Verbotene Jugend - Neal Drinnan - E-Book

Verbotene Jugend E-Book

Neal Drinnan

4,9

Beschreibung

Johnnys Leben ist total verkorkst, dabei ist der Junge gerade erst sieben. Als seine Mutter sich eine Überdosis setzt, steht er ganz allein da, bis ein Fremder sich seiner annimmt. Mit neuer Identität wächst Johnny in komfortablen Verhältnissen heran, als Sohn eines prominenten schwulen Tänzers. Doch dann kommt eine gefährliche Liebesaffäre in Gang ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 335

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Zitat

Prolog

EINS

Findelkind

Heilung

Wechselbalg

Das Eis schmilzt

Kinderporno

ZWEI

Käsestangen

Mystery

Die Knospe

Unterbringung

Sex-Gnom

Colt

Feuertopf

Courtney

Jabbadabbaduu

Erledigt

DREI

Neuigkeiten

Pethidin

Etwas von dir

Warmer Regen

Epilog

Danksagung

Über den Autor

Impressum

Für Tim

I learned there are troubles

Of more than one kind.

Some come from ahead

And some come from behind.

But I’ve bought a big bat

I’m ready, you see

Now my troubles are going

To have trouble with me!

Aus:

I Had Trouble in Getting to Solla Sellew

DR SEUSS

Prolog

Victoria Station war ein gähnender Rachen, der das Ende unserer Reise markierte – meiner ersten Reise und der letzten meiner Mutter.

Mum zitterte und war nervös; sie hatte Angst vor dem Aussteigen. Ich sprang zwischen Trittbrett und Bahnsteig hin und her, so als wollte ich ihr beweisen, dass es keine große Sache war – Zug, Bahnsteig, Zug, Bahnsteig. Biegsam und geschmeidig machte ich mich über ihre Unentschlossenheit lustig.

»Hör verdammt nochmal mit dem Scheiß auf, Johnny, oder du kriegst dermaßen Dresche …«

Die Stimme blieb ihr im Halse stecken, so als müsste sie sich gleich übergeben.

Der Mann, der gesagt hatte, dass er Arzt sei, sah uns, als er aus einem anderen Wagen ausstieg. Wir beobachteten ihn beide, wie er sich durch einen der Ausgänge schlich – ich erleichtert, Mum mit bitterer Verzweiflung. Seine dreckige Plastiktasche voller fieser Gerätschaften hing ihm umständlich über der Schulter und machte aus ihm einen grotesken, degenerierten Schuljungen. Seine kleinen Stecknadelkopf-Augen spähten über das gesamte Gelände, doch uns sah er nicht noch einmal an. Er hatte etwas von einem geduckten, schuldbewussten Hund, der soeben einer bettelarmen Familie das Abendessen weggefressen hat. Wenn ich größer gewesen wäre, hätte ich ihn mit einem Stock verdroschen, einem hübschen, dicken Knüppel-aus-dem-Sack wie aus dem Märchen, vorne allerdings mit einem rostigen Nagel gespickt.

Die Zugtüren hörten jetzt mit ihrem zischenden Auf- und Zugeklappe auf. Ich war ungeduldig: »Los, Ma, komm schon.«

Jetzt waren bloß noch wir da, zerbrechlich und ganz verloren auf diesem trüben Bahnsteig inmitten von endlosem Grau. Eine piekfeine Stimme vom Band erteilte monotone Informationen über Züge – Züge, die an Orte fuhren, die für uns nicht von Bedeutung waren. Ein stämmiger Aufseher, der darauf brannte, Feierabend zu machen, ging an uns vorbei und verfluchte das matschige Innenleben einer Pastete, das er sich gerade über die Brust gekleckert hatte. »Nichts als Soße hier drin, nicht ein Gramm Fleisch«, brummte er.

Ich wollte was von dieser Pastete haben, egal ob Fleisch oder Soße, aber Mum konnte da gar nicht hinsehen. Ihr war übel. So war es manchmal, wenn sie sich die Nadel gesetzt hatte. Wir trotteten über den menschenleeren Bahnsteig zu einem schmuddeligen Wartehäuschen, wo sie sich auf die versiffte Holzbank niederließ und erleichtert stöhnte, als ihr Gewicht von der kalten, tröstlichen Unterlage aufgefangen wurde. »Mum braucht ’ne kleine Pause, Schatz – hier hast du’n Pfund, geh dir ’ne Pastete holen.«

Abgesehen von einem Mann in einem anderen Wartehaus unweit von uns, war niemand in der Nähe. Er hatte sich in seinen Mantel geschlungen und las Zeitung; zwischen seinen Beinen stand ein einzelner Koffer. Als er bemerkte, wie ich ihn im Vorübergehen anstarrte, sagte er »Hallo«.

Ich sah ihn an, weil er wie der Moderator einer Gameshow im Abendprogramm aussah, die Mum immer schaute. Ich glaube, sie war scharf auf diesen Typen im Fernsehen. Sie lachte immer und sagte: »Hier, Johnny, du willst doch immer wissen, wer dein Vater ist, hier, der da im Fernsehen, das ist er.« Ich fragte mich jetzt, ober das wirklich der Mann war, der hier saß. Ich hatte noch nie jemanden vom Fernsehen live gesehen.

»Sind Sie im Fernsehen?«, fragte ich.

Er legte den Kopf schief und lächelte eigenartig. »Ich war schon im Fernsehen, wenn du das meinst.«

»Achso, weil, meine Mutter mag Sie nämlich.« Er sah zu Mum rüber, die zur Seite gesackt und eingeschlafen war.

»Ist deine Mum in Ordnung?«

»Ihr ist bloß ’n bisschen schlecht, sonst nichts.«

»Vielleicht sollten wir lieber Hilfe holen. Ist ihr denn sehr schlecht?«

»Schon in Ordnung, ihr is’ nur schlecht, weil sie irgendwas Komisches gegessen hat, mehr nicht.«

Er schien nicht überzeugt. Ich machte mich weiter auf die Suche nach meiner Pastete.

Ich verließ den Bahnsteig und betrat die riesige Eingangshalle, deren Größe mir den Atem verschlug. So irgendwie musste die Königin wohnen, dachte ich. Die meisten Läden waren geschlossen. Ich kam an einer alten Pennerin vorbei, die Selbstgespräche führte, passierte einen in sich zusammengesackten, schlafenden Mann, der sich nass gemacht hatte, sowie einen weiteren Mann, der einen uralten, nahezu haarlosen Hund knuddelte. Ich bat die Frau am Kiosk um eine Pastete. Sie reichte sie mir, während sie die Halle nach einer erwachsenen Begleitperson absuchte, zu der ich gehören mochte.

»Wo ist denn deine Mum oder dein Dad, Kleiner?«

»Mein, Dad, äh, der ist da draußen.« Ich zeigte auf den Bahnsteig. »Der ist nämlich im Fernsehen zu sehn, mein Dad.«

»Na, das ist ja ’n Ding«, sagte sie und war beruhigt, mich in Begleitung einer Aufsichtsperson zu wissen, wenngleich sie sie auch nicht sehen konnte.

Ich stand da, sah mich um, mampfte meine lauwarme Pastete und kehrte, nachdem ich die kalte Füllung mit den Fingern herausgepult und auf den gefliesten Fußboden hatte klatschen lassen, mit Teigmantel und Wechselgeld in der Hand zu Mum zurück.

Langsam schlenderte ich wieder an dem gut aussehenden Mann vorbei und trug mein Stück Pastete zur Schau, so als könnte ich damit seinen Neid erregen, als sei sie ein unbezahlbares Diadem, das ich unserem Familienschatz entnommen hatte, um nun damit anzugeben. In der anderen Hand hielt ich die Münzen fest umklammert in der Hoffnung, Mum würde das Wechselgeld einfach vergessen. Ich hoffte, dass sich der Mann vielleicht noch ein wenig weiter mit mir unterhalten würde.

»War die Pastete gut?«

»Nee, die war verdammt kalt.«

»Und du bist sicher, deine Mum ist in Ordnung?«

»Hab ich doch gesagt, ihr is’ bloß ’n bisschen schlecht.«

Von all diesen Fragen verärgert, lief ich zu Mum zurück. Mir fiel wieder ein, was sie noch zu Hause über die Polizei, Sozialarbeiter und ähnliche Leute gesagt hatte: »Die Welt is’ voll von miesen Schnüfflern.« Ich sah den Mann noch einmal an. Niemand kapierte ihre Übelkeitsanfälle; schon bald würde sie wieder auf den Beinen sein und nach einer Tasse Tee fragen. Ich spähte kurz in meine Handfläche und schloss sie wieder. Ich wusste nicht, wieviel ein Tee kosten würde, aber es sah nicht so aus, als würde das bisschen reichen, um ihr einen zu kaufen – oder eine Portion Pommes oder sowas.

Ich aß die Pastete auf, setzte mich hin und sah Mum eine Weile an. Sie sah aus wie eine Puppe, keine Farbe im Gesicht außer dem Make-Up, das sie draufhatte. Sie schwitzte und war unterkühlt. Während ich weggewesen war, hatte sie auf den Boden gekotzt. Mittlerweile war ich sehr müde geworden; deshalb kauerte ich mich neben ihr zusammen, den Rücken der kalten Zugluft zugekehrt, meinen Kopf nahe der unbestimmten Wärme, die von ihrem Schoß ausging. Bis jetzt sah es nicht gerade gut aus für uns in London.

»Was hast du’n da, Johnny?« Es war ein heißer Tag, wärmer als der wärmste Tag am Strand von Brighton und Mum ging es viel besser. Sie trug ihren Hausmantel, den seidenen für die Sommertage mit den großen Blumen drauf. Sie lächelte und blinzelte in die grelle Sonne. »’Ne Blume, Mum, ’ne große weiß-gelbe Blume, die richtig gut riecht und so.« Ich lief auf sie zu, um sie ihr zu geben, doch sie schüttelte den Kopf. »Behalt die mal ruhig, Schatz, die gibt’s ja hier massenhaft.« Ich sah mich um und sie hatte Recht: überall waren diese Blumen. »Benimm dich, hörst du?« Sie ging irgendwohin, wohin ich nicht mitkonnte. Ich sah tief in die Blume hinein und atmete ihren Duft ein. Es war ein warmer Duft, ein sauberer Duft.

Ich schreckte aus dem Schlaf hoch. Der Mann vom Fernsehen hob mich auf seine Arme. »Wir müssen deine Mum ins Krankenhaus bringen. Ich hab schon den Krankenwagen gerufen«, sagte er.

Mum fühlte sich kalt an. Ich versuchte, ihr Bein zu fassen zu kriegen, als er mich hochhob, doch es war schlaff. Als er mich an sich zog, konnte ich wieder den warmen, sauberen Duft riechen.

Inzwischen hatte die Realtität Traumcharakter angenommen. Die Männer von der Ambulanz kamen und eine Bahre wurde herangerollt, während zwei triefäugige Penner und die verwahrloste Frau, die ich in der Bahnhofshalle gesehen hatte, sich versammelten, um der Show beizuwohnen, die sich nun abzuspielen versprach. Die Pennerin fing an zu blöken. »Das kommt von den Drogen, ich hab schon mehr als eine gesehen, die wegen Drogen so weit gekommen is’.«

Sie schlängelte sich an uns heran wie eine Pantomimin, während die Sherryflasche jeden Moment aus ihrer offenen Tüte zu fallen drohte; ihr widerlicher Atem verschlug mir in den Armen des Mannes die Sprache.

»Nun lass doch den Steppke das nich’ alles mitansehen, in seinem Alter is’ das doch nichts, heutzutage enden solche Schlampen doch alle auf die gleiche Art und Weise mit den ganzen Drogen, nich’ so wie früher im Krieg.«

Er runzelte die Stirn und flüsterte mir etwas zu, etwas, das mich ruhig stellte, dass wir da heil rauskommen würden, dass ich gerettet würde und irgendetwas von einem Spiel.

»Stell dir einfach vor, wir wären auf einer Brücke kilometerhoch über einem kalten, tobenden Meer.«

Ich dachte an den Strand von Brighton im tiefsten Winter und erschauderte.

»Die Brücke bin ich und meine Arme sind ihre Träger und wenn ich dich wieder absetze, dann weißt du, dass wir in Sicherheit sind; also halt einfach still und ich bringe dich rüber.«

Ich hatte keine Angst. Irgendwie ergab das mit der Brücke Sinn. Ich wusste, dass etwas sehr Schlimmes passiert war, doch ich bewegte mich nicht. In diesen Armen lag eine magische Kraft, in seinen Augen eine Gütigkeit, die mich hypnotisierte und irgendwie mit Hoffnung erfüllte. Vielleicht war er ja wirklich mein Vater; er hatte mir bereits mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als die tausend anderen Männer, die alle mein Vater hätten sein können. Ich wollte noch halb nach Mum rufen, doch wusste ich, glaube ich, längst, dass sie tot war. Die muskulösen Arme bildeten einen Schirm, einen wirklichen Schutz vor all der Feindseligkeit, vor den lauernden Alptraumgestalten um uns, denen ich mich hätte anschließen müssen, wenn er mich nicht aufgehoben hätte.

Ein Mann von der Ambulanz kam auf uns zu und fragte den Mann, ob er Mum kenne.

Die Pennerin fiel ihm ins Wort: »Ich hab’ dem netten Herrn gerade schon gesagt, dass er den Kleinen das alles nich’ mitansehen lassen soll, wie sich Schlampen wie die mit Drogen vollpumpen, ich nehme mal an, Sie werden sowas schon öfter geseh’n haben, aber für Kinder is’ das nichts.« Sie kam auf mich zu und versuchte, mein Gesicht zu berühren. Der Mann drehte mich wiederholt zur Seite, damit ich ihr neugieriges Getatsche nicht über mich ergehen lassen musste.

»Nein«, antwortete er ruhig auf die Frage des Sanitäters. In diesem Moment fiel der Pennerin ihre Sherryflasche mit einem krachenden Splittern zu Boden. »Wir waren gerade auf dem Weg zur U-Bahn, als ich merkte, in was für einem Zustand sie war.« Der Mann deutete auf Mum, nicht auf die Pennerin, die inzwischen auf dem Boden kniete und die zerschmetterte Flasche in Augenschein nahm.

Ich war abgelenkt durch die Alte, die es geschafft hatte, einen kleinen Rest von dem Sherry in den scharfkantigen Scherben der Flasche zu retten und die nun versuchte herauszufinden, in welchem Winkel sie am besten zum Schlürfen ansetzen sollte, damit sie sich die Lippen nicht aufschnitt.

Der Mann hielt meine Tüte – eine Plastiktüte von Sainsburys mit sauberer Wäsche und einem Spielzeuglaster. Plötzlich dämmerte mir, dass er mit »wir« uns beide gemeint hatte, sich selbst und mich. Ich fragte ihn, ob ich auf der Brücke auch vor Hexen sicher sei. Er sagte ja. Dann fragte ich, ob die Frau eine Hexe war. »Ich füchte schon, ich fürchte sogar sehr.« Die Pennerin beäugte mich argwöhnisch und ich beschloss, noch eine Weile auf meiner Brücke zu bleiben. Ich hatte das Gefühl, dass ich, wenn er mich fallen ließ, in eine Kälte und Dunkelheit fallen müsste, aus der ich nie wieder zurückkehren konnte.

Der Sanitäter schien erleichtert zu sein, dass dies ein unkomplizierter Einsatz war. Kein Leben musste gerettet werden; lediglich ein Mitternachtseinsatz mit dem Fleischtransporter, eine weitere Drogentote. »Alle Mann an Bord – schaffen wir sie weg.« Sie hievten Mum auf die Bahre. Ich sah schweigend zu und fragte mich, wer dieser Mann war und was er mit mir vorhatte. War er wie der Mann im schwarzen Anorak, der den anderen Jungen im Wohnblock einmal ein ganzes Pfund gegeben hatte? Er war böse geworden, als sie herumzappelten. Warum nur hatten sie gezappelt, fragte ich mich und war es ein Pfund wert gewesen? Dieser Mann hier schien anders zu sein. Vielleicht würde ich ihn mögen und als der Moment verstrich, in dem ich hätte losschreien können, begann ich, mich mir ohne Mutter vorzustellen. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass ich bei den Sanitätern besser aufgehoben wäre als bei diesem gut duftenden Mann. Außerdem wusste ich, dass jeder, der überleben wollte, irgendwann einmal zappeln musste. Soviel hatte ich von Mum gelernt.

Erst nachdem sie sie auf die Bahre geladen und festgeschnallt, ein Tuch über sie gezogen und sie in die Nacht davongekarrt hatten, begann mein Schluchzen. Der Mann trug sein weinendes Kind und seinen Koffer in die unheimliche, gekachelte Stille der Londoner U-Bahn hinab. Ich war so müde und schwach, dass mich ein Windhauch hätte davontragen können. Weinen hatte bei Mum nie viel gebracht – warum also sollte er sich davon mehr beeindrucken lassen als sie?

EINS

Findelkind

Ich versuche nicht einmal mehr, mir zu wünschen, dass die Dinge wieder so wären wie früher. Das ist die erste Regel fürs Erwachsenwerden. Den ganzen Scheiß mit dem Wünschen habe ich hinter mir gelassen. Aber einige Rückstände wollen eben einfach nicht verschwinden. Ich wache noch immer schweißgebadet auf; ich werde mit der Wucht ineinanderfahrender Autos aus meinem Unterbewusstsein gerissen. Ich bin in einem der Wagen, doch sitze ich am Steuer? Das weiß ich nie.

Brigitte hilft mir mit den Träumen. Sie sagt mir, eines Tages wird es sich herausstellen und wenn es soweit ist, dann wird es ein Durchbruch sein. »Bin ich gefahren? Bin ich gefahren?«, singe ich vor mich hin, wenn ich so daliege und mich in das feuchte, zerknotete Laken verkralle, das sich unter mir aufgeworfen hat. Autos fahren an meinem Fenster vorbei und die Strahlen ihrer Scheinwerfer produzieren seltsame Schatten und vereinzelte Lichteffekte auf meinen abblätternden Wänden. Ich bebe und weine wie ein Kind, das vor der Dunkelheit Angst hat, ein Junge, der vielleicht immer noch seine Mum oder seinen Dad nötig hat, um vor dem Schwarzen Mann beschützt zu werden. Doch der Schwarze Mann hat sie längst geholt und ihrer eigenen Dunkelheit übergeben und so liege ich schweigend und zitternd da und warte, bis ich an die Reihe komme.

In meinem Inneren donnert mein Herz wie ein galoppierendes Pferd, das über harten, staubigen Untergrund hinwegprescht. Ich habe das Gefühl, jeden Moment einen Herzinfarkt zu bekommen. Ein anderes Mal wiederum erlebe ich eine Art Ohnmacht; dann erwache ich aus etwas Himmlischem, etwas berauschend Wohligem und unbändig Erotischem. Es ist etwas Perfektes und dennoch beeinträchtigt durch eine zu Grunde liegende, allgegenwärtige Bedrohung. Dann spüre ich, dass etwas sehr Schlimmes aus meinem Traum geworden wäre, wenn ich nicht aufgewacht wäre.

»Mit zwanzig kannst du gar keinen Herzinfarkt kriegen«, rede ich mir ein. Ich bin jung, kräftig und mein Leben ist noch nicht annähernd vorbei. Ich erinnere mich an Brigittes Worte: »Geh in deine Träume zurück, stell dich ihnen, kämpfe gegen sie an, mach sie fertig, tue, was immer sie verlangen, solange es das ist, was auch du willst, aber lerne, dass du selbst in deinen Träumen Regie führst. Deine Träume sind deine Freiheit und du hast jedes Recht, auf deiner Freiheit zu bestehen.«

Die Drogen sind da keine Hilfe, insbesondere Acid, Kokain, MDA und Ecstasy nicht. Selbst die abstumpfenden Beruhigungsmittel, die ich nehme, um ihnen entgegenzuwirken, haben ihre Schattenseite. Es ist auch nicht dasselbe Schlafzimmer, es ist nicht so groß wie das in Paddington mit seinen gebauschten weißen Vorhängen, den polierten Dielen und dem riesigen Bett in der Mitte des Raumes. Als was für eine sichere Burg sich dieses Bett in lauen Sommernächten erwiesen hat; es seufzte und ächzte, während wir auf ihm stöhnten oder weinten. Es schien wie ein Luftschiff durch den nächtlichen Äther zu treiben. Es war unser fliegender Teppich über Sydney.

Die Stadt pulsierte mit all ihrer glitzernden Pracht vor den Schiebefenstern, die bis zum Boden reichten; sie atmete und keuchte im Takt mit ihren Kindern. Puppen aus Fleisch tanzten nur wenige Minuten entfernt auf Balkonen wie dem unseren, schwangen die Hüften wie billige Neonreklamen für warme, feuchte Fleischspalten. Wer will, wer will, wer hat noch nicht? Wie glatt, wie verführerisch Sex ohne Liebe doch ist. Und alle um uns herum, Stecher, Drogenschnorrer und Partygänger waren auf der Suche nach kalten Getränken und heißen Ficks.

Aber ich sehnte mich nicht nach der Sünde in den dunklen Straßen der Stadt oder den schmierigen Clubs mit den Löchern in den Wänden. Von Sünde hatte ich beileibe nicht die blasseste Ahnung.

Ich war das erhörte Gebet, das Waisenkind, das Opfer. Ich war die abgefüllte Wut der bieder gekleideten Frau, die auch mal bei Oprah zu Wort kommen will. Ich war der, den wir alle lieben und in unser Herz und unsere vier Wände schließen wollten, wenn wir ihn doch nur aus dem Fernseher, aus der Anstalt, aus dem familiären Missbrauch herausholen könnten.

Komisch, was Drogen bewirken – ich habe das Gefühl, als könnte ich ihn wieder heraufbeschwören, als könnte meine Vorstellungskraft Luft in Materie verwandeln, Leere in Verzücken, Nervosität in Geborgenheit. Dann wieder bewirken sie das Gegenteil und lassen die Vergangenheit zurückkehren.

Ihr wollt wahrscheinlich wissen, was Handpuppe bedeutet und wer zum Teufel ich eigentlich bin. Tja, heute nennt mich keiner mehr so, jedenfalls nicht von Angesicht zu Angesicht. Ihr fragt Euch wahrscheinlich, warum ich im Alter von zwanzig Jahren eine Biografie schreibe. Ich bin nicht berühmt, ich bin kein Supermodel und auch kein ehemaliger Kinderstar einer beliebten Fernsehserie. Aber vor drei Jahren war ich berühmt. Deswegen muss ich niederschreiben, was damals passiert ist. Jeder hat damals die Zeitungen gelesen, eine Meinung dazu gehabt, aber es gibt viele Dinge, die keiner weiß.

Brigitte meint, ich solle alles aufschreiben, meine Träume eingeschlossen. Vielleicht hat sie Recht und vielleicht kann ich, wenn ich mich zusammenreiße, für irgendein Magazin die wahre Geschichte über das schreiben, was wirklich passiert ist. Vielleicht sogar für genau dieselben, die uns das Leben zur Hölle gemacht haben. »Stell dir das Aufschreiben wie eine Art Exorzismus vor«, sagt Brigitte. Ich habe nicht sonderlich viel zu verlieren und ich würde die Schatzkammern einiger dieser Magazine liebend gern um fünfundzwanzigtausend Dollar erleichtern. Ich habe gehört, dass sie für eine Geschichte wie meine so viel hinlegen würden. Vielleicht sogar mehr.

Ich bleibe nicht die ganze Zeit zu Hause hocken. Am liebsten gehe ich abends raus. Manchmal mit meinen Leuten, die sich ohnehin monatlich neu zu rekrutieren scheinen, manchmal aber auch alleine. Zur Oxford Street brauche ich bloß fünf Minuten und mittlerweile genieße ich sogar etwas Respekt, wenngleich immer noch über mich getuschelt wird. Logischerweise sind die Leute superfreundlich, wenn sie was von dir wollen – eine E, ein bisschen Speed oder einen Trip. Welche mit Heroin verticke ich aber nicht – nicht nach dem, was mit Mum passiert ist –, und selbst in die anderen pansche ich nur ein bisschen rein, klar, für Freunde oder Bekannte halt. Das Problem ist nur, dass die Leute dich nicht mehr in Ruhe lassen, sobald sie mal was von dir gekriegt haben. Außerdem muss man vorsichtig sein; in dieser Stadt gibt es ziemlich viele Idioten und keiner ist hier sonderlich diskret. Die meisten dieser verdammten Achtzehnjährigen versuchen sowieso nur, den Sprung in die Szene zu schaffen. Die plaudern aus, dass du ihr Dealer bist, so schnell kannst du gar nicht gucken.

In letzter Zeit ist es hier ziemlich gefährlich geworden. Ein Typ – und ich nenne jetzt keine Namen – war auf einer der großen Partys in der RENTBaa und verkaufte einer Menge von Leuten, die ohnehin schon zugedröhnt waren, seine Trips. Tja, und er dachte, dass es doch mal eine nette Abwechslung wäre, diesen Schabenvertilger aus Pappe zurechtzuschneiden, der ja hochgiftig ist, um das Zeug dann als Trips zu verscherbeln, als billige Trips, nämlich für zehn Dollar das Stück. Schon alleine der Preis hätte bei mir alle Alarmglocken klingeln lassen, aber einige dieser Leichtsinnigen in solchen Clubs sind eben totale Schwachköpfe; die würden alles kaufen, bloß um cool zu sein und sich zuzudröhnen. Das Ende dieser Nacht mit ihren Geschäften war nun jedenfalls, dass der einzige Trip, auf den die Typen gekommen sind, der ins St. Vincent’s Krankenhaus war. Es gab acht Einlieferungen. Die Dinger schmeckten dermaßen widerlich, dass kein normaler Mensch auch nur eine Sekunde daran gelutscht hätte, egal wie breit er auch gewesen sein mochte.

Am nächsten Tag kam Estelle (das Mädchen vom Mond) mit ihrer durchgeknallten Freundin hier vorbei – sie nannte sich Marie Claire (nach der Zeitschrift) und sie meinten, dass ein Mädel abgekratzt sei. Man hatte sie in der kleinen Straße hinter dem Laden gefunden, doch es kursierten auch andere Gerüchte, denen zufolge sie ermordet wurde. Estelle sagt, sie sei nur deshalb draufgegangen, weil sie sich das Schabengift wie ein Zäpfchen in den Arsch geschoben hat. Laut Marie Claire legt es jeder, der geschmacklos genug ist, mit einer Chanel-Handtasche die Oxford Street entlangzulaufen, auf groben Ärger an.

Ich schaue mir ihre zahlreichen Piercings, ihre rosa Hotpants aus Lederimitat und ihre zerfetzte, limettengrüne 70er Jahre-Trägerbluse an und frage mich, wo wohl die wahre Definition von Stil beheimatet ist. »Diese Vorstadt-Tussis kommen samstagabends in die Stadt rein und bilden sich ein, sie könnten die ganzen Schwulen hier mit ihren süßen Muschis umkrempeln. Zum nächsten Mardi Gras sollten sie einfach eine ganze Batterie von Müllcontainern mit toten Tussis auffahren, damit die Heteros sie im Vorbeifahren noch schnell bespringen können.«

Im Telegraph war ein Bild von dem Müllcontainer erschienen, in dem das Mädchen gefunden wurde, aber alles, was man auf dem grobkörnigen Foto erkennen konnte, war ein erbärmlicher Lackschuh mit Plateausohle und die Chanel-Handtasche. Ich bin zwar kein Detektiv, aber eine von der Chanel-Handtaschen-Front steckt sich nun mal normalerweise keine Drogen in den Arsch. Ihre Mutter veröffentlicht nächste Woche einen Artikel in Who. Es wird das Übliche werden, nach dem Motto: »Sie wollte sich doch bloß mit ihren Freundinnen einen schönen Abend machen, normalerweise trinken sie auch gar nicht so viel und Drogen nehmen sie mit Sicherheit nicht.« Vermutlich stellt sich heraus, dass sie Krankenschwester war oder irgendeine andere Ikone der Hoffnung und Nächstenliebe.

Ich sehe das so: Wenn du an einer Vergiftung krepierst, wieso legst du dich dann in einem Müllcontainer in irgendeiner Seitenstraße ab? Ich schätze, jemand hat sie abgemurkst. Ich habe dann auch die Polizei angerufen – anonym – und denen gesagt, wer meiner Meinung nach diese Trips vertickt hat. Der Typ läuft da draußen frei rum; wenn er wüsste, dass ich gesungen habe, dann würde er mich garantiert kalt machen.

Das Problem mit diesen ganzen Morden ist, dass nie jemand die Wahrheit rauskriegt. Die Zeitungen bringen dann diese Geschichten von Leichen, die auf der Cahill-Schnellstraße aufgefunden werden oder von vielversprechenden Models, die an Tankstellen verschwinden. Die Medien lieben eben frisch geschändetes oder totes Fleisch. Sie lieben es, posthum zu beschließen, dass irgendein billiges, verwahrlostes Model die nächste Elle Macpherson oder Linda Evangelista geworden wäre, doch es ist sinnlos, diese Geschichten zu verfolgen, weil sie nämlich nie fortgesetzt werden. Drogen- oder prostitutionsbedingte Morde, Morde aus Spaß oder einfach nur das gute alte Küssen und hinterher Totmachen – man findet es niemals heraus.

Aber ich sollte mich auf die wirkliche Ursache meiner Probleme konzentrieren. Wie sich für mich alles zum Schlimmsten gewendet hat und für meinen Dad zum Alptraum. Wenn das alles rauskommen soll, dann muss ich bis dahin zurückgehen, wo alles angefangen hat – wo ich angefangen habe.

Mum und ich, wir wohnten in der Nähe von Brighton – Brighton in England. Sie war eine hart arbeitende Hure mit fünf oder sechs Tattoos und blonden Haaren, wobei ich mir sicher bin, dass ihr Blond nicht Natur war. Wir bewohnten eine Dreizimmerwohnung in einem Sozialbau und irgendwie umging Mum die Sozialarbeiter, die mich ihr weggenommen hätten, wenn sie gewusst hätten, was sich bei uns zu Hause abspielte. Mum war sechzehn als sie mich bekam. Ich hatte keinen Vater oder aber ich hatte tausende – kommt ganz darauf an, wie man es nimmt. Wie auch immer, ich bezweifle, dass sie hätte sagen können, wer es nun war – ebensowenig wie ich heute. Sie bekam Geld vom Sozialamt, aber das reichte nicht – jedenfalls nicht auch noch für das Heroin.

Mum war nicht gerade eine Bilderbuchmutter; in meinen frühesten Erinnerungen liegt sie auf dem Bett und versucht, den Reißverschluss ihrer Jeans mit einem Kleiderbügel hochzuziehen, um anschließend auf hohen Plateausohlen wild in der Gegend herumzutrampeln. Ihre Titten schienen immer kurz davor, ihr aus dem Ausschnitt zu fallen und auf ihrer linken Brust trug sie ein tätowiertes Herz, das von einem davonfliegenden Vogel fortgetragen wurde. Ich liebte dieses Tattoo; vielleicht verknüpfte ich es im Unterbewusstsein mit dem Gestilltwerden. Während ich saugte, wippte die Brust und der Vogel schien zu fliegen. Nahrung und Bewegung. Es schien komisch, dass sie sich solche Umstände machte, ihre Jeans anzubekommen, wenn sie doch sowieso ständig ausgezogen wurden, aber ich vermute, das machten Schlampen eben damals so und Mum konnte beileibe nicht anders bezeichnet werden.

Wir hatten immer denselben, groben Tagesablauf; ich erinnere mich an das hohle Klonk-klonk ihrer Plastikabsätze auf der Außentreppe unseres Wohnblocks und unten auf der Straße. Mum selber aß nicht viel, ich schätze wegen des Heroins; also war alles, was sie im Laden kaufte, für mich: Käsestangen, Chips, kleine Plastikbecher mit Pudding oder Mousse, Babynahrung (obwohl ich viel zu alt dafür war), Schokolade, Knack-und-Back-Hörnchen, irgendwelche Süßigkeiten mit kleinem Plastikspielzeug dran. Eben alles Schrille und Bunte, was ihr in die Augen sprang. Wenn wir vom Einkaufen nach Hause kamen, spielte ich mit dem ganzen Essen und dem Spielzeug auf dem Küchenfußboden. Wenn Mum nicht irgendjemandem auf der Straße begegnet war, der mitkommen und sie bumsen wollte, dann klingelte meistens gleich jemand an der Tür. Im Winter war immer mehr Betrieb als im Sommer. Komisch, man sollte meinen, es wäre umgekehrt. Ich kann mich an warme Tage unten am Pier erinnern, wie ich auf der großen, bonbonfarbenen Rutsche war.

Ich spielte auf dem schmutzigen Linoleum bei der Heizung, brach oder biss die Räder von der Plastikeisenbahn ab, in der das Brausepulver war, oder versuchte, das letzte Bisschen Käse aus der Verpackung der Käsestangen herauszulutschen. Jeden Tag häufte sich mehr Zeug an. Ich hasste alles, was von gestern war und das von vorgestern verabscheute ich umso mehr. Ich starrte in den Fernseher, der auf dem Küchentisch stand, während Mum nebenan besinnungslos gefickt wurde oder sich mit Heroin vollpumpte. Manchmal wurde sie auch ein bisschen durch die Gegend geschleudert, aber auf Heroin merkt man das nicht so – habe ich mir jedenfalls sagen lassen. An manchen Tagen kamen vier oder fünf Typen nacheinander, da konnte ich gar nicht mehr sagen, vom welchem sie nun ihre blauen Flecken hatte. Außerdem trug sie dermaßen viel Mascara und Eyeliner, dass sie zu guter Letzt ohnehin aussah, als ob sie ein blaues Auge hatte.

Aber um nicht ungerecht zu sein, muss ich sagen, dass sie mich auf ihre Art auch geliebt haben muss. Zwischen ihren »Klienten« küsste sie mich oder spielte mit mir, aber sie behandelte mich eigentlich mehr wie einen Traum, den sie hatte, denn als ihr wirkliches Kind. Sie liebte Stevie Nicks; manchmal, wenn sie völlig neben sich war, spielte sie »Rhiannon« auf unserem uralten Kassettenrekorder. Dann tanzte sie in ihrem Hausmantel durch die Wohnung wie Kate Bush, mit einem Tuch, in das sie sich wie in eine Stola gewickelt hatte und in ihren Plastikstiefeln – die, die auch Stevie damals trug. Dann meinte sie, selber so eine Zigeuner-Hexe zu sein. Wahrscheinlich träumte Mum davon, die Zauberkräfte einer Hexe zu besitzen, überhaupt Macht zu haben. Wenn sie sich am Ende schließlich wie ein Embryo auf dem Fußboden zusammenrollte, applaudierte ich, während das Tape zu Ende dudelte.

Die Fickgeräusche waren die Musik meiner Kindheit. Ich fertigte eine sorgfältige Studie dieser Geräusche an, Tempo und Fluss, gut und schlecht. Schlecht war es, wenn sie Sachen von Mum verlangten, die sie nicht machte, wenn Mum sie anschrie, sie sollten sich »verpissen«. Gut war es, wenn sie während der gesamten Vorstellung nicht aus der Rolle fiel, wenn die Wünsche der Typen simpel waren, wenn sie einverstanden war. Ich dachte darüber nach, wie lange es bei den verschiedenen Typen jeweils dauerte, bis sie in Mum »reinmachten«. Häufig aß ich einen Chips für jedes Stöhnen des Kerls. Einmal tat ich eben das, als der Mann beim Stöhnen auch noch furzte. Ob ich dafür wohl einen Extra-Chips gegessen habe? Und wenn ja, habe ich dann den Anschluss an das Stöhnen verpasst, das natürlich – ungeachtet des Furzes – weiterging?

Manchmal ließ Mum die Tür einen Spalt offen. Ich konnte reingucken, wenn ich wollte, aber der Anblick gefiel mir nicht immer – häufig ragte mir der haarige Arsch irgendeines Kerls entgegen, während der Typ wie irre in sie hineinstieß. Die haarigen mochte ich nicht und die fetten auch nicht, aber manche waren schmal und glatt. Und bei denen sehnte ich mich nach irgendetwas; vielleicht war es Neid, der wie die Zunge einer Schlange mein Herz kitzelte, während Mum zu einem wilden Rhythmus tanzte, den ich mir allerhöchstens vorstellen konnte, ein Rhythmus, der zugleich erregend und abstoßend war.

Gelegentlich änderte sich der Rhythmus auch. Manche bevorzugten es, in einem etwas anderen Winkel zuzustoßen, vielleicht, um einen ganz bestimmten Teil ihres Schwanzes zu stimulieren; vielleicht aber wollten sie auch nur Stellungen mit Mum ausprobieren, die ihnen ihre Freundin oder ihre Ehefrau nicht gestattete – oder die zurückgebliebene Lady eine Straße weiter, die es umsonst machte, während ihre Mutter beim Bingo war. An ihren guten Tagen stöhnte Mum ein bisschen, so als machte es ihr Spaß. Vielleicht tat es das sogar. An anderen Tagen war sie einfach still und überließ es den Typen, Geräusche zu machen. Ich spähte hinein, Chips oder Käsestange in der Hand und nahm alles in mich auf, die endlose Parade von Ärschen, den Geruch von Sperma und diversen Körperregionen – eigentlich sollte man meinen, dass einem das den Sex vermiest, oder?

Schließlich kam ich in die Schule. Ich war sechs, als es losging. Ich hätte eigentlich schon ein Jahr früher gehen sollen, doch Mum muss es irgendwie verschlampt haben, bis schließlich eine Sozialarbeiterin kam und mit ihr schimpfte, weil sie mich nicht hingeschickt hatte. Als ich dann endlich in der Schule war, versuchte Mum, den größten Teil ihrer Arbeit tagsüber zu erledigen, doch es gab immer welche, die es lieber abends machten.

Meistens bekam ich Fish and Chips zum Abendbrot, manchmal machte mir Mum aber auch Toast mit Eiern und Speck. Ich glaube, sie wusste überhaupt nicht, was Gemüse war. An den Tagen, an denen sie vergleichsweise klar im Kopf war, gab es Orangen und Äpfel vom Obstladen, aber sonst wollte Mum nie irgendwo anders als in den Laden an der Ecke gehen. Ich ging jeden Tag zu Fuß zur Schule und bekam die besten Mahlzeiten meines Lebens in Form von Schulessen.

Nach Schulschluss drückte ich mich mit anderen Rotzgören zwischen den Wohnblocks herum: teiggesichtige Schmuddelkinder, die nie etwas anderes als Kartoffeln und Schmalz zu essen bekamen, oder gerissene Straßenkids mit kantigen Gesichtern, die es gewohnt waren, sich vor den Schlägen ihrer besoffenen Väter zu ducken. Wenigstens war das Meer nicht weit. Unten war auch ein Spielplatz, wo ab und zu ein Mann in einem schwarzen Anorak auftauchte. Er gab uns zwanzig Pence oder mehr, wenn wir ihm unsere Schniedel zeigten. Wir gingen da immer hin in der Hoffnung, ihn anzutreffen, damit wir uns hinterher von dem Schniedelgeld ein paar Süßigkeiten oder eine Portion fettiger Pommes kaufen konnten. Wir lungerten dann immer an der kaputten Schaukel herum und machten uns wie hungrige Möwen über unsere heiße Prämie her. Pommes zu riechen und zu essen, war noch immer eine Belohnung – auf der Erde zu hocken und den Hintern zusammenzukneifen, der oft ein bisschen brannte und wehtat von der neugierigen Fummelei des Anorakmannes. Und jeder einzelne von uns Jungs wärmte sich seine Finger hungrig und schweigend an dem fettigen Zeitungspapier, während unser heißer Atem lautlose SOS-Schwaden in den eiskalten, farblosen Himmel entsandte.

Wenn die Pommes alle waren, streunten wir in der Gegend herum und machten kaputt, was wir kaputt kriegten. Und was wir nicht kaputt kriegten, versuchten wir, kaputt zu kriegen. Wir schikanierten alte Damen an der Bushaltestelle, die zunächst noch versuchten, nett zu uns zu sein, die dann aber schnell merkten, dass wir nicht die Sorte von Kindern waren, bei denen es sich lohnte, nett zu sein. Die anderen Kinder wurden gewöhnlich zum Abendessen reingerufen, aber Mum war keine von jenen Müttern, die rief, »Komm rauf, Essen ist fertig«; auch war sie keine der Mütter, die, »Sag mal, weißt du eigentlich, wie spät es ist?« keifte, wenn ich erst abends um acht oder neun nach Hause kam.

Im Winter schien es überhaupt nicht hell zu werden. Die Kinder blieben häufiger zu Hause und ich wurde nicht zu ihnen in die Wohnung eingeladen. »Unsere Ma sagt, dass du nicht zu uns rüberkommen darfst, weil du kein Umgang für uns bist und nich’ mal ’nen Daddy hast und dass deine Mum schlecht is’ und so.« Nun konnte man die anderen Familien auch nicht gerade als blaublütig bezeichnen, ja die meisten von ihnen konnte man noch nicht einmal der Arbeiterklasse zurechnen, weil Stütze nun mal nicht Arbeit ist. Als die Mädchen in der Schule erst einmal die Schmähungen gegen Mum und mich aufgeschnappt hatten, entstand aus den Gerüchten schnell ein Lied, das sie beim Seilspringen skandierten. Es war ein Lied, das Mum nie hören wollte – ein Lied, an das ich mich allerdings erinnere.

Eene, meene Eierpampe,

Johnnys Mutter ist ’ne Schlampe.

Für fünf Pfund ist sie bereit

und macht ihre Beine breit.

Legst du noch ’nen Fünfer drauf,

kann sogleich der Nächste rauf.

Ich wusste, dass das Gestöhne aus dem Nebenzimmer die Ursache allen Übels war. Auch habe ich nie jemanden mit zu uns nach Hause gebracht. Schon damals habe ich mich für das Durcheinander bei uns geschämt – und für den Geruch: Heroin hinterlässt auf der Haut des Konsumenten einen süßlichen Geruch.

Ein paar Mal sind irgendwelche Typen für eine Weile bei uns eingezogen, aber genauso schnell waren sie auch wieder draußen. Sie waren allesamt Junkies und merkten ziemlich bald, dass Mums »relative Wohlhabenheit« ihren Ursprung zwischen ihren Schenkeln hatte; dass wenn sie nicht arbeiten gingen, Mum weitermachen musste wie gehabt, damit das Heroin reinkam – und die Fish and Chips für mich.

Es gab Streit wegen des Heroins; Streit, wer dran war mit dem Einkaufen und Anschreibenlassen, Streit, wer das Zeug heiß machen sollte. Sie ernährten sich von Cola und etlichen Tassen Tee und nahmen hin und wieder ein bisschen Schokolade oder ein paar Pommes zu sich, während ich Babynahrung mit einem der zahlreichen, verrußten Löffel aus verkrusteten Plastikbechern kratzte.

Als neben uns neue Leute einzogen – Mum nannte die Frau eine neugierige Scheißziege –, muss das das Ende vom Anfang gewesen sein. Eines Abends war der Typ, der gerade bei uns vorbeikam, ziemlich besoffen. Die Tür war angelehnt und ich guckte rein, wegen des Lärms. Der Typ nahm Mum ordentlich durch. Sie hatte es ihm mit dem Mund gemacht, was zehn Pfund extra kostete (ich hatte bei den Verhandlungen zugehört). Sein Schwanz war schlaff. Ich schätze, er war wohl zu besoffen, um ihn noch hochzukriegen; entweder das oder er war eben einfach impotent. Er schrie sie an, »Du bist doch echt ’ne dreckige alte Schlampe, ’ne dreckige Hure bist du! Du hast doch mehr Drogen intus als Schwänze!« Er schlug ihr ein paar Mal ins Gesicht und ich rannte schreiend ins Zimmer. Sie ging auf ihn los und kreischte wie eine Furie: »Du kriegst doch noch nich’ mal deinen verdammten Schwanz hoch, du Versager, los, verpiss dich hier, aber schnell!« Und unter meinem und ihrem Geschrei zog er schließlich ab.

Dann kam die neugierige Scheißziege von nebenan dazu und mischte sich ein: »Denken Sie bloß nich’ ich wüsste nich’, was für widerliches Zeug sich hier drinnen abspielt, Sie dreckige Schlampe, Sie! Das is’ doch hier nichts weiter als ’n Bumsschuppen. Ich zeig sie bei der Fürsorge an! Sie sind doch nich’ mal in der Lage, ihren Kleinen in diesem Saustall hier großzuziehen; und außerdem lass ich mir diesen Lärm nicht länger gefallen, vor allem nich’, wenn mein Baby schläft ––«

Mum ist dann mit einem Besen auf sie losgegangen (das erste und einzige Mal, dass ich gesehen habe, wie sie ihn anfasste). Es war eine schreckliche Szene und irgendjemand muss die Polizei gerufen haben. Ich denke mir, Mum hat versucht, geistesgegenwärtig zu sein. Sie schmiss ein paar Klamotten in eine Tasche, sagte, ich solle mir Sachen über meinen Schlafanzug ziehen und meinte dann, wir müssten sofort los. Wir sind zum Bahnhof und haben einen Spätzug nach London genommen. Vielleicht würde da ja alles anders werden. Vielleicht waren dort ja die Straßen mit Gold gepflastert, oder zumindest mit Heroin.

Im Zug fing Mum an zu schwitzen und zu zittern. Sie brauchte ihre Medikamente. In unserer Nähe saß ein widerlich aussehender Kerl, der sie eine Weile beobachtete; schließlich kam er zu uns rüber.

»Alles in Ordnung, Mädchen?« Er schaute auf den Bluterguss, der sich unter ihrem linken Auge zu bilden begann.

»Ja ja, hatte bloß ’n bisschen Zoff mit meinem Alten, sonst nichts.«

»Kann man wohl sagen, Mädchen. Was muss das für’n Kerl sein, der so’n leckeres Ding wie dich vermöbelt!« Mum brachte eine Art Lächeln zustande, doch selbst ich konnte sehen, dass »leckeres Ding« nicht gerade eine angemessene Bezeichnung war. Und ich wusste auch, dass ihr Lächeln nicht eben das bescheidene Lächeln einer dankbaren Lady war. Mum war hilflos und verzweifelt und alles Mögliche konnte auf dieser Fahrt nach London passieren. Der kleine Johnny sollte keinen Buckingham Palace und keinen Wachwechsel zu sehen bekommen.

»Hier Mädchen, ich denk’ ich hab da ’n bisschen was für dich, das kannst du bestimmt gebrauchen.« Er kramte in seiner schmutzigen alten Airline-Tasche herum und holte ein weißes Plastiktütchen heraus.

Ihre Augen hellten sich ein wenig auf. »Und was wollen Sie dafür haben?«

»Gar nicht mal so viel. Nur ’n bisschen von der Zuwendung, die deinem Kerl heute Abend vorenthalten bleibt.«

Er sah zu mir und lächelte. »Keine Sorge, junger Freund, ich bin Arzt und will deine Mum bloß wieder auf den Damm bringen.«

Ich hatte einige unangenehme Ärzte in der Klinik gesehen, in die Mum immer mal wieder ging, aber keiner von denen hatte so fies ausgesehen wie dieser hier. Fettige Haare, gelbe Zähne. Ein Freier, der mit Drogen bezahlte.

Mum brauchte nun mal ihre Medizin und egal, ob es nun Heroin, Gelierzucker, Rattengift oder Geschirrspülmittel sein mochte, sie würde mit ihm in der Zugtoilette verschwinden und es sich verdienen. Es waren nur noch fünfzehn Minuten bis London, aber ich hatte schon erlebt, wie sie sich in weitaus weniger als fünfzehn Minuten ihr Geld verdient hatte.

Er kam als erster wieder raus und war noch dabei, sich sein Hemd wieder reinzustopfen. Er sah mich blöde an und schlurfte den Gang entlang zum anderen Ende des Zuges. Dann kam Mum hinterher und hielt sich den Arm. Sie hatte Schmerzen und Blut war auf ihrem Pulli. Sie zitterte noch immer leicht und irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein. Und wenn ich sage »nicht in Ordnung«, dann meine ich mehr damit, als das übliche »nicht in Ordnung« – denn das war ja der Normalzustand für mich

Heilung