Verbena - Ruth Anne Byrne - E-Book

Verbena E-Book

Ruth Anne Byrne

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Beschreibung

Die 17-jährige Heilerin Verbena entdeckt an sich ein magisches Talent: Sie kann sich mit einem Marder verbinden. Als "Begabte" aber zählt sie zu einer Bevölkerungsgruppe, die von den "Hütern" – einer Art mittelalterlicher Inquisition – verfolgt wird. Dabei würde Verbena zu gern die Freuden, Freundschaften und Verliebtheiten teilen, die ein normales Leben einer jungen Frau zu bieten hat. Sie sucht ihre Fähigkeit zu verbergen, um nicht auf dem Scheiterhaufen zu enden, während sich das verhetzte Volk radikalisiert. Als ein junger Mann, der nach einem Raubüberfall schwer verletzt aufgefunden wurde, in die Heilerei gebracht wird, verkompliziert sich ihre Lage. // Band 1 eines Low-Fantasy-Romans über das Heranwachsen in gefährlichen Zeiten, in denen außergewöhnliche Begabungen dazu führen können, zum Außenseiter gestempelt und mit dem Tod bedroht zu werden.

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Seitenzahl: 314

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© 2020 Fabulus Verlag, Fellbach

www.fabulus-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Joachim Güntner

Zeichnung/Lageplan auf dem Vorsatz: Gioia Hope/Ruth Byrne

Umschlaggestaltung: Fabulus Verlag in Zusammenarbeit mit r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg

Satz und Herstellung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg

Druck und Bindearbeiten: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN Print: 978-3-944788-87-6

ISBN E-Book: 978-3-944788-88-3

Inhaltsverzeichnis
Prolog
Die Nachtwanderung
Das Tier in mir
Schönen Dank
Escha sei mit ihm
Fast zahm
Schmerzhaftes Erwachen
Lügen, die das Leben schreibt
Der verbotene Geist
Das Sautrogrennen
Ein Sturm zieht auf
Im Wespennest
Dunkelheit
Auf dem Markt
Wie die Wölfe
Narben und Wiedergutmachungen
Verschlossene Tore
Wenn Wassertropfen funkeln
Der Pfauenreigen
Bündnisse und Bekenntnisse
Der Morgen danach
Wiedersehen macht Freude
Das Lächeln
Neugier ist der Schlüssel
Zwiebeltränen
Das Mavanjafest
Gespitzte Ohren
Wie das Leben fließt
Johannisbeeren und Steinpilze
Treibjagd
Verzeichnis der Personen und guten Geister
Dank
Über die Autorin

Prolog

In der Mitte des Marktplatzes stand der Scheiterhaufen, sicher drei Mann hoch, so dass die Schreie der Kreuzdorner Hexe weithin hörbar sein würden und alle – wirklich alle – sie sahen. Sie zerrte, riss an ihren Fesseln, wollte schreien, hätte da nicht das Tuch in ihrem Mund gesteckt. Verfilzte Strähnen flogen um ihren Kopf. Heilerhaare.

Ausgerechnet eine Heilerin?

Ihre Augen blitzten wild, kampfbereit – wenn sie nur irgendeine Möglichkeit gehabt hätte. Striemen und verkrustetes Blut bedeckten ihren Körper. Sie hatte wohl schon einigeserdulden müssen.

Was war nur aus den Dienern Mavanjas geworden – in so kurzer Zeit? Unter neuer Führung handelten die Hüter erbarmungslos und diese arme Frau war die Erste, die ihnen ins Netz gegangen war.

Ein Gong ertönte, ließ das Publikum verstummen. Ein hagerer Mann, noch recht jung, betrat die Bühne. Seine Nase war genauso spitz wie die Schnäbel der Krähen, die über den Türmen der Kronenburg kreisten. Korvinus von Seggensee. Der neueste Speichellecker bei den Hütern. Der feine Herr strich sich die langen Haare aus dem Gesicht, genoss den Moment der Stille, bevor er seinen Gebieter ankündigte: »Hört, hört, werte Kronenburger und andere Bürger des Rohnlandes, Eure Exzellenz Helleborus von Resede, Großmeister der Hüter und ergebener Diener der Mutter des Lebens, wird nun zu euch sprechen.« Damit trat er einen Schritt zur Seite und verbeugte sich.

Es erschien ein weiterer Mann. Seine Augen waren wach und kalt. Berechnend warf er einen Blick über die Menge. Die Lippen pikiert, sah er zu der Hexe hinüber, schmunzelte, nickte ihr wissend zu. Die beiden hatten offenbar schon einige Zeit miteinander verbracht.

Sie erstarrte bei seinem Anblick, nur um dann umso fester an ihren Fesseln zu zerren.

Seine Exzellenz setzte ein Lächeln auf, als ob er sich für den Karneval verkleidete, und begann zu sprechen: »Ihr guten Bürger! Ihr alle erzählt sie euch, die alten Schauergeschichten. Ich sage euch, sie sind wahr. Zu lange sind wir Hüter unserer Aufgabe nicht nachgekommen, haben die redlichen Menschen – wie ihr es seid – nicht gut genug vor diesem Abschaum geschützt. Ab dem heutigen Tag werden wir aufräumen! Weg mit dem Gesindel! Das verspreche ich euch.«

Er wartete auf Beifall und eine tosende Woge rollte ihm entgegen.

Die Exzellenz machte einen Schritt auf die Heilerin zu. »Diese hier ist eine Traumweberin aus dem kleinen Dorf Kreuzdorn. Dort hat sie den Leuten Träume geschickt, die sie krank machten, nur um selbst mehr zu verdienen! Nun wird sie büßen!«

Der mit der spitzen Nase hatte inzwischen eine Fackel entzündet, stand bereit, den Scheiterhaufen in Flammen zu setzen. Doch Helleborus von Resede bedeutete ihm mit nur einem Fingerzeig, dass er das selbst in die Hand nehmen wollte.

Man sah Korvinus von Seggensee an, wie ungern er verzichtete. Aber er folgte seinem Großmeister, wie ein Hund seinem Herren. Demütig ging er auf die Knie und überreichte die Fackel.

Die Exzellenz wartete, ließ den Moment wirken.

Korvinus riss den Knebel aus dem Mund der Heilerin. Sie spuckte ihn an, schrie, zeterte, verwünschte ihre Peiniger und alle rundum, die tatenlos zusahen, sie allein sterben ließen.

Die Menge schien wie gelähmt.

Dann kamen die Rufe.

»Höchste Zeit!«

»Lasst sie brennen!«

»Hexenpack!«

Die Exzellenz senkte die Fackel. Die Flammen züngelten über das Holz hinauf, sprangen von Scheit zu Scheit, loderten höher, erreichten die Spitze. Ein Heulen erklang, das nichts Menschliches mehr hatte.

Die Nachtwanderung

Alraune warf einen gehetzten Blick aus dem offenen Fenster. »Das ist alles nicht mehr so einfach wie früher …«, murmelte sie.

So hatte ich sie noch nie erlebt. Wenn Alraune etwas nicht war, dann ängstlich.

Es war inzwischen dunkel geworden. Eine Frühlingsbrise wehte herein. Die Kerze am Tisch flackerte. Ich rieb die Arme, um keine Gänsehaut zu bekommen. »Wie meinst du das?«

»Ich weiß nicht … Wicke sagt, wir sollten vorsichtig sein. Das macht mich nervös.«

»Wegen der Kreuzdorner Hexe?«

Alraune nickte. Sie trat zum Fenster und klappte die Läden zu.

Das war übertrieben. »Wir sind Heilerinnen, keine Hexen. Die Leute brauchen uns!«

»Natürlich brauchen sie uns. Aber sie verstehen nicht immer, wie wir ihnen helfen. Da sieht schnell einmal etwas nach einem Wunder aus.«

Ich griff nach einem meiner verfilzten Zöpfe, drehte ihn zwischen den Fingern und warf ihn hinter die Schulter. »Trotzdem, wir tun nichts Übersinnliches!«

Alraune räusperte sich. »Naja … manchmal sind die Grenzen fließend.« Sie machte eine Pause. »Es gibt da etwas, was ich dir schon längst hätte sagen müssen.«

Endlich setzte sie sich, legte ihre knochigen Finger auf den Tisch. Ich lehnte mich nach vorn, strich mir die losen Strähnen hinter das Ohr.

Alraune sah mir in die Augen. »Es gibt Dinge, die wir Heilerinnen tun, die nicht in den Büchern stehen. Dinge, die – vor allem in letzter Zeit – größtmögliche Verschwiegenheit brauchen. Du bist jetzt alt genug.« Sie stockte erneut. »Morgen wirst du eine Drachenzahn-Essenz brauen und ich zeige dir wie.«

Was?

Hatte sie vergessen, was wir vorhatten?

»Aber morgen ist die Hochzeit!« Ich ließ mich im Stuhl nach hinten fallen. Das war wieder typisch! Jedes Mal, wenn im Dorf etwas los war – und das kam selten genug vor – war einer von Alraunes wichtigen Erntetagen. Seit Wochen hatte ich mich auf dieses Fest gefreut, auf meine Freunde, und im Besonderen auf Finn.

»Verbena … es tut mir leid! Auf uns wartet Dringlicheres als diese Hochzeit. Die Drachenzahn-Essenz kann nur am ersten Neumond nach der Apfelblüte gebraut werden, und das ist morgen!«

Machte sie das absichtlich? Wollte sie etwa nicht, dass ich Finn wiedersah? Die meisten Mädchen im Dorf waren in ihn verschossen. Aber er hatte sein Auge ausgerechnet auf mich geworfen … Ich konnte das noch gar nicht fassen. Nur was, wenn ich nicht auftauchte?

»Hörst du mir überhaupt zu?«, holte Alraune mich aus den Gedanken.

»Ja … Drachenzahn-Essenz.« Davon hatte ich noch nie gehört. »Ich soll einem Drachen seinen Zahn abnehmen?« Das war nicht ihr Ernst, oder? Drachen gab es doch gar nicht.

Alraune schnaubte und schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es wird nicht weniger gefährlich.« Ihr Blick wanderte zu den verschlossenen Fensterläden. »Pass auf!«, flüsterte sie, »ein Drachenzahn ist die Wurzel der Drachenwurz. Nur einmal im Jahr für eine Nacht steht der Drache in Blüte. Zu dieser Zeit ist die Essenz am stärksten.«

»Was soll so gefährlich daran sein, eine Wurzel zu ernten?«

»Nicht ernten … diesen Drachen JAGT man! Das ist keine gewöhnliche Pflanze. Zumindest morgen in der Nacht nicht. Wenn du sie siehst, wirst du wissen, was ich meine.« Alraune nickte mir wissend zu. »Der Drache wird seine Wurzel unerbittlich verteidigen.«

Was sollte eine Pflanze schon machen?

»Hat er Dornen? Nesselt er?«

Alraune schüttelte den Kopf. »Wenn er dich bemerkt, speit er giftige Dämpfe … wie ein Drache eben. Am besten schaust du es dir morgen selbst an, sonst glaubst du es mir nicht.«

Das hörte sich wirklich nicht nach einer gewöhnlichen Pflanze an. Gab es da tatsächlich mehr? Dinge, die erklärten, weshalb Leute wie die Kreuzdorner Hexe gejagt und verbrannt wurden?

»Warum hast du mir das nicht schon längst erzählt?«

»Um sich mit den magischen Dingen dieser Welt zu beschäftigen, braucht man … sagen wir einmal … eine gewisse Reife und vor allem Verschwiegenheit. Ich glaube, die hast du jetzt.«

Seit wann glaubte sie das? Trotzdem straffte ich die Schultern. »Wozu verwendet man diese Essenz?«

Alraune schmunzelte. »Das ist etwas Besonderes. Man nimmt damit Dinge wahr, die einem normalerweise verborgen bleiben. Ich verwende sie zum Beispiel, um in der Nacht besser sehen zu können.«

So etwas gab es?

»Du kannst sie gern probieren. Morgen!«

Ach, Finn und die Hochzeit – doch ich musste zugeben, dass ich diesen Drachen nicht verpassen wollte. »Wann in der Nacht müssen wir das machen?«

»Mitternacht.«

»Dann können wir doch vorher auf die Hochzeit!« Einen Versuch war es wert.

Sie seufzte. »Vielleicht wäre es nicht dumm, sich dort zumindest bei der Segnung blicken zu lassen. Sonst reden die Leute. Versprich mir, dass du niemandem von unserem Vorhaben erzählst!«

Na bitte! Ich nickte.

»Bis Sonnenuntergang können wir bleiben. Danach müssen wir weit gehen, um einen Drachen zu finden, und außerdem braucht die Drachenzahn-Essenz Zeit, um zu wirken.«

Mist! Die Feier am Abend war der eigentliche Grund, warum ich auf die Hochzeit wollte. Aber gut, irgendwie würde ich es schon schaffen, mich zumindest kurz mit Finn zu treffen.

Vorfreude kribbelte in meinem Bauch. Dann stockte ich. »Man braucht die Essenz, um den Drachen zu finden?«

Alraune nickte. »Sonst siehst du ihn nicht. Im Dunkeln darüber zu stolpern, wäre fatal.«

Ich schüttelte den Kopf. Das passte nicht zusammen. »Wie ist denn dann das erste Mal ein Drachenzahn gejagt worden?«

Alraune kniff die Lippen zusammen. Sie knetete ihre Finger, bevor sie antwortete. »Von jemandem wie der Kreuzdorner Hexe.«

Ausgerechnet im schönsten Moment, knapp nachdem Finn mich zum Tanzen aufgefordert hatte, wollte Alraune aufbrechen. Sich von ihm loszureißen, war nicht einfach gewesen, vor allem ohne ihm zu sagen, warum ich gehen musste. Fria hatte mich genauso gelöchert und einer besten Freundin sollte man nichts verschweigen. Aber der Wirt hatte sie glücklicherweise in die Schank gerufen und so unser Gespräch jäh beendet.

Nun stand ich in meiner Kammer und zog mich um, tauschte Sonntagskleid gegen Wandersachen. Ich fasste die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Finn sagte immer, dass die verfilzten Strähnen dann von meinem Kopf wegständen wie ein Haselnussstrauch.

Was würde heute auf mich zukommen? War das mein erster Schritt auf den Scheiterhaufen?

Es würde uns in dieser Neumond-Nacht doch niemand im Wald begegnen? Oder schlimmer noch, uns gleich an die Hüter Mavanjas verpfeifen?

Ach, nein. Das ganze Dorf war ja auf der Hochzeit. Alle, nur ich nicht mehr …

Aber ich war auch neugierig. Wie würde die Drachenzahn-Essenz wirken? Was konnte man damit sehen? Und was war mit diesem Drachen? All das machte mich ganz zappelig. Ich straffte mein Lederwams und stieg die schmale Treppe in die Stube hinunter.

Alraune hockte vor den Schubladen unter der Stiege und kramte in der untersten. Zwischen diversen Tiegeln und Töpfen zog sie ein unscheinbares Tongefäß hervor. Eines, das ich vorher nie bemerkt hatte.

Sie stand auf und sah mich an. »Bist du bereit?«

»Ist das …?«

Alraune nickte.

Behutsam griff ich nach dem Gefäß und öffnete es. Darin befanden sich nur noch wenige Tropfen einer sämigen Flüssigkeit. Heraus kam ein Geruch, den ich bisher nie gerochen hatte. Er war harzig-süß wie Honig, aber auch scharf wie Meerrettich.

»Sei vorsichtig!« Alraune nahm mir den Tiegel wieder aus der Hand.

Die Nase reibend sah ich ihr zu, wie sie den Stiel eines Holzlöffels in das Gefäß tunkte.

»Du brauchst nur einen Tropfen auf deiner Zunge, nicht mehr! Wir müssen sparsam sein.« Sie hielt den Stiel über sich, ließ die Essenz in ihren Mund fallen und reichte mir den Löffel.

Einen Moment dachte ich an die Kreuzdorner Hexe. Hatte sie auch solche Dinge getan? Und war es das wert gewesen? Die Hüter hatten ihr kurzes Leben jäh am Scheiterhaufen beendet.

Aber ich war viel zu neugierig, um es bleiben zu lassen. Sollten mir die Hüter doch den Buckel runterrutschen. Heute, morgen, und erst recht dann, wenn ich alt und grau und buckelig war. Aber jetzt … jetzt musste ich das probieren!

Der süße Geschmack verteilte sich im Mund. Dann kroch die Schärfe hinterher, machte die Ohren heiß. Ich hielt mir die Nase zu, um nicht zu niesen.

»Hui«, keuchte ich, als das Kribbeln langsam nachließ, und sah mich um.

»Na, so schnell geht es nicht. Lass es wirken! Wenn wir draußen im Wald sind, wird es anfangen.« Alraune nahm ein Messer in einer Scheide von der Anrichte und hielt es mir hin. »Hänge das an deinen Gürtel! Damit wirst du den Drachen erlegen.« Sie entzündete eine Laterne und langte nach einer Schaufel. »Gehen wir?«

Ich schloss die Finger um den Griff des Messers an der Hüfte und nickte.

Wie aufregend!

All die Jahre hatte Alraune nie von solchen Dingen gesprochen und auf einmal öffnete sie mir die Tür in eine neue Welt.

Die Neumondnacht draußen war stockdunkel. Der Schein der Laterne reichte nur wenige Schritte, danach verlief sich der Weg im Finstern. Ich blinzelte in die Dunkelheit. Noch nichts.

Alraune überquerte schnellen Schrittes den Bach. Am anderen Ufer folgten wir dem Weg in den Wald.

Wo blieben sie, die ersten Anzeichen dieser anderen Wahrnehmung?

Wir waren einige Zeit dem Lauf des Bachs gefolgt. Kurz nach dem Waldsee war Alraune abgebogen. Nun stiegen wir den Hang des Grimmensteins hinauf. Meine Beine wurden langsam müde. War es noch weit?

Ich sah mich um. Immer noch nichts Außergewöhnliches. »Wirkt es bei dir schon?«

»Nein, aber bald …«

Der Pfad war nicht mehr so steil, der Wald lichter als im Tal. Wir hatten eine Hochebene erreicht.

Alraune setzte sich auf einen moosüberwachsenen Felsen. »Hier machen wir Pause. Du musst ausgeruht sein, bevor du dich dem Drachen stellst.«

Wie gefährlich konnte das schon sein? Es war doch nur eine Pflanze. Aber eine Pause war mir trotzdem recht. Neben Alraune ließ ich mich auf den Moosteppich fallen. Ich streckte die Beine aus und legte mich rücklings auf den Stein, starrte in die Finsternis.

Moment …

So dunkel war es hier nicht mehr.

Verdutzt setzte ich mich wieder auf, betrachtete den Baumstamm direkt vor mir. Er flimmerte. Nein. Ich sah ihn genauer an. In ihm flimmerte es. Schimmernde Bahnen wanderten auf und ab, brachten ihn zum Leuchten. Der Schein wurde immer stärker. Nicht nur in diesem einen Stamm. In allen Bäumen rund um mich herum. Ich drehte mich, sah hinauf in die Baumkronen, sah jede kleine Verästelung leuchten. Dort war ein Vogelnest. Vier winzige Körper schimmerten, zugedeckt vom Flügel der Mutter. Weiter drüben schlief ein Eichhörnchen. Ich sah, wie sein Herz pulsierte, schimmernde Bahnen durch seinen Körper pumpte.

»Man sieht das Leben fließen. Schön, nicht?«, flüsterte Alraune.

Ich wandte mich zu ihr, konnte nicht glauben, was ich sah. Mit großen Augen starrte ich Alraune an, nicht in der Lage auszuatmen. Ihre Haut strahlte und in ihrem Körper sah ich die gleichen schimmernden Bahnen. Sie leuchteten durch ihre Kleidung hindurch.

Leicht beschämt sah ich weg, hob stattdessen die Hände, drehte sie. »Ich leuchte auch …« Mein Licht war viel stärker als Alraunes.

Sie lächelte. »Manchmal, wenn ich nicht weiß, woran ein Kranker leidet, dann verwende ich die Drachenzahn-Essenz. So sehe ich, wo das Problem liegt …« Sie zeigte auf einen ihrer knorrigen Finger. »Schau! Bei meinen entzündeten Gelenken staut sich der Fluss.«

»Warum hast du mir das nicht schon längst gezeigt?« Bei vielen Kranken hatte ich beim besten Willen nicht gewusst, was ihnen fehlte.

»Weil du dich, auch ohne Hilfsmittel, so gut wie möglich auskennen musst! Die Drachenzahn-Essenz ist keine Selbstverständlichkeit. Es gibt so wenig davon, dass wir sie nur im Notfall verwenden dürfen. Außerdem muss immer ein Tropfen übrigbleiben, um im darauffolgenden Jahr den nächsten Drachen zu jagen.« Alraune blies die Flamme in der Laterne aus. »Die brauchen wir nicht mehr. Komm, es ist Zeit!«

Sie stand auf, stapfte querfeldein durch den Wald. Einige Zeit wanderten wir schweigend hintereinander her. Ich konnte mich nicht sattsehen an den schimmernden Baumstämmen um mich herum.

Unvermittelt blieb Alraune stehen. Sie streckte ihren Arm nach hinten, um mich aufzuhalten.

»Dort vorn!«, hauchte sie.

Mein Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger. Am Boden zwischen den Bäumen, mindestens zehn Schritte entfernt, leuchtete etwas viel heller als all das andere Leben um uns herum. Es war kniehoch, wenn überhaupt.

»Beängstigend sieht die Drachenwurz nicht gerade aus.«

»Psst!«, zischte Alraune. Sie wandte sich zu mir um. Ihr sonst so gütiger Blick war eindringlich. »Verbena, glaub mir, dieser Drache ist gefährlich! Wenn er dich bemerkt, bevor du ihn erlegt hast, umhüllt er dich mit einer Wolke von giftigen Dämpfen, aus der du nicht mehr entkommst.«

»Und dorthin schickst du mich?«

»Beide gehen können wir nicht. Das wäre nicht weise.«

Einige Zeit starrten wir zu der Pflanze hinüber, dann fuhr Alraune fort: »Der Drache wird von Fledermäusen bestäubt. Nur sie lässt er an sich heran. Du musst dich vorsichtig anschleichen. Er darf dich auf keinen Fall bemerken! Wenn du nahe genug bist, stichst du mit deinem Messer dorthin, wo der Spross aus dem Boden wächst.«

Sie nahm mich bei der Schulter und schob mich leicht voran. »Viel Glück! Du schaffst das!«

Ich schluckte. War das ihr Ernst?

Das Messer in der Hand, setzte ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Mich fröstelte. Wenn ich nur Finn von alledem hätte erzählen dürfen. Mit seinem Bogen hätte er den Drachen abschießen können. Finn traf alles. Dann wäre das hier schnell erledigt gewesen.

Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete den Drachen. Diese Pflanze sah tatsächlich wie einer aus! Zwei große gezackte Kelchblätter standen wie Flügel seitlich ab. Ein Drittes hing lose nach hinten, sah aus wie ein Schweif. Die Kronblätter vorn formten ein Maul, groß genug, um eine Fledermaus zu verschlingen.

Unter meinem Fuß knackte ein Ast.

Das helle Leuchten vor mir fing an, sich zu bewegen. Die Flügel schlugen, drehten die Blüte am Stängel hin und her. So, als ob der Drache sich umsehen würde. Versteinert blieb ich stehen, sog Luft ein.

»Leise!«, mahnte Alraune von hinten.

Das Maul des Drachen wandte sich in meine Richtung.

Hatte er mich wahrgenommen? Behutsam drehte ich mich um.

Alraune warf mir einen Sag-ich-doch-Blick zu und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen.

Sie hatte nicht übertrieben! Ich musste mich in Acht nehmen. Ein Schauer kroch meinen Rücken entlang. Hoffentlich beruhigte der Drache sich wieder.

Da hörte ich ein Rascheln.

Meine Nackenhaare stellten sich auf.

Es war nicht Alraune. Es kam aus der anderen Richtung.

Ein Fuchs?

Ein Wildschwein?

Ein Bär?

Ich suchte das Gebüsch ab.

Es knackte noch einmal und heraus trat ein Reh.

Erleichtert atmete ich aus.

Es wandte seinen Kopf in meine Richtung, sah mich, machte einen Satz und landete direkt neben dem Drachen.

Ein Grollen … oder bildete ich mir das nur ein?

Der Drache richtete sein Maul nach oben.

Mutter des Lebens! Sah das Reh die Gefahr nicht?

»NEIN!«, schrie ich.

Der Drache spuckte eine glitzernde Wolke aus.

Das Reh bäumte sich auf, sprang zur Seite, stolperte. Seine Beine gaben nach. Es brach zusammen.

Ich stand reglos da, fasste nicht, was passiert war. Lebte das Reh noch? Ich konnte nicht einmal hinlaufen und nachsehen.

Der Wind trug die glitzernde Wolke davon.

Nun stand der Drache wieder ruhig.

Das war nichts für mich. Ich ging zwei Schritte zurück, wandte mich zu Alraune um.

Diese bedeutete mir zu warten, ihre Lippen formten die Worte: »Du schaffst das.«

Die Alte war verrückt! Wer brauchte schon einen Scheiterhaufen, wenn man gleich hier sterben konnte?

Aber die Drachenzahn-Essenz, dieser mächtige Wirkstoff! All die Dinge, die man damit machen konnte! Er schlummerte dort vorn im Boden. Wenn ich den Drachen heute nicht bezwang, ging das frühestens in einem Jahr wieder. Alraune hatte die Härte, unverrichteter Dinge nach Hause zurückzukehren, nur um mir eine Lehre zu erteilen. Das wusste ich.

Mein Blick fiel auf das Reh. Sein Licht war schwächer, das schimmernde Pulsieren langsamer. Es brauchte Hilfe.

Wenn, dann musste ich mich beeilen!

Ich sammelte mich.

Sollte ich es wagen?

Meine Hand zitterte. Ich legte die Finger fester um den Griff des Messers. Bedächtig schob ich ein Bein vor das andere, wartete, machte einen weiteren Schritt. Zwei Meter noch.

Mein Herz pochte. Hoffentlich hörte der Drache das nicht! Vorsichtig hob ich den Fuß über eine Wurzel.

Fast da.

Das Reh zuckte.

Der Drache begann wieder mit seinen Flügeln zu schlagen, grollte.

Mavanja, steh mir bei!

Hüllte er mich gleich ein, erstickte mich in seiner glitzernden Wolke des Todes?

Ich musste jetzt handeln, sofort!

Schnell stieß ich mich ab, streckte mich, warf mich mit erhobenem Messer auf den Drachen.

Die Klinge bohrte sich tief in die Wurzel, durchschnitt den Spross. Die Blüte fiel zu Boden.

Ihr Licht erlosch.

Ich hob den Kopf, stieß Luft aus, stemmte mich hoch und ließ mich nach hinten gegen einen Baumstamm fallen.

Mein Herz raste.

Alraune hockte schon bei dem Reh. »Es atmet, hat nicht die volle Ladung abbekommen. Es wird sich erholen!«

Ich nickte erleichtert.

Sie hielt mir die Schaufel hin. »Möchtest du deinen Schatz ausgraben?«

Ich lachte erleichtert. Geschafft!

Langsam rappelte ich mich auf, langte nach der Schaufel. Das Messer steckte noch in der Wurzel. Ich zog es heraus und wischte es ab. Meine Knie waren weich, aber ich fand die Kraft, den Spaten in den Boden zu rammen.

Wie klein die Wurzel war. Sie sah tatsächlich aus wie ein Zahn. Oben war eine Knolle, die sich nach unten hin in zwei Rüben verjüngte. Ich wischte die Erde ab und reichte sie Alraune.

Sie legte sie in eine kleine Schatulle und steckte sie in ihre Tasche. »Gut gemacht! Ich hätte nicht so schnell gehandelt.« Alraune entzündete wieder die Laterne. Sie hängte sich bei mir ein und zog mich durch den Wald hinunter ins Tal.

Das Leuchten war inzwischen weniger geworden. Die Wanderung zurück kam mir wesentlich länger vor. Ich bemühte mich redlich, auf den Weg zu achten, aber meine Beine spielten nicht mit. Ständig verhakten sich die Füße an Wurzeln.

»Was ist los mit mir?« Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen Körper. »Ist das wegen der Drachenzahn-Essenz?«

Alraune nickte. »Wenn ihre Wirkung abklingt, macht sie unendlich müde.« Ihre Stimme hatte auch nicht die gewohnte Kraft. »Aber reiß dich zusammen. Die Wurzel muss jetzt verarbeitet werden.«

»Was? Ich kann kaum die Augen offenhalten.«

Endlich sah ich das Haus, stolperte über die kleine Brücke und am Kräutergarten vorbei. Die Stube empfing mich mit wohliger Wärme. Ich sah zur Ofenbank und konnte an nichts anderes denken, als mich dort einzurollen.

»Wie würdest du die Essenz aus dieser Wurzel haltbar machen?«

Ernsthaft? Mitten in der Nacht kamen Prüfungsfragen?? Ich rieb mir die Augen. »Können wir das nicht morgen machen?«

»Die Essenz ist nur zu Neumond so stark – habe ich doch gesagt. Das muss auf jeden Fall jetzt passieren. Und so etwas solltest du sowieso im Schlaf wissen!«

Ich legte die Hand vor den Mund, um ein weiteres Gähnen zu verbergen. »Ölauszug?«

»Ja. Kalt oder warm?«

Kalt, hoffte ich inständig. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. »Warm. Weil in Wurzeln Wasser gespeichert ist und das abdampfen muss, um die Essenz haltbarer zu machen.«

»Sehr gut! An die Arbeit! Ausziehen musst du es jetzt, filtern kannst du morgen. Gute Nacht, ich gehe ins Bett.«

Ich sah ihr nach, wie sie nach draußen zum Abort verschwand, ballte die Fäuste. Danke aber auch!, hätte ich ihr am liebsten hinterhergerufen. Konnte sie mich nicht endlich gleichwertig behandeln?

Immerhin weckte mich der Ärger kurz wieder auf. Seufzend holte ich Wasser vom Brunnen. In der Küche entzündete ich einige Kerzen und hängte den Kessel über die Feuerstelle. Sobald das Feuer knisterte, schabte ich hauchdünne Scheiben von der Wurzel.

Mein Kopf war schwer. Ich legte das Messer beiseite, stützte mich an der Ablage auf. Ich konnte die Lider kaum noch offenhalten.

»Nein! Ich muss das fertigmachen.« Schon allein deswegen, weil ich die Drachenzahn-Essenz noch öfter ausprobieren wollte. Ich schüttelte mich, um das bleierne Gefühl in den Gliedern loszuwerden, und griff wieder zum Messer.

Endlich war alles zerkleinert. Die Schnipsel lagen in einem kleinen Gefäß und waren mit Öl übergossen. Jetzt kam der schwierigste Teil – wach zu bleiben, während sich das Ganze im Wasserbad erwärmte.

Ich lehnte mich an die Ablage, verschränkte die Arme. Mir wurde schwarz vor Augen.

»Muss mich beschäftigen …« Mein Blick wanderte durch die Küche und blieb an dem schmutzigen Topf vom Abendessen hängen. Konnte diese Nacht noch grausamer sein?

Ich nahm Asche und Wasser und begann zu scheuern.

Endlich war der Auszug fertig und obendrein der Topf sauber. Im Dunkeln tastete ich die Stiege entlang nach oben und ließ mich ins Bett fallen.

Das Tier in mir

Ich rannte einen Ast entlang. Einen Ast!? Hoch oben in einem Baum? Wie kam ich da hinauf? Ich würde doch nie so weit klettern. Was, wenn der Ast gleich brach und ich in die Tiefe stürzte? Ich wollte hinunterschauen. Aber es ging nicht. Meine Augen waren geradeaus gerichtet. Warum hatte ich keine Kontrolle über meinen Körper? Ich fühlte nach den gewohnten Konturen, doch ich fand sie nicht. Stattdessen lief ich mit kleinen Tatzen kopfüber einen Stamm hinunter.

Was für ein seltsamer Traum, dachte ich im Halbschlaf.

Ich wäre gerne stehen geblieben, um diesen Körper zu erkunden. Doch er folgte meinem Willen nicht. Er lief den Waldboden entlang.

Ich bin in einem Tier. Nur in welchem? Einem Eichhörnchen?

Neugierig öffnete ich die Sinne. Es war dunkel. Aber das störte nicht. Die Gerüche um mich herum zeichneten die Umgebung. Hier roch es nach Pilzen, dort nach Moos. Und der wesentlichste Geruch von allen zog sich wie ein warmes Band durch den Wald. Er verströmte Geborgenheit und es war das Wichtigste überhaupt, diesem Duft zu folgen.

Die kleine Nase schnupperte nach der Fährte. Dort ging es entlang. Links am Baum vorbei und unter dem Busch hindurch. Vor den Augen des Tiers eröffnete sich eine Lichtung. Hinter den Wipfeln der Bäume machten sich die ersten Zeichen des Morgens bemerkbar.

Dieser Ort! Er kam mir bekannt vor. Im Sommer pflückten Alraune und ich hier Brombeeren.

Im kargen Licht der Dämmerung flitzte in einiger Entfernung ein Schatten vorbei. Was war das? Ein weiteres Tier? Ich hätte es aus sicherem Versteck beobachtet. Doch mein kleiner Körper rannte munter darauf zu. Ein warmes Gefühl breitete sich in der Brust aus, eines das eben diese Geborgenheit und Sehnsucht nach Nähe verströmte.

Da schlich sich noch ein anderer Geruch in die Nase. Ich fühlte, wie im Maul das Wasser zusammenlief. Die Schnauze wühlte zwischen den Blättern am Boden. Der Kehlkopf  brummte vor Verlangen.

Gefunden!

Bevor ich die Gelegenheit hatte zu sehen, was das Tier aufgespürt hatte, biss es herzhaft hinein. In eine Schnecke!

Wäh! Ich wand mich im Bett.

Das Tier schmatzte genüsslich.

Kein Eichhörnchen.

Ein Laut ließ das Tier die Ohren spitzen. Sein Lauschen war mein Lauschen. Die Fährte, die Geborgenheit, sie rief! Schnell huschten wir über die Lichtung, krochen unter einen Brombeerstrauch. Dort wartete ein Marder, etwas größer als das Tier, in dessen Körper ich mich befand. Meine Nase schnupperte an seinem Gesicht, rieb sich an ihm. Sie steuerte weiter zum Bauch, vergrub sich im weichen Fell, suchte nach Zitzen.

Wie lieb, ich war ein Marderkind!

Doch das Muttertier entzog sich. Es drehte sich weg und schlich voran durch das Gebüsch.

Der kleine Marder fiepte, folgte der Mutter.

Ich verstand seine Enttäuschung.

Abrupt blieb die Marderin stehen. Sie setzte nicht einmal ihr Vorderbein ab. Auf leisen Tatzen duckte der Marder sich unter einem Zweig hindurch, schmiegte sich an sie.

Eine Maus! Dort vorn auf der Lichtung.

Ich spürte wieder sein Verlangen. Er wollte loslaufen, auf die Beute springen, zubeißen. Doch die Haltung des Muttertiers gebot Einhalt. Was für eine Prüfung es für ihn war, ruhig zu stehen, wenn doch dort vorn so ein Leckerbissen wartete.

Die Maus kam näher.

Geduld!, dachte ich, gleich war sie nahe genug.

Die Muskeln in den Hinterläufen der Mutter neben mir zuckten. In hohem Bogen flog sie auf die Beute und biss zu.

Im gleichen Moment sah ich etwas aus dem Augenwinkel. Ich wollte hinaufschauen. Der Blick des kleinen Marders blieb auf die Maus gerichtet.

Schau nach oben!, flehte ich.

Endlich hob sich auch sein Kopf.

Ein Uhu! Lautlos. Im Landeanflug. Seine Krallen ausgestreckt, bereit, die Maus zu greifen. Doch die Fänge packten die Mutter. Der Körper des kleinen Marders erstarrte.

Nein!

Fassungslos betrachtete ich das Geschehen.

Die Marderin wand sich, fauchte, versuchte sich zu befreien. Der Vogel hielt sie mit eisernem Griff. Sie quiekte, ein letztes Mal.

Der kleine Marder sprang aus dem Gebüsch, fletschte die Zähne. Ein tiefes Grollen bahnte sich den Weg aus seinem Brustkorb.

Für einen Moment sah ich in die riesigen gelben Augen des Uhus. Dann spürte ich den Wind seiner Schwingen. Er hob ab, trug den schlaffen Körper der Mutter mit sich. Die Maus fiel zu Boden. Tot.

Ich schrie, fand mich im Bett sitzend wieder. Die Ruhe meiner kleinen Kammer kam mir unwirklich vor. Ich rieb mir die Augen, atmete keuchend.

»Alles in Ordnung da oben?«, hörte ich Alraunes Stimme aus der Stube.

Nein, in Ordnung war gerade gar nichts. Mein Herz schlug immer noch viel zu schnell. Ich rappelte mich auf und torkelte die schmale Holztreppe hinunter.

Alraune saß in der Stube. Sie nahm die Teekanne und schenkte mir eine Tasse ein.

Ich ließ mich auf die Ofenbank fallen, sank nach vorn auf den Tisch und versteckte den Kopf zwischen den Armen.

»Schlecht geträumt?«, fragte Alraune.

Ich nickte in die Armbeuge hinein.

Alraune sagte nichts.

Ich hob den Kopf.

Sie sah mich erwartungsvoll an. »Möchtest du mir davon erzählen?«

»Ich …«, begann ich. Mir fehlten die Worte. »Der Marder … seine Mutter ist tot«, schluchzte ich.

Alraune erhob sich und setzte sich neben mich. Sie legte ihren Arm um mich. »Du hast von einem Marder geträumt?«

Kopfschüttelnd sah ich zum Fenster hinaus. »Ich … war der Marder … nein, im Marder. Weiß nicht genau.«

»Aber es war doch nur ein Traum.«

Da war ich mir nicht so sicher. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. »Das hat sich so echt angefühlt … auf der Brombeerlichtung!« Mit einem Satz sprang ich auf. »Ich muss nachsehen gehen.«

»Verbena, das Filtern!«

»Muss das vorher wissen!« Plötzlich war mir klar, was ich zu tun hatte. Den Kleinen finden und für ihn da sein. So wie Freunde das eben für einander taten. Da war eine Verbindung, immer noch. Ich warf mir den Mantel um und rannte hinaus. Alles, bevor Alraune Zeit hatte zu protestieren.

Der Tag war inzwischen angebrochen. Dem Weg den Bach entlang folgend, lief ich in den Wald hinein. Der Morgennebel über dem Wasser machte noch keine Anstalten, sich zu verziehen. Am Rande der Lichtung blieb ich stehen. Nur nicht bedrohlich wirken. Mit bedächtigen Schritten folgte ich dem Weg, der quer durch die Brombeersträucher führte und sah mich um.

Hier! Das musste die Stelle sein.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Der leblose Körper der Maus! Er lag genau dort, wo ich ihn fallen gesehen hatte. Es war also wirklich passiert! Ich hatte Dinge geträumt, die sich tatsächlich ereignet hatten. Unglaublich!

Der Kleine, er steckte in dem Dickicht aus Brombeeren. Zwischen den schon ausgetriebenen Frühlingsblättern war er nicht zu sehen. Wie sollte ich ihn da finden? Einfach durch die Stacheln zu klettern und ihn damit zu verschrecken war keine Lösung. Gab es eine Möglichkeit, ihn zu mir zu locken? Konnte ich die Verbindung zu ihm stärken?

Bedächtig setzte ich mich auf den Weg und schloss die Augen, suchte nach dem Ort in mir, wo er war, der kleine Marder. Tief in meinem Herzen. Ich erinnerte mich an das wohlige Gefühl, an die Fährte der Geborgenheit, stellte mir das warme Band vor, begann es zu flechten zwischen dem Kleinen und mir selbst.

Ich spürte ihn. Er kauerte in einem Erdloch.

Komm Kleiner, komm zu mir!, schickte ich ihm zu.

Es knackte. Aufgeregt öffnete ich die Augen, suchte das Gebüsch ab.

Bei den Malvenpflanzen weiter vorn am Wegrand raschelte es. Eine braune Nase erschien zwischen den violetten Blüten. Sie schnüffelte nach der Fährte. Ihr folgten schwarze Knopfaugen.

»Malve. So werde ich dich nennen.« Ich streckte die Arme aus, hieß ihn willkommen.

Mit einem Satz sprang er auf den Weg hinaus, nach einem weiteren kroch er in einen Ärmel meines Mantels. Das kitzelte und ich gluckste vor Glück.

Er zitterte, dann schmiegte er sich an meinen Arm. Ich legte die Wange an den Stoff, spürte seine Wärme. »Alles ist gut, jetzt bin ich für dich da.«

Schönen Dank

Was würde Alraune sagen?

Sie arbeitete im Kräuterbeet. Als ich über die kleine Brücke zum Haus hinüber kam, legte sie die Harke ins Gras und stand auf.

Ich winkte ihr mitzukommen, setzte mich auf die Bank vor dem Haus. Dann öffnete ich meinen Mantel und hob den Arm, so dass man in die Armbeuge sah. Dort steckte ein kleiner Kopf. Müde hob sich ein Augenlid.

»Ein Baummarder …« Alraune setzte sich neben mich, ließ die erdigen Hände in den Schoß fallen. Eine Weile betrachtete sie das Tier. »Das war also mehr als nur ein Traum.«

Nickend strich ich Malve über die Stirn, fühlte seine Wärme durch das Fell und in mir. Das Band war gewoben, die Verbindung solide.

»Eieiei, Verbena! Habe mich schon gefragt, ob du …« Alraune beugte sich vor. Schmallippig begutachtete sie mich. »Naja, vielleicht ist es nur die Nachwirkung der Drachenzahn-Essenz. Hoffen wir’s!«

Wovon sprach sie?

Schon wieder war da dieser Blick, suchend, ob jemand lauschen könnte. Flüsternd fuhr sie fort: »Was machen wir jetzt mit dir? Das darfst du auf keinen Fall herumerzählen! Was, wenn du eine von den Begabten bist? Das ist ein Fluch!«

Bestürzt schloss ich den Mantel, legte den Arm schützend um das kleine Tier. »Meinst du wie die Kreuzdorner Hexe?«

Sie nickte, presste die Lippen aufeinander, bevor sie antwortete. »Solche Begabungen gibt es verschiedenste – Hellsicht, Gedankenlesen, weiß der Kuckuck, was alles.« Sie deutete auf den Marder. »Offenbar hast du auch eine. Was das genau bedeutet, musst du erst herausfinden.«

Im Dorf erzählten sie sich allerlei Schauermärchen über »die Begabten«. »Der Marionettenspieler, die Frau, die anderen das Leben entzog …« Mir wurde schummrig.

Alraune packte mich, sah mir tief in die Augen. »Verbena, das sind nicht bloß Geschichten! Solche Leute gibt es. Die Hüter wurden ursprünglich gegründet, um uns vor ihnen zu schützen.«

»Aber … ich will doch niemandem etwas Böses!«

»Ich weiß.« Sie legte mir den Arm um die Schulter. »Viele Begabte hätten gern ein normales Leben. Sie werden nicht mitgerissen von der Macht, die sie mit ihrem Talent in die Wiege gelegt bekommen haben. Nur machen die Hüter da inzwischen keinen Unterschied mehr!«

Mutter des Lebens! War ich die nächste Kreuzdorner Hexe?

»Hast … hast du so ein Talent?«

Alraune schüttelte den Kopf. »Mavanja sei Dank, nein! Heilfroh bin ich darüber.«

»Kennst du andere Leute …?«

»Darüber spricht man nicht!« Doch dann schmunzelte sie. »Von einer weiß ich es aber, und ich sage es dir, weil sie schon tot ist. Die alte Seggenseerin, die hatte auch ein Tier. Einen Ziegenbock! Der hat sie überall hinbegleitet. Dem Roderik war seine Mutter immer peinlich!«

»Roderik von Seggensee? Der Baron?«

»Genau der!«, kicherte Alraune. Dann fasste sie sich wieder, sah mich ernst an. »Was machen wir jetzt mit dir?« Sie schnalzte mit der Zunge und überlegte. »Wenn dich jemand fragt, sagst du, dass du den Marder als verletztes Jungtier gefunden hast. Du hast ihn gesund gepflegt und jetzt ist er zahm. Aber Verbena, niemals – hörst du! – niemals darfst du erzählen, dass du eine Verbindung zu diesem Tier hast! Nicht einmal Fria – vor allem der nicht! Die Ohren der Hüter sind überall.«

Die Arme um meinen Körper geschlungen, nickte ich.

»Ach, und übrigens …« Alraune klopfte mir auf die Schulter. »Bei Gelegenheit kannst du dich bei Alvar bedanken!«

»Bei wem?«

Wer war das? Und wofür bedanken? Bedanken war das Letzte, was ich wollte, nach all dem, was Alraune mir soeben gesagt hatte.

»Das erzähle ich dir, sobald du die Essenz gefiltert hast!«

Wirklich? War das notwendig, mich jetzt auch noch auf die Folter zu spannen?

Seufzend erhob ich mich. Alraune war bisher erstaunlich geduldig gewesen. Die Drachenzahn-Essenz hätte schon längst verarbeitet werden müssen.

Mein Magen knurrte, als ich durch die Stube ging. An ein Frühstück war jetzt nicht zu denken. Nicht, bevor die Pflicht erfüllt war.

Vorsichtig schlüpfte ich aus dem Mantel, legte den darin schlafenden Marder sanft auf die Ofenbank. Einen Moment verweilte ich. War es mein Todesurteil, wenn ich mich entschied, ihn zu behalten? Doch ich spürte die Wärme in meiner Brust, das Band, die Verbindung. Ein gutes Gefühl. Eines, das ich nicht missen wollte.

»Fertig!«, rief ich durch die Tür in den Garten hinaus. In meiner Hand war ein kleines Tongefäß, das etwa fingerbreit mit dem sämigen Öl gefüllt war. Ich freute mich schon auf jeden einzelnen Tropfen davon.

Alraune kam herein, wischte ihre schmutzigen Hände an der Schürze ab. Sie begutachtete den Inhalt des Tiegels. »Gut!« Sie nahm ihn mir aus der Hand, um ihn in einer der Laden unter der Stiege verschwinden zu lassen. Kritisch musterte sie mich von oben bis unten. »Wie läufst du denn immer noch herum? Geh dich anziehen.«

Was für ein Tag! Bislang hatte ich nicht einmal Zeit gehabt, mich frisch zu machen, und mein Magen knurrte wie der große Jagdhund des Barons. Schnell lief ich hinauf in meine Kammer.

Als ich in die Stube zurückkam, war es seltsam finster. Die Fensterläden waren geschlossen. Alraune zog die Tür ins Schloss. Wo war die Frühlingssonne, die sonst das Haus durch alle offenen Fenster und Türen erhellte?

Alraune entzündete eine Kerze am Tisch.

Immerhin fand ich eine Tasse Tee, Brot und Käse an meinem Platz.

»Setz dich!«

Ich rutschte auf die Ofenbank, griff zum Brot, wagte aber nicht abzubeißen. Was war jetzt schon wieder los?

Alraune hatte sich auf einem der Stühle niedergelassen, lehnte sich nach vorn. Sie suchte meinen Blick in der Dunkelheit, flüsterte: »Ich weiß nicht viel von diesen Dingen. Aber das, was ich weiß, will ich dir erzählen. Du bist ja jetzt eine von denen.«

Eine von den Aussätzigen? Gebrandmarkt auf Lebenszeit? Auserkoren für den Scheiterhaufen? Ich schluckte.

»Als ich klein war, hatte Mavanja, die Mutter des Lebens, viele Kinder. Erst später verboten die Hüter den Glauben an manche der Geister.« Alraune schüttelte nachdenklich den Kopf. »Erstaunlich, wie schnell es geht, dass man sich an die Verbotenen nicht mehr erinnert. Wie sie einfach aus unserem Leben verschwinden. Die Jungen lernen sie erst gar nicht kennen. So wie du. Ich sage dir, es wird noch so weit kommen, dass die Hüter alle Geister verbieten. Dann wäre die Mutter des Lebens allein, ohne ihre Kinder. Und das ist es, was die eigentlich wollen. Da bin ich mir sicher.«

»Aber Escha … wie würden wir ohne die Kraft Eschas heilen?«

»Eben! Wir brauchen den Geist der Heilung. Und du brauchst jetzt noch jemanden. Einen Geist, der schon lange in Vergessenheit geraten ist …«

Waren da Schritte vor dem Haus?

Alraune verstummte. Sie wandte den Kopf zur Tür, grummelte.

Es klopfte.

»Hallo!? Seid ihr zu Hause?« Finns Stimme?

Mein Herz machte einen Sprung. Ich lief zur Tür. Das Sonnenlicht draußen blendete mich, aber ich erkannte seinen Rotschopf.

Finn war außer Atem. Er wischte die Hände an der Hose ab. Sie waren schmutzig. Rotbraun. War das Blut?

»Meine Güte, ist dir etwas passiert?«

»Hederich schickt mich, ist Alraune da?«, keuchte er.

Ihr Stuhl kratzte über den Boden, als sie aufstand.

»Was ist los?«, fragte ich eindringlicher, streckte die Hand nach ihm aus.

Alraune stellte sich zu mir in den Türrahmen.

»Wir haben auf der Jagd einen Verletzten gefunden. Auf der Landstraße hinter Seggensee. Sieht nicht gut aus …« Er sah zu seinen blutigen Händen. »Die anderen bringen ihn. Hederich sagt, ihr müsst alles vorbereiten!«

Er deutete in Richtung des Weihers. »Muss mich waschen.« Kurz sah er mich an. Beinahe unmerklich wanderten seine Mundwinkel nach oben, blitzten seine Augen. Dann zog er den Langbogen über den Kopf, legte ihn und den Köcher auf der Bank vor dem Haus ab, und lief zum Weiher.