Vents: Schwarzer Sand - Robin Thier - E-Book
SONDERANGEBOT

Vents: Schwarzer Sand E-Book

Robin Thier

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Am Rande des Universums sind Menschenleben nicht viel Wert. Vee hat schon ihr ganzes Leben auf dem kleinen Planeten “Cato” verbracht und von einem besseren Leben geträumt. Seit sie denken kann umhüllen schwarze Staubwolken den Planeten und machen das Leben dort zur Qual für jedes atmende Wesen. Als sich für Vee die einmalige Chance zur Flucht aus der sandigen Hölle ergibt, lässt sie sich auf einen gefährlichen Job ein: Etwas von dem am besten gesicherten Ort auf dem Planeten stehlen. Doch mit einem Mal geht alles schief ... Dune trifft Cyberpunk: Ein rauer Scifi-Thriller vom Rande des Universums. Nomiert für den Seraph 2022 – Phantastikpreis Gewinner: Tolino Media Newcomerpreis 2023 (3. Platz)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vents

Schwarzer Sand

Robin Thier · Michael Cremann

Inhaltswarnungen auf der letzten Seite

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet auf

klappkatapult.de

Vollständiges E-Book, Version 2021

1. Auflage

©Klappkatapult, Münster.

Verlag: Klappkatapult

Hörsterstraße 37, 48143 Münster

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf, vollständig oder teilweise, nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung, Satz: Robin Thier

Illustrationen: nekovoid

Lektorat: Lena Hortian, Ann-Kathrin Hickert

_01

Vee hastete die Stufen hoch. Kurz rutschte sie auf dem feinen schwarzen Sand aus, der den Boden, ihre Kleidung und alles andere auf diesem gottverdammten Planeten bedeckte. Sie strauchelte, fing sich wieder und sprintete weiter. Noch zwanzig Meter bis zur Plattform. Zehn Meter. Sie wich zwei finster aussehenden Typen aus, die in die typische Vermummung des Planeten gewickelt waren: lange Bahnen dunkler Stoffe, die sie vor Sonne und Staub schützen sollten. Dazu hatten sie klobige Brillen vor den Augen, um Zugang zum örtlichen Feed zu bekommen.

In letzter Sekunde stieß sie einen Mann zur Seite, machte einen Satz und schlitterte wenig elegant ins Innere des halboffenen Waggons.

»Hab den 1206er bekommen!« Vee atmete schwer. Das war knapp gewesen. Die Türen schlossen sich scheppernd hinter ihr und unvermittelt ruckte die Magnetschwebebahn nach vorn. Ein Haltegriff, dessen Polsterung schon vor Vees Geburt abgefallen war, informierte sie über die Existenz ihrer untersten Rippe. Sie keuchte überrascht auf und krümmte sich zusammen. Die alte Schwebebahn gewann stockend an Fahrt und schwankte dabei leicht hin und her. Mit Mühe das Gleichgewicht haltend, tastete sie nach dem Griff. Die Bahn war ursprünglich als schnelles Transportmittel für Panzerfahrzeuge der Union konstruiert worden. Eine große, oben offene Lore, die an einer dünnen Schiene hing und von der Seite mit bis zu drei Panzern der Friedenstruppen beladen werden konnte. Hier auf Cato hatte sie jedoch einen anderen Zweck: Die Verankerungen am Boden waren demontiert worden und dafür hatte man Haltestangen, Sitze und ein Schaffnersystem eingebaut. Wer einen Job hatte, bekam eine Fahrtberechtigung für diesen offenen Ritt durch einen Sandsturm.

Vee packte einen der Haltegriffe und rieb sich mit finsterer Miene die schmerzende Seite. Sie schlang sich ihr Tuch wieder um Kopf und Gesicht. Bei den Geschwindigkeiten nagte der schwarze Staub, der über den offenen Waggon fegte, an jeder freien Hautstelle.

»Leute, ich hab den 1206er. Leute?« Sie griff sich unter ihrem Kopftuch ans Ohr und spürte das Fehlen ihres Koms. Sie nestelte ihre Bauchtasche auf, holte das leidige Ding heraus und heftete es an das kleine Implantat über ihrem Ohr. Mit der anderen Hand überprüfte sie ein weiteres Mal, ob sich der Datenstick noch in der Tasche befand. Egal, ob sie pünktlich war. Es ging um den Stick. Dann kauerte sie sich vor der Tür auf den Boden, um dem Wind etwas weniger Angriffsfläche zu bieten, und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Einatmen.

Ihre Gedanken rasten. Warum musste nur alles so verdammt schief gehen? Warum ausgerechnet heute?

Ausatmen.

Nach ein paar Minuten reckte sie den Kopf und blinzelte auf das durch den Staub fast blind geschliffene Display mit dem Fahrplan und der geschätzten Ankunftszeit.

Verdammt, kann das Ding nicht schneller fahren?

Schon jetzt flog die Stadt nur so an ihnen vorbei. Immer wieder tauchte der Waggon in den Schatten eines hohen Gebäudes ein, das entweder vom Boden herauf wuchs oder direkt aus der Canyonwand ragte. Viele waren Wohngebäude mit Appartements für die Bessergestellten, für diejenigen, die einen Job hatten. Bei den meisten aber handelte es sich um riesige, zylinderförmige Tanks, in denen Algen angebaut wurden. Das gesamte Wasser der Stadt floss zunächst durch sie, um die Kulturen am Leben zu halten. Das Wasser, ein bitteres Gefühl stieg in Vee auf. Fürs Essen wurde es verschwendet, zum Trinken wurde es rationiert. Mitten in der heißen schwarzen Wüste, die nur deshalb habitabel war, weil die hunderte Meter tief reichenden Canyonwände zu beiden Seiten vor der stärksten Sonne und dem schlimmsten Wind schützten, schwammen Menschen in Wassertanks. Es war gerade Dienstantritt und sie erkannte in den transparenten Tanks, an denen sie vorbeiglitten, Menschen in Taucheranzügen. Sie ernteten die grün-braunen Algen oder kontrollierten die Wasserqualität. Die Algen waren die größte Industrie auf Cato. Sie wurden gegessen und an Fische verfüttert und selbst die Fliegen, mit denen man die Geckos mästete, ernährten sich von den Abfällen der Algenzucht. Und damit nicht genug: Der in den Tanks produzierte Sauerstoff – mit Sonnenenergie zu Blöcken gefroren – wurde von hier in die ganze Galaxis exportiert.

Bei so vielen Leuten, die gerade unterwegs waren, fiel sie in dem Waggon nicht weiter auf – zum Glück. Vee schluckte und schmeckte den Staub auf ihrer rissigen Lippe, sie zog das Tuch fester über ihren Mund. Erneut fuhr ihr Blick über die Anzeige. Mach schon, schneller! Sie hatten kaum noch Zeit, das würde knapp werden. Wieder griff sie nach dem Kom und öffnete die Sprachverbindung.

#

CPTG6486 beendete nach erfolgreichem Start das Routineprotokoll. Es fuhr diese Strecke heute zum vierten Mal, jetzt als Linie 1206, und zum ersten Mal an diesem Tag aktivierte es seinen »Schaffner-Avatar.« »Schaffner-Avatar« fuhr seine Systeme hoch. Die mechanischen Gelenke wurden der Reihe nach geprüft und auf Fremdkörper gescannt. Die Gesichtserkennungsroutinen fuhren hoch und machten einen Test. Er glich seine Datenbank von Fahrberechtigungen und zur Fahndung ausgeschriebenen kriminellen Subjekten mit der Zentrale ab. Während er sich daran machte, die unvermeidlichen Schwarzfahrer zu sanktionieren, schoss CPTG6486 mit den geplanten 168 km/h die ansteigende Kurve hinauf. Ein Mensch hätte wahrscheinlich ein Problem mit dem Blick der Außenkameras gehabt: Die eine fokussierte die einzelne 20 Zentimeter breite Magnetschiene, auf der CPTG6486 dahin schoss, die andere schaute hinunter in den Abgrund, auf die Straßen der Stadt. Dabei glitt der Wagen haarscharf zwischen den hohen Gebäuden hindurch, die sich wie dunkle Speerspitzen in die Höhe reckten. Zu beiden Seiten erhoben sich in der Ferne die Canyonwände mit ihren beinahe senkrechten Straßen und den horizontalen Häusern, die daraus hervor stachen. CPTG6486 interessierte sich naturgemäß nicht für die beeindruckende Aussicht. Seine Routinen konzentrierten sich allein auf seine Strecke, die Sensoren und auf Connor Jackson Lee – männlich, 38, wohnhaft in Appartementkomplex 35b, Abschnitt h-21, Tür 3, Bett oben links – der nun schon seit 8,6 Sekunden eine Antwort auf die Standardanfrage formulierte.

»Ich wiederhole: Fahrtberechtigungsquittung, bitte«, ließ CPTG6486 seinen »Schaffner-Avatar« wiederholen. Geweitete Pupillen, spontane Tropfenbildung auf der Stirn, Unfähigkeit, den Blick zu fokussieren – Conner Jackson Lee wies alle Anzeichen eines Schwarzfahrers auf.

»In Übereinstimmung mit den allgemeinen Beförderungsbedingungen der Canyon-Personentransport-Gruppe, entziehe ich ihnen hiermit das Beförderungsprivileg.« Mit diesen Worten ließ CPTG6486 den »Schaffner-Avatar« seiner Hauptaufgabe nachgehen.

#

Drei schnelle Signaltöne hallten in ihrem Kopf und Vee war wieder online.

»… melden verdammt noch mal!«, hörte sie Marc fluchen.

»Bin drin – hab den 1206er«, gab sie zurück und bekam nur ein undeutliches Brummeln als Antwort. Trotz des andauernden Vibrierens und Rüttelns der Bahn und des Staubs, der zwischen dem Stoff in ihr Gesicht biss, konnte sie ihren Teamkollegen gut hören. Der kleine Eingriff, der ihr vor zwei Jahren das Implantat hinter dem Ohr beschert hatte, zahlte sich aus: Knochenschall war immer glasklar zu verstehen, während die Umwelt gleichzeitig nicht ausgeblendet wurde. Vee lehnte sich gegen die Metallplatten des Waggons und schaute über die Stadt hinweg, die sich im Halbdunkel der mattschwarzen Canyonwände unter ihr erstreckte.

»Wie viel Zeit habe ich noch?«, fragte sie schließlich und stellte sich vor, wie Marc sich von seinen Bildschirmen losriss.

»Es reicht, gerade so. Jetzt darf nichts mehr schiefgehen«, gab er zurück. Vee spürte einen Kloß im Hals. Warum musste der Liner auch heute schon kommen? In den letzten Jahren hatten die Bewohner von Cato ihre Kalender nach dem Teil ausgerichtet. Er kam immer nach genau 360 Tagen. Doch jetzt, aus irgendeinem Grund hatte es eine Umstellung gegeben, eine Komplikation oder sonstwas. Verflucht, sie hätten noch gut zwei Monate für ihre Vorbereitungen haben sollen!

Anyas hohles Kichern riss Vee aus ihren Gedanken: »Das glaubst du doch selbst nicht, Marky Marc?«

»Raus. Aus. Der. Leitung!«

Vee musste schmunzeln, Anya war die Dritte im Bunde und sie konnte es überhaupt nicht leiden, wenn sie nicht wusste, was abging. Deshalb verbrachte sie jede freie Minute im Kanal des Teams – deshalb, und um Marc zu ärgern. Während sie dem Streit zuhörte, atmete Vee tief durch. Es ging los. Jahre der Planung und Vorbereitung waren gerade dabei, sich in feinen schwarzen Staub aufzulösen. Aber das bedeutete auch: Heute ging es endlich los.

Mit einem Mal zog etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich. Eine Bewegung, ein Aufblitzen von Metall etwas weiter vorne. Sofort kauerte sie sich wieder auf den Boden.

»Scheiße, scheiße, scheiße.« Sie spähte zwischen den Beinen einiger anderer Passagiere hindurch.

»Was gibt’s?« Marc klang gestresst.

»Wir haben ein Problem«, zischte sie und beugte sich weiter vor, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu haben. Wenige Reihen vor ihr wurde ein hagerer Typ mit einem übertrieben bunten Hemd von einem metallenen Ungetüm an der Schulter gepackt. Er wehrte sich heftig, aber der mechanische Griff saß unerbittlich.

»Schaffner-Avatar«, flüsterte Vee und hörte einen erstickten Fluch vom anderen Ende.

»Wie lange noch?«

»Ich weiß nicht, er hat jemanden rausgezogen.«

Der Roboter, der mit über zwei Metern fast jeden hier überragte, hatte seine Sensoraugen zum Glück fest auf sein Opfer gerichtet. Der Mann hatte kein Beförderungsprivileg, so einfach war das für den Bot. Für die Menschen hier auf Cato war es nicht ganz so einfach.

Die Fahrtberechtigung erhielten nur diejenigen, die sich in der Gesellschaft verdient machten, die einen Platz in ihr hatten. Wer unter dem Radar lebte und zu den Illicits gehörte, so wie Vee und ihr Team, hatte weniger Glück. Der Mann machte flehende Gesten und schien irgendwas zu brüllen, durch den tosenden Wind drang jedoch keines seiner Worte an Vees Ohren.

»Vee, du musst da weg. Sofort.«

Sie antwortete nicht, sondern beobachtete, wie die Maschine zur Tür stapfte und den Mann dabei hinter sich her schleifte. Die Verriegelung öffnete sich und die meisten Menschen wandten die Blicke ab, starrten zu Boden oder schüttelten leicht den Kopf. Mit einer beinahe nachlässig aussehenden Bewegung schleuderte der Schaffner-Avatar den panischen Mann bei voller Fahrt hinaus, hunderte Meter in Richtung Boden. Die Tür schlug zu. Der Bot drehte sich wieder um und wandte seine Aufmerksamkeit einer jungen Frau zu, die mit zitternden Händen einen transparent schimmernden Fahrschein vorzeigte. Kurz leuchtete eines der Sensoraugen grün auf und die Gestalt schritt weiter – in Vees Richtung. Sofort zog sie den Kopf zurück und kauerte sich zwischen die Metallstreben der Außenverkleidung.

»Okay, er kommt«, flüsterte sie und umklammerte eine der Stangen, »ich bin komplett am Arsch.«

Kurz hörte sie nur Stille am anderen Ende und befürchtete schon eine Funkstörung, dann drang Marcs Stimme wieder an ihr Ohr: »Kannst du ihn ablenken?«

Hektisch schaute sie sich um. Nichts, hier war nichts.

»Nein, andere Ideen?«, gab sie zurück, wartete die Antwort aber gar nicht erst ab. Natürlich gab es da noch eine Sache, die sie tun konnte, aber die war kein Spaziergang. Ein metallener Fuß, aus dem Hydraulikschläuche heraustraten, schob sich in ihr Blickfeld.

»Marc …«, setzte sie an, »ich werd hier aussteigen.«

Sie sprang auf und griff nach dem umlaufenden Sicherheitsbügel. Ein entsetztes Keuchen hallte in ihrem Kopf wieder, als Marc begriff, was sie vorhatte.

»Vee, du kannst nicht …«, schrie er, aber sie setzte bereits über das Geländer auf den Rand des Waggons.

Der Fahrtwind schlug auf einmal mit aller Macht zu und unter ihr zogen die grau-schwarzen Schlieren der Gebäude vorbei – viel zu schnell, als dass sie Einzelheiten erkennen konnte. Sie drehte sich noch einmal um und schaute in das Metallgesicht des »Schaffner-Avatars«, dessen leblose Sensoraugen direkt auf sie gerichtet waren. Ein rascher Blick nach unten – blöde Entscheidung. Sie war so schnell, dass ihr Magen schon zu rebellieren begann. Sie versuchte langsam zu atmen, konzentrierte sich. Die Welt ruckte, dann ein Flackern und die verschwommenen Gebäude wurden scharf, verlangsamten sich zu einem gemächlichen Dahinkriechen. Nun konnte sie sogar die Sandkörner sehen, die im Wind unablässig gegen die Traversenwagen stoben und die gelbe und schwarze Farbe vom Metall fraßen. Die nächsten Wohnblocks zogen unter ihr vorbei. Sie versuchte sich auszumalen, wie tief sie fallen würde, verwarf den Gedanken aber wieder. Nicht daran denken, Vee … Nur nicht daran denken.

Als Nächstes kam ein Bürogebäude in Sicht. Reichte der Abstand?»Fahrtberechtigungsquittung, bitte«, hallte es wie in Zeitlupe hinter ihr.

Na muss ja! Sie löste den Griff und stieß sich vom Geländer ab.

Die Panik in ihrem Kopf schrie auf, lauter als alles um sie herum. Jetzt ging alles ganz schnell, ein Flackern, ein Aufprall und schon wirbelte sie über das Dach des Bürogebäudes, eine dunkle Wolke schwarzen Staubs hinter sich her ziehend. Das Gitter eines in die Höhe ragenden Lüftungsschachts bremste ihre Landung mit einem harten Schlag.

» … in voller Fahrt rausspringen! Das kannst du nicht machen? Vee! Mach keine Dummheiten, hörst du? Vee?« Marcs Stimme überschlug sich, als Vee sich ächzend auf den Rücken drehte und ein schlimmer Husten ihrer Kehle entwich.

»Vee?!«, rief er zugleich vorwurfsvoll und erleichtert – typisch Marc halt, der machte sich aber auch immer zu viele Sorgen. Und er ging auch nie ein Risiko ein – allerdings hatte er auch meistens Erfolg damit. Das war auch der Grund, weshalb er der Anführer der Sache war.

Als sie bestimmt eine Handvoll Staub gehustet hatte, spuckte Vee einen teerfarbenen Klumpen neben sich aufs Dach und sah angeekelt zu, wie der zähe Schleim sofort unter dem schwarzen Sand begraben wurde, der sich langsam wieder um sie herum legte.

Dreckszeug, dachte sie. Drecksplanet!

Marc brabbelte weiter irgendwas in ihrem Kopf und mit noch immer belegter Stimme antwortete sie leise: »Bin ausgestiegen.« Sie musste auf einmal grinsen, als ihr klar wurde, wie absurd die Antwort war. «Sau schlechter Service«, setzte sie noch hinzu.

Noch bevor Marc zu einer Tirade ansetzen konnte, hallte Anyas Stimme durch den Kom. »Wohohooo Girl! Alles cool bei dir?«

Eine gute Frage! War alles cool? Versuchsweise bewegte sich Vee und wackelte dabei mit Fingern und Zehen. Es fühlte sich alles zwar etwas »durcheinander« an, aber die erwarteten Schmerzen blieben aus.

»Mir geht’s gut.« Sie rappelte sich auf und kam auf die Beine. Noch ein wenig schwankend stand sie auf dem Dach und sah dem Traversenwagen hinterher, der sich schnell von ihr entfernte, immer an der schmalen Leitschiene entlang.

»Ich hab nur gerade meine Mitfahrgelegenheit sausen lassen«, seufzte sie, »und lass mich raten Marc, das schaffen wir nicht mehr?«

»Wahrscheinlich«, bestätigte er trocken, »kommst du von dem Dach runter?«

Vee drehte sich einmal um die eigene Achse und sah … nichts. Gut, sie sah Cato. Kein schlechter Ausblick von hier oben. Wenn die horizontalen und vertikalen Gebäude nicht so heruntergekommen wären, wenn der Staub nicht wäre … könnte man die Stadt fast schön finden. Fast … Vee stolperte über das Dach. Überall um sie herum standen in krampfiger Enge dicht an dicht Häuser, wie die Menschen gerade in der Schwebebahn. Dort, wo ein Hochhaus nicht allzu weit in den Himmel ragte, hing über ihm ein weiteres, das seitlich in der Canyonwand verankert war. Und in ihren Schatten reihten sich Hütten und Verschläge, in denen noch mehr Menschen wohnten. Doch der meiste Platz wurde von den Algentanks eingenommen, besonders in der Mitte des Canyons, wohin die längste Zeit noch Tageslicht drang. Sie selbst stand im Schatten der hohen schwarzen Felswände. Und dann waren da die Raumschiffe. Wie riesige Fremdkörper stachen sie so seltsam, so anders, so … fremd zwischen den hohen Häusern hervor. Nicht, dass irgendwer damit von diesem Planeten hätte runter kommen können.

Die Raumschiffe waren hier vor Generationen gelandet, nur um dann … nichts zu tun. Es kamen keine grünen Männchen heraus, keine Todesstrahlen, nichts. Sie standen einfach da. Fünf Schiffe, schwarzgrau, aber nicht ganz so dunkel wie der Sand. Sie wirkten fast organisch, wie Schlacke aus einem Hochofen und doch künstlich und auf eine verdrehte Art sogar schön. Niemand wusste, was sie hier taten und niemand interessierte sich mehr für sie. Sie waren hier und sie warfen Schatten. Schatten, in denen man wohnen konnte. So hatte die Stadt sie nach und nach verschlungen und die selbstgebauten Baracken der Illicits wuchsen eng an sie geschmiegt empor. Vee war in diesen dunklen Gassen aufgewachsen und wollte nie wieder dahin zurück.

»Vee«, ertönte Marcs Stimme wieder in ihrem Kopf, »rede mit mir!«

»Ähm …« Sie riss sich vom Anblick der Stadt los und wiederholte die Drehung. Aber da war keine Tür, keine Klappe oder auch nur eine manuelle Luke.

»Fliegen die hier aufs Dach oder was?«, fluchte sie und lief einige Schritte auf die Mitte der Fläche zu, in der Hoffnung, unter der Staubschicht den Griff einer Bodenluke zu finden.

Unvermittelt wurde es dunkler.

»Was ist jetzt?«, fauchte sie, sah nach oben und kniff die Augen zusammen.

»Der Liner ist angekommen«, sagte Marcs körperlose Stimme in ihrem Schädel, »das bedeutet, deine Zeit läuft. Vee …«

Der verdammte Liner, der ihnen alles kaputt machte. Vee ballte die Fäuste. Der »Liner« war ein riesiges, modulares Raumschiff. Es versorgte die Kolonien der Union mit allem, was Menschen am Rande des Universums so brauchten. Die Landemodule waren rechteckige Container von hunderten Metern Höhe, die im All wie Borsten von der Mittelachse des Liners abstanden. Bald würde so ein Ding auf dem Planeten landen. Vee blinzelte noch einmal nach oben. Das große Mutterschiff hatte gerade das Sprungtor des Systems verlassen und schob sich nun langsam vor die Sonne.

»Vee, wenn der Liner da ist …«, wiederholte Marc, nun drängender.

»Ich sehe es, danke für die Erinnerung. Es wird übrigens auf halb Cato dunkel, wenn sich das Ding vor die Sonne schiebt.« Vee bekam nur Anyas helles Lachen als Antwort.

Sie kauerte sich an den Rand des Daches und spähte auf die Menschen hinab, zog den Kopf jedoch sofort wieder zurück. »Der Liner kommt jedes Jahr und kaum ist er mal früher dran, glotzen die alle wie die Geckos beim Sonnenbad?«

»Es könnten Fliegen rauskommen.«

»Raus aus der Leitung, Anya!« Marcs Stimme war hart, es wurde also langsam wirklich knapp. »Gib mir ne Minute, vielleicht bekomme ich dich getrackt und kann dich da runter lotsen, der Satellit will aber noch nicht.«

»Wir haben keine Zeit«, wiederholte Vee seine Worte, »wir können nicht auf den Satelliten warten. Ich weiß ungefähr, wo ich bin und wie ich von hier zum Treffpunkt komme – notfalls immer der Schiene nach. Ich muss nur von diesem verfluchten Dach …«

Sie verstummte. Es gab eine Möglichkeit und sie begutachtete das große Lüftungsgitter, mit dem sie bei ihrer Landung schon schmerzhaft Bekanntschaft gemacht hatte.

»Ich hab da eine Idee«, fügte sie hinzu und setzte sich schon in Bewegung, in Richtung des Schachts. Das Gitter war ein Witz. Die Standardausführung zum Abhalten von Staub und Sand, vielleicht von Insekten, nicht aber von Vee, dafür hatte sie schon zu viele solcher Gitter als Eingänge benutzt in den letzten Jahren. Sie zog ein kleines Werkzeug aus einer Tasche ihres Overalls und machte sich daran, die Halterungen des Filtergitters heraus zu hebeln. Wenig später hockte sie vor einem endlosen Loch, das direkt in den Bauch des Gebäudes führte.

»Vee, rede mit uns – was tust du?«

Sie hatte den Kom schon wieder vergessen, blödes Teil. Sie unterdrückte einen Fluch und wandte ihre Aufmerksamkeit Marc und Anya zu, die über das Implantat natürlich nur das hören konnten, was sie sagte.

»Ich habe einen Lüftungsschacht gefunden, der direkt reinführt. Ich klettere einfach nach unten durch … und wenn das nicht geht, suche ich mir die erstbeste Treppe nach draußen.«

Die Stille am anderen Ende zog sich schier endlos.

»Vee, das ist keine gute Idee, jetzt so einen Stunt zu machen.« Marc klang wie immer in solchen Situationen und Vee erkannte schon an seinem Tonfall, dass er den Plan verwerfen wollte. Aber er hatte wahrscheinlich auch keine bessere Idee.

»Marc, du verdankst Nicos neue Sensoraugen auch so einem Stunt. Seitdem ich dafür durch diese brutal verrosteten Teile bei Marleys geklettert bin, sind Luftschächte meine zweite Heimat. Ich gehe jetzt rein«, verkündete sie daher nur, »ich lasse euch auf Empfang.«

Sie kletterte in den Schacht und stützte sich mit den Händen und Füßen an den glatten Wänden ab, um nicht direkt bis zum Ende zu rutschen – wo auch immer das sein mochte. Jetzt noch in einem Luftaufbereiter oder Müllschlucker zu landen, würde definitiv nicht helfen.

_02

Der Schacht war geräumig und bot links und rechts von ihr noch ein wenig Platz, sodass sie nicht darin feststecken würde. Wahrscheinlich gab es hier Wartungsdrohnen, die in der Lage sein mussten, in den Schächten zu navigieren.

»Hab dich.« Marcs zögerlicher Tonfall war verschwunden. »Du bist … in einem Bürogebäude, Sektor 3. Es gehört, ähm …«

Seine Stimme erstarb und kurz glaubte Vee, der Empfang wäre gestört. Sie hielt inne, wollte die Hand aber nicht lösen, um nach dem Kom über ihrem Ohr greifen. Da sprach er weiter:

» … okay, ich weiß nicht, hier ist kein Eigentümer eingetragen.«

»Sehr hilfreich«, ächzte Vee, »sag mir lieber, ob du die Ortung schon so kalibriert hast, dass du mich durch dieses Labyrinth bringen kannst.«

»Gib mir zwei Minuten.«

Langsam versuchte Vee ihr vor Anspannung zitterndes Handgelenk zu entlasten, da rutschte ihr Fuß plötzlich ab und sie musste sich mit aller Kraft gegen die Wand an der anderen Seite stemmen, um nicht herunterzufallen.

»Klar, nimm dir alle Zeit der Welt«, stieß sie aus. Vorsichtig löste sie nun die Hand und tastete damit weiter an der Wand entlang. Nur ein wenig tiefer rutschen und noch einmal. Und schon wieder hocke ich im Lüftungsschacht. So liefen fast alle Operationen ab: Marc plante die Sache und koordinierte alles aus der Zentrale, Anya entwickelte die ganzen lustigen Spielzeuge und kümmerte sich um Ablenkungen und schnelle Fahrzeuge und Vee… kletterte in Lüftungsschächten herum. Mit ihren 19 Jahren war sie inzwischen ziemlich gut darin – aber ihr ganzer verdammter Plan ging gerade den Bach runter, noch bevor er überhaupt angefangen hatte. Der Liner hätte erst in zwei Monaten kommen sollen, das bedeutete, zwei wertvolle Monate der Planung und Vorbereitung waren hin. Es sollte ihr größtes Ding werden, der Raubzug, der sie alle endlich von diesem Planeten wegbringen würde – und jetzt hieß es, irgendwie die Scherben von Marcs perfektem Plan zusammenzufegen und zu improvisieren. Ihre Finger ertasteten eine Kante. Hier war etwas, eine Art Gang, der im rechten Winkel vom Hauptschacht abbog. Sie rutschte wieder etwas tiefer, stieß sich mit den Füßen ab und krabbelte mit dem Kopf voran hinein. Dieser Gang war etwas enger und Vee kämpfte einen Moment gegen die Beklemmung an, dann robbte sie weiter vorwärts. Schon nach wenigen Metern sah sie vor sich ein Blinken. Oder hatte sie es sich nur eingebildet?

Da, schon wieder.

»Was soll das denn?«, murmelte sie.

»Was?«

»Irgendwas blinkt hier. Rot.« Sie kroch etwas näher. Eine flache Scheibe klebte an der Wand. In ihrem Zentrum leuchtete in regelmäßigen Abständen ein rotes Licht auf und tauchte den Schacht in ein unheimliches Glimmen.

»Hier klebt irgendeine Art Sensor. Eine Scheibe, so groß wie mein Kopf. Da ist eine Öffnung an der einen Seite.«

»Ein Alarm vielleicht? Wobei, mit Öffnung kann das auch ne Waffe sein.«

Vee erstarrte und begutachtete das Ding skeptisch. »Sehr hilfreich, Marc. Ich will es jedenfalls nicht herausfinden.«

»Pass bloß auf, Süße!«, ertönte nun wieder Anyas Stimme, »oder bring mir das Ding mit, wenn du es irgendwie entfernen kannst.« Ein Kichern. Anya liebte alles, was gefährlich und technisch war – und sie war eine der besten Ingenieurinnen, die Vee je kennengelernt hatte.

»Anya!« Marc klang langsam wütend, aber er merkte auch nie, wenn Anya ihn nur ärgerte und provozierte, sondern fiel immer wieder in die Rolle des Anführers zurück. Vee grinste, als sie dem üblichen Gezeter der Anderen lauschte. Marc konnte schon nicht mehr anders, immerhin hatte er die Gruppe aufgebaut und zusammengebracht. Das Beste, was Vee je passiert war. Sie waren mehr als nur eine typische Diebesbande, sie waren fast so etwas wie eine kleine Familie.

Rückwärts kriechen war schwieriger als vorwärts. Unter lautem Fluchen, das von Anyas überdrehtem Gelächter begleitet wurde, hangelte sich Vee zurück in den Hauptschacht und schob sich Stück für Stück weiter abwärts. Einige Minuten lang hörte Vee nur ihren eigenen Atem, dann meldete sich Marc in ihrem Kopf.

»Vee, ich habs gefunden. Das ist ein Gebäude der Sekibo-Stiftung, vielleicht machst du besser, dass du da rauskommst.«

»Ne, ich hab gerade angefangen, mich hier ganz …« Sie schob sich ein bisschen tiefer und ächzte.

»… Wie …« Ihre Beine brannten inzwischen vor Anstrengung.

»… Zu …« Noch ein Stück weiter hinab,

»… Hause …«

Weiter kam sie nicht.

Es ertönte ein Quietschen, als ihr Schuh von der Wand abrutschte und sie mit einem dumpfen metallenen Poltern in die Tiefe stürzte.

Vee fiel. Verflucht! Bitte lass es nicht hier enden. Nicht in diesem scheiß Lüftungsschacht auf diesem Drecksplaneten. Sie hielt sich an diesem Gedanken fest, während sie sich zwang, nicht zu schreien und irgendwie zu versuchen, an den glatten Wänden Halt zu finden. Der Fall endete abrupt auf einer Luke, die unter ihrem Gewicht sofort aufsprang und sie in den Raum darunter auf ein flaches Regal spuckte. Es schepperte, das Regal sackte ein wenig zusammen und ein scharfer Schmerz schoss durch ihr rechtes Bein, mit dem sie zuerst auf dem Boden aufkam. Über ihr schlug die Luke gegen einige Rohre und pendelte langsam aus.

Was war das? Ich … bin nicht tot.

Vee starrte mit verschwommenem Blick an die Decke zur Luke hinauf und versuchte noch immer, sich mit dem Gedanken anzufreunden. Hoffentlich hatte sie sich nichts gebrochen – der Datenträger! Hastig fummelte sie das kleine Gerät aus der Tasche und hielt es sich vor die Augen. Er wirkte unbeschädigt, erleichtert atmete sie aus.

Von irgendwoher kamen Schritte und rissen sie aus ihren Gedanken. Weg hier! Vee krümmte sich zusammen und rollte sich auf die Seite. Ihr Bein tat weh, es schien aber nichts gebrochen zu sein … oder Schlimmeres.

»Leute«, ächzte sie, »bin unten angekommen.«

»Das wurde aber auch Zeit, was machst du da?«

Sie ignorierte die Antwort und sah sich um. Die Luke hatte in einen Lagerraum geführt. Unter der Decke verlief in dicken metallenen Schächten das Lüftungssystem und an den Wänden stapelten sich Regale mit allerlei Krimskrams, von Elektronik über Lebensmittel bis hin zu Kleidung. Alles war jedoch fein säuberlich getrennt und beschriftet. Die Container trugen das Emblem von Sekibo, der Organisation, die seit einigen Jahren für die wirtschaftliche Weiterentwicklung des Planeten sorgte. Sie wusste nicht viel darüber, aber die Leute von der Stiftung stanken nach Wohlstand und modernster Technik und kurz überlegte Vee, ob sie eine der Kisten mitnehmen sollte.

»Vee?«

»Marc?«

»Was machst du da, verdammt? Wo bist du?«

Die Schritte waren fast da.

»Meld mich gleich«, flüsterte sie und rutschte hinter zwei Kisten, die vor einem der Regale standen. Sie hatte gerade eine, mit ihrem Bein zwar nicht bequeme aber aushaltbare, Position gefunden, da flog die Tür auch schon auf und jemand poltere in den Raum.

»Wie ist denn …«, hörte sie eine tiefe Stimme grummeln, »wie kann die denn von allein aufgehen? Scheißladen, Scheißplanet. Alles fällt auseinander.«

Die Klappe wurde zugeschlagen und ein erneuter Schlag ertönte, als sie wieder herunterfiel.

»Drecksverdammtes Ding!« Der Mann machte sich lautstark daran zu schaffen, allerdings erfolglos. Nach einigen Minuten des Herumfluchens gab er auf und verließ den Raum. Vee schnappte nach Luft, sie hatte versucht so flach und leise wie nur möglich zu atmen. Schließlich drückte sie sich vom Boden hoch und zuckte vor Schmerz zusammen. Langsam und vorsichtig belastete sie ihr Bein und atmete erleichtert auf, es tat zwar weh, schien aber nicht gebrochen zu sein.

Erstes Problem - check. Zum nächsten Problem.

Wo war sie und wie kam sie hier weg? Sie drückte die Schiebetür beiseite, durch die der Mann verschwunden war und stand in einem hellen weißen Gang, an dessen Seiten grüne Bänder verliefen. Sie runzelte die Stirn.

»Wer benutzt weiße Farbe für Wände?« Den Gedanken hatte sie flüsternd ausgesprochen und erhielt prompt eine Antwort:

»Jedenfalls niemand, der länger als zehn Minuten auf unserem schönen Staubball war. Das müssen Externe sein … bestimmt Aliens.« Anya kicherte.

»Anya«, stöhnte Marc und Vee musste trotz der Situation lächeln – sie drei waren schon ein gutes Team. Nee, sie vier, erinnerte sie sich. Für diesen Job hatte Marc unbedingt noch jemanden rekrutieren müssen. Das hatte ja toll geklappt. Der Gedanke an den Plan rief ihr schmerzhaft wieder die Zeit ins Gedächtnis und schnell schlüpfte sie durch die Tür und schlich den Gang entlang. Die grauschwarzen Fußabdrücke, die sie dabei auf dem Gummiboden hinterließ, gefielen ihr gar nicht. Sie musste hier raus. Sofort.

Weiter vorne öffnete sich der Gang nach links in einen Durchgang, aus dem sie die Stimme einer Frau hörte: »... die Situation auf Nouvelle Douala sich noch verschärft. Der Planet droht bei der aktuellen Entwicklung des Phänomens in den nächsten Wochen unter einer kilometerdicken Eisschicht zu versinken.«

Irgendeinen Planeten, der gerade zum Teufel geht, gibt es doch immer. Wahrscheinlich schaute jemand einen alten News-Stream, den der Liner sendete. Unfassbar teuer, die Daten schon jetzt zu bekommen, statt zu warten, bis der Liner gelandet war. Vorsichtig lugte Vee um die Ecke und tatsächlich, sie konnte einige Hinterköpfe ausmachen, die auf einen transparenten Schirm an der gegenüberliegenden Wand gafften. Die Stimme erzählte weiter und ab und zu fiel der Name »Sekibo«.

Vee schob sich noch ein bisschen weiter vor. Niemand schaute in ihre Richtung. Gut. Ein paar leise Schritte und drei weitere unnatürlich weiße Gänge später fand sie, wonach sie gesucht hatte: Die Tür nach draußen. Eine Alarmsicherung ließ sie kurz innehalten.

»Ach fuck it!« Sie drückte den Hebel und die Tür wurde entriegelt. Ein lautes rhythmisches Kreischen ertönte. Vee lief, sprintete um die Ecke – so schnell es ihr stechendes Bein zuließ – und weiter die Straße herunter.

»Vee, was genau tust du da bitte?!«

»Rennen …«, keuchte sie.

»Schon wieder?«

»Jep.«

Sie schaffte es, zwei Blocks Abstand zwischen sich und das Haus zu bringen und nahm dabei mehrere Schlenker durch Läden, eine Spielhalle und das Hinterzimmer einer Kneipe mit, bevor sie sich in einen Hauseingang kauerte und erneut nach dem Status fragte.

»Du hast viel Zeit verloren.« Marc klang nicht begeistert – warum auch, Vee war ebenfalls alles andere als erfreut.

»Du klingst nicht begeistert?«, merkte sie an.

»Bin ich auch nicht, aber noch könnte es klappen. Wird zwar knapp, aber … ihr müsst die Zeit gleich irgendwie wieder rausholen.«

»Mhm, irgendwie …« Sie seufzte und versuchte sich zu orientieren. In diesem Teil der Stadt war das schwierig, hier standen die Gebäude so hoch, dass die Sicht auf die Wände des Canyons verwehrt blieb.

»Wie komme ich am schnellsten zum Treffpunkt?«, fragte sie und machte sich auf den Weg zur nächsten Hauptstraße.

Die Station mit dem kreativen Namen ‚Grand Canyon Station’ war der beste Beweis dafür, wie man eine Traversenstation nicht bauen sollte. Neben der normalen Beförderung von Personen mit der Magnetbahn war es gleichzeitig ein Umschlagplatz für Güter aller Art. Das bedeutete, dass zwischen all den Menschen auch noch Wagen hindurchfuhren und Mechas mit ihrem hypnotischen Trott von einem Ende der Vorhalle zum anderen stapften. Die bis zu fünf Meter hohen, entfernt an humanoide Wesen erinnernden Industrieroboter nahmen dabei keine Rücksicht auf das, was sich unter ihren tonnenschweren Stahlfüßen bewegte - oder eben nicht mehr bewegte. Nicht umsonst ging die Station regelmäßig unter den »Fünf tödlichsten Orten des Alltags im Canyon« durch den Feed, wenn wieder jemand mitten in der Menge ausgeraubt oder vom Mecha zertrampelt wurde.

Die schiere Masse von Menschen und Maschinen war nicht das einzige Überwältigende hier. Die Abgase der Mechas, die Ausdünstungen der Leute, die sich oft kaum genug Wasser zum Waschen leisten konnten, und der Gestank von in den Boden gestampftem organischem Material, bildeten eine eigene Atmosphäre.

Es war fantastisch! Vee liebte das Chaos, das Gewusel, die verschiedenen Eindrücke und manchmal verbrachte sie einfach ein wenig Zeit hier und beobachtete die Menschen, die einander nicht wahrzunehmen schienen oder die seltsamen Regelmäßigkeiten ihrer Wege durch die Vorhalle. Heute spürte sie jedoch nur eine lauernde Panik, als sie sich umschaute. »Wie soll ich ihn hier bitte finden?«, blaffte sie etwas zu laut. Sie musste nicht laut sprechen, das Mikrofon empfing den Schall über ihren Kieferknochen – aber hier im Gewusel würde sie sowieso niemand hören, da war ein bisschen sauer sein in Ordnung.

»Warte kurz, Vee …«

Was dauerte das wieder so lange? Finster blickte sie sich um und starrte unter ihrem Kopftuch hinweg einige der Umstehenden böse an.

»Also, er müsste … ick … heln … schri…« Nach einigen weiteren unverständlichen Silben kam nichts mehr.

»Marc?«

Das war neu. Die Verbindung riss manchmal in besonders heftigen Sandstürmen ab oder wenn man sich in den tiefsten Vents herumtrieb, aber doch nicht hier … nicht jetzt!

»Marc?!« Sie riss sich das Gerät vom Ohr und betrachtete die Statusanzeige, die noch immer grün vor sich hin leuchtete. Das durfte doch nicht wahr sein. Erneut wirbelte sie herum und versuchte einen Überblick über die Menschenmassen zu bekommen. Es gelang ihr nicht, das waren einfach zu Viele. Sie schüttelte das blöde Stück Technik und schaute es dabei finster an, ganz so, als könne sie es allein dadurch wieder zum Leben erwecken. Verdammt! Ein seltsames Klicken von Metall auf Stein riss sie aus ihrer Frustration und sie sah auf. Vor ihr stand ein Typ … wobei, so richtig stand er nicht. Er saß eher, in etwas, das aussah wie ein Insekt aus Metall. Von der Hüfte abwärts ragten acht dünne mechanische Beine aus einer kompliziert aussehenden Konstruktion, in die der Mann geschnallt war. Die Beine, die erstaunlich synchron arbeiteten, erzeugten bei jedem Schritt dieses metallisch hohe Klicken. Etwas zu nah vor ihr hielt er an und sie konnte unter einer Kapuze und hinter dem Tuch, das er wie alle Menschen auf dem Planeten als Schutz vor Sand und Staub trug, kaum etwas erkennen. Aber sie brauchte sein Gesicht nicht zu sehen.

»Tab!«, sagte sie und der Typ krabbelte noch etwas näher, sodass sie ihn in der lauten Umgebung deutlich verstehen konnte. »Wir müssen los!«, stellte er fest und sein Kopf ruckte in Richtung Ausgang.

Vee nickte langsam. Tab war der Neue im Team. Zwar hatte sie schon ein paar Mal mit ihm gearbeitet, aber so richtig einordnen konnte sie ihn noch immer nicht. Unter der Kapuze ragte langes, dunkles Haar hervor und er trug eine Sonnenbrille, hinter der sie kaum etwas erkennen konnte. Und dann waren da noch seine Beine. Die schmalen Beinchen hatten mehrere Gelenke und liefen gefährlich spitz zu. Ein verschlungenes System von Kabeln und Schläuchen war an den Stellen zu erkennen, wo sie am Rumpf befestigt waren.

»Und?«, fragte er ungeduldig und wies auf ihr Kom, »was sagt er?«

»Marc, ich hab ihn gefunden«, gab sie durch.

»Sehr gut. 18 Minuten!« Sie hörte Marc zischend Luft ausstoßen.

Sie wiederholte die Antwort, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte in Richtung Ausgang. Das würde wirklich knapp werden. Beinahe augenblicklich setzte das metallische Klicken wieder ein und Tab erschien an ihrer Seite.

»Geht doch«, meinte er und wurde noch ein bisschen schneller.

Angeber.

_03

Draußen schlug ihnen trockene Hitze entgegen. Vee kniff die Augen zusammen und zog ihre Kapuze gegen den Staub tiefer. Tab tat dasselbe und hob dabei die Hand vor sein Gesicht. Anders als Vee kam er nicht von Cato und war den andauernden Sandsturm nicht gewöhnt. Sie beeilten sich so gut sie konnten, doch selbst für zwei so schmale Gestalten wie sie war mehr als schnelles Gehen in dem Gedränge rund um die Grand Canyon Station nicht möglich, ohne Aufsehen zu erregen. Sie schlüpften durch die Lücken, die sich immer wieder boten, wenn vermummte Gestalten sich der Auslage eines der Stände am Straßenrand zuwandten. Links und rechts reihte sich ein Marktstand an den nächsten, verhängt mit schon lange verblichenen Planen, damit der Staub sich nicht auf die Waren setzen konnte. Sie hatten nur noch wenige hundert Meter zurückzulegen, aber bei dem Gedränge hätte ihr Ziel genauso gut am anderen Ende des Canyons sein können. Ein Geckohändler rettete sie schließlich. Mit seinem großen vierrädrigen Wagen voller verbeulter Metallkäfige schob er sich durch die Menge. Vee und Tab mussten sich nur hinter ihm halten, um unter dem dümmlichen Blick der Geckos in gleichmäßigem Tempo voranzukommen. Die Viecher waren die einzige von Menschen angesiedelte Lebensart, die auf diesem Planeten leben konnte. Fast ein bisschen zu gut, denn in den letzten Jahrzehnten waren sie zu einer wahren Plage geworden. Gut möglich, dass die fetten, trägen Tiere, lang wie Vees Unterarm, sogar für ihren Zielort bestimmt waren.

‚Spicey’s Streetfood‘ war ein kleiner Verschlag, der sich an die graue Wand eines Gebäudes schmiegte. So war es auf Cato immer. Die riesigen Wohntürme waren vor ewigen Zeiten ohne jeden Gedanken an Läden oder Imbisse gebaut worden. Man hatte sich nur praktischerweise an die Unionsvorgaben zu Abstandsflächen gehalten, sodass die Stadt, als es hier noch so etwas wie eine Verwaltung gegeben hatte, jede freie Fläche mit Läden für den täglichen Bedarf zugebaut hatte. Und in den Flächen zwischen den alten und den neuen Betonklötzen hatten sich, wie Staub in einer Zimmerecke, kleine Buden und Verschläge mit Imbissen und Shops angesammelt. So ein Laden war ‚Spicey’s Streetfood‘. Sie umrundeten eine Schlange von vermummten Gestalten, die vor der zur Straße gelegenen Durchreiche standen, und betraten die Bude. Ein Vorhang aus schwerem öligen Tuch schützte den zusätzlichen Sitzbereich vor dem Staub der Straße. Sofort fingen Vees Augen an zu tränen, als ihr die scharfen Gewürze in die Nase stiegen. Sie beschloss, den Mundschutz lieber aufzulassen – war sowieso besser, sie schielte in Richtung der Kamera in der Ecke. Hier drin war es eng und noch heißer als draußen auf der Straße. In so einem Laden hielt sich niemand länger als nötig auf, also war auch jetzt niemand hier. Sie ließen sich an einem der zwei kleinen Tische nieder und Tab rückte ihn etwas näher an die Wand heran, sodass er seine acht Metallbeine vollständig verdeckte. Vee betrachtete die Wand und klopfte unauffällig dagegen. Beton. Die komplette Wand gehörte nicht zu dem Verschlag, sondern war eine der Seitenwände des großen Gebäudes nebenan. Verstohlen warf Vee einen Blick auf die Person hinter dem Tresen. Eine stämmige Frau mit dunkler Haut stand am Grill und wendete einige Stücke scharf riechenden Gecko-Fleischs. Dabei sah sie missmutig zu ihnen hinüber. Nach einigen Sekunden wandte sie sich jedoch ab und bediente die nächsten Leute von draußen.

Fürs Erste schienen sie sicher zu sein.

»Update?«, fragte Marc in ihrem Kopf.

»Wir schaffen das«, gab sie durch, »gibt es noch mehr Probleme, von denen wir wissen sollten?«

»Nein.«

»Nur die, die du uns einbrockst«, flötete Anya.

»Raus aus der…«

»Jaja, raus aus der Leitung, ich verstehe schon.« Es knackte, als Anya die Verbindung wieder trennte.

Vee lächelte und musste wohl etwas abwesend gewirkt haben, denn als sie den Kopf hob, bemerkte sie, dass Tab sie anstarrte. »Sorry, das Team sagt, alles in Ordnung, wird aber knapp.«

Vee öffnete ihre Bauchtasche, förderte einen schmalen transparenten Stick daraus zutage und schob ihn Tab hin. Er betrachtete das Ding, machte aber keine Anstalten, ihn aufzuheben.

»Jetzt nimm schon«, fuhr Vee ihn an, »ich hab mich vorhin fast umbringen lassen, um rechtzeitig hier zu sein.«

»Warum ich?«, fragte er, »warum so plötzlich? Marc hat mir erklärt, was ihr vorhabt. Ihr wollt was aus dem Liner klauen – aber das ist doch Selbstmord mit so wenig Vorbereitung.«

Natürlich. Vee rollte mit den Augen. Er vermutete, dass sie ihn über den Tisch ziehen wollten mit dem Auftrag. Das war kein ganz weit hergeholter Gedanke, so passierte es oft genug, da wurdest du eben verarscht. Es lief immer gleich ab: eine Bande hatte etwas geplant. Aber den gefährlichen Teil wollte keiner machen. Sie brauchten noch Kanonenfutter. Sie ködern dich mit großen Versprechungen. Du setzt dein Leben aufs Spiel und am Ende, wenn es ums Geld geht, ist auf einmal niemand mehr erreichbar. Der ganze Haufen tauchte unter – oder, du wusstest zu viel und hast auf einmal eine Kugel im Kopf. Vee hatte schon an ähnlichen Jobs teilgenommen, auf der einen und – darauf war sie nicht besonders stolz – auf der anderen Seite. Das war ein, zwei Mal verdammt knapp gewesen. Aber so war es hier nicht. Nicht dieses Mal.

»Digit hatte den Auftrag«, flüsterte sie und sah Tab kurz auflachen. »Ja, lach nur. Er war nicht der Beste, aber zuverlässig, dachten wir …«

»… und dann hat er sich mit seinem Vorschuss aus dem Staub gemacht und auch noch eure halbe Kasse ausgeräumt«, beendete er ihren Satz.

Vee nickte. »Das Arschloch hat auch noch seine ganze Software mitgenommen. Das heißt, du hast nicht viel, worauf du aufbauen kannst.«

»Kein Problem.«

Sie vermutete, dass er recht hatte. Er war einer der besten Hacker auf Cato und sie fragte sich noch immer, wie Marc ihn dazu bekommen hatte, so schnell einzuspringen. Wobei … sie konnte es sich denken. Sie stupste den Stick noch ein wenig in seine Richtung. Endlich ergriff er ihn und clippte ihn an das Tablet, das er aus einer Umhängetasche geholt hatte. Der Stick war in Wirklichkeit ein Sender, der sich jetzt mit einem Empfänger verband, der direkt im Serverzentrum der Stadt in genau dem Gebäude verborgen war, vor dessen grauer Wand sie saßen. Vee hatte ihn schon vor Monaten dort platziert. Sie hatte mit einer gefälschten Arbeitserlaubnis als Aushilfe in der Firma gejobbt, in der die Platinen für die Rechenzentren der Stadt hergestellt wurden. Der Empfänger war kaum aufzuspüren, hatte aber auch leider eine verdammt geringe Reichweite, sodass sie jetzt hier sitzen mussten. Auf dem Präsentierteller.

»Ihr wollt das wirklich durchziehen?«, fragte Tab plötzlich und riss Vee aus ihren Gedanken.

»Was?«

»Na was wohl – euer Ding. Ihr wollt wirklich etwas aus dem Liner stehlen?«

»Ja.« Bei dem Gedanken an ihren Plan, der jetzt kein Staubkorn mehr Wert war, schnürte sich ihr die Kehle zu. »Wir improvisieren«, sagte sie. »Die Gelegenheit kriegen wir nie wieder. Der Liner ist zwar zu früh, aber die wichtigsten Sachen sind vorbereitet.« Sie deutete auf den Stick.

»Und du willst ja auch scheinbar raus aus diesem Loch«, fügte sie noch hinzu.

An Tabs Reaktion erkannte sie, dass sie genau ins Schwarze getroffen hatte. Damit hatte Marc ihn also geködert: Mit einer Fahrkarte vom Planeten. Das war das Problem an Cato: war man einmal hier, kam man nicht mehr weg. Der ganze Planet war von einem Netz von Verteidigungsdrohnen umspannt, die alles und jeden aus dem Diesseits ballerten, das sich ohne Autorisierung im Luftraum befand. Natürlich könnte man sich irgendwie an den Liner klinken oder dort einbrechen – es gab ein paar Idioten, die genau das versucht hatten. Die Geschichte lief schon seit Vee denken konnte in Dauerschleife im Feed. Immer mal wieder mit neuen Protagonisten. Aktuell waren es drei Kids aus – verhältnismäßig – gutem Hause, die sich vorletztes Jahr als Quarz deklariert und in einen Container gesetzt hatten. Kaum waren sie oben angekommen und hatten an das Mutterschiff angedockt, nutzte das auch schon alle Luft des Liners als Rückstoß, um sich wieder in Rotation zu versetzen. Da saßen sie dann, mit fünf Stunden Sauerstoff in ihren Anzügen und das riesige Schiff flog weiter seine Runde durch die Sternensysteme. Das bedeutete, dass sie mindestens für ein halbes Jahr lang im Kreis flogen, bis ihre Leichen von irgendwem gefunden wurden. Und selbst die wenigen, die Nahrung und Sauerstoff dabei hatten, wurden unweigerlich beim nächsten Ladevorgang entdeckt. Auf das unerlaubte Verlassen eines Sperrgebiets standen 100 Jahre Suspension, im Klartext: man wurde auf Nimmerwiedersehen eingefroren. Nein, sie brauchten einen Platz in den Shuttles, die sich mit jedem Start an den Liner koppelten und von ihm in die Umlaufbahn gebracht wurden. Auf die Art konnten sie zum nächsten besiedelten System mitfliegen. Leider waren die Tickets so teuer, dass es mehr oder weniger unmöglich war, so einen Platz zu bekommen. Wenn man es realistisch betrachtete, konnten sie sogar bei einem riesen Raub wie diesem nur hoffen, dass sie genug für alle zusammen bekamen. Aber das brauchte sie Tab ja nicht auf die Nase zu binden. Vee trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Was dauerte das denn so lange?

»Tab?«, fragte sie und sah ihn drängend an.

»Moment, das hier ist kein Spaziergang«, nuschelte er ohne von dem Display aufzusehen, »und ich arbeite nicht gerne mit Tech von anderen Leuten.«

Vee wusste, was er gerade tat und schwieg. Es war wirklich kein Spaziergang. Der Raumhafen, dort, wo der Liner runtergehen würde, war eines der am besten gesicherten Gebäude der Stadt. Quantenverschlüsselt – natürlich. Das Ding konnte man nicht knacken, das war ja der Sinn der Sache. Aber das Problem mit Quantenverschlüsselung war, dass sie zwar in der Theorie funktionierte, in der Praxis aber eine wichtige Schwachstelle hatte: Irgendwie musste das Netzwerk der Stadt ebenfalls verschlüsselt mit dem Raumhafen kommunizieren. Also hackten sie nicht den Raumhafen, sondern die Stadt und stellten dann aus deren System eine Anfrage nach den richtigen Codes für den Zugang zum Liner. Ganz einfach … theoretisch.

Tab regte sich und kontrollierte die Uhrzeit. »Okay, in 20 Sekunden werden die neuen Zugangscodes generiert und ich kann sie direkt abfangen.« Er zählte stumm herunter. »Ich sende die Anfrage ab.«

Ein weiteres Tippen.

»Jetzt warten wir kurz.«

Vee wippte weiter vor und zurück und schielte immer wieder in Richtung Ausgang. Sie hasste solche Aktionen, in denen sie zum Nichtstun verdammt war und sie trotzdem jeden Moment auffliegen konnten. Es piepste und sofort griff sie sich an das Kom an ihrem Ohr, doch es war nicht Marc, sondern nur die Bestätigung von Tabs Gerät.

»Ich hab die Codes. Wir haben drei Stunden, bis sie wieder geändert werden … das war’s, wir sind hier fertig.« Er zog den kleinen transparenten Stick aus seinem Tablet und gab ihn Vee. »Hier sind die Codes drauf, passend zu euren Identitäten.«

»Wir haben sie«, wiederholte Vee und hörte Marc am anderen Ende der Funkverbindung jubeln, etwas lauter als beabsichtigt. Sie zuckte zusammen und pflückte den kleinen Chip von ihrem Ohr.

Tab beugte sich vor und starrte auf sein Display: »Ach shit.« Sofort begann er wieder darauf herumzutippen.

Vees Herzschlag setzte einen Moment aus. »Was?«

Tab ignorierte sie und fluchte leise.

»Tab? Was. Ist. Los?«

»Die sind misstrauisch geworden«, zischte er. »Ich hasse Systeme, die ich nicht selbst geöffnet habe. Anscheinend fragt die Stadt normalerweise keine Zugangscodes ab, die haben eine KI, der solche Zugriffe auffallen. So ein Scheiß! Sie wählen sich in unser Netzwerk ein. Ich bin dabei, unsere Spuren so weit ich kann zu löschen … ich …«

Das Gerät piepste in einem komplizierten Rhythmus.

»Ach fuck, zu spät.« Er steckte das Gerät in die Tasche und gab dem Tisch einen Stoß, sodass er polternd umfiel und Vee einen Satz zurück machen musste. Ihr Herz raste.

Was soll das? Wurden wir entdeckt?

»Tab?!«

In einer fließenden Bewegung umrundete er den Tisch und trippelte in Richtung Ausgang. Vee hechtete hinterher.

»Die verfluchte KI. Die haben uns gefunden«, flüsterte er über die Schulter, »sie wissen, über welchen Knoten ich ins Netzwerk bin. Hier wimmelt es gleich von Secs«

Auch das noch. Vee wurde heiß und kalt.

»Hey, was glaubst du wird das?« Die gewaltige Frau von der Theke hatte sich drohend neben der Tür aufgebaut und hielt eine lange Fleischgabel erhoben. »Erst nichts bestellen und jetzt hier randalieren und den Tisch kaputt machen?« Sie stieß die Gabel in die Luft, als wollte sie Vee aufspießen. Diese hob jedoch bloß die Hand, drückte die Gabel zur Seite und wich mit einer geschickten Drehung aus, umrundete die Frau und glitt hinter Tab durch die Tür hinaus auf die staubige Straße. Hinter sich hörte sie die Frau zetern und beschleunigte ihre Schritte. Als sie ihn eingeholt hatte, schnappte sie nach Tabs Ärmel und zog ihn zurück.

»Nicht rennen«, fauchte sie und als er sie nur ansah, fügte sie noch hinzu »das fällt doch sofort auf.« Sie steuerte zielstrebig auf den nächsten Hauseingang zu und rüttelte an der Tür. Verschlossen. Konnte nicht einmal etwas klappen heute?! Sie fuhr herum, ließ den Blick kurz über die Häuserfront wandern und fand, wonach sie gesucht hatte.

»Mist, dann da rein.« Sie zeigte über die Straße. Dort befand sich ein weiterer Laden, etwas abgesetzt von der Straße. Er lag im Schatten und sie konnte nicht erkennen, ob sich Menschen darin aufhielten – ein Risiko, aber sie hatten keine Zeit mehr, sie hörte schon das Heulen von Sirenen. Kamen die näher? Sie wollte es gar nicht wissen und sprintete zwischen zwei Frachtdrohnen hindurch, die automatisch von Leitmagneten in der Spur gehalten wurden. Auf der anderen Straßenseite angekommen, betrat sie den Laden. Hier war es noch dunkler, als Vee erwartet hatte und sofort zog ihr ein muffiger Geruch nach Schmieröl in die Nase. Es war ein Ersatzteillager für Mechas und andere Fortbewegungsmittel. Im Dämmerlicht konnte sie endlose Regalreihen erkennen, auf denen sich mechanischer Kram stapelte. Sie ignorierte die Zahnräder, Kolben und Kabel darauf und lief in Richtung der Tür am anderen Ende des Ladens. Sie stand einen winzigen Spalt offen. Jackpot. Erst als sie den Gang herunter hastete, fiel ihr auf, dass etwas fehlte. Sie schloss die Augen. Oh nein, bitte nicht. Sie drehte sich um – und war allein. Fuck. Fuck!

Die Sirenen klangen, als seien sie so gut wie da. Was jetzt? Sie musste nach Tab sehen, vielleicht hatten sie ihn schon geschnappt? Er war doch direkt hinter ihr gewesen. Aber wie konnte sie…? Da fiel ihr wieder ein, dass sie ja ihr Kom dabei hatte. Schnell zog sie das Gerät aus der Tasche und klemmte es wieder über ihr Ohr.

»Marc, bist du da?«

»Natürlich, immer.«

»Pass auf, hier ist die Scheiße so richtig am Dampfen.«

»Was? Ich dachte, ihr habt die Codes?«

»Ja aber wir wurden entdeckt und mussten fliehen. Wir brauchen eine Ortung, wo sind wir?«, keuchte sie.

»Kommt, dauert aber einen Moment.« Sofort waren jede Spur von Erleichterung und Freude aus seiner Stimme verschwunden. »Ihr müsst aufs Dach, von da aus kann ich euch weiterlotsen.«

Vees Gedanken rasten.

»Marc, das geht nicht. Tab ist bei mir!«

»Okay, kommst du irgendwo in ein größeres Gebäude mit mehreren Ausgängen? Ohne gesehen zu werden?«

»Nein, keine Chance. Überall Menschen und die Secs kommen gerade um die Ecke.«

Secs, so nannten die Einheimischen den privaten Sicherheitsdienst, eine wilde Schlägertruppe aus Söldnerinnen und Söldnern, die auf dem Planeten für sogenannte Ordnung sorgten. Dabei folgten sie nicht wirklich den Regeln eines Gesetzes, sondern mehr denen ihrer Geldgier. Von den Secs geschnappt zu werden bedeutete, wenn man nicht zahlen konnte, nicht selten, dass man sich eine Kugel fing. In einiger Entfernung sah Vee zwei GravBikes um die Ecke schießen, dicht gefolgt von einem Transporter, in dem bestimmt zehn Leute Platz hatten.

»Geh aufs Dach und lass ihn zurück.« Marcs Stimme klang ruhig und kalt. »Vielleicht schaffen wir es, im Raumhafen seinen Job zu übernehmen.«

Stumm schüttelte Vee den Kopf. Sie konnten nicht einfach ein Teammitglied zurücklassen, er war zwar noch nicht lange dabei, aber das ging nicht.

»Ich geh wieder raus«, verkündete sie, blendete Marcs Stimme aus und sprintete durch die Tür nach draußen. Tab kam nur wenige Meter von der Tür entfernt auf sie zugestolpert. Eines seiner Beine hatte für einen kurzen Moment Bekanntschaft mit einem Leitmagneten für Gravs gemacht, dabei wahrscheinlich sein System gestört, und ihn wertvolle Sekunden gekostet.

Sie ergriff Tabs Arm und zog ihn mit aller Kraft in Richtung des Ladens. Er nickte ihr dankbar zu, die Haare klebten nun an seiner Stirn und sie sah, dass er hektisch atmete. Vee blieb dieses Mal dicht hinter ihm und musste anerkennend feststellen, dass sie Mühe hatte, mit dem Krabbler mitzuhalten. Als sie die Tür passierten, drehte sie sich noch einmal um und erschrak. Das erste GravBike hielt genau auf sie zu.

Zwei Türen weiter und sie standen in einem Hinterhof. Rechts führte eine stählerne Treppe hinauf, links schlossen sich weitere Hinterausgänge an, vermutlich führten sie zu anderen Geschäften. Keine Zeit. Sie wandte sich nach links und rannte an den ersten paar Türen vorbei, die nächste war offen.

»Hier rein«, rief Vee und ignorierte die Kamera, die über der Tür klebte. Gesichtserkennung auf Cato war ein Witz, da alle Menschen vermummt herumliefen. Tab reagierte sofort. Er huschte an ihr vorbei ins Dunkel. Vee folgte ihm, packte im Rennen den Griff und schlug die Tür mit einem lauten Dröhnen hinter sich zu. Dann hielt sie kurz inne und orientierte sich. Sie befanden sich in einem kleinen Treppenaufgang, an dessen Decke eine grünlich flackernde Lampe hing.

»Und weiter?« Tab sah sie an, das Tuch war jetzt von seinem Gesicht gerutscht und sie konnte sehen, wie er nervös grinste. »Wir sind im Arsch, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht – Marc, was macht die Ortung?«

»Sorry, der Satellit wieder«, antwortete er über ihr Kom.

Vee schnaubte und sah Tab in die Augen.

»Wir müssen noch ein Weilchen klarkommen.«

»Okay, wohin?«

»Erstmal schütteln wir die Secs ab und danach geht’s in die Vents.«

»Die Vents?« Er wirkte verwirrt, aber sie hatten keine Zeit für Erklärungen.

»Siehst du dann«, gab Vee zurück, »was ist mit der Treppe?« Sie schaute skeptisch zwischen den Stufen und Tabs Krabbel-Apparat hin und her. Er grinste und diesmal war das Grinsen echt.

»Kein Problem.« Damit sprang er die Stufen hinauf. Vee staunte. Sie folgte ihm und hörte dabei Marcs Stimme in ihrem Kopf.

»Du hättest nicht zurückgehen sollen.«

»Jaja.«

»Wirklich Vee, du bist zu nett, zu weich für diese Jobs.«

»Das«, sie keuchte, »sagst du jedes Mal. Und du hast ihn doch angeschleppt.«

»Und ich habe recht. Warum hast du ihn nicht einfach zurückgelassen und bist abgehauen? Komm, er ist es nicht wert, er ist nicht mal richtig Teil des Teams. Ich kenne ihn zwar, aber so ist das eben in unserer Branche...«

»Marky-Marc, ich lasse doch nie eine Gelegenheit aus, mir ein Wettrennen mit ein paar Secs zu liefern«, japste sie, als sie am Treppenabsatz ankamen und in einen weiteren Verkaufsraum stolperten. Das war nicht die ganze Wahrheit gewesen. Sie hatte Tab auch nicht zurücklassen können, weil er … weil er ein guter Kerl zu sein schien. Er gehörte nach der Sache sehr wohl zum Team, immerhin hatte er ein großes Risiko auf sich genommen. Und es war nicht richtig, jemandem aus dem Team an die Geckos zu verfüttern.

»Schhh«, machte Tab und deutete nach vorn.

Zwei breite Silhouetten zeichneten sich vor dem abgedunkelten Fenster ab. Sie schienen mit jemandem zu reden.

» … hier durchgekommen?« Die Stimme war durch den Helm metallisch verzerrt.

»Ne hier ist keiner lang gekommen.« Die tiefere Stimme mit dem leiernden Tonfall gehörte einem Verkäufer.

Stumm deutete Vee wieder in Richtung Tür und langsam schoben sie sich zurück. Dabei verursachte Tab jedoch wieder das metallische Klicken und eine der Gestalten drehte sich in ihre Richtung.

»Halt!

---ENDE DER LESEPROBE---