Venus in echt - Rhea Krcmárová - E-Book

Venus in echt E-Book

Rhea Krčmářová

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Beschreibung

Zu dick, um geliebt zu werden? Romy Morgen­stern verliert vor lauter Selbstzweifel den Mann ihrer Träume ausgerechnet an eine Frau, die noch dicker ist als sie. Als sie feststellt, dass "dick"einer der häufigsten Internet-Suchbegriffe in Sachen Sex ist und Plus-Size-Dating im Trend liegt, beschließt sie, die Welt der Liebe jenseits des Schlankheitskults zu erforschen. Die heitere, berührende und erotische Geschichte einer Frau, die sich nicht von Schönheitsnormen unterdrücken lässt und sich damit zur Heldin aller macht, die auch anders sind oder sich zumindest so fühlen.

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Rhea Krčmářová: Venus in echt

Alle Rechte vorbehalten© 2013 edition a, Wienwww.edition-a.at

Lektorat: Dino Beck

Cover und Gestaltung: HidschDruck: Theiss (www.theiss.at)

eBook-ISBN 978-3-99001-087-7

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

KAPITEL 1

Von meinem Platz an der Rückwand des Festsaals aus sah ich, wie Christian den Raum betrat und auf die Bühne zuging, und mein Herz fühlte sich an wie der Motor von Prinzessin Peachs Rennwagen, wenn sie über die Rennstrecke in Mario Kart rast. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn noch besser sehen zu können. Sollte ich seinen Namen rufen? Lieber nicht, dachte ich, und hoffte, er würde mich von sich aus bemerken. Stattdessen nickte Christian zwei jungen Werbern mit Hornbrillen zu und lächelte eine Gruppe Frauen an, die in der ersten Reihe saßen, aufgereiht wie die Vögel aus Angry Birds beim Warten auf das Katapult. Wie hatte er es geschafft, eine Frau mit meinen Dimensionen zu übersehen, die noch dazu keine zwei Meter neben der Eingangstür stand, durch die er gekommen war? Ich atmete tief ein und schluckte meine Enttäuschung hinunter. Hauptsache, Christian war endlich hier. Zaghaft machte ich einen Schritt nach vorne. Los, Romy, dachte ich. Sprich ihn an. Frag ihn endlich, ob er nach dem Vortrag mit dir einen Kaffee trinken gehen will. Das ist deine allerletzte Chance, bevor er sein Sabbatical antritt und du ihn vielleicht für immer aus den Augen verlierst.

Ich zögerte. Ihn vor seiner Präsentation anzusprechen, war eher keine gute Idee. Ich würde ihn aus der Konzentration reißen, und die Blicke von mehr als zweihundert Menschen auf mich ziehen. Der ganze Saal würde sich fragen, warum diese fremde fette Frau es wagte, den Starredner des Nachmittags zu belästigen. Ich lehnte mich wieder an die Wand und beschloss, erst nach dem Vortrag zu ihm zu gehen. Beinahe vier Jahre hatte ich gebraucht, um den Mut für diesen Versuch aufzubringen, fast 1.400 Tage. Da kam es auf diese eine Stunde auch nicht mehr an.

Am anderen Ende des Saals erklomm Christian das Treppchen zur Bühne und rückte seinen Laptop neben dem Rednerpult zurecht. Ich seufzte. Seit mehr als zwei Stunden stand ich mir nun schon im überhitzten und überfüllten Prunksaal des Wiener Innenstadtpalais die Beine in den Bauch und ließ Vorträge über Re-Branding und Werbestrategien über mich ergehen, die mich ungefähr so sehr interessierten wie einen Oger ein Handbuch über Webdesign. Dabei musste ich bis Ende der Woche mein aktuelles Game-Projekt fertigstellen, und morgen würde ich für zwei Tage nach London zu einem Vorstellungsgespräch fliegen. Um Christian heute ansprechen zu können, würde ich bis weit nach Mitternacht vor dem Computer sitzen und die versäumte Zeit nachholen müssen.

Um die Langeweile der vorangehenden Vorträge besser zu ertragen, hatte ich mir vorgestellt, eine Kampfelfe aus meinem Lieblingscomputerspiel Knights of the Dragon Isle zu sein. Ich hatte den Saal im Geiste in die Versammlungshalle der untergehenden Insel verwandelt und die Werbemenschen in die wikingerartigen Kostüme des Großen Rats gesteckt. Wirklich geholfen hatte es nicht. Die neuen Stiefeletten mit den Acht-Zentimeter-Absätzen, die ich extra für heute gekauft hatte, trieben mir inzwischen Tränen des Schmerzes in die Augen. Ich fragte mich, ob mein Gewicht meine Qualen noch schlimmer machte oder ob dünne Frauen in neuen Schuhen genauso litten.

Die Werbeleute im Saal waren zum Glück zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um meine inneren Tumulte wirklich zu bemerken. Ich war die einzige dicke Frau im ganzen Raum, und die Blicke, die ich deswegen auf mich zog, reichten ohnehin, dass sogar jemand wie ich sich unrund fühlte.

Zumindest konnte ich Christian wieder im wirklichen Leben sehen, nicht nur online und in meinen Fantasien. Ich fragte mich, ob ihn mein Vorschlag überraschen würde. Vermutlich schon, dachte ich. Schließlich war ich geübt darin, meine Gefühle für ihn zu verbergen. Nur meinen besten Freunden Olga und Cem hatte ich meine Verliebtheit gebeichtet. Ich wusste zu gut, wie lächerlich die Vorstellung für die meisten Menschen war, ein Mann wie Christian könnte sich in eine Frau wie mich verlieben. Christian, da war sich die Gesellschaft einig, spielte in einer anderen Liga als ich. Er war, was man einen Macher nannte, ein Mann, dessen Agentur die Social-Media-Szene aufmischte, er war erfolgreich, sportlich und von einer in sich ruhenden Selbstsicherheit. Ich passte kein bisschen in das Beuteschema, das man einem Mann wie ihm zuschrieb. Auf meinem Nachttisch stapelten sich Fantasyromane und Computerzeitschriften, ich fand Gerüchte über neue Smartphone-Entwicklungen aufregender als sämtlichen Klatsch aus Hollywood und ich konnte stundenlang mit Freundinnen über die Unterschiede zwischen den Büchern und den Verfilmungen von »Der Herr der Ringe« diskutieren. Ich war, mit anderen Worten, ein Geek. Noch dazu einer, der locker das Doppelte von den superschlanken Elfen aus der Werbewelt wog, und ich kannte keinen einzigen Mann in seiner Position und mit seinem Aussehen, der eine Frau oder Freundin mit meinen Proportionen hatte. Vielleicht war es ein Fehler, überhaupt hier zu sein, und die Idee, ihn anzusprechen, eine Wahnvorstellung. Würde er mich auslachen, wenn ich ihm ein Date vorschlug, wie er es manchmal in meinen Alpträumen tat, aus denen ich zittrig und schweißüberzogen hochschreckte? Würde er mir ins Gesicht sagen, dass ich für einen Mann wie ihn schlicht und ergreifend zu fett war?

Nein, dachte ich. Christian war anders als die meisten Männer, die ich kannte. Seit unserer ersten Begegnung hatten mich seine Einfühlsamkeit fasziniert, sein Talent, unter die Oberfläche blicken zu können. In einem zynischen, aggressiven Umfeld schaffte er es, galant und höflich zu bleiben – er war gegenüber Botenfahrern und Praktikanten genauso aufmerksam wie gegenüber seinen besten Kunden. Er merkte sich, was ich beim Smalltalk in der Büroküche von mir gab, und fragte sogar nach, wie es meinen Katzen ging. Ein Mann wie Christian konnte es schaffen, durch meine Fettschichten hindurchzusehen und sich in mein Wesen zu verlieben.

Damit er mich aber besser kennenlernen konnte, musste ich in seiner Nähe sein, und das war schwieriger, als im Alleingang ein Bossmonster aus World of Warcraft zu besiegen. Seit meine Freundin Olga und ich vor einem halben Jahr das letzte kleine Online-Spiel-Projekt für einen Kunden seiner Agentur abgeschlossen hatten, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich hatte gehofft, ihm auf dem Weg ins Bauchtanzstudio zu begegnen, das im selben Haus lag wie sein Büro, oder ihn in einem der Lokale in der Nähe seiner Agentur mehr oder weniger zufällig zu treffen, doch weder das eine noch das andere war mir gelungen. Die einzigen Zeichen, dass ihn keine Schar von Dämonen gefressen, waren seine deprimierend seltenen Statusupdates auf Twitter oder Facebook. Für den Chef einer Social-Media-Agentur war Christian leider erstaunlich diskret.

Dank der automatischen Google-Benachrichtigung, die ich für ihn eingerichtet hatte, hatte ich zumindest von seinem heutigen Vortrag erfahren. Als ich gelesen hatte, dass dies sein letzter öffentlicher Auftritt vor einem längeren Sabbatical war, fühlte ich mich, als wäre mein Herz in den Kometenkrater von Diablo III gefallen. Dieser Vortrag war meine letzte Chance, mich zu überwinden und ihm endlich zu gestehen, was ich für ihn empfand. Obwohl ich in der Schlussphase dieses Game-Projekts war, hatte ich einen halben Vormittag darauf verwendet, in meinem LinkedIn, Xing und in sonstigen Netzwerken jemanden zu finden, der mir die Tür zu dieser geschlossenen Veranstaltung öffnen konnte, und jetzt bemerkte er mich nicht einmal.

Die Lichter im Raum gingen aus und Christian verschwand im Halbschatten der Bühne. An der Saalwand erschien das Bild eines Wellnesshotels irgendwo an der Baumgrenze, und Christian erzählte von der Social-Media-Strategie, die er für das Hotel entwickelte. Der Enthusiasmus in seiner Stimme ließ ein Prickeln durch meinen ganzen Unterbauch laufen. Ich versuchte, sein Gesicht zu erkennen, und wünschte mir, es wäre in Großaufnahme zu sehen. Ich kannte sein Gesicht gut, hatte immer wieder Fotos aus dem Internet abgezeichnet und mir beim Skizzieren jedes Detail eingeprägt: seine schmalen Wangen, die kleine Narbe an der Schläfe, die Sommersprossen, die seine Haut vom Ansatz der rotblonden Haare bis zu seinem Hemdkragen überzogen. Mein Blick wanderte durch das Halbdunkel über seinen langen, beinahe schlaksigen Körper, über seinen flachen Bauch, über die Stelle, wo der Reißverschluss seiner Hose sein musste. Ich wünschte mir, Christian endlich ohne Scham ansehen zu können, nach vier Jahren voller verstohlener Blicke über Besprechungstische und Laptopränder hinweg, und betete zu allen Göttern, die mir einfielen, dass er mein Angebot annehmen und mit mir ausgehen würde. Dass er mit mir reden, flirten und mich küssen würde. Dass er endlich all das mit mir machen würde, was er in meiner Fantasie schon seit Jahren tat.

Die Bilder an der Saalwand wechselten. Ich sah das Innere einer Suite, inklusive flackerndem Kaminfeuer und einer mit Kissen bedeckten Liege, über die jemand Rosenblätter gestreut hatte. Vielleicht könnten Christian und ich ja einmal ein Wochenende in diesem Hotel verbringen, dachte ich, sah meinen Körper tief in diese Kissen einsinken und glaubte, die Rosenblätter zu spüren, die an meinen Waden klebten. Christian kniete über mir, zog mein Wickelkleid auseinander, betrachtete meinen burgunderroten Balconette-BH und meinen XXL-Spitzenslip. Das weiche Licht des Kaminfeuers kaschierte die weißen Dehnungsstreifen, die meinen Bauch und meine Hüften überzogen. Christian übersah im Dämmerlicht auch die kleinen Dellen auf meinen Oberschenkeln. Ich genoss endlich die Wärme seiner Haut an meiner, spürte, wie seine Lippen meinen Körper erkundeten und ich unter seinen Berührungen dahinschmolz wie Frodos Ring in den Feuern von Mordor.

Als Applaus aufbrandete und es hell im Saal wurde, verlor ich auf meinen hohen Absätzen fast das Gleichgewicht.

Christian stieg von der Bühne, und war sofort von zwei Dutzend Menschen umringt, die mir die Sicht versperrten. Los, Romy, geh zu ihm, dachte ich. Jetzt, bevor ihn noch mehr Menschen belagern. Ich machte ein paar zaghafte Schritte nach vorne. Zwei Frauen Anfang zwanzig kreuzten meinen Weg, und ihre Blicke wanderten missbilligend meinen Körper entlang. Die eine beugte sich flüsternd zu ihrer Kollegin, bevor sich ihre Gesichter zu der Art von Grimasse verzogen, die eine dicke Frau nur zu gut kennt.

Ich setzte mich auf einen der freigewordenen Stühle, um den richtigen Moment abzuwarten. Mit einem diskreten Seufzen streckte ich meine schmerzenden Beine von mir, und kramte in meiner Tasche nach meinem Handy, das sich irgendwo zwischen Skizzenheften, Tintenstiften, einem Schoko-Müsliriegel und einer Zeitschrift für digitale Illustration versteckte. Dann sah ich aus den Augenwinkeln, dass jemand auf mich zukam. Ich hob den Kopf und sah direkt vor mir eine sehr schlanke Brünette, deren Blick am Bildschirm ihres Handys klebte. Bevor ich meine Beine zurückziehen konnte, stolperte sie über meine Stiefeletten, verlor das Gleichgewicht, und wäre fast auf den Marmorboden geknallt, wenn ich ihr nicht schnell die Hand entgegengestreckt hätte. »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte ich verlegen.

Die Brünette ließ meine Hand los und sah mich giftig an. »Ihnen würde etwas mehr Rumlaufen nicht schaden«, sagte sie.

Ich senkte den Kopf, während die Verlegenheit meine Wangen zum Glühen brachte. Rasch zog ich die Beine ein, nahm mein Smartphone und tat beschäftigt. Zwischendurch schielte ich zu der Menschentraube vor der Bühne. Jetzt? Nein, noch zu viele Leute.

Nach zwanzig Minuten löste sich die Gruppe um Christian endlich auf. Nur noch er, die biestige Brünette und ich waren noch im Festsaal. Ich sah, dass er seine Tasche nahm. Jetzt oder nie, dachte ich, stand auf und ging zu ihm. »Hallo, Christian.« Mein Herz machte Sprünge wie Super Mario, meine Stimme klang ungefähr so melodisch wie ein uraltes Modem.

»Romy, was für eine nette Überraschung.«

Christians Lächeln ließ in meinem Bauch die Erregung brodeln wie einen frisch gebrauten Zaubertrank, und als er mir die Hand gab, fühlte ich mich wie elektrisiert. »Das war ein unglaublich spannender Vortrag«, sagte ich.

»Danke. Was kann ich für dich tun?«

»Also, ich wollte dich fragen, ob du mich … also mit mir …« Sehr eloquent, Romy. Wirklich. Ich holte tief Luft.

»Christian, willst du anschließend …«

Er schaute schräg an mir vorbei, und lächelte, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Als wären seine Augen ein Bildschirm, bei dem jemand die stärkste Helligkeitsstufe eingestellt hatte. Ich folgte seinem Blick. Eine Frau, deren Anblick mich überwältigte, betrat den Raum. Hatte ich schon eine XXL-Figur, wies sie sicher noch ein bis zwei X mehr auf. Doch sie kaschierte ihre Rundungen nicht mit einem wallenden Zelt von einer Tunika, sondern trug sie zur Schau, so stolz, wie ich es noch nie bei einer dicken Frau gesehen hatte. Ihren Körper umhüllte ein schwarzrotes Kleid im Vintage-Stil, und ich fragte mich, wo sie so etwas bloß in Übergröße gefunden hatte. Auf ihren hochgetürmten weißblonden Haaren thronten zwei echte Rosen, deren Rot mit dem des Kleids und ihrem Lippenstift harmonierte. Dieses Plus-Size-Pinup kam direkt auf Christian und mich zu. Was wollte sie von uns?

»Entschuldige mich bitte, Romy.«

Christian drehte sich um und nahm sie in seine sehr weit ausgebreiteten Arme. Wer war diese Frau, die jetzt ihre gigantischen Hüften an seinen schmalen Bauch presste? Woher kannte er sie?

Sie kicherte, stellte sich auf die Zehenspitzen, und berührte seine Schultern mit Fingernägeln, die aussahen wie auf dem Foto einer Burlesque-Diva, das ich letztens in meiner Facebook-Timeline gesehen hatte: perfekt oval, lackrot und mit halbmondförmigen Aussparungen am Ansatz. Sie flüsterte Christian etwas ins Ohr, sah sich um und kicherte. Er lächelte zurück und beugte sich zu ihr. Dann küsste er sie auf den Mund.

Auf einmal war es, als hätte jemand mitten in einem Computerspiel den Pauseknopf gedrückt. Spieler- und Nichtspielercharaktere froren ein. Nur die Geräusche gingen verschwommen weiter. Der Teil meines Hirns, der noch funktionierte, versuchte verzweifelt, das Offensichtliche wegzuerklären. Mein Körper konnte nur dastehen und die beiden anstarren.

Irgendwann erinnerte sich Christian wieder an mich. »Sonja, Liebling, darf ich dir Romy Morgenstern vorstellen? Sie macht Grafiken für Computerspiele.«

Sonjas Blick glitt etwas abschätzig über mich. Wieder eine von den ängstlichen Dicken, die auf Nummer sicher geht, schien sie zu denken. Eine, die glaubt, dass Mode nur für die Dünnen da ist. Sie trat einen Schritt auf mich zu und ich konnte ihr Parfüm riechen, Samsara von Guerlain, was ich mir bisher immer verkniffen hatte, weil ich es für zu dramatisch und zu auffällig hielt.

»Angenehm«, sagte Sonja. »Woher kennen Sie meinen Verlobten?«

Sie waren verlobt? Nein, bitte, sag mir, dass das nicht wahr ist. Sonja wiederholte ihre Frage. Ich versuchte, aus dem Matsch, der einmal mein Hirn gewesen war, eine Antwort herauszupressen. »Ich habe bei einigen Projekten für seine Agentur mitgearbeitet.«

Hinter mir beendete die Brünette ihr Telefonat, ich hörte das »klack, klack«, mit dem ihre Stilettos auf dem Marmorboden auftrafen. Christian lächelte auch sie an. »Hallo, Alexa.«

Alexas Stimme klang wie Süßstoff, als sie Christians Namen aussprach, Sonjas Namen intonierte sie wesentlich säuerlicher, und mich ignorierte sie. »Gratuliere euch beiden zur Verlobung«, sagte sie und nahm Sonjas Hand. Ich sah, wie ihr Blick abschätzig über die Rundung von Sonjas Bauch glitt. »Na, wann ist es denn so weit?«

Ich zuckte zusammen. Wieso mussten dünne Menschen dicke Frauen immer fragen, ob wir schwanger sind? Christian aber streichelte den Hügel unter dem Pinup-Kleid, und Sonja presste ihre Hand über seine. »Danke, Alexa«, sagte Sonja. »Das Baby kommt Ende des Sommers.«

KAPITEL 2

»Wenn du nicht bald einen Schluck trinkst, nehme ich das persönlich.«

Ich seufzte, griff nach der Erdbeer-Colada, die ich stumm anstarrte, seit ich mich vor einer dreiviertel Stunde in Cems kleine Bar Chez Cem hinter dem Musikverein geschleppt hatte, und tat, wie mir befohlen. Dann sah ich Cem an, der über mir lehnte wie eine metrosexuelle Version des Gangsters Niko Belic aus Grand Theft Auto. »Zufrieden?«, fragte ich.

Cem, talentierter Barkeeper, guter Freund und mein Nachbar, schüttelte den Kopf. »Du siehst immer noch erbärmlich aus.«

»Vielen Dank, Cem.« Ich schob den Drink von mir, und blickte in den großen Spiegel über der Theke, der besser in eine südfranzösische Konditorei gepasst hätte als hier in die Wiener Innenstadt. Cem hatte recht, ich sah derart elend aus, dass ich mich als Covermodel für ein Zombiespiel bewerben konnte. Meine Locken waren bei meiner Flucht durch den Schneeregen aufgeweicht und hingen welk um mein Gesicht. Die verronnene Wimperntusche hatte ich nur provisorisch weggewischt, und mein Gesicht war noch blasser als sonst, von den roten Stellen einmal abgesehen, die leider nicht dekorativ auf meinen Wangen saßen, sondern ziemlich uncharmant um Augen und Nase. Zumindest bekam fast niemand mit, wie erbarmungswürdig ich aussah. An diesem Spätnachmittag Ende März war Cems Bar ziemlich leer. Die Tagesgäste zogen ihr Daheim dem Schneeregen vor, und die Menschen aus den umliegenden Büros würden wohl erst in ein oder zwei Stunden einzutrudeln beginnen.

Zumindest hatte Olga sich nicht davon abhalten lassen, sich durch den Matsch zu mir zu kämpfen. Ich sah, wie der Kälteschutzvorhang sich teilte, und ihr blonder Pagenkopf zwischen den Samthälften auftauchte. Sie winkte, als sie mich entdeckte, und kam auf die Theke zu. Zur Begrüßung schlang sie ihre zarten Arme um mich und drückte ihren Zwergenprinzessinnenkörper an meinen. »Ich bin so schnell wie möglich gekommen«, sagte sie. »Romy, das tut mir so leid.«

Ich wusste, wie sehr sie meine Leidenschaft für Christian immer genervt hatte und fand ihre Lüge rührend. Olga kletterte auf einen der weiß lackierten, im Shabby Chic gehaltenen Hocker und schob mir meinen Cocktail zu. »Trink, Romy«, sagte auch sie. »Du bist unter Schock und brauchst Mana.«

Cem runzelte seine künstlich gebräunte Stirn. Seit dem Tag, an dem er und sein Klaus in die Wohnung neben meiner gezogen waren, hatten Olga und ich versucht, ihm die Augen für die magische Welt der Computerspiele zu öffnen. Bisher waren wir kläglich gescheitert.

»Mana ist Magier-Energie«, sagte Olga. »Wenn du dir endlich einmal ein paar Computerspiele zulegen würdest, wüsstest du das.«

Cem mixte einen Caipirinha für Olga. »Wenn ich mir euch Mädels so ansehe, finde ich, dass es genug Geeks auf dieser Welt gibt«, sagte er.

Ich ignorierte Cems und Olgas übliche kleine Neckereien. »Ich hätte alle meine Konsolen darauf verwettet, dass ihm nur Frauen mit Modeldimensionen gefallen«, sagte ich. »Und dann schwängert er ausgerechnet die Showgirl-Version von Miss Piggy. Ist euch klar, was das bedeutet?«

Olga griff über den Tresen nach einer Schale mit Erdnüssen. Cem klopfte ihr auf die Finger.

»Das heißt, dass ich es selbst verpatzt habe«, sagte ich und drückte meine Handflächen gegen mein Gesicht. »Wie um Himmels willen ist es mir gelungen, zu übersehen, dass ihm dicke Frauen gefallen?«

Cem warf eine Rumflasche in die Luft und fing sie nach zwei Loopings wieder auf. »Wenn er mit dir geflirtet hätte, hättest du das ja wohl bemerkt, oder?«, sagte er.

»Offensichtlich nicht. In Sachen Liebe hab ich kein Talent.« Ich schüttelte den Kopf, um den Nebel loszuwerden, der sich seit der Begegnung mit der dicken Sonja um mein Hirn gelegt hatte.

»Süße, ich weiß, dass es wehtut, aber diese Episode ist kein Lebensdrama«, sagte Cem.

»Und ob sie das ist. Ich bin 33 und hatte erst zwei Liebhaber. Cem, ich hatte meinen ersten Sex mit 27, in einem Alter, in dem meine Mutter schon ihre Familienplanung abgeschlossen hatte. In den vergangenen vier Jahren habe ich einen Kerl aus der Entfernung angeschmachtet, den ich die ganze Zeit hätte haben können, was ich aber nicht gemerkt habe, weil ich dafür schlicht und ergreifend zu blöd war, oder zu feige, und jetzt ist er weg.«

Cem mixte für einen sehr blonden Mann am anderen Ende der Theke etwas mit sehr viel Scotch. Olga beugte sich zu mir und strich mir in einer für sie untypisch sanften Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist eben eine Träumerin«, sagte sie.

Ich wich ihrem Blick aus. Träumerin, dachte ich, wie oft ich das schon gehört hatte, von Lehrern, Eltern, Freunden, sogar von meiner jüngeren Schwester. Sie hatten alle recht. Meine ganze Jugend hindurch hatte ich mich in Fantasiewelten voller Elfen und Trolle geflüchtet. Hatte Heftchenromane verschlungen, in denen edelmütige Piraten, grüblerische Ritter und Musketiere mit Gewissenskonflikten um die Liebe ihres Lebens kämpften. Bei seitenlangen Liebesszenen hatte ich heimlich meine Sinnlichkeit entdeckt und mich auf diese Art anscheinend für alle Zeiten für die Männer aus der Wirklichkeit verdorben.

»Was hat mir meine dumme Träumerei eingebracht außer verlorene Jahre, in denen ich alleine im Bett gelegen und von der großen Liebe fantasiert habe?«, fragte ich.

Cem wischte den Tresen ab. »Wir haben alle solche Phasen«, sagte er.

Das sagte ein glücklich verheirateter Mann, der den Partner seiner Träume auf einem Baumarktparkplatz gefunden hat.

»Bei mir ist das keine Phase«, sagte ich. »Vor vier Jahren war ich so unterkuschelt, dass ich mir die Katzen zugelegt habe. Ich war schon mit 29 eine Crazy Cat Lady.«

Olga hielt mir meine Erdbeer-Colada hin. »Dann lass uns darauf anstoßen, dass du endlich aufwachst«, sagte sie.

»Wobei ich nicht verstehe, warum es bei dir mit Männern nie klappt«, sagte Cem. »Du hast dein Leben doch sonst so gut im Griff. Sieh dich an. Traumjob, Traumfreunde und eine nette Wohnung hast du auch.«

»Ich bin fett, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.«

»Du bist auch gesund und fit, insofern ist dein Gewicht höchstens ein kosmetisches Problem. Nicht einmal das, weil es ja offensichtlich Männer gibt, die auf fette Frauen stehen«, sagte Cem.

»Anscheinend gibt es nur einen, und für den war ich zu dumm.«

»Nicht nur. Siehst du den Blonden am Tresen, den mit dem Polohemd? Der sieht dich schon die ganze Zeit an.«

Ich schüttelte den Kopf. »Meinst du den Fitnesstrainertyp da? Der sieht mich doch nur an, weil er sich fragt, wie eine Frau so fett sein kann, und ob er mich als Klientin gewinnen kann.«

Olga stöhnte. »Komm Romy, reiß dich zusammen und hör auf, dich zu bemitleiden. Christian war nichts für dich, und du hast zumindest ein paar XP gesammelt.« Sie wandte sich an Cem. »Experience Points, also Erfahrungspunkte«, erklärte sie ihm. »Die bekommst du beim Spielen, zum Beispiel wenn du einen Gegner besiegst oder besondere Aufgaben erfüllst. Hast du genügend Punkte gesammelt, kommst du auf den nächsthöheren Level und lernst neue Zaubersprüche und Kampftechniken.«

»Ich kann froh sein, dass die Liebe kein Computerspiel ist«, sagte ich. »Venus wäre gerade mal auf Level zwei. Sie spielt wie ein Noob.«

»Wer bitte ist Venus, und was ist ein Noob?«, fragte Cem.

»Venus ist mein Online-Name, seit ich dreizehn bin«, sagte ich. »Wegen meines Nachnamens. Morgenstern. Die Venus ist der Morgenstern, und ein Noob ist ein Newbie, also ein blutiger Anfänger.«

»Es wird Zeit, auf ein höheres Level zu kommen. So schwer kann es nicht sein. Erst letztens habe ich wieder von einer Studie gelesen, dass wenn Männer im Internet nach Sex suchen, sie den Figurentyp ›fett‹ dreimal so oft eingeben wie den Figurentyp ›dünn‹«, sagte Olga.

Ich schnaubte. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Laut dem Artikel gibt es sogar Plus-Size-Pornostars«, sagte Olga, tippte etwas in ihr Smartphone und hielt es mir unter die Nase. Ich sah das Bild einer rothaarigen, dicken Frau, die auf dem Rücken lag. Nackt. Sie hatte die Beine gespreizt und ihre Hand berührte ihre Pussy.

»Schau mal, diese April Flores sieht doch genauso aus wie du«, sagte Olga. »Ähnliche Figur, helle Haut, und rot gefärbte Haare hat sie auch. Da steht, dass ihre Pussy sogar als Sexspielzeug aus Latex am Markt ist.«

Ich sah mich um. Seinem Grinsen nach zu schließen, hatte der Blonde mit dem Scotch-Drink unser Gespräch offenbar mitgehört.

»Können wir über so etwas vielleicht in Zimmerlautstärke reden?«, fragte ich Olga.

Der sportliche Blonde prostete uns zu.

Olga scannte ihn von den Spitzen seiner kunstvoll verwuschelten Haare bis zu den grauen Tennisschuhen. »Was hältst du von ihm?«, fragte sie. »Der sieht doch ein bisschen aus wie Jaime Lannister aus ›Game of Thrones‹.«

»Auf mich wirkt er wie ein etwas heruntergekommener Fitnesstrainer.«

Olga verdrehte wieder die Augen. »Mein Gott Romy, du sollst ihn ja nicht heiraten. Bloß ein paar XP sammeln.«

»Ich erlebe gerade das Drama meines Lebens«, sagte ich. »Das sind für eine Weile genug XP.«

»Christian war nur ein Trugbild«, sagte Olga. »Es lohnt sich nicht, einer Illusion nachzutrauern. Wie viel Zeit willst du noch verlieren?«

»Weißt du, wie viel Lust ich gerade habe, einen Mann kennenzulernen?«, fragte ich. »Ungefähr so viel, wie ein eingeschworener Apple-Fan Lust hat, auf Windows umzusteigen.«

»Weil du ja so viel zu verlieren hast.«

Ich schenkte Olga einen trotzigen Blick, zog mich aber trotzdem in den kleinen Waschraum der Damentoilette zurück und brachte mein Gesicht in Ordnung, so gut es irgendwie ging.

Als ich zurückkam, hielt mir Cem eine weitere Erdbeer-Colada hin und deutete mit dem Daumen auf den Blonden. »Mit freundlichen Grüßen von deinem neuen Verehrer.«

»Ich liebe es, wenn ich recht habe«, sagte Olga. »So, und jetzt flirtest du mal ein bisschen mit ihm.«

»So wie ich aussehe? Es ist euch schon aufgefallen, dass ich mein Gesicht nur sehr provisorisch restauriert habe, ja?«, fragte ich.

»Glück für dich, die meisten Männer achten nicht auf solche Kleinigkeiten«, sagte Cem. »Uns geht es um das große Ganze.«

Ein paar Augenblicke später hatten Olga und Cem sich diskret in Luft aufgelöst und der Blonde hatte sich auf dem Hocker neben mir niedergelassen. Er lächelte mir zu und fischte eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Poloshirts, auf dessen linker Brust es zwei Krokodile miteinander trieben. Toll, der Humor meines potenziellen Verehrers war ungefähr so tiefgründig wie eine Acht-Bit-Grafik.

»Manfred Neuber, Filialleiter-Stellvertreter vom Hypersport-Markt im Shopping Center Nord«, stellte er sich vor.

»Romy Morgenstern.« Ich wollte ihm erzählen, dass ich 3D-Artist war, an Social Games, Smartphonespielen, Serious Games, und sogar einem free to play MMO arbeitete. Im Moment hatte ich jedoch wenig Lust auf die unvermeidliche Diskussion über Frauen und die Computerspielbranche. »Ich kenne den Barkeeper«, sagte ich. »Außerdem muss ich bald nach Hause. Arbeiten. Und packen.«

»Wir haben uns gerade erst kennengelernt und schon willst du los?«

»Morgen um sieben muss ich im Flieger nach London sitzen.«

In weniger als 24 Stunden würde ich der Kreativdirektorin meines Lieblingsspiels gegenübersitzen. Ich musste den guten Eindruck, den ich bei den Vorrundengesprächen über Skype aufgebaut hatte, bestätigen, auch wenn ich mich gerade fühlte, als hätte mich eine Horde Orks als Fußmatte benutzt.

»Ist England im Jänner nicht etwas kalt für Urlaub?«, sagte Manfred.

»Ich muss beruflich hin.«

»Aha«, sagte er.

Er fragte nicht nach, dafür rutschte er näher, bis sein Schenkel mein Knie berührte. Mit meiner vom Weinen noch verstopften Nase roch ich sein Rasierwasser, das frisch, aber für meinen Geschmack etwas zu seifig roch. Ich zog mein Knie weg und nippte an meinem Cocktail, während er mir seine Karriere als Sportartikelverkäufer und seine Erlebnisse in der Kraftkammer schilderte.

Ich gab mir große Mühe, zuzuhören, wenn auch nur, um die Gedanken an Christian und Sonja aus meinem Hirn zu verscheuchen. Als mir Manfred gerade erzählte, wie viel Umsatz die Sportartikelmärkte ans Internet verloren, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.

»So schlimm ist das auch wieder nicht«, sagte Manfred und hob erschrocken seine Augenbrauen. »Die guten Märkte halten mit neuen Konzepten tapfer dagegen.«

Ich schüttelte den Kopf und sah mich nach einer Serviette um. »Kein guter Tag heute. Entschuldige.«

Cem und Olga tauchten wieder auf, und Cem nahm mich in den Arm. Manfred schob mir seine Karte hin, die ich auf dem Tresen liegengelassen hatte. »Ruf mich doch an, wenn du aus England zurück bist, ja?«, sagte er, und verließ die Bar.

KAPITEL 3

Als ich am nächsten Nachmittag aus dem zu einem Bürogebäude umgebauten ehemaligen Lagerhaus im Londoner Eastend trat, nahm ich den Schneeregen kaum wahr, der mir ins Gesicht klatschte. Seltsam, wie nahe Desaster und Euphorie manchmal beieinander liegen, dachte ich. In der Nacht hatte ich kaum geschlafen und war immer wieder aus wüsten Alpträumen voller Hanteln stemmender Monster und dicker Pornoköniginnen aufgewacht. Jetzt schwebte ich fast über die mit Schneematsch überzogene Straße. Seit ich vor zwei Jahren das erste Mal als Elfenmagierin die Dracheninsel Oranthene im Spiel Knights of the Dragon Isle erkundet hatte, träumte ich davon, bei der Gestaltung dieser Welt mitzuarbeiten. Zu meinem Entzücken hatten mein Portfolio und mein Enthusiasmus Tamsin, die Kreativdirektorin von DrakeLore, tatsächlich überzeugt. In nur drei Monaten würde die Arbeit an Teil zwei beginnen, und ich würde mit den Genies zusammenarbeiten können, die sich diese opulente, komplexe Fantasiewelt ausgedacht hatten. Jetzt musste ich nur noch die Zeit bis dahin überbrücken, ohne vor lauter Ungeduld die Wände hochzugehen. Olga hatte mich für ein Kinderlernspiel namens Freche Früchtchen zum Thema Bio-Obst vorgeschlagen, an dem sie selbst mitarbeitete. Äpfel und Spargel zu zeichnen, würde natürlich nicht so spannend sein, wie Magier und Elfenkriegerinnen zum Leben zu erwecken, aber für eine Frau wie mich, die inzwischen wieder gerne kochte und aß, war das Projekt eine nette Zwischenlösung, und das Honorar konnte ich auch gut gebrauchen.

Die nächsten paar Stunden lief ich aufgeregt durch London. In jeder Statue glaubte ich, einen Ritter der Dracheninsel zu sehen und die Tauben, die frierend auf den Denkmälern hockten, verwandelte ich im Vorbeigehen in Jungdrachen. Erst, als mir so kalt war, dass ich glaubte, auf meinen Wimpern bildeten sich Eiskristalle, ging ich ins Hotel zurück. Jetzt, da meine Aufregung sich langsam legte, tauchten die Ereignisse des vergangenen Abends wieder vor mir auf. Christian, seine dicke Sonja und die verunglückte Begegnung mit Manfred. Ich setzte mich aufs Bett, starrte durch das Fenster, ohne die Nacht, die sich langsam über London legte, wirklich wahrzunehmen, und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Mir war, als hätte jemand all meine Glaubenssätze mit einem Langschwert zerschmettert, und ich hatte keine Ahnung mehr, was stimmte und was nicht. Was, wenn tatsächlich mehr Männer dicke Frauen mochten, als ich immer gedacht hatte?

Ich bestellte beim Zimmerservice Tee und Sandwiches und packte meinen Laptop aus. Zuerst suchte ich nach »Plus Size Porn« und fand jede Menge schlanker Männer mit Frauen, die das Doppelte bis Dreifache von ihnen ausmachten. Einige dieser Frauen waren noch viel dicker als ich. Die paar Male, die ich mich bisher auf Pornoseiten verirrt hatte, hatte ich die Filme mit dicken Frauen als Randphänomen für Fetischisten gehalten. Jetzt sah ich, dass sich offenbar ziemlich viele Menschen für »Fat Porn« und »Chubby Porn« interessierten. Warum eigentlich? Was fand ein Mann wie Christian an Sonjas Körper so besonders, so erotisch? Was hätte er an meinem Körper ansprechend und erregend finden können?

Ich klickte wahllos auf einen der Clips und sah einen riesigen runden Frauenhintern, der fast das ganze Fenster ausfüllte. Er bewegte sich auf und ab, und erst jetzt bemerkte ich, dass die Frau auf ziemlich schlanken Männeroberschenkeln saß und ein Schwanz sich von unten zwischen ihre Schenkel bohrte. Der Hintern wippte und wackelte, während der feuchte Schwanz in der Frau verschwand, kurz hervor kam und wieder versank. Hände kamen ins Bild, die den Hintern drückten und kneteten. »Oh, Baby, yesss«, stöhnte die Frau. Sie zog ihre mächtigen, mit einer dicken Göttin tätowierten Pobacken auseinander, damit die Kamera einen besseren Blick auf ihre Pussy hatte, während der Mann in sie eindrang. Er sagte etwas zu ihr, aber der Ton war schlecht und das schmatzende Geräusch von Fleisch, das auf Fleisch prallte, übertönte seine Worte.

Die nächste Einstellung zeigte das Paar von der Seite. Der Mann lag auf einem großen Sofahocker und die Frau thronte auf seinem Schoß, mächtig wie die Urzeitgöttin, die ihren Hintern zierte. Sie bog den Rücken durch, während sie auf seinen Schenkeln hin-und herwiegte. Er richtete sich auf und steckte sein Gesicht zwischen ihre massigen Brüste. Dann stieg sie von ihm herunter, legte sich auf den Hocker und spreizte ihre üppigen Schenkel so weit sie nur konnte. Er betrachtete einen Augenblick lang lüstern ihre mit einem leichten Feuchtigkeitsschleier überzogene Pussy, dann stellte er sich zwischen ihre Beine und drang tief in sie ein. Der schlanke Mann stieß in die dicke Frau, wieder und wieder, und versetzte dabei ihren gesamten Körper in Bewegung. Sein Blick klebte auf ihren Brüsten und auf seinen Schläfen sammelte sich Schweiß. Sie legte eine Hand auf ihre Pussy und streichelte sich selbst, während er sie vögelte. »Yes, Baby«, stöhnte sie. »Bring meine Dinger zum Hüpfen.«

Ich schaltete den Ton weg, weil mich das gespielte Stöhnen nervte, und sah mir das Video noch einmal an. Sah noch einmal ihr Fleisch sich bewegen, die Fülle ihres Körpers, den Ausdruck der Lust auf seinem Gesicht, und bemerkte die Wärme, die sich in meinem Schoß ausbreitete.

Ich verließ die pornografischen Seiten und sah mir Seiten mit Plus-Size-Mode und von Dicken-Aktivisten an. Ich fand tausende Einträge und Bilder, auf Webplattformen und Blogs, auf Tumblr, Facebook und YouTube. Ich sah dicke Frauen, die sich modischer, schicker und wilder kleideten, als ich es mich je getraut hatte. Frauen, die Stile von Vintage über Avantgarde bis Gothic durchprobierten und mit ihren Liebhabern und Ehemännern posierten. Ich kam mir vor wie eine Figur in einem Spiel, die zu lange auf Level eins herumgekrochen war und schließlich feststellte, dass es mehr gab als nur ihr Dorf und den Wald darum herum. Dass es eine ganze Welt gab, mit Inseln und Bergen und Städten und Wüsten und Verließen. Eine Welt, von deren Existenz sie die ganze Zeit nichts geahnt hatte.

Auf dem Blog einer deutschen Plus-Size-Pinup-Liebhaberin fand ich eine Kolumne über dicke Fashionistas. Ich scrollte mich über die Seite und zuckte zusammen. Ein Bericht war Christians dicker Sonja gewidmet. Ich wollte die Seite schließen, zwang mich aber, genauer hinzusehen.

Ich musste wissen, was sie anders machte als ich. Ich sah Fotos von ihr, wie sie im Badeanzug am Strand posierte, im Ballkleid eine Festsaaltreppe hinunterlief und bei einer Rock ’n’ Roll-Party ihr Korsett zur Schau trug. Widerwillig gestand ich mir ein, dass ich Sonja schön fand, dass sie ein echter Vamp war, mutig und selbstbewusst. Ich konnte richtig sehen, dass sie sich in ihrer Haut wohl fühlte und dass sie sich sexy fand. Ich wusste nicht, worum ich sie mehr beneidete, um Christians Liebe oder um dieses Selbstvertrauen.

Als ich Stunden später meinen Computer zuklappte, fragte ich mich, wie es Sonja und all die anderen Frauen auf diesen Seiten geschafft hatten, sich so frei und sexy zu fühlen. Sicher, ich hatte beim Bauchtanzen und beim Aktzeichnen auf der Kunstuni gelernt, meine Rundungen einigermaßen zu akzeptieren. Autorinnen wie Natalie Angier und Naomi Wolf hatten mich gelehrt, meine Anatomie mit einer gewissen Faszination zu betrachten. Aber einen dicken Körper wirklich liebens- und begehrenswert finden? Immer, wenn eine dicke Frau das behauptete, dachte ich, dass sie sich selbst belügt. Wie konnten sich Menschen selbst lieben, wenn sie die ganze Welt mit Beleidigungen und Vorurteilen bombardierte? Wenn sie höchstens als Vorherbild einer Diätreportage vorkamen? Wenn Modeschöpfer sie immer nur in bunt bedruckte Säcke stecken wollten? Wenn ihnen Gesundheitsstatistiken nachzuweisen versuchten, dass sie die Krankenkassen zum Kollabieren brachten? Wie sollten sie sich da sexy fühlen?

Sonja tat es. Sie liebte ihren runden Körper, genauso wie die Plus-Size-Bloggerinnen, die dicken Models und die runden Pornostars, deren Clips von Millionen von Männern angeklickt wurden. Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf: Wenn diese Frauen es konnten, wollte ich es auch lernen. Wollte es lernen, wollte herausfinden, was an meinem Körper sexy war. Wollte nachholen, was ich in Sachen Sinnlichkeit versäumt hatte. Ich wollte mich nicht wieder in den erstbesten verlieben und ihn mit etwas Pech wieder aus der Ferne anschmachten, sondern XP sammeln. Ich wollte Männer finden, die fette Frauen erotisch finden, und alles gutmachen, was ich verpasst hatte. Ich wollte den Teil von mir, der unter all den Unsicherheiten und Ängsten vergraben war, der sehnsüchtig und hungrig war, an die Oberfläche holen.

KAPITEL 4

Die Tänzerin warf dem Publikum kokette Blicke über die Schulter zu, als sie ihren Glitzer-BH öffnete. Dann drehte sie sich um und ließ den Büstenhalter von ihren Schultern gleiten, über Brüste und Bauch, die nicht viel kleiner waren als meine. Sie wirbelte den BH wie ein leuchtendes Windrad durch die Luft und ließ ihn auf den Bühnenboden fallen, wo schon ihr Korsett, die Strümpfe, die langen Handschuhe und der Rest ihres Kostüms lagen wie kleine, pink glitzernde Pfützen. Im Takt der Musik hob sie ihre Arme und setzte ihren üppigen Leib in Bewegung, sodass die Quasten der Pasties über ihren Brustwarzen sich drehten wie kleine Flugzeugpropeller. Das Publikum kreischte, lachte und applaudierte. Die Tänzerin, die sich »Dirty Martini« nannte, warf uns eine Kusshand zu und stolzierte von der Bühne.

»Ist sie nicht großartig?«, flüsterte Tamsin in meine Richtung.

Ich nickte. »Wie macht sie das?«

»Tassle twirling kann man lernen«, sagte Tamsin und zwinkerte mir mit einem verschwörerischen Lächeln zu.

Ich lächelte zurück. Anfangs war ich etwas verlegen gewesen, meine künftige Chefin ausgerechnet bei dem Striptease-Event in einem Vintage-Club in der Nähe der Brick Lane, den ich bei meiner Recherche im Internet gefunden hatte, über den Weg zu laufen. Doch Tamsin, die nur eine Kleidergröße weniger hatte als ich, schien sich über meine Anwesenheit zu freuen und steckte mich mit ihrem Enthusiasmus für Burlesque richtig an.

»Ich habe vergangenen Sommer einen Kurs an der New York School of Burlesque belegt, bei Jo Boobs«, erzählte sie mir. »In Wien gibt es sicher auch Kurse.«

»Müsste ich mal googeln.«

Vor zwei Tagen hätte ich beim Gedanken an so einen Kurs noch laut gelacht. Inzwischen fand ich die Idee zumindest überlegenswert.

Mein Blick fiel auf bestickte Korsagen, Tüllröcke, Federhütchen, Strasscolliers, mit Glitter überzuckerte Münder und Augen und falsche Wimpern, die bis zur Decke zu reichen schienen. Ich hatte noch nie so viele glamouröse Frauen in einem Raum gesehen. Aber das Schönste war, dass hier nicht alle Frauen so dünn wie Dita Von Teese waren. Einige der abendlichen Schönheiten entpuppten sich sogar als deutlich üppiger als ich.

Tamsin gehörte eindeutig auch zum Glitzervolk. Sie hatte ihre geschätzten neunzig Kilo elegant in Lagen von cremefarbenem Satin gehüllt, der sich hell von ihrer dunklen Haut abhob, und auf ihren üppigen Afrolocken thronte kokett ein silbrig glitzernder Minizylinder.

In meinem dunklen Rock und dem schlichten Spitzentop kam ich mir neben ihr vor wie Andersens Entlein in einer Vorstellung von Schwanensee. Ich hatte heute zwar die Einkaufsstraßen von London abgeklappert und meinen Koffer mit Kleidern und Dessous gefüllt, die ich in Wien nicht bekommen konnte – mehr Spitze, mehr Farbe, wildere Schnitte und tiefere Dekolletés, Stickereien, Pailletten, und hübschere Dessous, als ich sie je besessen hatte – aber die ausgefallensten Sachen hatte ich in einem kurzen Anflug von Schüchternheit im Hotel gelassen. Ein Fehler, wie sich herausstellte.

Tamsin drehte sich zur Saaltür und winkte lächelnd einem Mann in einem Frack zu, der sich daraufhin seinen Weg zu uns bahnte. Er küsste Tamsin, sobald er sie zu fassen bekam, und meine neue Chefin drehte sich zu mir um. »Darf ich dir meinen Freund Colin McCutcheon vorstellen?« Sie hängte sich bei ihm ein und drückte ihren Körper an den Mann, der aussah wie ein Elitesoldat aus einem Ego-Shooter, den jemand gegen seinen Willen in Abendkleidung gesteckt hatte.

»Sehr eleganter Frack«, sagte ich. »Leibwächter bei der Queen?«

Colin lachte. »Oboe im Orchester der English National Opera.«

Als er meine vor Überraschung hochgezogenen Augenbrauen bemerkte, wurde sein Gesicht weich, und ich verstand, was Tamsin an Colin anziehend fand.

»Vor ihm habe ich immer geglaubt, dass sich im Netz keine Männer mit Klasse herumtreiben«, sagte Tamsin und drückte ihrem Geliebten einen Kuss auf die Wange.

»Was für eine Plattform war das?« Ich lächelte die beiden an. »Da sollte ich auch mal vorbeischauen.«

»Bist du auf der Suche?«, fragte Tamsin.

»Sozusagen. Ich fürchte nur, die herkömmlichen Datingseiten geben für Frauen wie mich nicht viel her.«

»Vergiss die üblichen Plattformen, und versuch es lieber auf den Seiten für Liebhaber von Plus-Size-Frauen«, sagte Colin. »So habe ich diesen Schatz hier gefunden.« Er hauchte Tamsin einen Kuss auf die Stelle zwischen Ohr und Nacken.

Ich glaubte, Tamsins Erregung bis zu mir spüren zu können. Beim Anblick ihres Glücks fühlte ich eine Welle der Sehnsucht über mich schwappen, so heftig, als würde all mein aufgestauter Hunger auf einmal über mich hereinbrechen. Ich entschuldigte mich bei den beiden und lehnte mich im Waschraum des Clubs an die portweinrote Samttapete. Dabei betrachtete ich mein Gesicht und mein Dekolleté im Spiegel, der meinen Kopf und meinen Oberkörper einrahmte wie eine kleine runde Kamee. Wenn Tamsin und Colin einander gefunden hatten, gab es auch Hoffnung für mich, dachte ich. Die Welt da draußen war voller Männer, die auch Frauen wie mich erotisch fanden. Ich durfte auf der Suche nach ihnen nur nicht wieder in meine dummen alten Muster verfallen.

Ich lächelte mein Spiegelbild an. Was, wenn ich das Ganze wirklich wie ein Abenteuer sah, wie eine Quest, eine Mission in einem Computerspiel? Statt Drachen würde ich Prinzen jagen, und die Prinzessin, die sich befreite, war ich selbst.

Ein Grummeln meines Magens übertönte die Elektro-Swing-Musik, die durch die Türen des Waschraums drang. Mir fiel ein, dass ich nichts mehr gegessen hatte, seit ich mich am Nachmittag in eine kleine Sushibar bei der Oxford-Street verirrt hatte. Ich ging zur Bar, kaufte mir ein paar Erdbeeren in Schokolade und ein Glas Sekt, und setzte mich auf einen der alten Hocker. Langsam führte ich eine Erdbeere zum Mund. Zuerst schmolz die Schokolade auf meiner Zunge und überzog die Papillen mit einer weichen Schicht aus Fett und Kakao, dann schmeckte ich das süßherbe Fruchtaroma. Ich seufzte, griff nach einer weiteren Erdbeere und bemerkte dabei einen Mann, der an der Wand neben der Bar stand und mich anstarrte. Er war kaum größer als ich, und mit seiner Cargohose und seinem schwarzen T-Shirt schien er so gar nicht zur den prachtvoll hergerichteten Burlesque-Fans zu passen. Er bemerkte zuerst gar nicht, dass ich ihn ansah. Seine Augen schienen an meinem Mund zu kleben, als könnte er es gar nicht erwarten, bis ich abbiss. Ich tat ihm den Gefallen, und er verzog lustvoll sein Gesicht. Die Schluckbewegung seines Adamsapfels konnte ich sogar im Dämmerlicht der Bar ausmachen.

Der Blick des Mannes traf meinen. Er grinste, und ich fragte mich, was die fetten Liebesgöttinnen, die in ihren Korsetts und auf ihren Stilettos durch den Burlesque-Club glitten, jetzt tun würden.

Ich stand auf und schlenderte zu ihm hinüber. Ich war mir dabei seines Blickes bewusst, der über meinen Körper glitt. »Beobachtest du gerne Frauen beim Essen?«, fragte ich ihn.

»Nur, wenn sie dick sind«, sagte er mit einem Akzent, der für mich schottisch klang.

»Wieso das denn?«