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Mareike und Paul genießen das Leben. Das junge Paar hat außer materiellem Wohlstand auch noch eine gut geratene, sehr intelligente kleine Tochter. Sie besitzen Freunde und sind gesellschaftlich anerkannt. Dann taucht eines Tages ein Mann bei ihnen auf, der sich einmal Lukas Roth und dann wieder Lukas Morgen nennt. Ab diesem Zeitpunkt ist nichts mehr so wie es sein sollte. Beide Partner verstricken sich in Lügen und bald bahnt sich eine ungeheuerliche Katastrophe an, bei der nicht nur die Werte des jungen Paares völlig auf den Kopf gestellt werden, sondern bei der es sogar um das Leben ihres Kindes geht… Wer ist dieser geheimnisvolle Mann? Und wieso steht Mareike mit der Waffe in der Hand vor einer blutüberströmten Leiche? Wird Paul am Ende seine Familie im Stich lassen und den Weg einer Schwindel erregenden Karriere gehen? Sie kämpfen einen Kampf, dessen Ausgang so ungewiss ist, wie das Leben selbst…
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Seitenzahl: 343
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Ingrid Neufeld
Verfangen
Im Netz des Bösen
Dieses eBook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Fast perfekt
Am Existenzminimum
Die Botschaft
Steine auf dem Herzen
Ein guter Kern
Unheimlich
Die Versuchung
Gewissensbisse
Schwierige Verhältnisse
Verkauft
Ein winziger Augenblick
Der Visionär
Rachegelüste
Betäubt
Karriere
Keine Einsicht
Wut
Entführt
Friedenswunsch
Eingesperrt
Erpresst
Gebet
Im Keller
Qual
Ungeplant
Entkommen
Schlechtes Gewissen
Tiefe Sorge
Geänderte Planung
Irritation
Machtfantasien
Verlockungen
Schweigen
Rache
Schreckliches Geschehen
Schuld
Klärung
Impressum
Prolog
Der Mann am wuchtigen, sorgfältig polierten Mahagoni-Schreibtisch hätte der Chef eines großen Konzerns sein können. Der Nadelstreifen-Anzug saß perfekt. Er hatte das energisch wirkende Kinn und die entschlossenen Augen von karrierebewussten Führernaturen. Das gewisse Etwas des ehemaligen französischen Staatschefs Sarcozy und das Charisma von Barack Obama vereinten sich in seinem Gesicht zu einer optimalen Mischung aus Charme und Entschlossenheit.
Doch diese Person war mehr als nur der Chef eines großen Unternehmens, er war Chef eines riesigen Imperiums, einer unüberschaubaren Maschinerie, die die Welt mit einem ausgeklügelten System in Atem hielt.
Ein System das niemand durchschaute und jeder in Abrede stellte. Diejenigen, die mit ihm zu tun hatten, beschrieben ihn als attraktiv, beeindruckend und sehr faszinierend. Niemand hätte ihm Attribute wie skrupellos, hinterhältig, unsympathisch, oder auch nur unzuverlässig zugeschrieben.
Es war die Art wie er Macht ausstrahlte, seine Art zu gehen, sich zu bewegen, ja mit den Menschen umzugehen. Jeder wurde sofort von ihm eingenommen. Die Leute begegneten ihm mit Sympathie und erhofften sich viel von ihm.
Professor Dr. Dr. Lukas Morgenroth war eine Kapazität auf den verschiedensten Gebieten. Er brachte sein umfassendes Wissen in vielen Büchern ein, darunter gab es viel beachtete Fachliteratur genauso wie Belletristik. Daneben war er ein brillanter Geschäftsmann und an den unterschiedlichsten Firmen beteiligt. Auch bei bedeutenden Erfindungen stellte er oft genug sein Wissen zur Verfügung. Er beriet Politiker und Medienfachleute. Sein Einfluss reichte bis in die höchsten Kirchenkreise. Kurz, er war jemand, an dem niemand so ohne weiteres vorbei kam. Jemand, der gerne um Rat gefragt und dessen Meinung oft kopiert und immer wieder übernommen wurde.
Bei all seinem Einfluss liebte es Professor Dr. Dr. Lukas Morgenroth sich im Hintergrund zu halten und sich keinesfalls in den Mittelpunkt zu stellen. Interviews wich er grundsätzlich aus. Es existierten auch keinerlei Fotos von ihm. Er blieb bescheiden und beanspruchte keinen Ruhm für seine Taten.
Unauffällig und von vielen unbemerkt war sein Imperium über die ganze Welt gewachsen. Seine Leute agierten überall auf der Welt. Kein noch so kleines Fleckchen, das nicht von ihm kontrolliert wurde.
Gerade schaute er auf die Monitore, die an den Wänden um ihn herum flirrten. So viele Menschen, die in ihren Designeranzügen, Luxuskarossen und Jachten ihren Wohlstand zelebrieren! So viele Menschen, die satte Börsengewinne einstrichen! Er wechselte das Blickfeld: so viele Menschen, die täglich Krieg und Unterdrückung erlitten. So viele Menschen, die nicht wussten, was sie essen sollten und vor lauter Hunger starben.
Nicht schlecht, freute sich der Professor. Aber nicht gut genug! Es sind noch zu viele, die im scheinbaren Wohlstand leben! Wenn die jetzt abstürzen…
Da wollen wir doch mal sehen. Der Professor führte ein kurzes Telefonat. Danach lehnte er sich zufrieden in seinen Sessel zurück. Er studierte die aktuellen Börsenkurse und grinste böse.
Luxusmodekonzern meldet Insolvenz an. LKW-Zulieferer vermeldet einen Kurssturz ins Bodenlose. Staaten wurden kreditunwürdig. Und so weiter, und so fort…
In der Hand hielt er ein gefülltes Glas mit seinem Lieblingswhiskey. Mit dem prostete er sich selbst zu und lachte genussvoll. Die seit Jahren andauernde Wirtschaftskrise ging einem neuen Höhepunkt entgegen!
Gleich danach telefonierte er an mehreren Mobilteilen gleichzeitig. Ein Mann seiner Machtbefugnis musste die Fähigkeit haben, sich zu teilen und an mehreren Orten gleichzeitig zu agieren.
Kaum, dass er eines nach dem anderen auflegte, schellten die Telefone erneut. Wieder alle auf einmal. Lukas Morgenroth war dieses Tempo gewöhnt. Schrillende Telefone nichts Neues für ihn. Er nahm die Anrufe entgegen und redete wieder mit allen zur scheinbar gleichen Zeit.
Sein Sekretär betrat das Zimmer. Es war Amphion Kerberos und kam aus dem wirtschaftlich angeschlagenen Griechenland. Doch Amphion Kerberos hatte sicherlich seine Schäfchen rechtzeitig ins Trockene gebracht. Lukas Morgenrot vertraute Amphion Kerberos in allen Dingen. Er war nicht nur sein Sekretär, sondern auch sein Freund.
Amphion setzte sich unaufgefordert auf den Stuhl vor dem großen Schreibtisch. Auch er war von durchaus beeindruckender Gestalt. Durchtrainiert, gut gebaut, mit einem attraktiven Gesicht, braunen Augen und gerader Nase. Er war ein Frauentyp. Die Damen umschwärmten ihn und merkten anscheinend nicht, dass sein charmantes Lächeln die Augen nicht erreichte.
Lukas Morgenroth drückte sämtliche Anrufer weg und wandte sich Amphion zu.
„Gut, dass du kommst. Es gibt schlechte Nachrichten.“
Amphion schaute seinen Chef fragend an. „Was ist los?“
„Es gibt Krieg!“, Lukas Morgenroth schob entschlossen sein Kinn vor.
„Ist das was Neues?“, Amphion wirkte nicht beunruhigt.
„Diesmal schon.“, erwiderte Lukas. Er schaute nicht wirklich besorgt aus. Im Gegenteil. Die neue Bedrohung brachte seine Wichtigkeit erst richtig zur Geltung. „Weil dieser Wahnsinnige die Weltherrschaft für sich alleine beansprucht.“
Amphion nickte. „Verstehe.“ Langsam setzte er hinzu. „Er will uns also die Macht aus der Hand nehmen?“
„Richtig!“, bestätigte Lukas und grinste freudlos.
„Doch so einfach ist das nicht. Die Macht über diese Welt wurde mir vor langer Zeit übertragen. Seitdem haben wir unsere Herrschaft immer verteidigt. Und das werden wir weiterhin tun.“
Nach einer Pause fügte er hinzu: „Mir wurde einst von höchster Stelle zugesagt, der Fürst dieser Welt zu sein. Diesen Anspruch gebe ich jetzt nicht auf!“
Professor Dr. Dr. Lukas Morgenroth stand vom Schreibtisch auf, trat ans riesige Fenster mit der großen Glasfront und der gigantischen Aussicht auf eine pulsierende wohlhabende Großstadt.
„Dies alles will er uns mit seiner Rückkehr streitig machen?“ er machte eine wirkungsvolle Pause und setzte hinzu. „Ganz bestimmt nicht.“
Amphion kratzte sich am Kinn. Er runzelte die Stirn, so dass seine dunklen Augenbrauen wie eine schwarze Linie wirkten. „So schlimm steht es?“
Der Professor nickte nur.
„Du weißt schon, dass nach den alten Schriften und Prophezeiungen die Wiederkunft unser Ende bedeutet?“
Lukas lachte rau und dunkel auf. Sein Lachen rollte wie Donnergrollen durch den Raum und wurde von den Wänden zurückgeworfen. „Das wollen wir doch mal sehen! Er wird erst wiederkommen, wenn er genügend Leute hier hat, die ihn empfangen. Und diese Suppe werden wir ihm gründlich vermasseln. Wenn es nach mir geht, wird er nur wenige, oder besser noch gar keine Anhänger finden.“
„Natürlich nicht“, stimmte Amphion sofort zu. „Wir haben genug Leute, um Unglauben, Zweifel und Hass zu säen. Die Menschen sind leicht beeinflussbar. Die wenigsten werden wir zwingen müssen. Bei den meisten genügt es, ihren Verstand einzulullen und sie mit Wohlstand zu überhäufen, oder sie mit Armut und Leid zu quälen, ganz wie es uns gefällt!“ Er lachte finster. „Du wirst schon sehen: Wir halten die Karten in der Hand und wir werden sie auch nicht hergeben!“
Fast perfekt
Familie Hübschmann wohnte in einem schmucken Einfamilienhaus in einer netten gewachsenen Siedlung mit gepflegten Gärten. Vor dem Haus parkte ein chices Auto, ein neuer Audi A 4, in Silbermetallic. In der Garage stand ein weiteres Auto, ein VW Golf, den die Frau des Hauses fuhr.
Die Familie war das was man im Allgemeinen als gut situiert bezeichnet. Eine Bilderbuchfamilie mit Mutter, Vater und Kind. Das Kind war ein herziges fünfjähriges Mädchen, das noch in den Kindergarten ging. Sie zeigte schon in ihren jungen Jahren eine hohe Intelligenz und ihre Eltern erwarteten, dass sie einmal eine steile Karriere machen würde. Deshalb wurde Lisa schon jetzt nicht nur in Englisch und Flöte unterwiesen, sondern erhielt außerdem Klavierunterricht.
Frau Hübschmann stand mit Jeans und Gummistiefeln bekleidet in ihrem Garten und schnitt mit einer Schere ihre Hecke. Die langen blonden Haare trug sie im Nacken zusammengebunden. Auf dem Kopf saß ein Käppi zum Schutz vor der Sonne. Mareike Hübschmann wirkte durchtrainiert. Sie legte großen Wert auf Bewegung in frischer Luft und hielt sich so oft es ging in freier Natur auf. Sie prüfte die Hecke auf überstehende Zweige und setzte gerade zu einem neuen Schnitt an, als Veronika Meier um die Ecke bog.
„Hallo Mareike“, begrüßte sie Frau Hübschmann. „Denkst Du an unsere Probe heute Abend?“
„Na klar“, antwortete Mareike. Seit sie in der Siedlung wohnten, waren sie alle engagierte Mitglieder in der Kirchengemeinde. Frau Hübschmann sang im Kirchenchor und arbeitete außerdem im Kindergottesdienst mit, während sich ihr Mann Paul im Kirchenvorstand einbrachte.
Beide nahmen ihre Tätigkeiten sehr ernst. Sie waren angesehene Mitglieder ihrer Gemeinde und eine Stütze für ihren Pfarrer.
„Dann sehen wir uns später!“, rief ihr Veronika zu, bevor sie hinter der nächsten Biegung verschwand.
Mareike winkte ihr noch mit der Schere hinterher, aber das sah Veronika nicht mehr.
Frau Hübschmann schaute auf die Uhr und seufzte: „Schon so spät.“
Sie packte die Schere und stapfte zielstrebig auf das Haus zu. Drinnen schlüpfte sie aus den Stiefeln, wusch sich die Hände und huschte in ihr Arbeitszimmer. Dort kramte sie ihre Unterlagen aus der Tasche und begann sich auf den nächsten Tag vorzubereiten. Sie war Lehrerin von Beruf und musste täglich Arbeiten korrigieren und sich den Unterricht für den nächsten Tag überlegen. Manche hielten den Beruf einer Lehrerin für einen Halbtagsjob, aber in Wirklichkeit war das eine Knochenarbeit, vor allem, weil es sich um eine Hauptschulklasse handelte, die sie unterrichtete.
Um vier Uhr legte sie ihre Arbeit zur Seite. Sie zog sich an und machte sich auf den Weg zum Kindergarten. Jetzt hieß es Lisa abholen.
Als attraktive, moderne, junge Frau war Mareike darauf bedacht, Beruf und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen. Die Hausfrauenrolle, die ihre eigene Mutter noch mit Begeisterung ausgeübt hatte, wäre gar nichts für sie gewesen. Jetzt freute sie sich darauf, die Zeit mit Lisa verbringen zu dürfen. Als Paul nach Hause kam, tollten die beiden gerade durch den Garten, wie zwei vergnügte Kinder und gar nicht wie Mutter und Tochter.
Paul blieb einen Moment stehen und genoss den Anblick seiner kleinen Familie. Die Frühlingssonne zauberte Farbe auf die Wangen seiner Frau. Lisas Zöpfchen lösten sich, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Freudestrahlend schoss sie auf ihren Vater zu, als sie ihn entdeckte.
„Papa! Komm spiel mit uns. Fang mich!“, forderte sie ihn auf und sauste schon wieder weg.
Gerne ging Paul darauf ein. Er rannte hinter ihr her und tat so, als ob er sie niemals einholen könnte. Zum Schein schnaufte er wie eine historische Dampflokomotive.
Er gab vor, Seitenstechen zu haben. „Du bist mir viel zu schnell. Rennt ihr im Kindergarten alle wie kleine Raketen?“
„Noch viel schneller!“, erklärte Lisa und zischte schon wieder ab, so schnell ihre kleinen Beinchen sie trugen.
Bevor sie noch mal entwischen konnte, schnappte der Vater sie. „Hab dich!“
Lachend zappelte Lisa in seinen Armen.
Auch Paul sah gut aus. Seit kurzem suchte er regelmäßig ein Fitness-Studio auf. Mareike hatte ihm dazu geraten, als sein Arzt Bluthochdruck bei ihm diagnostiziert hatte. Er sei noch zu jung für solche Krankheiten, meinte sie und riet ihm zu einem Sportprogramm.
Außerdem hatte sie Kuchen und Süßspeisen von seinem Ernährungsplan gestrichen. Das gefiel Paul weniger. Zum Glück ahnte Mareike nichts davon, dass er mittags regelmäßig in der Bäckerei neben seiner Arbeitsstelle Kuchen kaufte.
Den kleinen Bauchansatz konnte er sich so oder so nicht abtrainieren. Aber er sah auch so attraktiv aus, fand er jedenfalls.
Doch auch Mareike war mit seinem Aussehen durchaus zufrieden. Neuerdings trug er die Haare ziemlich kurz, was seinem Gesicht einen sehr markanten Ausdruck verlieh. Den Bart rasierte er täglich ab. Stoppeln liebte Mareike gar nicht. Seine Nase war ein wenig breit geraten. Dafür hatte er wunderschöne stahlblaue Augen, in die sich Mareike sofort verliebt hatte. Bergseeblau nannte sie es.
Im einen Arm die zappelnde Lisa, zog er jetzt mit dem anderen Arm Mareike an sich.
„Komm, lass uns rein gehen. Ich habe einen Mordshunger. Was gibt’s denn?“
Mareike machte sich von ihm los. „Das was du kochst.“
„So, so“, murmelte Paul. Als moderner Mann war er es gewohnt, beim Kochen selbst Hand anzulegen.
Mareike und er wechselten sich beim Kochen ab. Ganz nach Lust und Laune. Einen festgelegten Plan hatten sie da nicht.
„Ich schau mal nach, was wir denn daheim haben“, bot sich Paul auch gleich an.
„Nicht, dass ich erst einkaufen muss.“
„Eingekauft habe ich schon!“, nahm ihm Mareike diese Besorgnis.
Paul öffnete den Kühlschrank und warf einen langen und ausdauernden Blick hinein. Er stöberte im Vorratsschrank und entschied sich dann für Schnitzel mit Pommes.
Die waren schnell gebraten und serviert.
Nach dem Essen brachten die Eltern ihre Tochter ins Bett. Paul griff nach der „Sams“-Geschichte und las Lisa daraus vor. Er und seine Tochter lachten gemeinsam über das lustige Sams und den unbeholfenen Herrn Taschenbier. Dann kam auch noch Mareike um Lisa Gute Nacht zu sagen. Die Eltern löschten das Licht und Lisa sollte schlafen. Mareike schnappte sich ihre Jacke und musste gleich los. Sie wollte ja zur Probe in den Kirchenchor.
Paul hatte vollstes Verständnis dafür. Er stand absolut hinter Mareikes Mitsingen im Kirchenchor. Er war sogar ein klein wenig stolz auf sie. Mareike hatte eine sehr schöne Stimme und Paul hörte sie bei jedem Auftritt des Kirchenchores ganz deutlich heraus. Jedenfalls behauptete er das.
An diesem Abend blieb Paul bei der kleinen Lisa zu Hause, damit Mareike in aller Ruhe zu ihrer Probe gehen konnte. Am nächsten Tag sollte Mareike dann zu Hause bleiben, damit Paul an der Kirchenvorstandssitzung teilnehmen konnte.
So hatte jeder der beiden seine Tage, an denen er alleine und ohne Familie unterwegs war und jeder hatte seine Tage, an denen er zu Hause das Kind hütete.
Als modernes Ehepaar, als zukunftsorientierte Eltern teilten Mareike und Paul alles miteinander, die freie Zeit genauso, wie die Betreuungszeiten für die gemeinsame Tochter. Ihnen war klar, dass Elternschaft gemeinsame Verantwortung bedeutete.
Paul saß in seinem großen, geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer. Eine moderne Sitzgruppe stand gegenüber einer High-Tech-Wand, in deren Mitte ein überdimensionaler Flachbildschirm prangte. Doch der Fernseher war nicht eingeschaltet.
Paul hockte stattdessen am Esstisch und bearbeitete seinen Laptop. Er begutachtete gerade die Aktienkurse im Internet. Paul hatte BWL studiert und arbeitete als Betriebswirt in der Finanzabteilung eines größeren Unternehmens. Täglich schob er mehrstellige Beträge hin und her. Gerne hätte er privat auch mal eine größere Summe auf seinem Konto gehabt. Deshalb hatte er in Aktien investiert. Auch die Finanzkrise konnte ihn nicht daran hindern. Es mussten nur die richtigen Aktien sein. Doch irgendwie hatte er aufs falsche Pferd gesetzt. Jedenfalls war jetzt von seinem Depot nicht mehr viel übrig. Aber noch hatte er die Aktien nicht verkauft. Deshalb schaute er täglich nach dem aktuellen Stand. Er wollte nicht wahrhaben, dass er so viel Geld verloren hatte. Geld, das die junge Familie dringend brauchte. Doch das allein, war nicht das Schlimmste. Wirklich schlimm war, dass er mit Geld spekuliert hatte, das Mareike von ihrer Großmutter geerbt hatte. Seine Frau hatte ihm das Geld anvertraut, damit er es in festverzinsliche Wertpapiere anlegte, doch er kaufte Aktien davon. Obwohl seine Frau ausdrücklich eine sichere Anlageform haben wollte. Jetzt saß er in der Patsche und Mareike ahnte nichts davon. Sie wusste nicht, wie viel Geld Paul verspekuliert hatte. Und wenn es nach Paul ging, würde sie auch nie davon erfahren. Nur – wie sollte er die Verluste wieder ausgleichen? Er musste sich was einfallen lassen.
Gedankenverloren betrachtete er die Aktienkurse. Seufzend klickte er sich aus dem Internet und schloss den Laptop. Irgendetwas würde ihm schon einfallen!
*
In seiner Arbeit hatte Paul mit vielen verschiedenen Firmen zu tun, denen sein Arbeitgeber Geld für Dienstleistungen oder Waren schuldete. Er war derjenige, der diese Gelder anzuweisen hatte.
Seit er wusste, dass die von ihm gekauften Aktien so starke Verluste eingefahren hatten, dachte er pausenlos darüber nach, wie er möglichst schnell zu Geld kommen könnte.
Seine Misere verschlimmerte sich noch, als Mareike meinte: „Du hast doch mein Geld auf ein Jahr angelegt. Das müsste doch jetzt demnächst fällig werden. Mein Auto gibt in letzter Zeit so komische Geräusche von sich. Wenn ich wieder eine Reparatur habe, trenne ich mich davon. Dann kaufe ich mir ein anderes Auto.“
Paul schluckte. „Du hängst doch so an deinem Auto. Lass es doch noch mal reparieren.“
Mareike wirkte gestresst. Sie wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Na ja, ich lass es erst mal durchchecken. Aber wenn die in der Werkstatt sagen, dass ich wieder so eine teure Reparatur habe, dann ist endgültig Schluss.“
„Bestimmt ist es nicht so schlimm. Bring das Auto erst mal in die Werkstatt.“ Paul war froh, noch ein wenig Luft zu haben. Wenn Mareike aber das Geld wirklich haben wollte, müsste er Farbe bekennen. Es sei denn, er hätte einen anderen Einfall. Sein schlechtes Gewissen erdrückte ihn fast.
Er betete in seiner Not. Paul glaubte an Gott. Seit frühester Kindheit betete er zu ihm. Deshalb engagierte er sich auch im Kirchenvorstand. Für ihn war es ganz einfach: er engagierte sich für Gott, also musste Gott jetzt was für ihn tun.
Er betete immer wieder dasselbe: „Lass ein Wunder geschehen und meine Aktien steigen.“ Gebetsmühlenhaft, immer wieder leierte er den Satz herunter. Wieder und immer wieder.
Doch Gott erhörte seine Gebete nicht. Im Gegenteil: Am nächsten Tag brachen die Aktienkurse erneut ein.
Da setzte sich ein Gedanke in ihm fest. Ein Gedanke, der ihn nicht mehr los ließ. Ein Gedanke ganz anderer Art. Ganz wohl war ihm dabei nicht. Aber hatte er eine Wahl? Gott wollte ihm ja nicht helfen!
Er könnte doch eine Firma gründen und seinem Arbeitgeber Waren in Rechnung stellen. Niemand würde nachprüfen, ob diese Sachen auch geliefert worden wären. Das müsste doch ganz einfach sein. Er ignorierte die Stimme, die leise in ihm flüsterte, dass das der falsche Weg war.
Am nächsten Tag ging er zu einer Bank und eröffnete ein Konto für eine Firma namens „Kaufgut“. Mit Hilfe des Computers gestaltete er sich Geschäftspapiere und schon schickte er die erste Rechnung an seinen Arbeitgeber.
Wenige Tage später wies er diese Rechnung mit etlichen anderen zur Bezahlung an. Es ging ganz einfach. Niemand schöpfte Verdacht.
Am Existenzminimum
In einem anderen Teil derselben Stadt wohnte Familie Bachmeyer. Ihr Zuhause war eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem großen Wohnblock aus den späten Siebzigern. Unten gleich neben dem Eingang gab es eine ganze Wand mit Briefkästen, aus denen reihenweise Werbeblätter hingen, die von niemandem entleert wurden. An der gegenüberliegenden Wand stand völlig verblasst, aber dennoch zu lesen: „Fick deine Mutter.“ Die Großbuchstaben waren irgendwann einmal vom Hausmeister überstrichen worden. Vielleicht hatte er eine nicht deckende Farbe benutzt, jedenfalls war der Satz noch immer zu entziffern.
Der ehemals weiße Anstrich schimmerte gräulich und vermittelte einen trostlosen Eindruck. Neben dem Treppenhaus führte ein Lift hinauf bis in die neunte Etage.
Familie Bachmeyer wohnte im achten Stockwerk. Der Lift hielt dort mit einem geräuschvollen Blong. Sven Bachmeyer war mitte dreißig, zwei Jahre älter als seine Frau Jasmin. Gemeinsam hatten sie zwei Kinder, einen vierzehnjährigen Sohn namens Kevin und eine fünfjährige Tochter, namens Anja. Sven war groß, breitschultrig, muskulös mit einem kantigen Gesicht. Die blonden Haare trug er kurz abrasiert. Seine wässrigen blauen Augen hatten einen Rotstich, so als hätte er eine Bindehautentzündung. Er trug ein ärmelloses Top, damit man seine Drachen-Tätowierungen an den Oberarmen gut sehen konnte. Seine Gesamtausstrahlung war die eines gewalttätigen Menschen, eines Mannes, dem man als Frau nicht so gerne im Dunkeln begegnen würde.
Bis vor kurzem hatte Sven als LKW-Fahrer gearbeitet. Bei einer Zuliefererfirma für die KFZ-Industrie. Doch dann fehlten Aufträge. Seine Firma musste Insolvenz anmelden und Sven verlor seine Arbeit. Seitdem verbrachte er die meiste Zeit zu Hause vor dem Fernseher und tröstete sich mit einem Kasten Bier.
Frau Bachmeyer war mit 1,58m nicht gerade besonders groß. Sie trug ihre dunklen Haare kurz und stylte sie vom Kopf abstehend, so dass ihr Haar meist aussah, als sei sie direkt in einen Sturm geraten. Ihre Stupsnase zierte ein Piercing, genauso wie ihre Ohren, die beide drei Piercings aufwiesen. Ihren fülligen Körper kleidete sie in Schlabber-T-shirts über bequeme Jeans mit Gummibund.
Auch der vierzehnjährige Sohn gelte seine dunklen Haare regelmäßig so, dass sie vom Kopf abstanden. Er zog am liebsten Sporthosen an, mit denen er sogar die Schule besuchte. Falls er hinging, denn er fiel immer wieder durch Schulschwänzen auf.
Die Tochter war schüchtern, in sich gekehrt und redete für ihr Alter recht wenig. Wenn sie dann doch was sagte, neigte sie zum Stottern und zum Verschlucken von Silben. Sie hatte eine Fehlstellung der Augen, weshalb eines der Augen regelmäßig mit einem Pflaster abgeklebt werden musste. Ihre blonden Haare waren zu dünn für eine längere Frisur, deshalb wurden sie regelmäßig geschnitten, und zwar von der Mutter selbst. Denn sie musste das Geld für den Friseur sparen.
Jasmin Bachmeyer arbeitete als Regalauffüllerin in mehreren Supermärkten. Sie musste meist schon um sechs Uhr aus dem Haus, da lag der Sohn noch ganz gemütlich unter seiner Decke. Ob er später aufstand, entzog sich ihrer Kontrolle. Jetzt war der Vater zu Hause. Aber der kümmerte sich nicht um seinen Sohn. Auch er stand auf, wann er wollte und dann schaute er nicht, ob der Sohn noch im Bett lag, oder in die Schule gegangen war. Seit Sven seine Arbeit verloren hatte, fühlte er sich nutzlos. Er litt unter dem Geldmangel und versuchte sein Versagen im Alkohol zu ertränken. Gerade, dass er es hinkriegte, die Tochter in den Kindergarten zu bringen. Das klappte auch nicht immer. Oft lag der Vater zu lange im Bett. Dann war es zu spät für den Kindergarten und Anja musste den Tag in der Wohnung verbringen.
Kevin befand sich gerade mitten in der Pubertät. Er stand auf, wann er wollte, zog sich irgendwelche Klamotten aus dem Schrank, ging vielleicht in die Schule, vielleicht auch nicht. Wenn er in die Schule ging, fiel er durch aggressives unangepasstes Verhalten auf. Er flegelte sich auf seinen Stuhl, die Füße auf dem Tisch, die Arme hinterm Kopf verschränkt. Auf manche Lehrer hörte er, auf einige überhaupt nicht. Dann blieb er so sitzen, gab freche, oder gar keine Antworten, spielte mit anderen Karten, oder redete in normaler Lautstärke über das letzte Fußballspiel. Er gab sich keinerlei Mühe, wenigstens so zu tun, als sei ihm die Schule wichtig. Stattdessen ignorierte er den Lehrer und alles, was der erklärte.
Herr Ruppert, der Englischlehrer teilte die letzte Arbeit aus: „Bachmeyer, das war leider zu wenig. Ich konnte dir keine andere Note geben.“
Kevin nahm die Arbeit entgegen, ohne auch nur drauf zu schauen. Die „6“ war ihm völlig egal. Er steckte das Blatt weg und murmelte nur: „Und wenn schon.“ Sekunden später spielte er mit seinen Freunden weiter Karten, ohne sich noch um den Unterricht zu kümmern.
Der Lehrer resignierte. Er hatte schon öfter versucht, den Jungs, ihr Kartenspiel wegzunehmen, aber entweder rückten sie es nicht raus, oder aber einer der Buben hatte ein weiteres Spiel dabei, so dass sein Handeln ins Leere lief. „Ey Alter“, rief ihm Kevin hinterher, als er durch die Klasse ging. „gib’s endlich auf. Englisch rafft doch eh keiner. Wann checkst du’s endlich?“
Herr Ruppert wandte sich von Kevins Clique ab und den Schülern zu, die etwas lernwilliger in den vorderen Reihen saßen.
Wenn Kevin keinen Bock auf Schule hatte, ging er erst gar nicht hin. Dann hing er lieber auf dem Spielplatz unweit seines Wohnblocks ab, eingedeckt mit Bierflaschen aus dem väterlichen Vorrat. Kevin war vierzehn und wenn er so weitermachte, war es fraglich, ob er seinen Hauptschulabschluss schaffen würde.
Deshalb bestellte die Klassenlehrerin Frau Bachmeyer zum Elterngespräch in die Schule.
Jasmin Bachmeyer ahnte, dass es nicht um eine Belobigung für ihren Sohn ging. Sie schlich über den tristen Schulhof, vorbei an Abfallbehältern, neben denen achtlos hingeworfene Bananenschalen, Apfelbutzen, oder auch Zigarettenschachteln lagen. Jasmin nahm diese Unordnung nicht wirklich wahr, genauso wenig wie den Wind, der an ihrer Jacke zerrte. Sie starrte auf die Fahrradständer, an denen Blech an Blech gekettet stand. Irritiert fiel ihr Blick auf die weißen Striche, mit denen der geteerte Schulhof aufgepeppt worden war. Ein Irrgarten? Sie wusste nichts damit anzufangen. Genausowenig wie mit dem modernen Kunstwerk mitten im Hof, auf dem jede Seite von einer anderen Errungenschaft unserer Demokratie kündete: Freiheit, Toleranz, Freude, Geborgenheit. Schlagwörter, mit denen die Kinder im Kunstunterricht bombardiert worden waren. Begriffe, die für die Schüler über die Kunst erfahrbar gemacht werden sollten und von denen die Kinder letztlich doch nicht viel verstanden.
Jasmin erinnerte sich an ihre eigene Schulzeit und die damit verbundenen negativen Erfahrungen. Sie kam sich klein vor, als sie jetzt über den Schulhof ging. Doch ganz im Gegensatz zu ihrem Empfinden straffte sie ihren Körper, nahm die Schultern zurück und zog schwungvoll die schwere Tür auf. Gleich darauf stand sie im wenig einladenden Eingangsbereich, der sich am Ende des Flurs zur Aula weitete. Am anderen Ende lag das Lehrerzimmer, in dem ihr Gespräch stattfinden sollte.
Auf ihr mutiges Klopfen, ertönte ein energisches „Herein!“
Sie trat ein und sah sich der Klassenlehrerin ihres Sohnes gegenüber. Die Lehrerin hieß Frau Mareike Hübschmann und hielt sich für eine erfahrene Pädagogin. Frau Bachmeyer sah gleich, dass sie in ihrem Alter war und so erfahren gar nicht sein konnte.
„Kommen wir gleich zur Sache“, begann die Lehrerin ohne Umschweife und ohne Jasmin Bachmeyer einen Platz anzubieten. Jasmin kam sich vor, wie ein dummes Schulmädchen, als wäre sie es selbst, die jetzt eine Rüge erhielt.
So ähnlich war es aber auch. Denn die Lehrerin sah hinter den Unartigkeiten ihres Schülers eine Pflichtverletzung der Mutter. Offen, oder heimlich gab sie ihr die Schuld an der ganzen Misere. Laut sagte sie das nicht so direkt. Mareike hatte Kevin nun schon seit zwei Jahren im Unterricht und konnte ihn deswegen ziemlich gut beobachten. Von Anfang an fiel Kevin durch ausgesprochen aufsässiges Verhalten auf. In der Regel war so ein Verhalten auf die mangelnde Erziehung im Elternhaus zurückzuführen. Kurz, sie hatte den Verdacht, dass die Eltern ihn vernachlässigten.
„Ihr Sohn hat allein im letzten Monat fünfmal die Schule geschwänzt! Wussten Sie davon?“ Die Lehrerin donnerte die Worte der armen Jasmin entgegen, als wollte sie die junge Frau damit zerschmettern. Instinktiv zog Jasmin den Kopf ein. Sie ließ sich jetzt auch ohne Aufforderung einfach auf einen Stuhl gleiten.
Mareike sah es missbilligend und dachte sich, dass die junge Frau keinen Anstand hatte, weil sie sich ungefragt einfach hinsetzte.
„Nein“, entgegnete Jasmin tonlos. „Ich hatte keine Ahnung.“
Mareike Hübschmann gönnte ihr kein Mitleid. Im Gegenteil, das bestätigte sie nur in ihrem Verdacht, dass die Eltern das Kind total verwahrlosen ließen.
„Dann kümmern Sie sich gefälligst um ihren Sohn. Der macht was er will. So geht das nicht. Sie müssen ihm Grenzen setzen.“
Jasmin seufzte. Sie wusste nicht wie. Aber das traute sie sich nicht zu sagen. Innerlich dachte sie sich: da läuft was total falsch. Die geht mit mir um, als wäre ich schuld. Als wäre ich das dumme Schulmädel. Aber hallo, ich bin die Mutter. Ich brauche keine Standpauke.
Mareike Hübschmann musterte die junge Frau und bildete sich ihr Urteil. Na klar, dachte sie. Hartz IV Empfängerin, dem Staat auf der Tasche liegen und nichts gebacken kriegen. Ist doch wieder mal typisch! So wie die schon aussieht! In ihrem Proleten-Look, im 3-Euro-T-shirt von KIK!
„Sie müssen doch merken, dass ihr Sohn nicht in die Schule geht?“, hakte sie noch mal nach.
Jasmin starrte ihr Gegenüber an. Die mit ihrer Designer-Jeans, dachte sie. Das was die da an ihrem dicken Hintern trägt, hat mehr gekostet, als ich im ganzen Monat verdiene. Wahrscheinlich hat sie neben dem dicken Lehrerinnen-Gehalt auch noch einen Mann, der die große Kohle einsackt. Für die bin ich doch nichts.
„Wenn das so einfach wär“, begann sie dann doch. „Muss jeden Tag um sechs Uhr auf Arbeit. Da krieg ich nicht mit, wenn der Bengel länger schläft und nicht in die Gänge kommt.“
Mareike schluckte. Na gut, nicht Hartz IV, aber mit der Nummer, ich bin die Mutti, die sich fürs Kind kaputtarbeitet kommt sie bei mir auch nicht durch.
„Vielleicht ihr Mann?“, fragte sie vorsichtig an.
Jasmin bekam einen Hustenanfall. „Der… der kommt auch nicht in die Gänge. Hat seine Arbeit verloren und jetzt sitzt er zu Hause rum und trinkt den ganzen Tag.“
Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Mareike streckte sich, Sie schlug die Beine übereinander. Ihr Weltbild war wieder in Ordnung. Habe ich mir doch gleich gedacht. Wenn nicht die Frau, dann eben der Mann. Assi-Familie halt. Sie beugte sich vor.
„Frau Bachmeyer, wenn Sie das nicht hinbekommen, müssen wir ihm halt eine Strafe auferlegen. Ihr Sohn wird in dieser Woche jeden Tag nachsitzen. Verstanden?“
Jasmin nickte. Sie war mit allem einverstanden.
„Trotzdem Frau Bachmeyer. Sie scheinen mir mit der Situation absolut überfordert zu sein. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?“
Mit großen schreckgeweiteten Augen starrte Jasmin die Lehrerin an. „Hilfe, was meinen Sie damit?“
„Na ja, da gibt es die sozialpädagogische Familienhilfe des Jugendamtes. Da käme regelmäßig jemand bei Ihnen vorbei, würde kontrollieren, ob Ihr Sohn die Hausaufgaben macht und wie es sonst so bei Ihnen läuft.“
Jasmin hörte nur das Wort „Jugendamt“ und sprang sofort auf. „Ich lass mir doch von Ihnen nicht mein Kind wegnehmen!“
Bevor Mareike noch irgendetwas sagen konnte, war Jasmin schon aus der Tür.
„So warten Sie doch!“, rief sie ihr noch hinterher. Doch zu spät. Ihr Ruf prallte an der geschlossenen Tür zurück.
„Auch gut“, seufzte Mareike. Sie rückte ihren Stuhl hinter dem Pult zurecht. „Dann wird er erst mal nachsitzen und wenn das nicht hilft, schalte ich trotzdem das Jugendamt ein. Mit oder ohne Einwilligung der Mutter. Sollen die halt sehen, wie es mit dem Typen weitergeht.“
Mareike hielt sich für einen sozialen Menschen. Von Kindesbeinen an war ihr durch ihre Eltern der christliche Glaube vermittelt worden. Deshalb wollte sie auch ihren Nächsten lieben, aber Kevin machte es ihr sehr, sehr schwer. Er gehörte zur der Kategorie Schüler, die sie lieber gehen, als kommen sah. Sie war auch gar nicht traurig, wenn Kevin die Schule schwänzte. Dann musste sie sich wenigstens nicht mit ihm herumärgern. Aber natürlich war ihr auch klar, dass das kein Dauerzustand sein konnte und dass sie als Lehrerin für ihn Verantwortung trug. Deshalb, und nur deshalb hatte sie die Mutter zum Elterngespräch gebeten. Aber sie hatte sich von vornherein nicht viel davon versprochen. Aus Erfahrung wusste sie, dass „solche“ Familien meist wenig zur Mitarbeit bereit waren.
Als sie sich damals entschied, Hauptschullehrerin zu werden, hatte sie das nicht nur getan, weil der Studiengang zufällig gerade nicht mit einem Numerus clausus belegt war. Nein, sie hatte das Studium gewählt, weil sie sich engagieren wollte, weil mit ihrer Hilfe auch sozial Benachteiligte eine Chance erhalten sollten.
Jetzt mit der Realität konfrontiert, sah Mareike nach einigen Jahren Erfahrung im Umgang mit schwierigen Jugendlichen, die keine privilegierten Starthilfen gehabt hatten, ihre Arbeit mit sehr viel weniger Enthusiasmus. Sie war oft genug gegen ihre eigenen Grenzen gerannt und hatte resigniert. „Wie oft habe ich dem Kevin gepredigt, dass er seine Hausaufgaben machen soll. Wie oft habe ich ihm und auch den anderen ins Gewissen geredet, damit sie im Unterricht mitdenken, ihnen erzählt, wie wichtig es ist gute Noten zu schreiben. Zigmal habe ich wiederholt, dass nur gute Noten eine Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt bedeuten. Wie eine alte hängen gebliebene Schallplatte habe ich immer wieder dasselbe gesagt. Trotzdem denken die Kids, was die Lehrer sagen, interessiert sie nicht.“
Wegen ihrem Glauben war Mareike aber trotz ihrer zeitweiligen Resignation überzeugt, dass sie das Richtige tat, wenn sie sich in diesem Bereich einsetzte.
Deshalb war ihr auch besonders bewusst, dass sie das Jugendamt einschalten musste, wenn im Verhalten von Kevin keine Besserung eintrat.
Als Kevin an diesem Tag nach Hause kam, erwartete ihn seine Mutter schon in der Tür. Der Sohn wunderte sich. Das kam noch nicht mal an seinem Geburtstag vor. Sogar da stand sie normalerweise nicht in der Tür, um ihn zu begrüßen. Entweder war sie auf Arbeit, oder sie war von der Arbeit so platt, dass sie im Bett lag. Die Rolle mit dem Empfangskomitee war jedenfalls neu.
Jasmin zupfte an ihrem Nasenpiercing. Sie war so nervös, dass sie ihn versehentlich raus zog. Hastig stopfte sie ihn in ihre Hosentasche. Sie hatte jetzt wirklich nicht den Nerv, sich um einen herausgefallenen Piercing zu kümmern.
„Kommst du aus der Schule?“, fragte sie ihren Sohn, weil sie nicht wusste, wie sie sonst auf den Punkt kommen sollte.
Kevin zuckte die Schulter. „Klar, woher sonst?“
Das war das Stichwort. „Genau, woher sonst? Das frage ich dich. Deine Lehrerin sagt, du schwänzt ständig die Schule!“
Jetzt erst wusste Kevin was Sache war. „Und darum stehst du hier in der Tür, oder was?“ Er quetschte sich an ihr vorbei und war schon sauer.
Jasmin merkte, dass ihr das Gespräch entglitt, bevor sie es überhaupt begonnen hatte. Was lief da nur schon wieder schief?
„Wie das mit dem Schule schwänzen ist, will ich wissen!“
„Gar nichts ist damit“, behauptete Kevin und warf seine Schultasche in die Ecke, die Schuhe hinterher, genauso wie die Jacke. Wieso aufhängen? Die lag doch gut dort am Boden.
„Dann hat deine Lehrerin also gelogen, oder was?“
Kevin kaute nachdenklich auf seinem Kaugummi. „Und wenn schon. Die Alte hat doch sowieso nen Knall.“
„Und dann darf man einfach die Schule schwänzen?“, versuchte es seine Mutter wieder. Sie lief ihm hinterher in die Küche und stand jetzt direkt hinter ihm. Flehend schaute sie ihn an. „Das darf man doch nicht einfach.“
Kevin schob sie zur Seite. „Ach lass mich doch in Ruh. Ist doch alles gequirlte Scheiße!“ Er zischte ab.
Jasmin rief ihm hinterher. „ich bin noch nicht fertig. So einfach ist das nicht.“
Kevin, der schon fast aus der Tür war, drehte sich noch einmal um und zeigte seiner Mutter den ausgestreckten Mittelfinger. „Fuck“. , hörte sie noch, ehe der Sohn in seinem Zimmer verschwand und dort die Tür lautstark zuschlug.
Jasmin ließ sich auf den Klappstuhl vor dem Esstisch sinken. Sie fühlte sich hilflos und wusste nicht, was tun. Sollte sie ihm hinterherrennen? Ihn ohrfeigen? Ins Zimmer einschließen? Gedankenfetzen flogen durch ihren Kopf. Splitter aus ihrer Kindheit. Sie sah sich wieder als Fünfjährige. Bierflaschen überall, volle und leere, überquellende Aschenbecher. Der Vater ständig sturzbetrunken, der Kühlschrank gähnend leer, Schimmelränder, die Mutter nie zu Hause und wenn doch, dann hing auch sie an der Flasche. Sie erinnerte sich an Unordnung, Chaos, überall Wäsche dreckige und saubere, Geschirr, ungespült und unhygienisch, Ungeziefer, Müllberge, Streit, andauerndes lautes Gezeter, wütende Gesichter. Dann irgendwann kam jemand und nahm sie mit. Ins Heim, wo sie dann aufwuchs, inmitten von anderen Gestörten und früh vom Leben Gezeichneten. Sie lernte schlecht, hatte auch keine Lust, besuchte die Sonderschule und verließ die Schule dann irgendwann ohne Abschluss. Innerhalb weniger Sekunden zogen diese Bilder durch ihren Kopf. Und da fiel es ihr wie Schuppen vor die Augen: ihrem Kevin würde es nicht anders ergehen. Auch er würde die Schule ohne Abschluss verlassen. Auch er würde chancenlos in seinem Leben sein.
Jasmin wollte ihren Sohn retten. Er sollte kein so armes Schwein werden wie sie selbst. Er sollte mal in einem eigenen Haus leben, eine nette Frau und hübsche Kinder haben, die alle studieren sollten. Jasmin dachte nach, wie sie ihm helfen könnte, dass er solche Ziele erreichen würde.
Leider interessierte sich Kevin überhaupt nicht für solch ferne Ziele. Er wollte seine Mutter nicht sehen. Sie sollte ihn in Ruhe lassen. Hausaufgaben waren für ihn kein Thema. Sie existierten gar nicht. Jasmin kochte eine Suppe und rief ihren Sohn zum Essen. Doch der reagierte nicht.
„Kevin, jetzt komm endlich. Die Suppe wird kalt!“, rief die Mutter durch die geschlossene Tür.
„Kein Bock!“, kam endlich die Antwort.
„Du musst doch was essen!“, flehte Jasmin.
Da kam Kevin raus, doch nur um sich seine Jacke zu schnappen. „Scheiße verdammte. Kannst du mich nicht endlich in Ruh lassen?“
Er warf die Tür zu und verschwand. Jasmin wusste, dass sie ihn so schnell nicht wieder zu Gesicht bekommen würde. Wohin er ging, sagte er nicht. Auch wann er wieder kam, verriet er mit keinem Wort. Wahrscheinlich aß er bei MC Donalds. Woher er das Geld dazu hatte, blieb im Dunkeln. Denn Taschengeld bekam er nur wenig.
Jasmin fühlte sich als Versagerin. Sie war nicht oft zu Hause und sie kümmerte sich wenig um ihre Kinder. So war Anja auch jetzt im Kindergarten. Sie wurde von ihrer Mutter erst am Spätnachmittag abgeholt. Danach hatte sie meist keine Lust mehr, sich um ihre Tochter zu kümmern. Sie setzte sie vor den Fernseher und hoffte, möglichst nicht gestört zu werden. Oft musste sie aber auch abends noch arbeiten. Dann saß Anja mit ihrem Mann vor dem Fernseher. Ob der dann Kindersendungen schaute, war fraglich.
Die Tür klackte. Hoffnungsvoll schaute Jasmin auf. War Kevin zurückgekommen?
Da schlurfte ihr Mann in die Küche. Das heißt genau genommen schwankte er. Seine Alkoholausdünstungen füllten den kleinen Raum. Jasmin zog die Luft scharf ein. Obwohl sie diesen Zustand gewöhnt war, hielt sie den Atem an, als wäre die Luft mit gefährlichem Reizgas versetzt.
„Warst du beim Arbeitsamt?“, fragte Jasmin, obwohl sie genau sah, dass er bestimmt nicht direkt vom Amt kam. Vorsichtig atmete sie dabei aus und mit offenem Mund wieder ein.
„Klar, war ich“, behauptete Sven und konnte sich kaum mehr richtig artikulieren. „Sind alles Schweine dort drinnen. Alles Schweine…“
Er plumpste auf den nächsten Stuhl und strich sich mit der Hand übern Kopf. Die Augen fielen ihm zu. Er riss sie gleich darauf wieder auf. „War auf dem Amt“, wiederholte er. „Aber … sind alles Schweine…“
„Was istn los?“, wollte Jasmin wissen.
„Haben keine Arbeit für mich… Sagen sie… Aber… die tun nichts…. Die sitzen dort nur rum…. Kümmern sich gar nicht um einen.“
Jasmin schüttelte den Kopf. „Laber keinen Quatsch. Die können dir nichts vermitteln, wenn keiner einen einstellt.“
Doch Sven war viel zu betrunken, um noch logisch denken zu können. Ganz offensichtlich hatte er nach dem Besuch beim Arbeitsamt noch tüchtig gebechert. Es war doch danach, oder? Jasmin schoss dieser Gedanke wie ein elektrischer Stromstoß durch den Körper. Er wird doch nicht schon besoffen dort aufgetaucht sein? Kein Wunder, dass die dann keine Arbeit hatten. Für einen betrunkenen Fahrer!
„Du bist doch nicht besoffen auf dem Amt gewesen?“ Sie schaute ihren Mann eindringlich an.
„Was ist los?“, lallte der.
Jasmin begriff, dass sie aus dem nichts mehr herausbringen würde. Sie packte ihn und schleppte ihn ins Schlafzimmer. Dort hievte sie ihn samt Klamotten aufs Bett. Sollte er erst mal seinen Rausch ausschlafen.
Die Botschaft
Johannes Wohlleben lebte auf einem stillgelegten Bauernhof, vom nächsten Dorf etwa zwei Kilometer entfernt. Der Witwer bestritt seinen Lebensunterhalt durch die Kunstmalerei. Den früheren Stall hatte er zum lichtdurchfluteten Atelier umgebaut. Die einstige Wohnküche, in der früher Knechte und Mägde gemeinsam mit Bauer und Bäuerin um einen großen Holztisch saßen, diente als Ausstellungsraum.
Johannes Wohlleben sah durchschnittlich aus, hatte zu kleine, eng stehende Augen und eine zu große Nase. Die Haare wollte er schon seit Jahren zu einem Pilzkopf schneiden lassen, so wie die legendären Beatles. Aber nie fand er eine Friseurin, die das hinbekam. Wahrscheinlich waren die Damen alle viel zu jung und kannten die Beatles nicht mehr. Jedenfalls schnitten sie ihm in der Regel zu viel ab. Nie trafen sie die richtige Länge. Die einen behaupteten, sein Haar sei zu voll, die anderen, er hätte zu viele Wirbel. Wie auch immer, jedenfalls trug er sein dunkles Haar nicht ganz so lang wie seinerzeit die Beatles.
Das Haus kaufte der Kunstmaler, als seine Frau und sein Sohn durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen waren. Er zog sich damals aufs Land zurück und lebte seither sehr zurückgezogen.
Für manche war Johannes Wohlleben ein komischer Kauz. Er passte in kein Schema. Er suchte keinen Kontakt zu anderen Menschen und fühlte sich wohl dort in seiner Abgeschiedenheit.
Es war eine schlimme Zeit, als seine Familie durch einen Flugzeugabsturz so jäh aus dem Leben gerissen wurde. Seine Frau Susanne und sein Sohn Alex waren ohne ihn unterwegs gewesen. Lange hatten sie sich schon auf den Urlaub gefreut. Sie hatten geplant und gepackt und der Reise entgegengefiebert. Doch dann wurde dieser Auktionstermin verschoben. Damals handelte er noch mit Kunstgegenständen und er musste auf eine wichtige Auktion, die eigentlich schon eine Woche vorher angesetzt war. Dann wurde sie kurzfristig abgesagt und genau am Abflugtag neu angesetzt. Da die Plätze im Flugzeug schon gebucht waren, schickte er seine Familie vor, ließ nur seinen eigenen Flug umbuchen.
Deshalb saßen Susanne und Alex alleine in dieser Unglücksmaschine. Er wollte mit dem nächsten Flieger nachkommen. Doch die Maschine kam nie an, sie stürzte ab. Es dauerte Wochen bis alle Toten zugeordnet werden konnten. Johannes hatte keine Tränen mehr, als er Susanne und Alex identifizieren musste.
Er fühlte sich sinnentleert, ausgebrannt. Monatelang brauchte er, um neuen Lebensmut zu schöpfen. Dann kaufte er den Bauernhof und fing an zu malen.
Johannes litt sehr unter dem Verlust. Es war für ihn ein absoluter Einschnitt in seiner Seele. Manchmal fühlte er sich wie auseinandergerissen. Damals hatte er durchaus mit Gott gerungen und Gott angeschrien: warum verhinderst du das Leid nicht?
Zuerst kam die Trauer, dann die Einsicht. Ja, die Einsicht, dass es nicht Gott ist, der uns all das Schreckliche, dieses ganze Leid zumutet.
Das Leid ist in seinem Kern, seinem ganzen Ursprung nach nicht Gott gewollt. Als diese Gewissheit in ihm reifte und immer mehr Raum einnahm, ahnte er auch etwas von der Liebe Gottes.