Verbotene Küsse unterm Mistelzweig - Katherine Collins - E-Book

Verbotene Küsse unterm Mistelzweig E-Book

Katherine Collins

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Beschreibung

Alice Chesham besucht über die Weihnachtsfeiertage die hochangesehene Hausgesellschaft der Dowager Duchess of Kent. Mit dem Auftrag ausgestattet, noch während der Saison einen guten Fang zu machen, sieht sie sich plötzlich der Ränke der Familie Kent ausgesetzt. Ein jeder will sie mit dem zurückhaltenden Duke of Kent verkuppeln. Aber ob der Gentleman tatsächlich der Richtige für sie ist, muss sich erst noch zeigen!

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Kapitel 2

 

Love Shot 20

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Katherine Collins

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verbotene Küsse

Unterm

Mistelzweig

Katherine Collins

 

 

Erstausgabe Juni 2020

© 2020 Katherine Collins

Türkenort 11

45711 Datteln

[email protected]

 

Made with l♥ve

Alle Rechte vorbehalten

 

Verbotene Küsse unterm Mistelzweig

 

Umschlaggestaltung: Kathrin Fuhrmann

unter Verwendung von Bildmaterial von

© Periode Images, PI Creative Lab

© Cover Art Illustration: 2019-10-02_20.23.44

und Shutterstock: Anterovium (Hintergrund), Sensvector (Mistelzweige)

Lektorat: Jessica Weber

Satz: Katherine Collins

 

 

 

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung wiedergegeben werden. Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

 

 

Kapitel 1

Ein kleines Desaster

 

Graystone Manor, Kent, 21. Dezember 1824

»Oh, welch eine Schmach!« Mathilde versteckte ihre bleichen Züge hinter ihren Händen. Sie saß vor dem Spiegel, war bereits in ihrem Schlafkleid gewandet und weinte bitterlich. »Nie werde ich Heverley verlassen können!«

Alice streichelte den Arm der Schwester. »Bitte beruhige dich. Was ist denn so Dramatisches geschehen?« Seit sie sich für die Nacht zurückgezogen hatten, war Mathilde den Tränen nahe.

»Ihre Gnaden!« Sie schniefte und brach erneut in heftiges Schluchzen aus. Sie schüttelte sich und lehnte sich schwer an Alice’ Schulter. Die rieb weiter über den bebenden Leib der kleinen Schwester. »Oh, es ist so ein Unglück!«

»Das Unglück ist, dass du mir nicht sagen willst, was dich bedrückt, Tilly.« Alice seufzte leise. »Zu weinen ist doch wahrlich keine Hilfe!«

Aber hilfreich war Miss Mathilde Chesham ohnehin selten. Alice tätschelte ihre Schulter und ging dabei den letzten Tag durch, um selbst eine Antwort auf die Frage zu finden, was Mathilde nun aus der Fassung gebracht hatte.

Allerdings konnte sie keinen Moment finden, der einen solchen Tränensturm rechtfertigte. Sie waren am Nachmittag in Graystone Manor angekommen, nachdem sie seit dem Morgen unterwegs gewesen waren. Sie hatten ihre Räume bezogen, wobei Mathilde und sie ein Zimmer teilten und ihre Eltern in einem anderen Flügel untergebracht waren. Zum Tee hatten sie dann die Duchess begrüßt, die in Gesellschaft ihrer Töchter, der Duchess of Skye und der Marchioness of Belmont, und anderer Hausgäste gewesen war. Mathilde und Alice hatten artig geknickst, eine Begrüßung gemurmelt und sich dann gesetzt, um den Tee einzunehmen. Ihre Mutter hatte sie dabei fortwährend ermahnt, gerade zu sitzen, Haltung zu wahren und die Stimmen gesenkt zu lassen. Sie hatte den Tee verschüttet, so aufgeregt hatte sie ihre Töchter gehütet. Aber konnte dies ein Grund sein, so bitterlich zu weinen? Sicherlich hatte den Fauxpas der Mutter niemand mitbekommen. Sie hatten sich anschließend für das Dinner umgekleidet, bei dem sie selbstredend getrennt zu Tisch geführt worden waren. Aus der Entfernung und abgelenkt, wie Alice gewesen war, hatte sie keinen Missgriff der Schwester verfolgen können. Sie hatte an der Seite des Marquess of Belmont und Mr Stewart gesessen, während Mathildes Tischnachbarn der Earl of Bloomfield und Mr Roundtree gewesen waren. Hatte sich dort etwas ereignet, was die Verzweiflung der Schwester rechtfertigte?

»Tilly«, murmelte Alice ungeduldig. »Sprich doch mit mir!«

Mathilde schüttelte den Kopf. »Mutter«, krächzte sie. »Nur Mutter weiß Rat!«

Aber natürlich befand sich Lady Lichfield nicht in der Nähe. Die Schwester schob sie von sich, um ihr mit tränenverhangenem Blick in die Augen zu sehen. »Kannst du Mutter holen? Bitte, ich brauche dringend ihren Rat!«

Der Vorschlag war töricht. Alice schüttelte den Kopf. »Tilly, es ist mitten in der Nacht und …« Es war nicht einmal sicher, dass sich die Mutter auf ihrem Zimmer befand. Es war selbstredend unsinnig, sie zu suchen. Zum einen war Graystone Manor ein großes Gebäude, zum anderen war Alice, genau wie ihre Schwester, bereits entkleidet. Sie deutete an sich entlang, um auf ihren Bekleidungszustand hinzuweisen, ohne es explizit aussprechen zu müssen. »Beruhige dich. Wir gehen zu Bett und sprechen morgen mit Mutter.«

Mathilde schüttelte den Kopf. Ihre Fingernägel gruben sich in Alice’ Unterarme. »Nein!« Neuerliche Tränen bildeten sich in ihren Augen. »Ich kann keinen Moment in Ruhe zubringen, solange ich …« Sie schniefte. »Verstehst du nicht? Meine Zukunft steht auf dem Spiel!«

Alice verstand nicht, und dies sagte sie auch deutlich. Dabei löste sie die Klauen aus ihrem Fleisch.

»So … kompromittierend!« Die blauen Augen der Schwester weiteten sich unter ihren Befürchtungen. »Ich werde keinen Ehemann finden! Und du …« Wieder unterbrach sie sich mit einem Schluchzen.

Alice biss sich auf die Lippe. Es klang tatsächlich ernst. Ihr Herz schlug hart in ihrer Brust, schließlich hörte sie seit über einem Jahr nur noch, wie wichtig es sei, sich nun gut zu verheiraten. Genau wie Mathilde, daher wuchs ihr Verständnis für die aufgelöste Schwester.

»Du doch auch nicht, wenn …« Sie heulte los, beugte sich vor und klammerte sich wieder an Alice.

»Die Aussicht ist sicherlich verstörend, Tilly, aber kann es nicht sein, dass du ein winziges Bisschen übertreibst?«, murmelte Alice. Obwohl ihr Herz noch immer heftig schlug und auch ihre Glieder leicht bebten, bemühte sie sich, einen klaren Kopf zu behalten. Was konnte so Kompromittierendes geschehen sein? Wie schlimm war der Fauxpas und konnte ihre Mutter das Unheil noch abwenden?

»Magst du mir erzählen was passiert ist?« Ihre Stimme bebte verräterisch.

Mathilde schüttelte den Kopf. »Ich muss es Mutter erzählen.« Ihr blondes Haar kitzelte in Alice’ Gesicht. Es war zu einem Zopf geflochten und reichte ihr bis hinunter zu den Schenkeln. »Oh, bitte! Bitte! Ich weiß nicht, wie ich meine Schande ertragen soll!«

Alice atmete tief durch. »Also schön.« Natürlich blieben ihre Bedenken bestehen, aber bei der Sachlage war es womöglich unabdingbar, die Mutter herbeizuholen. Zumindest versuchen sollte sie es, wenn es nicht nur die Schwester beruhigen konnte, sondern sie selbst gleich mit.

»Du holst Mutter her?« Mathilde schaute sie dermaßen hoffnungsvoll an, dass sie einfach zustimmen musste.

»Ich gehe zu ihrem Zimmer.« Alice tätschelte ihre Hand. »Wenn Vater und Mutter dort sind, bitte ich sie, mit mir zu kommen.« Sie stand auf, nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war. »Ich sollte mich ankleiden.« Alice drehte sich um.

Mathilde griff nach ihrer Hand. »Bitte eile dich! Ich bin so untröstlich.«

»Ich sollte …« Sie sah sich nach dem Schrank um, in dem ihre Kleider ordentlich aufgereiht hingen. Keines von ihnen ließ sich schnell überstreifen. Keines konnte sie ohne Hilfe schließen. »Mathilde, du musst mir helfen, mich anzukleiden.«

Die Schwester schüttelte den Kopf. »Das dauert zu lange. Es ist spät in der Nacht. Niemand wird auf den Korridoren unterwegs sein.«

Alice zögerte. Es war spät, aber sie waren unter den Ersten gewesen, die den Salon verlassen hatten. Es war durchaus möglich, dass die anderen Gäste noch gesellig zusammensaßen.

Sie schlang die Arme um die Mitte. »Ich kann doch nicht im Morgenrock …«

»Alice, in diesem Flur wohnen doch nur die Mädchen!« Mathilde griff nach ihren Armen. »Dir kann doch niemand begegnen. Ich würde dich ja begleiten, nur …« Sie schniefte. »Ich wage es nicht, ihr noch einmal unter die Augen zu treten.«

»Der Duchess?«, hakte Alice nach. Was war nur vorgefallen?

»Bitte beeil dich!« Mathilde schob sie bestimmend zur Tür. »Sag Mutter, dass es wirklich ernst ist.«

»In Ordnung, Tilly. Ich hole Mutter.« Alice umwickelte ihren Leib fester mit ihrem Morgenmantel und band die Schlaufe neu, bevor sie die Tür öffnete und hinausspähte.

Der Korridor war verlassen. An den Wänden hingen Lampen und erhellten den Gang. Es sah sicher aus. Trotzdem lehnte sie sich an die Tür in ihrem Rücken und blickte erst in die eine, dann in die andere Richtung. Bisher waren ihr tatsächlich nur Damen auf diesem Flur begegnet. Demnach musste sie nur auf einem Teil des Weges nicht befürchten, einem Mann zu begegnen. Sie hätte nicht hinausgehen sollen, dennoch machte sie sich mit klopfendem Herzen auf den Weg. Dabei blieb sie nahe an der Wand und lauschte angestrengt. Es war gespenstisch still. Alice erreichte die Treppen, die besser beleuchtet waren als der Korridor. Sie verhielt kurz, da sie meinte, Stimmen zu hören. Gelächter. Dann eilte sie über den Treppenabsatz und tauchte in das Halbdunkel des Westtrakts ab.

Die erste Nische nutzte sie, um sich gegen die Wand zu lehnen. Ihr Puls pochte so heftig, dass sie ihn in den Ohren spüren konnte. Sie schloss die Augen und presste die Hand auf den Bauch. Nur noch ein Stück den Gang hinunter, dann die Abzweigung zur Linken und sie würde vor dem Zimmer ihrer Eltern stehen. Das klang doch gar nicht mehr so schwierig.

Alice seufzte leise und vergewisserte sich, dass der Korridor leer war, bevor sie weiter schlich. Sie bog ab und konnte bereits ihr Ziel sehen, als neben ihr die Tür aufging. Überrascht blieb sie stehen und starrte den Gentleman an, der ihren Blick ebenso fassungslos erwiderte. Er hatte sein Jackett in der Hand, die Weste stand offen und sein Hemd ebenso. Die Bänder, die seine Hose zusammenhielten, baumelten vor seinen Schenkeln. Alice blinzelte erschrocken.

»Verdamm mich!« Er schoss vor, griff nach ihrem Arm und zerrte sie in den Raum. Ein Schlafzimmer. Das Bett war zerwühlt. Alice erstarrte. Das war das schrecklichste Szenario, das sie sich vorstellen konnte. Mit einem Mann, der nicht einmal angemessen gekleidet war, in einem Zimmer entdeckt zu werden. Mathildes Befürchtungen bewahrheiteten sich, nur, dass es nicht die kleine Schwester war, die sich kompromittierte, sondern Alice.

»Lassen Sie …«, keuchte sie, wobei sie sich dem Griff zu entwinden suchte. Stattdessen landete sie nach einem heftigen Ruck an ihrem Arm an der Brust des Mannes.

»Du wirst niemandem sagen, was du gesehen hast, verstanden?«

»Lassen Sie mich!« Alice schlug nach ihrem Angreifer, der sie jedoch einfach umschlang und damit wehrlos machte.

»Halt den Mund!«, zischte er an ihrem Ohr. »Wenn du nicht stillhältst …«

»Stephen!«

Alice drehte den Kopf. Eine junge Frau stand zwei Schritte von ihnen entfernt. Sie trug lediglich eine Art Nachtkleid mit farbigen Punkten und hielt sich an der Türzarge zum Ankleideraum fest. Ihre großen, braunen Augen lagen mit einer Anklage auf ihnen, die Alice keuchen ließ.

»Was tust du denn?«

Stephen nahm die Hände von Alice, um auf die junge Frau zuzutreten. »Meine Liebe …«

Alice nutzte die Chance und stürzte zur Tür.

»Nein!« Stephen folgte, aber sie war schneller. Sie stolperte über den Saum ihres Nachthemdes und fing sich nur um Haaresbreite. Ein Blick zurück zeigte, dass die junge Frau am Arm des Mannes hing und ihn wohl zurückhielt. Sie schüttelte den Kopf, verlor aber kein Wort.

Alice umrundete die Ecke und rannte in eine Person. Der Aufschlag presste ihr die Luft aus der Lunge. Sie torkelte nach hinten, als sich Arme um sie schlossen und sie zurück an einen warmen Körper holten.

»Vorsicht«, murmelte eine männliche Stimme.

Alice steckte der Schreckenslaut in der Kehle fest. Bevor sie sich fangen konnte, um einen Schrei zu artikulieren, wurde sie losgelassen. »Entschuldigen Sie bitte …«

Gelächter aus Richtung der Treppe unterbrach ihn.

»Verflixt«, entfuhr es dem schwarzhaarigen Mann. Er sah sich um, griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich. In ein Zimmer. Alice stockte einmal mehr das Herz. Dieser Abend wollte mit fürchterlich kompromittierenden Momenten einfach kein Ende nehmen!

Er schob sie weiter, während er sich umdrehte und vorsichtig die Tür schloss. Dann drehte er sich um und legte sich den Finger auf die Lippen. »Psst!«

Alice wich zurück. Es war dunkel in dem Raum, lediglich etwas Mondlicht fiel durch die Fenster in ihrem Rücken. Es reichte gerade so, um sich zurechtzufinden.

Er blieb an der Tür und lauschte. Seine breiten Schultern blockierten diese beinahe. Sein Haar ringelte sich in seinem Nacken und fiel über den Kragen seines Jacketts. Nach einem Moment drehte er sich zu ihr um.

»Sie gehören nicht hierher.«

Sie riss die Augen auf.

»Und Sie haben sich in Ihrem Nachtstaat sicher nicht verlaufen.«

Er schlenderte auf sie zu. Alice wich weiter zurück und stieß gegen die Fensterbank.

»Miss Chesham, nicht wahr?«

Alice sank das Herz.

»Lord Marcus Mannings, zu Ihren Diensten.« Er verbeugte sich mit einem Grinsen.

Alice stöhnte entsetzt. Ausgerechnet dem Sohn der Duchess musste sie in die Arme laufen!

»Verraten Sie mir, warum Sie durch den Flur gerannt sind?« Er blieb einen Schritt vor ihr stehen. »Und mich ansehen, als sei ich der Fuchs und Sie das Häschen?«

»Ich muss mit meiner Mutter sprechen.« Sie bekam es kaum über die Lippen.

»Und Lady Lichfield ist nicht in Ihrer unmittelbaren Nähe untergebracht.« Er nickte, als verstände er bereits die Brisanz ihrer ihres nächtlichen Ausflugs.

»Nein.«

»Warum haben Sie Ihre Zofe nicht geschickt?«

Alice blinzelte. Eine vernünftige Frage, jedoch brachte sie keinen Ton hervor.

»Daran haben Sie nicht gedacht, nicht wahr?« Er grinste, was sie nur bemerkte, weil seine Zähne im Mondlicht aufblitzten. »Der einfachste Weg wird von jungen Damen gern übersehen.«

Sein Lächeln blendete sie nahezu und es machte die Sache nicht besser, dass er dabei absolut ungefährlich wirkte.

»Meine Schwester …«, hauchte Alice.

»Ist sie auch auf den Fluren unterwegs?« Er drehte sich leicht und sah zur Tür. »War sie bei Ihnen? Junge Damen sollten zu später Stunde nicht leichtbekleidet durch Gänge spazieren.« Er fuhr sich durchs Haar. »Warten Sie hier, ich …«

Auf ihn? Das war eine widersinnige Vorstellung!

»Nein!« Sie eilte vorwärts, als er sich abwandte. »Meine Schwester ist auf unserem Zimmer. Sie …« Alice klappte schnell den Mund zu, um nicht weitere Dinge preiszugeben, die ihn nichts angingen. Es war schon schlimm genug, dass er sie bei ihrer Narretei erwischt hatte. »Ich muss zurück.«

Je eher sie sich hinter der sicheren Tür ihres Zimmers verstecken konnte, umso besser.

»Das denke ich auch.« Lord Marcus kratzte sich an der Stirn. »Allerdings …«

»Sie werden nicht auf dumme Ideen kommen!« Sie hob die Hände, um ihn notfalls abwehren zu können. Sein Blick schoss zu ihr zurück. Seine Augen weiteten sich, dann lachte er auf.

»Verzeihen Sie, Miss Chesham. Nein, ich werde nicht auf dumme Ideen kommen. Nicht, dass Sie nicht hübsch sind, aber ich halte es nicht für angebracht, einer Dame im Nachthemd zu nahe zu treten.« Er zwinkerte ihr zu. »Und damit auch sonst niemand auf dumme Ideen kommt, bringe ich Sie zu Ihrem Zimmer.«

Hitze schoss ihr in die Wangen. »Das … das geht nicht!« Nicht auszudenken, man sähe sie zusammen! Sie wäre augenblicklich ruiniert.

»Bis zum Südtrakt, darauf bestehe ich.« Lord Marcus deutete zur Tür. »Darf ich bitten?«

»Ich kann nicht in Ihrer Begleitung vor diese Tür treten!« Das musste er wissen! »Es wäre katastrophal, wenn …«

Seine Brauen hoben sich. »Ich habe nicht vor, erwischt zu werden, Miss Chesham.«

Alice war sprachlos. Sie war sich nicht sicher, wie es nun zu bewerten war, dass er nicht erwischt werden wollte.

»Deshalb sind Sie bei mir absolut sicher. Kommen Sie. Dieses Zimmer ist zwar nicht belegt, aber das heißt nicht, dass sich nicht jemand hierher verirren könnte. Wenn wir beide also nicht in der Gesellschaft des jeweils anderen entdeckt werden möchten, sollten wir uns auf den Weg machen.« Er hob die Hände. »Ich gehe voraus und schaue, ob der Korridor frei ist. Dann folgen Sie mir.«

Es klang vernünftig, also nickte sie. Sie beobachtete ihn, wie er zur Tür ging und sie vorsichtig öffnete. Er spähte hinaus, dann sah er zu ihr zurück und winkte sie näher. Alice folgte widerstrebend.

Es war nicht weit bis zum Treppenaufgang, nur wenige Schritte und schon stand sie im hellen Schein der Deckenkandelaber. An den Wänden hingen Porträts von alten Damen und Herren in nicht mehr ganz modischer Kleidung. Alice lauschte angestrengt. Leise Musik wehte zu ihnen herauf, aber keine Stimmen. Sie huschte weiter, folgte dem jungen Lord zur anderen Seite der breiten Freitreppe, um dort in den Südtrakt abzubiegen.

»Mylord«, rief sie ihn leise. »Das genügt vollauf!« Immerhin war sie in dem Gang, der vor ihr lag, sicher und er völlig fehl am Platz. »Sie sollten nicht …« Ihr Blick schoss den Flur hinunter.

»Wie wahr.« Lord Marcus feixte. Seine rauchgrauen Augen gleißten auf, wodurch ihr die Ähnlichkeit mit einigen der Porträts auffiel. Er war deutlich ein Sohn des Hauses, aber nicht der Erbe.

Alice seufzte. »Guten Abend.« Sollte sie knicksen? Es gab sicherlich kein Protokoll zu beachten, wenn man sich so unziemlich begegnete, trotzdem sank sie schnell in einen Knicks, wobei sie auch den Kopf neigte. Immerhin war er der Sohn eines Dukes und sie nur die Tochter eines Barons.

Marcus verbeugte sich. Der Moment wurde damit immer skurriler. Alice räusperte sich.

»Danke für Ihr Geleit.« Auch wenn sie es gar nicht hatte haben wollen.

»Stets zu Diensten, Miss Chesham.« Klang er belustigt?

»Na, das wollen wir nicht hoffen«, murrte sie mehr für sich, als sie sich in Bewegung setzte. Es waren noch etliche Türen hinter sich zu bringen, bevor sie sich in der relativen Sicherheit ihres Schlafzimmers wiederfand.

»Wie meinen?«, fragte er nach, wobei er ihr in den Weg trat. Beinahe wäre sie erneut gegen ihn gelaufen.

Alice wich aus. »Ich hoffe, Ihre Dienste zukünftig nicht mehr in Anspruch nehmen zu müssen, Lord Marcus.« Sie nickte ihm zu und wollte weitergehen.

»Wie bedauerlich, dabei helfe ich ausgesprochen gern.«

Sie schaute irritiert zu ihm zurück. »Schleichen Sie deswegen nachts durch die Gänge? Um Damen aus der Not retten zu können?«

Marcus lachte auf. Er verschwendete offenbar keinen Gedanken daran, dass man ihn hören könnte. Alice sah sich nervös um. Sie sollte diese Konversation umgehend abbrechen und endlich in ihr Zimmer flüchten!

»Nein«, gab er Antwort, wobei er den Kopf leicht zur Seite neigte. »Ein Freundschaftsdienst führte mich in dieses Stockwerk.« Er zwinkerte. »Aber ich bin froh, ihn mit einer weiteren guten Tat verbinden zu können.« Er legte die Hände auf den Rücken. Sein Strahlen war schon irritierend.

»Nun«, murmelte sie. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Zum dritten Mal nickte sie ihm zu und dieses Mal hielt sie nichts zurück. Trotzdem stockte sie wenige Schritte den Korridor hinab und schaute über die Schulter zurück. Marcus sah ihr nach. Erst, als er ihren Blick auffing, wandte er sich ab. Sie verfolgte noch, wie er in den gegenüberliegenden Korridor verschwand, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte. Sie nahm die falsche Tür, wodurch sie in ein fremdes Zimmer trat und ein Duo Rotschöpfe aufschreckte.

»Oh, Verzeihung!«, haspelte sie schnell und zog sich zurück. Mit heftig klopfendem Herzen und peinlicher Berührung vergewisserte sie sich ihres Standortes, bevor sie es bei der nächsten Tür versuchte.

Mathilde wanderte im Zimmer auf und ab und blieb mit erwartungsvoller Miene stehen, die ins Erschrecken wechselte, als sie das Fehlen der Mutter gewahrte. »Ist Mutter noch nicht zu Bett gegangen?«

»Bitte?« Alice lehnte sich von innen gegen die Tür.

»Mutter? Hast du sie nicht angetroffen?« Mathilde rang die Hände. »Oh, welch ein Unglück!« Sie eilte durch den Raum, um nach ihren Fingern zu fassen. »Du musst hinuntergehen!«

Alice wollte ihren Ohren nicht trauen. Es war schon mehr als riskant gewesen, in den anderen Korridor zu gehen, nach unten würde sie es niemals schaffen, ohne entdeckt zu werden. Sie schüttelte vehement den Kopf. »Das kommt nicht infrage! Wie stellst du dir das überhaupt vor? Soll ich von Raum zu Raum huschen in der Hoffnung, Mutter irgendwie auf mich aufmerksam zu machen?«

Mathilde runzelte die Stirn. »Ich dachte, dass du sie direkt ansprichst.«

Die Schwester war von Sinnen!

»Ich helfe dir, dich anzukleiden.« Sie wandte sich ab, ohne auf Alice’ Zustimmung zu warten, und trat an den Kleiderschrank. »Lass mich sehen, wo ist dein Abendkleid?«

»Tilly …«

»Es gibt keinen anderen Weg, Alice! Verstehst du nicht, was auf dem Spiel steht?« Sie holte das Kleid heraus, das Alice am Abend getragen hatte. Ein weißes, schulterfreies Ballkleid, das genau dem der Schwester entsprach.

»Eile dich«, mahnte sie. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Alice hob abwehrend die Hände. »Nein, Tilly, das geht zu weit. Selbst angekleidet könnte ich nicht hinuntergehen. Mein Haar ist für das Bett gerichtet!«

Mathilde ließ die Hand sinken. »Dann werde ich es aufstecken.«

Alice stöhnte verzweifelt. »Nein«, beschied sie fest. »Ganz gleich, was vorgefallen ist, Mutter wird es heute Nacht nicht richten können.« Sie atmete tief durch und wappnete sich gegen das Aufbegehren der Schwester.

Deren Augen wurden groß und sie stolperte auf sie zu. Das Kleid geriet ihr dabei unter die Füße, was sie schließlich zu Fall brachte. Alice hastete vorwärts, um sich zu ihr zu knien. »Hast du dich verletzt?«

Mathilde schluchzte auf, schüttelte aber den Kopf. »Aber …«

»Was ist denn nun passiert?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Wir können nicht bis morgen warten!«

Alice erinnerte sich an die belustigten Worte des Lords. »Dann rufen wir Maggie. Oder eines der Hausmädchen.«

Tilly riss die Augen auf. »Oh!« Ein Runzeln legte sich auf ihre Stirn. »Das ist keine schlechte Idee.«

Alice seufzte innerlich. »Lass mich an der Kordel ziehen. Bleibt nur zu hoffen, dass es bemerkt wird.«

 

 

 

 

Kapitel 2

Ein unangenehmer Morgen

 

22. Dezember 1824

Alice hatte kurz erwogen, es der Schwester gleichzutun und im Zimmer zu bleiben. Allerdings war es ihr nicht möglich gewesen, nach einer durchwachten Nacht weiterhin die Gesellschaft der Schwester zu ertragen. Mathilde hatte nicht aufgehört zu jammern. Etliche Male war sie in Alice gedrungen, ihre aussichtslose Odyssee zu wiederholen und die Mutter anzuflehen, in ihr Zimmer zu kommen, aber Alice hatte es zu sehr gegraut. Letztlich schämte sie sich für ihre Furcht, denn im Schein der aufgehenden Sonne war ihr das Aufeinandertreffen mit den Gentlemen weniger dramatisch erschienen. Dem ersten hätte sie nur versichern müssen, das Beobachtete zu vergessen, und den zweiten hätte sie ignorieren sollen. Letztlich war sie unbeschadet der Situation entronnen und auch nur von den drei involvierten Edelleuten gesehen worden.

Trotzdem hielt sie es für die richtige Entscheidung, den Weg nicht noch einmal auf sich genommen zu haben, zumal das Hausmädchen, das nach langem Warten auf ihr Klingeln reagiert hatte, die Mutter bereits im Bett vorgefunden hatte. Lady Lichfield hatte den Töchtern ausrichten lassen, dass jegliches Gespräch auf den Morgen verschoben werden würde. Mathilde hatte sich nur nicht damit abfinden wollen. Nun, vermutlich ahnte die Schwester, dass sie die Mutter wohl am nächsten Tag sehen würden, aber keineswegs am Morgen.

Alice seufzte leise. Sie ließ die Treppe hinter sich und folgte dem Gang in den Südtrakt Graystone Manors, wo das Frühstückszimmer untergebracht war. Vor der Tür stand ein Lakai bereit, der sie mit einer Verbeugung einließ. Alice nickte ihm zu. Auf Heverley musste sie die Türen selbst öffnen - sogar die Eingangstür.

Nach wenigen Schritten stockte sie. Es befanden sich drei Personen im Raum. Stephen, die Lady, in deren Zimmer sie ihn erwischt hatte, und Lord Marcus.

Alice flüsterte eine Verwünschung. Wäre sie doch bei der Schwester geblieben!

Die Herren erhoben sich, wobei Lord Marcus deutlich schneller war als der andere Gentleman. Der sie auch noch mit einer säuerlichen Miene bedachte, die ihr heiße und kalte Wellen über den Rücken jagte.

»Guten Morgen, Miss Chesham«, grüßte Marcus jovial. Offenbar bemerkte er nicht, dass die anderen Edelleute in angespanntes Schweigen verfallen waren, denn er strahlte sie an. »Haben Sie Ihre Gnaden, die Duchess of Cumbria, bereits kennengelernt?«

Alice’ Blick schoss zu der Duchess. Wie überaus peinlich!

Die Brauen der Duchess hoben sich über ebenso braunen Augen. Alice versank eilig in einen Knicks. »Euer Gnaden, wie geht es Ihnen?« Klang sie so närrisch, wie sie sich fühlte?

»Miss Chesham, wie erfreulich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Das hielt Alice für eine faustdicke Lüge. Sie räusperte sich verlegen. Ihre Wangen brannten und sie wagte es nicht, den Gentleman anzusehen, während sie ihn begrüßte.

»Und Lord Ainsley.« Marcus’ Stimme trug immer noch heitere Gelassenheit in sich. Bemerkte er tatsächlich nicht, wie unangenehm ihnen das Aufeinandertreffen war?

»Mylord«, krächzte sie.

»Miss Chesham«, grummelte Ainsley.

»Nun kommen Sie, wir beißen doch nicht.« Marcus deutete auf die Stühle ihnen gegenüber. »Mögen Sie Tee? Oder bevorzugen Sie Schokolade zum Frühstück?«

»Schokolade.« Alice tapste nur weiter, weil sie befürchtete, dass ihre Knie jeden Moment den Dienst versagten. In der letzten Nacht war ihr nicht aufgefallen, wie groß die Gentlemen waren, nun aber wirkten sie beinahe bedrohlich, wie sie so über ihr aufragten. Besonders nachdem sie auf einen der Stühle niedergesunken war.

»Nun«, griff die Duchess auf. »Haben Sie gut geruht?«

Alice’ Blick schweifte über Ainsley, dann sah sie der Lady in die aufmerksamen Augen.

»Äh …«, krächzte sie und räusperte sich verlegen. »Nein.«

»Oh. Stephen wird Sie doch nicht verschreckt haben?«

Alice meinte, jeden Moment unter den Tisch zu rutschen, versagten doch nun nicht nur die Knie, sondern auch ihr Rückgrat. Sie schrak zusammen und klammerte sich an den Tisch.

Marcus, der an das Büfett getreten war und eine Tasse mit heißer Schokolade befüllte, schaute zu ihnen herüber.

»Iiich …«

»Vermutlich haben Sie unangemessene Gedanken in Bezug auf unser Zusammentreffen«, stellte die Duchess fest. Alice stöhnte verzweifelt. Ihre Wangen glühten und sie wünschte sich sehnlichst, dass sich der Boden auftäte, um sie zu verschlingen.

»Er ist hin und wieder etwas zu … impulsiv.«

Die Tasse wurde vor ihr abgestellt. Sie spürte seinen Blick und meinte auch, dass der Lord viel zu nahe bei ihr stand. »Ich vermute, Ihnen ist nicht danach, auch etwas zu sich zu nehmen?«

Alice richtete elendig langsam den Blick auf den Lord, konnte sich dann aber nicht dazu durchringen, den Mund zu öffnen. Sie verneinte wortlos.

»Immerhin verstehe ich nun Ihre Aufregung.« Er zuckte die Achseln und grinste breit. »Da waren Sie in unziemlicher Aufmachung im falschen Korridor unterwegs und treffen auch noch auf andere nächtliche Streuner.«

Alice schwirrte der Kopf.

»Sie werden nicht in Ohnmacht fallen, weil ich Sie so frank auf unser Dilemma anspreche, nicht wahr?«, erkundigte sich die Duchess sanft. »Es wäre nicht hilfreich, wenn Sie nun jedes Mal, wenn wir einander begegnen, die Besinnung verlören.«

Alice schüttelte den Kopf, obwohl sie sich gar nicht so sicher war, dass ihre Nerven tatsächlich standhielten.

»Na, Gott sei’s gedankt!«, rief die Duchess. »Lassen Sie mich die Situation bitte erklären.«

»Das ist nicht nötig!«, quietschte Alice schnell. »Es geht mich wahrlich nichts an, was Sie … oder einer der Gentlemen … nachts … anstellen.« Noch mehr Hitze breitete sich in ihrem Gesicht aus.

»Mit Sicherheit nicht«, griff die Duchess auf. »Dennoch ist es mir ein Anliegen, Sie zu beruhigen.«

Alice stöhnte innerlich, sicher, dass es nichts gab, was die Lady sagen konnte, damit sie tatsächlich beruhigt war. Immerhin schlug ihr Herz so fest, dass es schmerzte. »Wie freundlich«, keuchte sie, konnte ihre Gedanken aber nicht zu Ende formulieren.

»Nun, ich arbeite zurzeit an einem gewagten Gemälde«, erklärte die brünette Lady mit Bedacht. »Dazu benötige ich … Anschauungsobjekte.«

Alice blinzelte, sicher, kein Wort verstanden zu haben.

»Lord Ainsley war so freundlich, mir Modell zu stehen.«

Alice blinzelte erneut. »Oh.«

Die Duchess lächelte. »Es ist viel harmloser, als Sie es sich ausgemalt haben, nicht wahr?«

Alice nickte, bemerkte, was sie tat, und schüttelte schnell den Kopf. »Ich habe mir nicht angemaßt, mir irgendwelche Vorstellungen von dem zu machen, was ich gesehen habe.« Allerdings änderte sich das schlagartig. Hitze schoss durch ihren Körper und konzentrierte sich dann wieder auf ihr Gesicht. Lord Ainsley war derangiert gewesen. Sie erinnerte sich deutlich an das offenstehende Hemd und die baumelnden Verschnürungen der Hose. Sie presste die Lider fest aufeinander, um das unerwünschte Bild zu verdrängen. Immerhin brannten ihre Wangen plötzlich nicht mehr lichterloh. Alice fröstelte, weshalb sie die Arme um sich legte.

»Die Fantasie junger Damen …« Die Duchess seufzte. »Ist mitunter ausufernd, nicht wahr?«

»Beunruhigend«, murmelte Alice. »Und geprägt von Katastrophendenken.« Sie griff nach der dampfenden Tasse und hielt sie sich vor das Gesicht. Ihre Finger wärmten sich blitzschnell wieder auf und auch die innere Unruhe legte sich, als das bittere Aroma der Schokolade in ihre Nase stieg. Sie seufzte schwer. »Und nun werde ich mich ständig fragen, wie man denn Modell steht.«

Die Duchess lachte auf. »Oh, die Antwort gebe ich Ihnen gern. Man stellt sich hin und darf eine Ewigkeit lang keinen Muskel bewegen.«

»Klingt nicht vergnüglich.«

Nun lachte auch Lord Marcus. »Miss Chesham, Sie vergessen wohl, dass Sie den Eindruck einer tugendhaften Dame vermitteln müssen.«

Alice nippte an ihrem Getränk und lenkte die Augen auf den feixenden Mann. »Später, nachdem ich mich von diesem Schock erholt habe.«

»Dabei hatten Sie die ganze Nacht, um sich zu fassen«, sagte er, wobei er sie immer noch betrachtete. Sein Kopf legte sich leicht zur Seite und sein Lächeln bekam eine unangenehme Note. Es wurde deutlich zu weich, zu inniglich, oder war es nun wieder ihre Fantasie, die mit ihr durchging?

»Sie belieben zu scherzen, Mylord. Meine Schwester …« Sie brach ab, da sie im Begriff gestanden hatte, Mathildes Gemütsstatus aufzugreifen. Hitze schoss ihr in die Wangen und sie nahm eilig einen kleinen Schluck ihrer heißen Schokolade.

»Ja?«, erkundigte Marcus sich. Er war zu amüsiert. Aber auch so hätte sie kein weiteres Wort über Mathilde verloren. Nach einem langen Moment seufzte er. »Nun, meine Schwestern teilen ihre Geheimnisse auch nur miteinander.« Er zuckte die Achseln. »Mein Bruder hat keine Geheimnisse und die meiner Eltern … sind mir zu pikant.«

Alice verlor kurzzeitig die Contenance. Auf was spielte er da an?

»Nein, nein!«, keuchte sie. »Mathilde hat keine Geheimnisse.«

»Suspekt, oder?« Marcus zwinkerte. »Ich frage mich ständig, ob Lennart tatsächlich so ein Langweiler ist, wie es erscheint.«

Alice starrte ihn an. Es war absolut ungehörig, schlecht über andere zu sprechen. Etwas Abträgliches über den eigenen Bruder zu sagen … Ungeheuerlich!

»Dabei solltest du es doch wissen«, griff nun auch die Duchess auf. »Ihr lebt unter einem Dach.«

»Was nichts bedeuten muss«, murrte Ainsley mit einem Seitenblick zu Alice, die sich gleich wieder hinter ihrer Tasse versteckte.

»Das liegt dann an euch. Ich wusste immer genau, was meine Schwestern und mein Bruder anstellten.« Die Duchess zuckte die Achseln und erhob sich langsam. Die Männer folgten, wie es der guten Sitte entsprach, und nur Alice reagierte nicht. Erst, als die Duchess sich verabschiedete, stolperte sie ebenfalls auf die Füße.

»Moment!«

Sie erhielt lediglich ein Zwinkern zur Antwort, dann war die Duchess auf und davon und Alice befand sich mit zwei Gentlemen zurückgelassen.

»Sie werden sich doch nicht fürchten?«, erkundigte sich Marcus. Beide Männer sahen sie an, da sie sich erst wieder setzen konnten, wenn sie entweder ging oder wieder Platz nahm. Und sie wusste schlicht nicht, für welche der Optionen sie sich entscheiden sollte.

»Selbstverständlich nicht«, murmelte sie mit heftig klopfendem Herzen. Ihre Aufregung war nicht hilfreich und unbegründet. Es war helllichter Tag, sie befanden sich an einem öffentlichen Ort und sicherlich blieben sie nicht lang zu dritt. Alice sank mit zittrigen Knien auf die Sitzfläche und räusperte sich. »Mich überraschte lediglich der abrupte Abschied Ihrer Gnaden. Ich dachte, noch etwas über ihren Bruder …« Als ihr aufging, was sie sagte, klappte sie eilig den Mund zu und warf ihm einen erschrockenen Blick zu.

»Aha!« Er zwinkerte. »Dabei ist Radcliff bereits vergeben.«

»Nein«, krächzte Alice. »Sie verstehen mich absichtlich falsch.«

Sein Grinsen wurde breiter. »Nun, ich habe auch einen Bruder, von dem ich Ihnen gern erzählen werde. Hat sich Ihr Magen beruhigt? Darf ich Ihnen Ihr Frühstück bereitstellen?«

Alice starrte ihn an. Er war viel zu vertraulich, aber es fiel ihr schwer, dies anzuprangern. Er sollte sie mit Respekt behandeln und Abstand wahren. Ganz sicher sollte er sie nicht angrinsen, ihr ständig zuzwinkern oder ihr von Herren abraten. Natürlich war das Gegenteil, also ihr Gentlemen ans Herz zu legen, ebenso ungehörig. Immerhin verband sie nicht einmal eine lose verwandtschaftliche Beziehung! »Meinem Magen geht es ausgezeichnet, aber ich halte es für wenig angebracht, wenn Sie mir aufwarten.« Sie schüttelte den Kopf. »Das führt nur zu Spekulationen und wir sind uns sicherlich einig, dass keiner von uns jene wünscht.« Sie spürte, wie sich auch Ainsleys Blick auf sie richtete.

»Vermutlich nicht«, murmelte er, dann heiterte sich sein strenges Antlitz auf. »Kent ist so trocken, dass er Ihre nächtlichen Spaziergänge sicherlich missbilligen würde.«

Alice ballte die Fäuste unter dem Tisch. »Sie nehmen demnach an …«

Stephen lachte schallend. »Ich bitte Sie! Jede junge Dame lechzt nach einem Titel und der Duke of Kent ist derzeit sicherlich der begehrteste Junggeselle! Sind Sie deswegen spärlich bekleidet im Haus herumgeschlichen?«

Sie klappte den Mund wieder zu. Tödliche Blicke mussten ausreichen, denn ihre Tugend zu beteuern, nachdem er sie bei einer Ungeheuerlichkeit erwischt hatte, war ihr zu peinlich.

»Meine Familie ist selten subtil bei diesen Angelegenheiten«, sagte Marcus, der sich auch wieder gesetzt hatte und an seiner Tasse nippte. Er schaute zu ihr herüber und zuckte die Achseln. »Außerdem durfte ich mir wochenlang alle möglichen Details über diese Gesellschaft anhören. Passende Gäste, Unterbringung, Unterhaltung und …« Seine Lippen verzogen sich spöttisch. »Wie man Lennart geeignete junge Damen vorstellen könnte, ohne dass er misstrauisch wird.« Erneut hoben sich seine Schultern. »Ich bin gewarnt und ziehe ins Ausland, sobald mein Bruder sich eine Braut nimmt.«

Alice hob die Braue. »Warum das?«

Sein Lachen schickte ihr heiße Wellen über den angespannten Leib.

»Meine Geschwister sind verheiratet, meine Cousinen, alle Kinder von Freunden und guten Bekannten … Meine Mutter und meine Tanten werden sich infolgedessen auf mich stürzen.«

Alice runzelte die Stirn. »Wer sagt, dass Sie hier nur schmückendes Beiwerk sind? Vielleicht wollte man Ihnen lediglich zuvorkommen und feiert diese Hausgesellschaft nur, um Sie …«

Marcus lachte schallend. »Miss Chesham, ich werde Sie von meiner Familie fernhalten müssen, um ihnen diesen Floh nicht noch ins Ohr zu setzen – für den Fall, dass Sie die Bagage doch nicht durchschaut haben.«

Ainsley murmelte einen Fluch. »Wie intrigant.« Seine Wangen waren deutlich blasser als noch wenige Augenblicke zuvor und seine aufgerissenen Augen bezeugten, dass er sich ebenfalls als Opfer weiblicher Ränke betrachtete. »Deine Schwestern haben mich gestern den ganzen Tag mit Beschlag belegt und ich habe gleich vier Backfische begrüßen müssen.« Sein entsetzter Blick streifte Alice.

»Du machst dir zu viele Gedanken«, wiegelte Marcus fröhlich ab. »Letztlich kann dich niemand zwingen, dich einer jungen Dame zu erklären.« Sein Blick schweifte ab, als hinter ihr die Tür geöffnet wurde. Alice bezwang sich, sich auf ihrem Stuhl nicht herumzudrehen.

»Guten Morgen!«, grüßte eine männliche Stimme, die sie beinahe stöhnen ließ. Zwar war es nicht unziemlich, mit mehreren Herren zu speisen, aber unangenehm war es schon. Zumal sie auch den Neuankömmling an der Stimme nicht erkannte.

»Jonathan, guten Morgen. Kennst du bereits Miss Chesham?«, fragte Marcus.

Alice klappte der Mund auf. Sie hatte ganz das Gefühl, als sei er in diesem Haus der Kuppler. Der Gentleman trat an ihre Seite und hielt ihr die Hand hin. Unnötig bei einem Aufeinandertreffen am Frühstückstisch, dennoch überließ sie ihm die Finger, während sie aufstand, um einen Knicks zu machen.

»Lord Jonathan Cavendish«, stellte Marcus ihn vor, während jener einen Diener machte. Dabei grinste er ähnlich verschmitzt wie Marcus.

»Es ist Honourable Mr und nicht Lord«, berichtigte Jonathan schnell.

»Das Los der Zweitgeborenen«, bemerkte Marcus. Er stand auf, um sich Kaffee nachzugießen. »Miss Alice, darf ich Ihnen noch etwas bringen?«

»Da Sie es ansprechen«, griff sie unangenehm berührt auf. »Ich bin die Tochter eines Barons, also ist es unnötig, mich zu bedienen. Ich habe zwei gesunde Beine, ebenso funktionsfähige Hände und lediglich der Umstand, dass die Herren aufstehen müssen, sobald ich es tue, hindert mich daran, mich selbst zu versorgen.«

Ainsley pfiff. »Noch eine unkonventionelle Duchess? Übersteht deine Familie weitere Skandale?«

Alice gefror das Herz. Was war das für eine ungehörige Annahme? Und wie konnte er es wagen, sie auch noch auszusprechen? Zumindest Mr Cavendish war in die Ereignisse der letzten Nacht nicht eingeweiht, da war es unnötig und herabwürdigend, dass er weiter in sie eindrang! »Was reden Sie da für einen Unsinn, Lord Ainsley?«, keuchte sie.

»Regen Sie sich nicht über ihn auf, Miss Chesham, Stephen ignoriert gern Sitte und Anstand.«

Marcus stellte dennoch eine Tasse frischer Schokolade vor ihr ab. »Und was die Selbstbedienung anbelangt: Nicht in diesem Haus. Aber …« Er hob den Blick, um den dritten Mann anzuschauen, der sich ebenfalls zum Büfett begeben hatte, um sich sein Frühstück zu bereiten. »Lynnwood wird sich zu uns gesellen?«

»Natürlich. Warum?« Jonathan sah zu ihnen und musterte Alice. »Was hat Miss Chesham dir getan, dass du sie mit meinem Bruder verkuppeln willst?«

Marcus lachte, was erneut eine merkwürdige Reaktion in ihr auslöste. Fast ein Beben, das sie zittern ließ. Irritiert verschränkte sie die Hände, um sie zu ringen.

»Selbst unsere Mutter denkt nicht daran, ihn einer arglosen jungen Dame aufzuzwängen«, fuhr Jonathan fort, als er seine Tasse zum Tisch brachte.

Ainsley begann zu gackern, was Alice’ Blick auf ihn zog. Er hielt sich den Bauch und beugte sich vornüber.

»Tja«, machte Marcus unbeeindruckt. »Miss Chesham merkte an, dass wir uns eventuell in einem Possenspiel befinden, in dem wir denken, unseren Verwandten zu helfen, Lennart – und Matthew – an den Altar zu bringen, aber die eigentlichen Ziele selbiger Ränke wären.« Er zuckte die Achseln. »Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich genug über die infrage kommenden Damen gehört, während Lennart fein raus ist. Wenn dein Bruder anreist, werden sich die beiden sicherlich wie üblich verschanzen und uns bleibt es überlassen, die Debütantinnen zu beschäftigen.«

Jonathan setzte sich, schob den Stuhl heran und griff nach dem Besteck. »Ich bewundere deine Mutter und habe höchsten Respekt vor deinen Schwestern, aber ich werde Reißaus nehmen, wenn sich dein Verdacht bewahrheitet.« Seine Augen richteten sich auf sie, was sie blinzeln ließ. Sie hatten die warme Farbe von Schokolade. Sie senkte den Blick auf ihre Tasse, verglich es sogleich und hob ihn wieder. Jonathan verdrehte seufzend die Augen. »Miss Chesham, Sie sind sicherlich eine nette und interessante Person, aber ich habe nicht vor, allzu bald an den Altar zu treten. Sollte man mich also anpreisen, ignorieren Sie das bitte. Ach, für ihr eigenes Seelenheil sollten Sie sich auch nicht einreden lassen, dass Matthew eine gute Partie wäre.«

»Ich wünschte, ich könnte auch einfach abreisen.« Alice’ in Verzweiflung getränkte Worte unterbrachen ihn und brachten Marcus zum Lachen.

»Ich denke bereits darüber nach«, mischte sich Ainsley ein. »Verflixt, dass man vor den Hyänen nirgendwo sicher ist!«

»Oder vor Männern?« Alice schüttelte den Kopf. »Es wird nicht schwer sein, unerwünschten Begegnungen aus dem Weg zu gehen, und einen Gruß werden Sie sicherlich überstehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es kann nicht ganz überraschend kommen, dass Hausgesellschaften genutzt werden, um sich besser kennenzulernen.« Da ihr augenblicklich ihr erstes Zusammentreffen in den Sinn kam, heizten sich ihre Wangen auf.

---ENDE DER LESEPROBE---