich allerdings anhand der ernährungswissenschaftlichen Datenlage in dieser Deutlichkeit nicht belegen und bergen zudem mehrere Probleme.

Zum einen leidet die Glaubwürdigkeit des Veganismus unter derart übertriebenen und nicht belegbaren Aussagen und zum anderen lenkt sie den Fokus von den Interessen der Opfer (den Tieren) auf die Gesundheit der Tierprodukte essenden Menschen, die durch den Umstieg auf eine vegane Ernährung angeblich zur einzig gesunden Ernährungsweise wechseln. Eine gut geplante vegane Ernährung (inklusive angereicherter Lebensmittel oder Supplemente) kann durchaus den Nährstoffbedarf des Menschen in jeder Lebensphase decken und somit als eine gesunde Ernährung deklariert werden.31 Aber die Aussage, dass eine vegane Ernährung die gesündeste bzw. sogar die einzig wirklich gesunde Ernährung wäre, entbehrt jeglicher Evidenz. Die Suche nach der gesündesten Ernährung ist ohnehin zum Scheitern verurteilt, da es nicht nur die eine gesündeste Ernährung gibt, sondern zahlreiche unterschiedliche Ernährungsweisen, die bei guter Kostzusammenstellung ähnliche gesundheitliche Auswirkungen haben können.32 Die Vorstellung, dass jegliche Menge an tierischen Produkten in jedem Fall zu einer Ernährungsweise führt, die weniger gesund ist als eine Ernährung, die ohne Tierprodukte auskommt, ist ernährungsphysiologisch ebenfalls nicht plausibel. Dennoch kann eine vollwertige und bedarfsgerechte vegane Ernährung gesünder als die derzeit übliche westliche Mischkost sein, und Ernährungsfachgesellschaften empfehlen ohnehin auch Mischköstler*innen eine überwiegend pflanzliche Ernährung.33,34

Die Suche nach soliden Studien, die belegen, dass beispielsweise der Verzehr einer einzigen Hühnerbrust im Monat einen nachteiligen Effekt auf die Gesundheit hat, wird aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dauerhaft ergebnislos verlaufen. In anderen Worten: Es lässt sich kein evidenzgestütztes Argument anführen, warum der Konsum jeglicher Menge an tierischen Lebensmitteln aus gesundheitlichen Gründen in Gänze gestoppt werden müsste. Selbst wenn davon auszugehen ist, dass tierische Lebensmittel eher gesundheitsschädlich sind (was nicht unbedingt in allen Fällen zutrifft) führt kein Weg an dem Zugeständnis vorbei, dass eine Hühnerbrust pro Monat gesundheitlich bedeutungslos, der Verzehr aber aufgrund dieser ernährungsphysiologischen Bedeutungslosigkeit als Ausbeutung und damit als unethisch einzustufen und demnach nicht vegan ist – sofern keine zwingende gesundheitliche Notwendigkeit davon ausgeht. Das Gesundheitsargument kann folglich nur für eine starke Reduzierung des Konsums von tierischen Lebensmitteln eintreten. Eine Vermeidung, die im Sinne der Veganismus-Definition so weit wie möglich bis hin zur Vollständigkeit geht (was das Optimum wäre), ist in dieser Hinsicht jedoch argumentativ grundsätzlich nicht von Belang.

Solche Argumente führen außerdem dazu, das Hauptproblem – den unethischen Umgang mit (Nutz-)Tieren – zu marginalisieren, indem suggeriert wird, dass überhaupt noch ergänzende Aspekte notwendig seien, um den Veganismus zu legitimieren – als wäre das eigentliche Problem nicht Grund genug, eine Handlung zu unterlassen oder sein Handeln zu ändern. Aber wenn eine Handlung an sich verwerflich ist, dann sollte sie schon unterlassen werden, eben weil sie verwerflich ist, und nicht erst, weil irgendein zusätzlicher positiver Nebeneffekt bei Unterlassung lockt. Das soll nicht heißen, dass es nicht wichtig ist, im Kontext des Veganismus über Ernährung zu sprechen und etwaige Bedenken über Nährstoffmängel oder gesundheitlich abträgliche Effekte durch vegane Kost auszuräumen. Außerdem ist es sowohl für einen selbst als auch (indirekt) für die Tiere wichtig, dass man als vegan lebende Person auf die eigene Gesundheit achtet. Denn kränkliche Veganer*innen können nicht nur abschreckend wirken, sondern sie sind auch schnell wieder Ex-Veganer*innen und werden in beiden Fällen nicht das für die vegane Bewegung erreichen können, was sie als rundum gut versorgte Veganer*innen hätten bewirken können. Der Veganismus benötigt Fürsprecher*innen, die als Vorbild dienen können. Sie müssen ausreichend informiert sein, um angemessen auf die in der Bevölkerung weit verbreiteten gesundheitlichen Bedenken reagieren zu können. Aber sie sollten sich nicht dazu verleiten lassen, übertriebene Gesundheitsversprechen mit dem Veganismus zu verknüpfen in der Hoffnung, so noch mehr Menschen für eine vegane Ernährung (aus den falschen Gründen) zu begeistern.

Ähnlich verhält es sich mit dem Umweltargument. Vegane Websites bezeichnen die vegane Ernährung zwar immer wieder als die nachhaltigste Ernährungsweise,35 aber ebenso wie beim Gesundheitsargument reicht das Umweltargument nur für eine sehr starke Reduzierung tierischer Lebensmittel aus Umweltschutzgründen. Es würde eine detaillierte und umfassende Betrachtung der für die Landwirtschaft sowie für das Klima relevanten chemischen Prozesse erfordern und somit den Rahmen einer kurzen Einführung in den Veganismus sprengen; dass aber der Veganismus für die Umwelt streng genommen nicht die beste Lösung sein kann, lässt sich an einem simplen Beispiel festmachen: Die Tötung eines einzelnen Fisches beim Angeln kann genauso wie der Abschuss eines einzelnen Rehs bei ausreichenden Beständen nur tierethisch, nicht aber ökologisch kritisiert werden. Vor dem Hintergrund der aktuellen landwirtschaftlichen Methoden ließen sich durch Jagen und Angeln Kalorien gewinnen, die umweltschonender als ein kalorisch identischer Einkauf bei den ressourcenschonendsten Händlern sind. Das Ziel der veganen Ernährung muss es allerdings auch nicht sein, Superlative wie die gesündeste oder die umweltfreundlichste Ernährung zu bedienen, sondern den Superlativ in ethischen Fragestellungen zu leben, um Tierausbeutung auf das geringstmögliche Maß zu reduzieren. Es steht außer Frage, dass eine vegane Ernährung durchschnittlich dennoch deutlich umweltschonender als eine westliche Mischkost ist,36,37 aber ebenso wie die Diskussion um die gesündeste Ernährung geht auch die Diskussion um die nachhaltigste Ernährung am eigentlichen Ziel vorbei. Dass man im Rahmen des Veganismus gesund essen und etwas Gutes für die Umwelt tun kann, steht dabei keineswegs im Widerspruch, ist aber nicht der Kern des Veganismus. Wird stattdessen dieser ethische Kern fokussiert, so laufen Gespräche über die vegane Ernährung nicht Gefahr, durch übertriebene Darstellungen gesundheitlicher oder ökologischer Vorteile in die Kritik zu geraten. Außerdem wird so verhindert, dass sich Diskussionen über den Veganismus in ökologischen oder gesundheitlichen Debatten verlieren, sodass am Ende oft sogar jene unerwähnt bleiben, um die es eigentlich geht: die Tiere.

Das Ergebnis der Analyse der Definition der Vegan Society und der damit am weitesten verbreiteten sowie anerkanntesten Definition lässt sich somit wie folgt zusammenfassen: Der Veganismus ist eine tierethisch begründete Lebensweise, die sich darum bemüht, Ungerechtigkeiten gegenüber Tieren so weit wie nur irgendwie möglich zu vermeiden. Sie setzt sich gleichzeitig dafür ein, ethische, nachhaltige und gesunde Alternativen zu tierischen Produkten zu fördern.

Die vegane Bewegung hat sich gerade in den letzten Jahren in vielen Fällen sehr darauf konzentriert, Menschen über Gesundheits- und Umweltargumente zu überzeugen. Dies war mitunter sehr erfolgreich und hat viele Menschen zumindest temporär für eine vegane Ernährung begeistern können, aber es hat auch dazu geführt, dass immer wieder (und nicht selten berechtigte) Kritik zu diversen veganen Büchern38 oder Dokumentationen39,40 veröffentlicht wurde, in denen übertriebene gesundheitsbezogene Aussagen getätigt wurden, was der Glaubwürdigkeit der veganen Bewegung äußerst abträglich war. Dies führte außerdem dazu, dass viele primär gesundheitsorientierte Menschen (in einigen Fällen mit sehr großer Social-Media-Reichweite) sich dem Veganismus zuwandten, aber sich nach einiger Zeit wieder öffentlichkeitswirksam davon abwandten, da sie nicht die gewünschten (oft überzogenen) gesundheitlichen Erfolge erzielen konnten oder noch schlimmer – aufgrund einer falschen Vorstellung, wie eine gesunde vegane Ernährung zusammengestellt werden muss – häufig rigide und nicht bedarfsdeckende vegane Ernährungsweisen praktiziert haben, die ihrer Gesundheit geschadet haben (siehe Kapitel 7). Diese Menschen haben dann in vielen Fällen dem Veganismus – und damit den Tieren – mehr geschadet als geholfen. Als tierethisch motivierte Bewegung sollte der Veganismus auch hinsichtlich anderer Aspekte ein redliches Verhalten forcieren und es sollte nicht weggesehen werden, wenn Falschinformationen unter dem Deckmantel des veganen Aktivismus verbreitet werden.

Virginia Messina, eine amerikanische Diätologin und überzeugte Veganerin, schrieb diesbezüglich in ihrer Kritik an der veganen Dokumentation »What the Health« Folgendes: »Als eine vegane Gesundheitsfachkraft bin ich manchmal beschämt, wenn ich mit der schlechten ›Wissenschaft‹ unserer Community in Verbindung gebracht werde. Als Tierrechtsaktivistin bin ich entmutigt von solchem [veganen] Aktivismus, der uns wissenschaftlich ungebildet, unehrlich und zeitweise wie eine Sekte von Verschwörungstheoretiker*innen aussehen lässt. […] Wir müssen die nicht-vegane Welt wissen lassen, dass es möglich ist für Tierrechte einzustehen und dennoch wissenschaftliche Integrität zu bewahren.«41

Wenn nun also festzuhalten ist, dass es streng genommen weder ein veganes Umwelt- noch ein Gesundheitsargument, sondern in dieser Hinsicht jeweils nur ein Reduktionsargument geben kann, dann bleibt für die redliche Überzeugungsarbeit »nur« der tierethische Blickwinkel. Argumente wie das Risiko für das Auftreten von Zoonosen und Antibiotikaresistenzen können ebenfalls nicht als Begründung für eine völlige Abkehr der Tierausbeutung genutzt werden, da diese bereits mit einer drastischen Reform der »Nutztierhaltung« beseitigt werden könnten und es ergo weiterhin Tierausbeutung geben könnte. Auch die Begründung, dass der Veganismus aus einer Welternährungsperspektive die beste Ernährungsform wäre, scheitert schlicht und ergreifend daran, dass Tiere mit uns nicht zwangsläufig in Nahrungskonkurrenz stehen (obwohl dies in der Intensivtierhaltung häufig der Fall ist) und Tiere unter den richtigen Umständen somit Kalorien nutzbar machen können, die für uns sonst nicht zur Verfügung stehen würden. Auch das Bejagen von Wildtieren ließe sich wie erwähnt auf dieser Basis nicht kritisieren.

Die Ethik – eine zu Unrecht gering geschätzte Wissenschaft

Das gewichtigste Argument für den Veganismus, die Tierethik, prallt allerdings an vielen Menschen spurlos ab, da sich eine irritierende Geringschätzung der Ethik durch unsere Gesellschaft zieht. Der Vegankritiker und »Don’t go Veggie«-Autor Udo Pollmer sagte dazu beispielsweise: »Der entscheidende Punkt ist eigentlich der, dass man [als Veganer] gar nicht auf sachliche Argumente eingeht, sondern ständig religiöse oder sogenannte moralische Aspekte in den Vordergrund stellt. […] ich kann die Moral immer vorschieben, wenn ich keine Argumente mehr für meine Position habe. Und deshalb steht das moralische Argument […] bei den Veganern und bei Teilen der Vegetarier im Vordergrund.«42 Die falsche Unterstellung, dass der Veganismus eine Religion sei, wird im Rahmen des Kapitels 27 noch im Detail besprochen. Für Udo Pollmer gibt es abseits des moralischen Aspekts keine belastbaren Argumente für den Veganismus (womit er grundsätzlich recht hat), er versucht jedoch, das bedeutende tierethische Argument mit einem Nebensatz abzuhaken, und verhält sich so, als wären die ethischen Grundpfeiler des Veganismus lediglich irrationale Vorwände, um die quasireligiösen Vorstellungen vegan lebender Menschen rechtfertigen zu können.

Diese offen zur Schau gestellte Gleichgültigkeit gegenüber moralischen Argumenten ist schon allein deswegen als irritierend zu bezeichnen, da unsere Gesellschaft grundsätzlich von moralischen Werten abhängt. Wir fordern von Politik und Wirtschaft, dass sie sich moralisch verhalten sollen; unsere Gesetze fußen auf einem moralischen Fundament, unsere Institutionen ziehen regelmäßig Ethikkommissionen zur Beratung heran usw. Unser ganzes Leben wäre in der gegenwärtigen Form nicht ohne moralische Werte denkbar und wir verdanken ihnen vieles.

Abgesehen davon, dass die schulische Ausbildung häufig keine grundlegende Einführung in Moral und Ethik bietet, dürfte noch ein anderer Grund eine wesentliche Ursache für die Geringschätzung des Wissenschaftsbereichs der Ethik darstellen. Und zwar handelt sich bei der Ethik nicht um eine Naturwissenschaft wie die Physik, die Chemie oder die Biologie – ethische Positionen seien »rein subjektiv«, nur »menschengemacht«, willkürlich »erfunden« und demnach auch nicht verpflichtend, heißt es etwa seitens Kritikern wie Udo Pollmer. Derartige Einwände offenbaren im Zusammenspiel mit der Regelmäßigkeit, mit der sie einem begegnen, einen fundamentalen Bildungsmissstand in unserer Gesellschaft. Es ist selbstverständlich vollkommen richtig, dass Werte nicht wie Steine oder Bäume existieren, aber damit ist noch nichts über ihre fehlende Notwendigkeit oder Beliebigkeit gesagt.

Wie selbstverständlich wir uns auf Außernaturwissenschaftliches stützen und dies als äußerst wichtig empfinden, lässt sich schon an den Naturwissenschaften selbst aufzeigen. Naturwissenschaften können an und für sich nur Erkenntnisse gewinnen, sie können jedoch keine Aussage treffen, was wir mit diesen Erkenntnissen anfangen sollen. Eine reine Naturwissenschaft wäre folglich funktionslos und würde nur zweckloses Wissen anhäufen. Naturwissenschaftliche Forschung stellt aber keinen Selbstzweck dar, sondern sie verfolgt, wo sie nicht nur etwa der Befriedigung der Neugier dient, ein Ziel, das selbst nicht naturwissenschaftlich begründet werden kann. Auch die Art und Weise, wie Naturwissenschaft betrieben wird, lässt sich nicht aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten. Sie ergibt sich aus dem nicht naturwissenschaftlich gewonnenen Wunsch, zuverlässige und intersubjektiv nachvollziehbare Ergebnisse zu produzieren.

Um sich dem damit aufgeworfenen Problem anzunähern, ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, dass wir in der Wissenschaft zwei Formen von Sätzen begegnen: deskriptiven und normativen Sätzen. Bei deskriptiven, also beschreibenden Sätzen, handelt es sich um Sätze, die das Bestehen oder Nicht-Bestehen eines Sachverhaltes aussagen. Es sind wahrheitsfähige Beschreibungen, die folglich mit naturwissenschaftlichen Mitteln überprüft werden und sich als zutreffend oder unzutreffend erweisen können. Normative Sätze sind hingegen Sätze, die auf Handlungen oder Handlungsunterlassungen abzielen. Normative Sätze können daher nicht wie deskriptive Sätze einfach als wahr oder falsch gelten, sondern sie können nur im Hinblick auf einen gesetzten Zweck zielführend oder eben nicht zielführend sein. Die normative Aussage, dass Druckerpapier 29,7 cm mal 21 cm (DIN A4) groß sein sollte, lässt sich nicht rein naturwissenschaftlich bestätigen. Sie kann sich nur als sinnvoll erweisen, wenn hier ein Drucker benutzt wird, der auf dieses Papierformat ausgelegt ist.

Sobald eine naturwissenschaftliche Forschung ein Ziel verfolgt – zum Beispiel die Entwicklung eines Medikaments –, stützt sie sich unweigerlich auf Normen, die ihrerseits nicht rein »objektiv« begründet werden können. In Diskussionen kann daher stets darauf verwiesen werden, dass eine Abwertung von normativen Sätzen nicht nur die Ethik, sondern letztlich die gesamte Wissenschaft betrifft. Darüber hinaus müsste ein Gegenüber, das diese Abwehrstrategie verwenden möchte, dazu bereit sein, beispielsweise auch die Rechtswissenschaft oder die Logik zu entwerten. Die (Grund-)Rechte, deren Verletzung sicher nicht gewünscht wird, existieren schließlich genauso wenig wie Steine oder Bäume.

Obgleich die Ethik umfassend von beschreibenden (deskriptiven) Sätzen Gebrauch macht, geht es ihr um normative, also um handlungsleitende Sätze. Wer sich mit ihr kritisch auseinandersetzen will, greift zu kurz dabei, die Ethik einfach nur aufgrund ihres normativen Charakters zu verwerfen, denn damit wird unbedacht ausgeblendet, in welchem Umfang unser Wohlergehen von Normen abhängt und dass auch die Naturwissenschaften ohne Normatives nutzlos blieben. Die Frage ist, welches Ziel eine ethische Position verfolgt und ob ihre Mittel zur Erreichung angemessen sind. Doch bevor genauer dargestellt wird, was die tierethischen Hintergründe des Veganismus sind, muss geklärt werden, was die Ethik überhaupt ist und wo die Unterschiede zwischen Moral und Ethik liegen.

Moral versus Ethik

Zuvor wurde die Ethik eine Wissenschaft genannt. Zur Verdeutlichung, was die Ethik als Wissenschaft auszeichnet, ist es hilfreich, sie im Kontrast zum Begriff Moral zu betrachten. Diese – auch in der Philosophie oft nicht vorgenommene – Differenzierung kann auf etwas Bedeutsames hinweisen. Denn jeder Mensch vertritt Werte oder hat moralische Haltungen, aber nicht jeder Mensch hat eine ethische Position.

Unter Moral kann die Gesamtheit der normativen Überzeugungen verstanden werden, die in einer Gesellschaft oder einer Teilgruppe von ihr existieren, selbst wenn diese eventuell nicht ausdrücklich artikuliert werden. Auf der individuellen Ebene ließen sich dementsprechend die verschiedenen normativen Ansichten einer Person als die moralischen Überzeugungen bezeichnen. Betrachtet man die moralischen Normensysteme von Gesellschaften, Gruppen oder Einzelpersonen, so fällt schnell auf, dass sie grundlegende Minimalanforderungen der Wissenschaftlichkeit nicht oder nur unvollständig erfüllen. Was die Ethik also von der Moral trennt, ist das Einhalten der Mindestanforderungen der Wissenschaftlichkeit – oder wenigstens der Anspruch sie einzuhalten. Im Kern geht es dabei um drei Minimalanforderungen:43

Konsistenz: Von einer Wissenschaft wird verlangt, dass ihre normativen und/oder deskriptiven Sätze konsistent sind, sich also nicht logisch widersprechen. Einem Beitrag, der zugleich behauptet, dass Rauchen das Lungenkrebsrisiko erhöht und dass einzig und allein die Genetik darüber entscheidet, ob ein Mensch an Lungenkrebs erkrankt, wird man zu Recht Wissenschaftlichkeit absprechen. Unsere Alltagsmoral erfüllt diesen Anspruch oft nicht. Wir halten es beispielsweise für wichtig, leidensfähigen Tieren kein unnötiges Leid zuzufügen, während wir als Gesellschaft gleichzeitig Dutzende Zuchtrassen von Hunden und Katzen für vertretbar halten, bei denen kein Zweifel besteht, dass sie einzig und allein für unsere ästhetischen Präferenzen so gezüchtet wurden, wie sie heute aussehen, und dabei körperlich unter ihrer Zucht leiden.

Abb. 2: Abbildung eines Mopses vor und nach der selektiven Züchtung (1802 vs. 2012)

Der Mops im 19. Jahrhundert unterscheidet sich deutlich von dem aktuell in Deutschland gültigen Rassestandard. Im Vergleich zum heutigen Mops mit rundem Kopf und stumpfem Körper war er früher deutlich hochbeiniger, besaß eine längere Schnauze und tiefliegendere Augen. Bei Tieren mit gekürzter Nase wie dem Mops lassen die feinen Lamellen der Nasenmuscheln kaum noch Luft durchströmen und aufgrund ihrer hervorquellenden Augen neigen sie vermehrt zu Hornhautentzündungen.

Kohärenz: Von einer Wissenschaft wird gefordert, dass ihre normativen und/oder deskriptiven Sätze ein kohärentes Ganzes ergeben, also in einem sachlichen Zusammenhang zueinander stehen bzw. einen »roten Faden« erkennen lassen, und nicht einfach nur zusammenhanglose Einzelelemente darstellen. Unsere Alltagsmoral wird auch dieser Minimalanforderung oft nicht gerecht, denn unsere moralischen Überzeugungen folgen keineswegs immer einem grundlegenden Prinzip und existieren häufig nebeneinander ohne sachliche Verbindung. Wir haben moralische Haltungen zu unterschiedlichsten Themen, ohne dass sie eine Ableitung aus einem leitenden normativen Ansatz wären. Vielfach wird nicht einmal die Frage gestellt, ob die eigenen Wertvorstellungen in irgendeiner inhaltlichen Verbindung zueinander stehen könnten oder sollten. In der Ethik werden einzelne Handlungen bzw. Sichtweisen hingegen nicht einfach völlig losgelöst voneinander betrachtet: Es wird ein ethisches Modell zugrunde gelegt (z. B. eine Vertragstheorie, eine Mitleidsethik oder ein utilitaristischer Ansatz),44 von dem aus eine Einschätzung gegenüber den einzelnen ethischen Fragestellungen erfolgen kann.

Luzidität: Von einer Wissenschaft wird erwartet, dass von ihr verwendete Begriffe luzide, also verständlich, klar und eindeutig sind. Begriffe müssen demnach, wo nötig, definiert werden. Einige Grundbegriffe unserer Alltagsmoral werden diesem Anspruch ebenfalls nicht gerecht. Der Versuch, Menschen um eine Erklärung zu bitten, was sie beispielsweise damit meinen, wenn sie von »Würde« oder »Ehre« sprechen, offenbart sehr schnell, dass unsere im Alltag verwendeten Begriffe oft nicht luzide sind.

Zusätzlich zu diesen drei allgemein akzeptierten Mindestanforderungen ließe sich darüber hinaus noch einwerfen, dass der Anspruch an Wissenschaftlichkeit eine empirische Überprüfbarkeit voraussetzt. Das bedeutet, dass Aussagen, die das Bestehen eines Sachverhaltes behaupten, zumindest prinzipiell überprüfbar sein sollten. Dies ist in den Naturwissenschaften eine Selbstverständlichkeit. In der Ethik existieren allerdings zahlreiche Ansätze, deren Grundsätze sich einer Überprüfung entziehen. Ein klassisches Beispiel, das hier angeführt werden kann, stellt Arthur Schopenhauers berühmte Preisschrift über die Grundlage der Moral dar, in der er schrieb, dass die »Abwesenheit aller egoistischen Motivation […] das Kriterium einer Handlung von moralischem Wert« sei.45 Gesetzt, dass überhaupt davon ausgegangen wird, dass es gänzlich unegoistische Handlungen geben kann: Es ist in der Praxis nicht möglich festzustellen, ob die Handlung einer Person aus egoistischen oder selbstlosen Gründen erfolgt ist. Es handelt sich also um ein Kriterium ohne praktischen Wert. Als vierte Minimalforderung könnte daher formuliert werden, dass auch in den normativen Wissenschaften nur die (An-) Sätze zulässig sein sollten, die sich wenigstens nicht grundsätzlich einer Überprüfbarkeit entziehen. Aus Konsistenzgründen abgeleitete Schlussfolgerungen können hier eine Ausnahme bilden.

Die Erläuterung dieser wissenschaftlichen Minimalstandards sollte eine grobe Vorstellung davon erzeugt haben, was die Ethik ganz allgemein von unseren moralischen Vorstellungen trennt: Ethik ist die systematische, sich an wissenschaftliche Grundregeln haltende Analyse, die unsere Handlungen und die Organisation unserer Gesellschaft zum Gegenstand hat. Vereinfacht gesagt beschäftigt sich die Ethik mit der Theorie der Moral. Somit ist Ethik sozusagen die Wissenschaft über die Moral. Während also »Moralen« koexistieren können, kann es nur eine Ethik als wissenschaftliche Disziplin geben. Wenn »Don’t go Veggie«-Autor Udo Pollmer also sagt, Moral würde immer dann vorgeschoben, wenn man keine Argumente mehr für eine Position habe,46 dann ist das zwar grundsätzlich nicht falsch, und tatsächlich kann man in sich widersprüchliche und damit irrationale moralische Werte als »Ausrede« für fehlende stichhaltige Argumente vorschieben, die einem Konsistenztest nicht standhalten und damit nicht geeignet sind, eine Handlung (oder die Unterlassung einer Handlung) zu rechtfertigen. Aber wenn es um die Tierethik als wissenschaftliche Disziplin sowie stringent formulierte ethische Kritik an einem System wie der Tierhaltung geht, dann kann man diese nicht ohne stichhaltige Gegenargumente einfach abtun, als wären das rein subjektive Pseudoargumente oder willkürlich erfundene Ausreden. Somit ist das moralische Argument für den Veganismus auf Basis der Tierethik ganz und gar nicht ein vorgeschobenes Argument, weil es an anderen gewichtigen Argumenten fehlt. Es ist im Gegenteil der Kern des Veganismus als soziale Gerechtigkeitsbewegung. Die Kritik am Speziesismus ist ebenso wie Kritik an Rassismus und Sexismus solide ethisch begründbar und bedarf keines ökologischen oder gesundheitlichen Zusatznutzens, um legitimiert zu werden. Frauenrechte existieren in der Gesellschaft nicht deshalb, weil sich Männer davon Vorteile erhoffen. Es geht dabei um das Wohl der Frauen. Ebenso müssen Tierrechte nicht darauf fußen, dass sich Menschen davon persönliche Vorteile erhoffen, sondern es geht ausschließlich um das Wohl der Tiere. Aber warum sollte man Tieren gegenüber eigentlich gerecht sein?

Das Ziel der Ethik

Normative Sätze können nicht wie deskriptive Sätze für sich in Anspruch nehmen, wahr zu sein – sie können nur für sich beanspruchen, im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel angemessen, also zielführend zu sein. Bei der Herstellung von Einzelteilen eines technischen Gerätes erfüllen Normen wie die Vorgabe von Größe und Material den Zweck, die Funktionsfähigkeit des finalen Produkts sicherzustellen; aber welches Ziel verfolgen ethische Normen?

Im Rahmen dieser Einleitung wurde bereits darauf hingewiesen, dass die naturwissenschaftliche Forschung im Normalfall kein Wissen als Selbstzweck generiert, sondern außernaturwissenschaftliche Ziele verfolgt. Analog dazu kann gefragt werden, was die Ethik beabsichtigt, wenn sie ermitteln will, wie wir handeln und wie wir uns organisieren sollen, denn auch richtiges Handeln ist kein Selbstzweck. Es dient einem anderen Zweck. Wenn wir darüber nachdenken, was unser Handeln im Allgemeinen, im Großen und Ganzen antreibt, wird Einigkeit darüber zu erreichen sein, dass es uns letztlich darum geht, ein gutes, ein gelingendes Leben zu führen, auch wenn darunter etwas sehr Unterschiedliches verstanden werden wird.

Der Wert einer ethischen Position oder eines ethischen Ansatzes wäre demzufolge danach zu bemessen, inwiefern er dazu geeignet ist, ein gutes Leben zu fördern. Das Einhalten der Minimalanforderungen der Wissenschaftlichkeit dient in dieser Hinsicht dem Zweck, Willkür auszuschließen. Dort, wo Willkür herrscht, ist kein dauerhaft funktionierendes Miteinander möglich. Wer sich herausnehmen möchte, andere willkürlich behandeln zu dürfen, hat keinerlei Basis, sich zu beklagen, wenn er oder sie selbst willkürlich behandelt wird.

Gerechtigkeit als Willkürausschluss

Da Willkür zu unbegründeter Schlechterbehandlung führen sowie einem funktionierenden Miteinander im Wege stehen kann, ist es im Interesse aller Menschen, die nicht vollständig isoliert und völlig unabhängig von anderen leben, Willkür zu vermeiden, solange sie über das weitsichtige Verständnis verfügen, welchen Preis es haben kann, es nicht zu tun. Der Ausschluss von Willkür ist daher eine wesentliche Grundlage für ein gutes Leben. Infolgedessen stellt der Grundsatz, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, für die Ethik den zentralen Aspekt der ersten Minimalanforderung der Wissenschaftlichkeit (Konsistenz) dar. Die beiden folgenden Beispiele dienen zur Illustration, was genau darunter zu verstehen ist.

Man stelle sich einen Vater vor, der mit seinem Sohn ein Würfelbrettspiel spielen möchte. Der Vater nimmt sich hierfür von den zwei vorhandenen Würfeln den roten und gibt den grünen seinem Sohn. Nach einem kurzen Zögern klagt sein Sohn, dass er lieber den roten Würfel haben möchte, da es mit diesem doch vermeintlich einfacher sei, eine Sechs zu bekommen, obwohl die Würfel, von der Farbe abgesehen, identische Eigenschaften haben.

Wie hinlänglich bekannt, hat die Farbe eines Würfels keinen Einfluss darauf, welche Zahl gewürfelt wird. Wenn das Ziel darin besteht, einen Würfel zu wählen, der häufiger eine Sechs ergibt, wäre das entscheidende Kriterium für die Wahl, ob bei einem der Würfel ein Ungleichgewicht im Material vorliegt, das die Wahrscheinlichkeit für eine Sechs erhöht. Daraus folgt, dass in diesem Kontext kein Anlass für eine Ungleichbehandlung der beiden Würfel vorliegt. Besteht hingegen der Wunsch, einen Würfel zu wählen, den man besonders schön findet, kann die Farbe eine wichtige Rolle spielen, denn eine Ungleichheit der beiden Würfel in Bezug auf ihre Farben wäre in diesem Kontext ein Anlass für eine Ungleichbehandlung.

Abb. 3: Roter und grüner Würfel

Ist die Farbe des Würfels für die Ergebnisse des Würfelns relevant?

Als ein zweites Beispiel kann das nachstehende Szenario dienen: Eine junge Frau hat gerade ihre neue Wohnung bezogen und mit der Hilfe einer Freundin frisch möbliert. Einen Tag nach dieser Großaktion merkt sie, dass sie doch lieber eine Sitzecke haben möchte, statt die Couchmöbel recht mittig stehen zu haben. Während sie den Couchsessel schon einmal selbst zur Seite stellt, rührt sie die Couch nicht an und ruft noch einmal ihre Freundin an, um sich Hilfe zu holen.

Abb. 4: Couch und Couchsessel

Gibt es einen relevanten Unterschied zwischen der Couch und dem Sessel, der dazu führen kann, dass nur der Sessel problemlos alleine umgestellt werden kann?

In diesem Fall ist augenscheinlich ersichtlich, warum die Frau den Sessel und die Couch unterschiedlich behandelt, obwohl es sich bei beiden um Sitzgelegenheiten handelt. Während der Sessel sowohl von der Größe als auch vom Gewicht her gut alleine getragen und umgestellt werden kann, ist die Couch für eine einzelne Person zu schwer und zu unhandlich, um sie einfach anzuheben und an eine andere Stelle zu stellen. Im Vergleich zu dem Würfel-Szenario liegt also hier ein sinnvoller Grund für eine Ungleichbehandlung in Bezug auf das angesprochene Kriterium vor.

So trivial diese Beispiele auch erscheinen mögen: Sie können helfen zu verstehen, worauf es in der Ethik ankommt, wenn es zu klären gilt, ob eine Gleich- oder Ungleichbehandlung angemessen ist. Wenn entschieden werden muss, welchen Menschen es ermöglicht werden soll, einen Führerschein zu erwerben, sind das Geschlecht oder die Hautfarbe einer Person unerheblich, da diese Eigenschaften für die Frage irrelevant sind, ob ausreichende Fähigkeiten dafür vorliegen, ein Fahrzeug sicher führen zu können. Die Begriffe Sexismus und Rassismus zielen genau auf solche nicht begründbaren Ungleichbehandlungen ab, und vegan lebende Menschen möchten mit dem Begriff Speziesismus darauf hinweisen, dass derartige Ungleichbehandlungen nicht nur zwischen Geschlechtern oder Ethnien bzw. »Rassen«, sondern auch zwischen ganzen Spezies stattfinden. Wenn Gleiches gleich zu behandeln ist, dann kann das Ziel, jemandem nicht ohne vernünftigen Grund Leid zuzufügen, nicht auf Menschen alleine beschränkt werden, da die Fähigkeit zu leiden nicht an der Artengrenze Halt macht. Wer diese Form der Berücksichtigung auf Menschen beschränken will, müsste im Sinne der Willkürvermeidung aufzeigen können, welche in dieser Hinsicht relevante Eigenschaft alle Menschen von anderen Tieren bezüglich des Zufügens von Leid trennt.

Die bloße Spezieszugehörigkeit kann für sich kein ausreichendes Kriterium sein, um eine klare Mensch-Tier-Grenze zu ziehen. Man stelle sich folgende Situation vor: Aufgrund einer technischen Panne hat sich der Feierabend eines Büroangestellten bis tief in die Nacht verzögert, sodass der Weg nach Hause anders als sonst durch menschenleere Straßen und einen um diese Zeit verlassenen Park führt. Im Zentrum des Parks lauert eine vermummte Person mit einer Waffe, die nun ihre Chance nutzen möchte, sich unter Androhung von Gewalt zu bereichern. Ausgerechnet an diesem Tag befindet sich in der Brieftasche des Angestellten jedoch nur noch das magere Wechselgeld des letzten Einkaufs. Ein Umstand, der die Situation völlig eskalieren lässt. Der Räuber brüllt: »Du hast jetzt 30 Sekunden, mir einen guten Grund dafür zu geben, warum ich dich jetzt nicht einfach erschießen sollte!« – Was würde der Büroangestellte wohl sagen? Welche Gründe würde man selbst in einer solchen Situation anführen?

Die Antwortmöglichkeiten sind natürlich vielfältig, jedoch wird man kaum erwidern: »Weil ich ein Mensch bin.« Würde man dies dem Räuber antworten, würde er es nicht für eine angemessene Begründung halten. Menschen wollen nicht bloß deshalb fair behandelt oder verschont werden, weil sie Menschen sind. Das Mensch-Sein ist jedoch mit Eigenschaften verbunden, die ihnen etwas bedeuten: Menschen haben Interessen, deren Durchkreuzung als unangenehm empfunden wird, sie haben Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen, sie können leiden, weswegen sie ein Interesse daran haben, Leid zu vermeiden – kurz: Menschen liegt aufgrund dieser Eigenschaften etwas an einem fairen und schonenden Umgang. Diese Interessen sind ebenso bei anderen Tieren vorhanden, auch wenn der Umfang oder die Ausprägung nicht immer identisch ist.

Obgleich Menschen soziale Wesen und im Normalfall auf irgendeine Weise auf andere Menschen angewiesen sind, lässt sich in vielen Situationen das Vorhandensein des Hangs, selbst dann den eigenen Vorteil zu suchen, wenn er nicht nötig wäre, kaum bestreiten. Philosophen haben daher im Verlauf der Geschichte immer wieder versucht, Gedankenexperimente zu formulieren und Vergleiche anzustellen, die dazu dienen könnten, diesen Hang zum Wohle aller zu überwinden. Einige dieser Versuche haben eine explizit »tierethische Stoßrichtung«, andere lassen sich durch geringfügige Abwandlungen hinsichtlich der Tierethik verständlich machen. Sie sind im Folgenden in einer knappen Auswahl als Mittel des Willkürausschlusses und im Dienste der Gerechtigkeit skizziert.

Der Haustier-»Nutztier«-Vergleich

Die große Mehrheit der Bevölkerung teilt die Einschätzung, dass die Art und Weise, wie wir mit unseren »Nutztieren« umgehen, ein nicht gerade kleines Problem darstellt. Während wir unsere Haustiere – wenn auch nicht immer oder ausreichend – lieben und uns bemühen, ihnen ein möglichst schönes und langes Leben zu ermöglichen, werden im Rahmen der Produktion tierischer Lebensmittel Handlungen gegenüber und Haltungsweisen von Tieren hingenommen, die bei unseren Haustieren zu Protesten und staatlichen Maßnahmen führen würden. Aber liegt tatsächlich eine ethische Begründung für eine Ungleichbehandlung von Haustier und »Nutztier« vor? Die standardmäßig vorgebrachte Begründung für diese Ungleichbehandlung lautet, dass man zu seinen Haustieren eine Beziehung habe und zu den »Nutztieren« nicht. Hält dieser Einwand einem Konsistenz-Test stand?

Dem Hinweis auf die persönliche Bindung zum Haustier ließe sich die Behauptung entnehmen, dass Haustiere letztlich nur aus egoistischen Motiven gut behandelt werden würden. Man tötet sie nur deswegen nicht und versorgt sie anständig, weil sie einem fehlen würden oder in einem schlechten Gesundheitszustand keine Freude bereiten. Der Anteil an Haustierhalter*innen, der diese Schlussfolgerung sachlich bestätigen würde, dürfte gering sein. Haustierhalter*innen wünschen ihren Tieren selbst ein glückliches Leben – nicht nur zu ihrem persönlichen Vorteil.

Eine andere Rechtfertigung könnte darin bestehen, dass man nur jenen Tieren ein gutes Leben wünscht, die man persönlich kennt. Allerdings wäre auch dieses Argument als irrational zu verwerfen, denn wenn man (Haus-)Tieren grundsätzlich zugesteht, dass es für sie etwas bedeutet, ein gutes und langes Leben zu führen, dann gibt es keinen Grund, dies zu ignorieren, bloß weil man ein Tier nicht persönlich kennt. Auch diese Rechtfertigung ist außerdem auf ihre Konsistenz hin zu prüfen: Wenn man der Meinung ist, dass es tolerabel wäre, Tiere scheußlich behandeln zu lassen, weil man sie nicht persönlich kennt, warum gilt dieselbe Logik nicht auch beim Menschen? Was ist der ethisch relevante Unterschied? Denkt man diesen Gedankengang weiter, wird die Widersprüchlichkeit schnell deutlich.

Das Argument der menschlichen Grenzfälle

Das Argument der menschlichen Grenzfälle47 lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1.Um behaupten zu können, dass ausschließlich Menschen ethische Berücksichtigung verdienen und Tiere daher keine, müsste es eine ethisch relevante Eigenschaft X geben, die alleine Menschen und nicht Tieren zugesprochen werden kann.

2.Alle Eigenschaften, die Menschen auf eine ethisch relevante Weise von anderen Tieren trennen könnten, fehlen allerdings bei einigen Menschen – sogenannte »menschliche Grenzfälle« wie Personen mit schweren geistigen Beeinträchtigungen.

3.Ethisch relevante Eigenschaften wie Leidensfähigkeit, die alle Menschen (auch »menschlichen Grenzfälle«) haben, werden auch vielen Tieren zugesprochen.

4.Daher gibt es keine Möglichkeit, widerspruchsfrei rechtfertigen zu können, dass nur Menschen eine ethische Berücksichtigung verdienen.48 Dieses Argument dient dabei keineswegs dazu, Menschen mit schweren geistigen Behinderungen (oder andere »menschliche Grenzfälle«) abzuwerten. Das Bestreben gilt der Aufwertung von Tieren. Die eigentliche Abwertung erfahren Menschen mit schweren geistigen Einschränkungen, da Faktoren wie Intelligenz, Zukunftspläne, Selbstbewusstsein usw. von manchen Personen zum Maßstab für ethische Berücksichtigungswürdigkeit erhoben werden. Die genannten Merkmale werden auch von vielen Vegankritikern als relevante Unterscheidungsmerkmale des Menschen gegenüber Tieren und als Begründung für ihre Ungleichbehandlung herangezogen. Gerade mit diesen Kriterien wird aber – oftmals auch unbemerkt – behauptet, dass Menschen mit Behinderungen die Eigenschaften fehlen, die eine ethische Berücksichtigungswürdigkeit begründen. Es ist für die ethische Berücksichtigung aber nicht von Bedeutung – und das schrieb auch der britische Philosoph Jeremy Bentham bereits im Jahr 1789 –, ob man denken oder sprechen kann, sondern ob man leiden kann.49 Die Leidensfähigkeit ist für alle Menschen sowie für eine Vielzahl anderer Spezies gut belegt und kann bezüglich des ungerechtfertigten Zufügens von Leid kein Merkmal für eine Ungleichbehandlung dieser Tiere (und selbstverständlich auch nicht von Menschen mit geistigen Behinderungen) sein.

Die Goldene Regel in der Formulierung Leonard Nelsons

Die Goldene Regel in all ihren Varianten darf wohl als der bekannteste ethische Grundsatz der Welt bezeichnet werden. Im deutschsprachigen Raum sind besonders diese beiden Formulierungen geläufig:

Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.

Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.

Diese zwei in der Alltagsmoral oft unkritisch herangezogenen Versionen weisen jedoch einen – durchaus schwerwiegenden – Mangel auf: Sie machen die eigenen Präferenzen zum Maßstab und fordern dazu auf, diese einfach auf eine andere Person zu übertragen. Nach dieser Logik müsste es für Masochist*innen ethisch vertretbar sein, Sexualpartner*innen ohne eine zuvor eingeholte Einwilligung zu schlagen oder zu demütigen.

Der Philosoph Leonard Nelson hat dieses Problem bereits 1917 in seinem Werk »Kritik der praktischen Vernunft« berücksichtigt und eine eigene Goldene Regel als »Abwägungsprinzip« formuliert. Sie lautet:

»Handle nie so, dass du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.«50

Mit dieser etwas sperrigen Variante wollte Nelson darauf hinweisen, dass es zwingend erforderlich ist, sich aufrichtig um die Einschätzung zu bemühen, was denn die von der Handlung betroffene Person (Nelson bezeichnet auch Tiere als Personen) will oder nicht will. Auf der Basis dieser – nie gänzlich sicheren – Einschätzung soll dann versucht werden, die eigenen und die fremden Interessen gerecht abzuwägen. Um der Gefahr der Voreingenommenheit für die eigene Sache entgegenzuwirken, sollen die fremden Interessen zusätzlich als die eigenen Interessen betrachtet werden. Zwei Beispiele können verdeutlichen, wie Nelson sich diesen Vorgang vorgestellt hat:

Beispiel 1: Wenn es zu entscheiden gilt, ob einem Hund ein günstigerer einfarbiger oder ein teurer gemusterter Keramikwassernapf gekauft werden soll, sind von der Entscheidung nach Nelson zwei Parteien betroffen. Hundebesitzer*innen haben (zumindest in vielen Fällen) das Interesse, einen preiswerten Wassernapf zu kaufen, der nicht unnötig teuer sein muss, sodass sie eine Präferenz für den günstigeren Napf haben. Der Versuch sich in die Hunde hineinzuversetzen, führt schnell zu einem Ergebnis: Ihnen ist es (aller Wahrscheinlichkeit nach) völlig egal, wie ihr Napf aussieht. Die Hundehalter*innen können nun beide »Haltungen« (den Wunsch, Geld zu sparen, und die vermutete Gleichgültigkeit der Hunde hinsichtlich der Beschaffenheit des Napfes) gedanklich abwägen. Sie können also den günstigeren Napf kaufen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.