Verbrannte Zungen - Neil Krolicki - E-Book

Verbrannte Zungen E-Book

Neil Krolicki

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Beschreibung

"Das Schlimmste, was Ihnen passieren könnte, ist, dass Sie dieses Buch lesen und sofort jedes Wort bejubeln. Ich hoffe, dass Ihnen hin und wieder einige Worte dieses Buches, das Sie in Händen halten, im Halse stecken bleiben werden." Chuck Palahniuk Eine Sammlung voller mutiger Geschichten. Tabuthemen, einzigartige Erzählstile, drastischer Sprache und ein untrügliches Händchen für das Risiko. Das alles und viel mehr zeichnet die Geschichten in diesem Buch aus. Dem Auftakt zu einer Reihe wagender Geschichten, an denen man sich die Zunge verbrennen kann. "Man schreibt nicht, um sich Freunde zu machen." Chuck Palahniuk

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Chuck Palahniuk

VERBRANNTEZUNGEN

Copyright der Originalausgabe © 2014 by Medallion Press

Herausgegeben von Chuck Palahniuk, Richard Thomas und Dennis Widmyer

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de) in Zusammenarbeit mit Gloria Goodman.

Übersetzt aus dem Englischen von Katrin Reichardt

1. Auflage Mai 2016

©opyright by U-line

TitelbildPhotography | Retouch: Abstrusa – www.abstrusa.de

Model: Carlin Mimicri – www.facebook.com/model.carlin.mimicri

Typografie: Agnieszka Szuba, www.tbwcreative.com

Lektorat: Nici Leonhardt

E-Book-Gestaltung: Nicole Laka – www.nima-typografik.de

Der Verlag dankt allen an diesem Projekt beteiligten, denn ohne jeden einzelnen von Euch wäre dieses Projekt nicht zustande gekommen!

ISBN: 978-3-944154-45-9

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher

Genehmigung des Verlags gestattet.

Möchtest Du über unsere Neuheiten auf dem Laufenden bleiben? Oder möchtest Du uns sagen, wie Dir das Buch gefallen hat? Sende uns eine Email an [email protected]. Wir freuen uns!

U-line UG (haftungsbeschränkt)

Neudorf 6 | 64756 Mossautal

www.u-line-verlag.de

4 Chuck Palahniuk Die Macht der ­Beharrlichkeit – Ein Vorwort

12 Von den Herausgebern Dennis Widmyer und Richard ThomasDie Entstehungs­geschichte von Burnt Tongues

15 Neil Krolicki Die Pechmarien

34 Chris Lewis Carter Charlie

49 Gayle Towel Papier

66 Tony Liebhard Paarungsrufe

91 Michael de Vito Jr. Melody

106 Tyler Jones B wie Betrüger

132 Phil Jourdan Im Kopf des Soldaten

148 Richardt Lemmer Zutaten

Chuck Palahniuk DIE MACHT DER BEHARRLICHKEITEIN VORWORT

Meine liebsten Bücher sind die, die ich nicht zu Ende gelesen habe. Viele von ihnen fand ich beim ersten Durchgang furchtbar: Der Tag der Heuschrecke, 1984, Schlachthof 5. Sogar Jesus’ Sohn las sich für mich so befremdlich, dass ich aufgab und das Buch beiseitelegte. Die Highschool ließ mich Der große Gatsby und die Geschichten von John Cheever hassen. Ich war damals eine fünfzehnjährige Pickelfabrik. Wie sollte ich die verbitterte Desillusionierung des dreißigjährigen Nick Carraway begreifen? So, wie ich aufwuchs, in einem Trailer, der eingepfercht zwischen einem Staatsgefängnis und einem Atomreaktor stand, erschien mir ­Cheevers vornehme Welt der Country Clubs und Pendlerzüge unwirklicher als das Land Oz.

Nach einigen Jahren und vielen Fehlstarts dieser Art, stieß ich auf eine Ausgabe von Brett Easton Ellis’ Die Informanten, die ich schon fast vergessen hatte, und las sie in einem Rutsch von vorne bis hinten. Seitdem habe ich das Buch immer wieder gekauft, um es an Freunde weiterzugeben, unzählige Exemplare davon, immer mit der Vorwarnung: «Anfangs wirst du es hassen …»

Ich möchte ja nicht angeben, aber ich habe einmal mit Ellis zusammen zu Abend gegessen und bei diesem Anlass fragte er mich, auf Fight Club bezogen: «Wie fühlt es sich an, dass aus einem Ihrer Bücher ein guter Film gemacht wurde?» Damit spielte er auf die Verfilmung seines Buches Unter Null an, die damals allseits kritisiert wurde. Kurioserweise habe ich mir den Film erst vor Kurzem angesehen – die Bangles singen «Hazy Shade of Winter», ach, und die schmalen Krawatten und die dicken Schulterpolster, ach, und die Hosen mit Bügelfalten – und ich musste weinen, so sehr hat er mich bewegt. Ein Teil meiner Rührung war sicherlich nostalgischen Gefühlen geschuldet. Aber auch der Tatsache, dass ich klug oder alt oder offen genug geworden war, um auch eine Geschichte schätzen zu können, die nicht ausschließlich von mir selbst handelt.

Junge Menschen wollen Spiegel. Ältere Menschen wollen Kunst. Wenn ich mich, meine Welt, nicht in Cheever oder Gatsby wiederfand, dann lehnte ich sie ab.

Anders argumentiert: Ich habe nicht von Anfang an eine Brille getragen. Während der ersten drei Jahre auf der Highschool verfluchte ich regelmäßig die Idioten, die auf die Idee gekommen waren, die Uhren so weit oben an den Wänden aufzuhängen. Also wirklich, warum eine Uhr so hoch hängen, dass niemand mehr die Zeit ablesen kann? Dasselbe galt für Basketballkörbe. Das Spiel verlangte, dass man einen Basketball in Richtung eines Dings beförderte, das so weit weg hing, dass man es kaum sehen konnte. Ein sinnloses Spiel, ersonnen von Verrückten.

Doch mit acht Jahren bekam ich meine erste Brille und plötzlich ergab die Welt wieder einen Sinn. Uhren waren nicht mehr nur ein verschwommener, weißer Fleck an der Wand. Das unerklärliche Geräusch, das immer entstand, wenn ein Spieler einen Fehlwurf hinlegte – ich begriff, dass es von einem Netz am Basketballkorb stammte, dass ich noch nie zuvor gesehen hatte. Anfangs verursachte mir die Umstellung einige Kopfschmerzen, doch ich gewöhnte mich schließlich daran.

Das Gute ist, dass wir alle erwachsen werden. Selbst ich wurde erwachsen. Jedes Jahr aufs Neue schlage ich Slaves of New Yorkoder Der Tag der Heuschrecke oder sogar Jesus’ Sohn auf und erfreue mich daran, als wären es gänzlich andere Bücher. Selbstverständlich sind es nicht die Bücher, die sich verändern, sondern ich bin es.

Ich bin derjenige, der noch einige Überarbeitungen nötig hat.

Trifft das nicht auf uns alle zu?

Hiermit spreche ich mich gegen vorschnelle, erste «gute» oder «schlechte» Eindrücke aus. Starke Literatur wird dem Leser im Gedächtnis bleiben. Die Zeit vergeht und die Leser verändern sich. Was in einer Epoche noch als geschmackvoll gilt und problemlos akzeptiert wird, kann schon in der nächsten rundweg abgelehnt werden. Anfangs mag das Publikum, das bereit ist, sich auf gewagte Literatur einzulassen, noch klein sein, aber es wird mit der Zeit immer weiter wachsen.

Eine klassische, langlebige Geschichte zeichnet sich vor allem dadurch aus, wie sehr sie die zu ihrem Erscheinen existierende Kultur aufgerüttelt hat. Nehmen wir beispielsweise Harold und Maude und Nacht der ­lebenden Toten – beide wurden von der Kritik zerrissen und als geschmacklos abgetan, aber sie haben überlebt und wurden zu etwas genauso wohlig-angenehmem wie alte, muffige Ausgaben von Readers Digest.

Wir kehren immer wieder zu Büchern oder Filmen zurück, die uns beunruhigt haben, weil sie nicht so leicht zu verdauen sind – der Stil und die Themen dieser Geschichten verändern sich, aber, wenn man sich bereitwillig auf sie einlässt, kann man in ihnen eine Bereicherung fürs Leben finden. Das Schwierige, Neue und Originelle schafft sich seine eigene Daseinsberechtigung. Junge Menschen werden von dem natürlichen Impuls angetrieben, sich selbst so schnell wie möglich zu vervollständigen – mit Hilfe von Objekten, die leicht erreichbar sind, mit Fast Food, und die Köpfe mit gedruckten / heruntergeladenen Informationen aus zweiter Hand zu füllen, als müssten wir bis zu unsrem Lebensende nie wieder etwas kaufen, essen oder etwas Neues lernen. Dieses Ziel zu erreichen ist an sich eine Art Tod. Im mittleren Alter sind unsre Leben überladen mit billigem, leicht verfügbarem Kram. Wie Nick, der Erzähler im Gatsby, sind die meisten von uns mit dreißig in unsrem hastig aufgebauten Selbst gefangen.

In mittleren Jahren sind wir entweder mit Entrümpeln oder mit Diäten beschäftigt. Ach, könnte ich mir doch nur etwas Hirn absaugen lassen, um all die trivialen Fakten loszuwerden, die noch immer in meinem Kopf herumspuken.

Denken Sie an all die Filme, die ihnen viel bedeuten. Wenn sie genau überlegen, gibt es bei diesen Geschichten Teile, die sie einfach überspringen, und Teile, die sie immer wieder ansehen. Welche Teile das sind, ändert sich mit ihren Stimmungen, aber das Extreme bleibt. Das, wogegen wir uns widersetzen, hat beharrlich Bestand.

Für dieses Zitat gebührt allerdings nicht mir Anerkennung. Es wurde früher in EST-Psychotrainigskursen verwendet. Zumindest habe ich es dort zum ersten Mal gehört. Trotzdem kann man es immer wieder wiederholen.

Das, wogegen wir uns widersetzen, hat beharrlich Bestand.

Das Schlimmste, was Ihnen passieren könnte, ist, dass Sie dieses Buch lesen und sofort jedes Wort bejubeln. Ich hoffe, dass Ihnen hin und wieder einige Worte dieses Buches, das Sie in Händen halten, im Halse stecken bleiben werden. Oder auch öfter. Mögen einige dieser Geschichten sie beunruhigen und Narben bei Ihnen hinterlassen. Ob Sie die Geschichten nun mögen oder verabscheuen, ist unerheblich. Sie haben diese Worte bereits mit Ihren Augen berührt und dadurch werden sie ein Teil von Ihnen. Selbst, wenn Sie die Geschichten hassen, werden Sie irgendwann wieder zu ihnen zurückkehren, weil sie Sie dazu herausfordern und anregen werden, ein größerer, mutigerer, dreisterer Mensch zu werden.

Die verbreitetste Schwäche unter Autoren, die ich zu Beginn ihrer Karrieren kennengelernt habe – in Workshops oder Kursen – war die Unfähigkeit, andauernde, unaufgelöste Spannung zu tolerieren. Aufstrebende Schriftstelle scheuen sich anfangs vor eskalierender, dauerhafter Unbehaglichkeit in einer Geschichte. Sie schaffen optimale Voraussetzungen für herrliche, potentielle Katastrophen – um ihnen dann eilig aus dem Weg zu gehen. Die meisten dieser Autoren haben eine unschöne Vorgeschichte. Nichts treibt einen Menschen so effektiv in die geheime, innere Welt der Schriftstellerei wie eine schlimme Kindheit und nachdem diese Menschen sich schon in frühen Jahren mit unfähigen Eltern oder Gewalt oder Armut auseinandersetzen mussten, gehen diese jungen Menschen klugerweise jedem weiteren Konflikt aus dem Weg. Diese Menschen entwickeln eine ausgeprägte Fähigkeit dafür, Wogen zu glätten und Konfrontationen zu meiden. Stellen Sie sich ein Flugzeug vor, dass mit 50 Stundenkilometern die Startbahn entlangrollt und nie länger als zwei Meter weit fliegt. Jetzt fragen Sie sich folgendes: Würden Sie einen solchen Flug von Los Angeles nach New York buchen? Wenn ein Schriftsteller es nicht schafft, Spannungen bereitwillig zu akzeptieren und mit ihnen zu leben, wird seine Arbeit unweigerlich flach und ausdruckslos bleiben.

Einer der Vorteile der Schriftstellerei ist es, dass man sich wieder an Unbehaglichkeit gewöhnen kann, aber auf die angenehmste Art und Weise. Sie sind nicht mehr dieses kindliche Opfer. Sie dürfen den Konflikt erschaffen und kontrollieren. Über Wochen und Monate hinweg steigern Sie die Spannung und am Ende dürfen Sie sie auflösen. Andererseits wird vom Leser erwartet, dass er Ihr vollendetes Werk in einer weitaus kürzeren Zeitspanne erlebt, als Sie dazu benötigten, es zu erschaffen. Es ist kein Wunder, dass es bei manchen Büchern eben solange dauert, sie zu verdauen, wie es dauerte, sie zu produzieren. Fitzgerald brauchte vielleicht einige Jahre, um Der große Gatsby zu schreiben, doch ich musste es jahrzehntelang lesen, bevor ich mich endlich in den unglücklichen Erzähler hineinversetzen konnte.

Ob Sie nun Tage oder Jahre brauchen, um diese Geschichten zu lesen – sie wären nie in diesem Buch gelandet ohne die Schriftstellergemeinschaft, die Dennis Widmyer, Mirka Hodurova, Mark Vanderpool und Richard Thomas ins Leben gerufen haben. Über ein Jahrzehnt schon leiten sie ein Online-Unterstützungssystem, dass Schriftstellern auf der ganzen Welt die Möglichkeit gibt, in Workshops an ihren Werken zu arbeiten, andere Autoren kennenzulernen und ihre Fähigkeiten zu verbessern. Die Geschichten in diesem Buch wurden dem Feedback hunderter Kollegen ausgeliefert, haben überlebt und sich dadurch verbessert. Selbst meine Ratschläge konnten sie nicht verderben. Joy Williams, eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen, sagte einmal: «Man schreibt nicht, um sich Freunde zu machen.» Dem schließe ich mich an, und trotzdem stimmt es nicht ganz. Man gewinnt durch die Arbeit auch Freunde.

Ich hoffe, dass Ihnen deren Geschichten gefallen werden. Mir gefallen manche jetzt schon, andere werde ich irgendwann in der Zukunft mögen. Der Geschmack ­ändert sich. Für den Rest meines Lebens wird ein anderes Ich von mir dieses Buch wieder und wieder zur Hand nehmen, jede Seite noch einmal lesen, ohne jemals das Gefühl zu haben, damit fertig zu sein – weil ich selbst niemals fertig bin. Irgendwann werden Sie und ich dieses Buch lieben – das ganze Buch. Diese Geschichten können uns neue Welten zeigen, wie ein Dutzend unterschiedlicher Brillen. Und die Zukunft verursacht zu Anfang immer Kopfschmerzen.

Von den Herausgebern Dennis Widmyer und Richard Thomas DIE ENTSTEHUNGS­GESCHICHTE VON BURNT TONGUES

Was genau bedeutet eine verbrannte Zunge? Ursprünglich stammt die Idee von Tom Spanbauer und einem seiner ausgezeichneten Schüler – richtig geraten, Chuck Palahniuk. Auf Palahniuk und seine Schüler wurden schon viele Begrifflichkeiten verwandt – beispielsweise grenzüberschreitend, minimalistisch oder grotesk – und sie treffen mit Bestimmtheit allesamt zu. In einem Artikel in LA Weekly definiert Chuck Palahniuk die verbrannte Zunge als «eine Möglichkeit, etwas zu sagen, es jedoch falsch zu sagen, es zu verdrehen, um den Leser auszubremsen. Den Leser zu zwingen, etwas genau zu lesen, vielleicht auch zweimal, nicht nur flüchtig über eine Oberfläche aus abstrakten Bildern, verkürzten Adverbien und Klischees zu gleiten.» Und genau das war immer das Ziel unserer Workshops: Geschichten zu schreiben, die einen innehalten lassen, Aufmerksamkeit erregen, einen dazu bringen, über das, was man gerade gelesen hat, nachzudenken, es noch einmal zu lesen, die Emotionen zu spüren, die aus der Geschichte, aus den Worten entstehen.

Schon 2004 spielten wir mit einer Idee bezüglich des Workshops für talentierte Autoren auf The Cult und den Lektionen und Essays von Chuck Palahniuk. Als Chuck Jahre später erwähnte, dass er die Arbeiten der Autoren gerne lesen und ihnen Feedback geben würde, wussten wir, dass das etwas Großes werden könnte. Unsren angehenden Autoren würde eine seltene Gelegenheit zu Teil werden. Auch im Workshop wurde die Idee begeistert aufgenommen. Du beim Lesen der Geschichten, die uns Monat für Monat erreichten, erkannten wir das große Potential unsres Vorhabens – so viele talentierte Autoren, so viele einzigartige Geschichten und Perspektiven.

Innerhalb von zwölf Monaten, von 2010 bis 2011, sichtete ein Team aus engagierten Lesern all die Geschichten, die uns aus dem Workshop erreichten (über hundert im Monat) und suchten jeweils sechs Stück aus, was pro Monat etwa fünfzehn bis zwanzig Geschichten ergab (manchmal wurde eine Story gleich von mehreren Lesern ausgewählt). Aus diesen Geschichten (auf der «Großen Liste») wurden die sechs Besten ausgesucht, die anschließend an Chuck weitergeschickt wurden. Er las und bewertete diese Geschichten und seine Anmerkungen wurden wiederum auf der Webseite veröffentlicht, damit andere sie lesen und damit arbeiten konnten, und die jeweiligen Werke noch besser, noch stärker und reif zur Veröffentlichung werden konnten.

2011 stellten wir Chuck schließlich die zweiundsiebzig besten Geschichten vor und aus dieser Liste mit Finalisten wählte er die seiner Meinung nach stärksten Stories aus, die er für diese Anthologie am geeignetsten erachtete – und genau das sehen Sie nun vor sich, das finale Manuskript, Verbrannte Zungen.

Auf dem Weg zu diesem Buch gab es immer wieder Fehlstarts oder lange Perioden der Stille, aber wir wussten, dass dieses Projekt weiterleben musste. Also blieben wir dran, überarbeiteten unsre Angebote und fanden immer neue Wege, die Anthologie am Leben zu erhalten. Wir schuldeten es den Autoren in diesem Buch, unser Bestes zu geben – diese Geschichten mussten das Tageslicht erblicken, und würden, wenn sie erst einmal veröffentlicht wären, den Autoren helfen, ins Rampenlicht zu treten. Zwischen den ersten Überlegungen zu diesem Projekt und heute haben bereits mehrere der Autoren, die hier vertreten sind, Agenturen gefunden, wurden von Verlagen unter Vertrag genommen und haben weitere Geschichten veröffentlicht. Unsre Instinkte haben uns also offenbar nicht getrogen.

Wir hoffen, dass Ihnen die Geschichten in dieser Sammlung gefallen – sie sind allerdings nichts für Zartbesaitete. Doch wir sahen in ihnen einzigartigen Perspektiven Tiefe, Charakter und Wahrhaftigkeit. Es sind kraftvolle Geschichten, die Ihnen hoffentlich lange Zeit nicht mehr aus dem Kopf gehen werden.

Neil KrolickiDIE PECHMARIEN

Man mischt einen Teil Badesalz mit zwei Teilen Insektenvernichtungsmittel. Wieviel Zeit einem anschließend noch bliebt, darüber sind sich die verschiedenen Webseiten uneins. Corine schaltet ihren iPod ein und eigentlich dürften wir es höchstens bis zum sechsten Song ihrer «Die Welt ist grausam»-Playliste schaffen. Dana ändert von ihrem Handy aus ihren Facebookstatus in «Dana macht jetzt endgültig die Biege». Sie tippt ihren letzten Tweet: «XOXO, alles ist vergeben … Nur ein Witz.» Corines letzter Blogeintrag beginnt mit der Zeile: «Fühlt euch schrecklich, ihr alle. Und gebt euch selbst die Schuld.» Wir haben über den Text abgestimmt. Von den beiden potenziellen Vorschlägen war dieser der, na ja, melancholischste.

Man begriff den Inhalt dieser Seiten erst, nachdem man Japanisch – Englisch ausgewählt und auf übersetzen geklickt hatte. Zwar waren die Texte auch dann noch schwer zu lesen, aber man verstand im Großen und Ganzen, worum es ging. Dieses Rezept ist, laut Internet, erprobt und verlässlich. Wenn man es las, erschien einem Selbstmord so unspektakulär wie ein asiatischer Kompaktwagen. Kein Wunder, schließlich sehen die Japaner das mit dem Selbstmord viel lockerer als die meisten anderen Völker. Man verliert seinen Job, all sein Geld, kann seine Kinder nicht mehr ernähren – und keinen wundert’s, wenn man sich deshalb ein Weilchen in der geschlossenen Garage in sein laufendes Auto setzt. Oder sich in den Mund schießt oder von einem richtig hohen Gebäude springt. Oder wenn man ein paar Chemikalien zusammenschüttet, die man eigentlich nicht mischen sollte, und sich mit ihnen in einen geschlossenen Raum setzt. Damit hat man dort kein Problem. Es wird sogar als ehrenhaft angesehen.

Das mit der Waffe oder dem hohen Gebäude hat uns nie gereizt, denn dann könnte die weinende Beerdigungsgesellschaft um eine armselige Urne mit ordentlich verpackten, eingeäscherten Überresten herumsitzen. Nur ein Bild, aufgenommen bei einem Schulball, würde die Hinterbliebenen an uns erinnern. Doch so leicht lassen wir sie nicht davonkommen.

Die Reporterin, die vor einigen Wochen im Fernsehen über die vielen Japaner berichtete, die sich mit Reinigungsmitteln umbrachten, lieferte zwar keine direkte Anleitung, gab uns jedoch genug Informationen, um das Thema gezielt zu googeln. «Hunderte von Japanern töteten sich mit einer Mischung aus diesem Badesalz (man beachte die Einblendung oben rechts) und diesem schwefelhaltigen Pestizid (Einblendung unten links).»

Für jede praktische Selbstmordanleitung, welche die japanischen Sicherheitsbehörden vom Netz nahmen, tauchten sofort fünf neue auf. In diesem Land werden eben nicht nur die vielen netten Technikspielerein erfunden, die einem das Leben erleichtern, sondern auch Wege, die einem das Ableben einfacher machen.

Easy. Peasy. Japanesey.

Lange, bevor es ans Mischen ging, hast du heimlich die Visakartennummer deiner Mutter besorgt, und ganz oben im Ritz in der Innenstadt eine Hammersuite gebucht. Dem Kerl am Empfang hast du weiß gemacht, dass deine Eltern erst am Abend eintreffen werden, und er dir darum problemlos schon einmal die Zimmerkarte geben kann. Du und deine beiden Freundinnen, ihr wollt es euch bis dahin noch ein bisschen gemütlich machen. Bezahlfernsehen schauen.

Im Zimmer springst du erst einmal auf das große Bett. Dann ziehst du die Vorhänge auf und genießt einen kurzen Augenblick die Aussicht, ehe du beginnst, die meterlange Plastikfolie aus Danas Koffer zu zerren.

PS: Der nächste Teil dauert länger, als man denkt.

Eine von uns ist auf die luxuriöse Toilettenschüssel aus Porzellan geklettert, und hält das Ende dieser an einen Duschvorhang erinnernden Folie an die Decke. Die andere zieht ungefähr eine Armlänge des silberfarbenen Klebebandes ab, reißt es mit Hilfe ihrer Zähne durch, und klebt die Folie fest. Man bringt die Plastikfolie in überlappenden Schichten an, damit sie auch wirklich hermetisch abschließt und alles bedeckt: das edle Waschbecken aus Quarzstein, die ­Deckenleuchten, die für angenehm diffuses Licht sorgen, und den Marmorfußboden.

Alles außer der Whirlpool-Badewanne mit achtzehn Massagedüsen.

Es ist ganz schön kniffelig, dieses Badezimmer in ein luftdichtes Kondom mit drei Mädchen im Inneren zu verwandeln. Aber wenn man nicht alle Hunde und Katzen im Hotel umbringen und es nicht auf eine Massenevakuierung von kotzenden und röchelnden Hotelgästen anlegen will, kommt man um diese Maßnahme nicht herum.

Außen an der Badezimmertür hängt Corines selbstgezeichnetes Warnschild mit Totenkopf und dem Hinweis: Giftgas – Nicht betreten! Sollte die Putzkolonne morgen früh eintreffen, wissen die Hausangestellten sofort, dass sie nur in einem dieser Schutzanzüge mit eingebauter Gasmaske ins Bad gehen dürfen. Dana findet, wir hätten auch noch einen Warnhinweis auf Spanisch hinzufügen sollen.

Corine bekommt ihre Finger nicht in die kleinen Trage­griffe der Kanister hinein, weshalb wir die Aufgabe übernehmen, die schweren Behälter aus dem Rollkoffer zu hieven und deren Inhalt in die Badewanne zu kippen. Auf den Etiketten sind Ameisen und Käfer abgebildet, über die ein roter, durchgestrichener Kreis gedruckt ist. Corine beginnt, das Badesalz in die Wanne zu kippen, leert de erste Packung, dann die zweite und die dritte. Wir atmen zum letzten Mal reine Luft ein. Dann drückt Corine den Knopf für die Düsen. Anschließend schaltete sie mit demselben, dicken Finger den iPod ein.

Ihr kennt Corine aus dem Internet. Wenn nicht, dann geht ihr wohl nicht auf die Watson Middle School. Nur kennt man sie dort nicht als Corinne, sondern unter dem Namen Muschi-Lover. Corine hat immer darauf beharrt, dass dieses Video, das ihr online gesehen habt und das ungefähr eine Million Mal gepostet und geteilt und per Mail verschickt und weitergeleitet wurde, ein Fake ist. Den Vollidioten, die ihr in der Schulmensa hinterher grölten und sich anzüglich die Lippen leckten, schrie sie entgegen: «Es war nicht so, wie ihr denkt! Ich würde so etwas niemals tun!»

Doch sie skandierten unbeeindruckt: «Muschi-Lover! Muschi-Lover!» Die ganze Pause über fabrizierten sie Schlürfgeräusche und miauten dazu.

Darum verbringt Corine ihre Pausen auf einem Stapel Altpapier vor dem Supermarkt, drei Blocks entfernt von der Schule, damit niemand mehr über sie lästern kann. Damit niemand die drei Sandwiches mit Roastbeef ­sehen kann, die sie dabeihat, und die Tüte mit Doritos und die vier Schokoladentörtchen und die Diät­limonade.