Vergessen, verlieren - Gunnar Kunz - E-Book

Vergessen, verlieren E-Book

Gunnar Kunz

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Beschreibung

Liebe. Leidenschaft. Verrat. "Gebrochene Versprechen besitzen große Macht. Wer leugnet, was war, leugnet, was sein wird. Wenn nicht einmal mehr die Schwüre, die mit eigenem Blut im Angesicht Wodans geleistet wurden, noch etwas bedeuten – was kann dann Ragnarök noch aufhalten?" Fünf Menschen. Grimhild, die aus Liebe eine Katastrophe heraufbeschwört. Sigfrid, der plötzlich versteht, als es zu spät ist. Hagen, dessen eiserne Selbstbeherrschung von einem Lächeln bis auf den Grund zerschlagen wird. Brünhild, die der Macht gebrochener Versprechen erliegt. Gunter, der zum ersten Mal etwas für sich will und sich nicht damit abfinden kann, dass es unerreichbar sein soll. Fünf Menschen, die in unauflösbaren Leidenschaften miteinander verstrickt sind. Fünf Menschen, die ihrem Schicksal nicht entfliehen können. Denn Wodan, der Gott der Ekstase, liebt es, Lust und Leid gleichermaßen bis zum Äußersten auszuloten. "Wortgewaltig, feinsinnig, plastisch und fantasievoll." (noz.de – Website der Neuen Osnabrücker Zeitung) (ursprünglich unter dem Titel "Der Ruf der Walküren" erschienen)

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Seitenzahl: 135

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Gunnar Kunz

Vergessen, verlieren

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vergessen, verlieren

Prolog

1

Dramatis Personae

Die Nibelungensage von Gunnar Kunz:

Impressum neobooks

Vergessen, verlieren

Krähen über Niflungenland, Teil 1

Impressum:

Copyright 2023 by Gunnar Kunz, Berlin

Tel. 030 695 095 76

E-Mail über www.gunnarkunz.de

Alle Rechte vorbehalten

Einbandgestaltung: Rannug

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden. Danke, dass Sie die Arbeit des Autors respektieren!

»Das Leben erkennt man an seiner Ekstase.«

Vilhelm Grønbech

Prolog

(Winter 471/472)

Grimhild trieb ihre Stute an, die sich mühsam durch zum Teil mannshohe Schneewehen kämpfte. Pferd und Reiterin hinterließen kurzlebige Atemwolken in der Luft. Die schwache Sonne reichte nicht aus, um die klirrende Kälte zu vertreiben, nicht einmal, um sie erträglicher zu machen. Grimhild fröstelte, obwohl sie einen dicken Wollmantel über ihrem leinenen Unterhemd trug, und zog den Umhang fester um ihre Schultern. Weder die Wickelbänder um ihre Beine noch die Schnürstiefel, in denen ihre Füße steckten, konnten verhindern, dass die Kälte ihren Körper heraufkroch. Ihr silberblondes Haar, zu einem Zopf zusammengebunden, fiel ihr schwer in den Nacken und fühlte sich unangenehm klamm an. Das Mädchen rieb die Handflächen aneinander, formte die Hände zu einer Schale und hauchte hinein. Es nutzte nicht viel.

Unter der verharschten Decke erwies sich der Schnee als trocken und feinkörnig, was das Vorankommen leidlich erleichterte, aber die Stute musste trotz allem kräftig arbeiten, weil sie immer wieder in Schneewehen versank. Sie schnaufte bereits vor Anstrengung und bewegte sich nur unwillig fort, dabei war Fála das gutmütigste Pferd im Stall der Niflungen.

Die Anstrengungen des Rittes schienen Grimhild nichts auszumachen. Aufrecht saß sie im Sattel, den Rücken gestreckt. Trotz ihrer Jugend lag in ihrer Haltung bereits etwas Selbstbewusstes, das Männer veranlasste, sich nach ihr umzudrehen. Schon jetzt konnte man in dem schmächtigen Mädchen die Frau ahnen, die sie einmal werden würde. Grimhild war nicht besonders groß, dennoch hatte man stets den Eindruck, ihr auf gleicher Höhe zu begegnen, was sie ihren herausfordernden grünen Augen verdankte. Es gab nicht viele, die ihrem Blick standhalten konnten. Gislher, ihr Lieblingsbruder, hatte ihr den Spitznamen »Schmiedeauge« gegeben, weil er der Ansicht war, ihre Blicke könnten Steine erweichen und Herzen zum Schmelzen bringen.

Auf einem Hügel hielt Grimhild an und gab Fála Gelegenheit zu verschnaufen. Sie tätschelte den Hals der Stute, während sie ihren Blick schweifen ließ. Der Anblick von Niflungenland erfüllte sie stets aufs Neue mit Freude, besonders in der friedlichen Stille der Wintertage. Bäume bogen sich unter der Last des Schnees, Wälder und Felsen warfen Schatten in zartem Blau. Das Land schien in tiefem Schlaf zu liegen. Die einzigen Anzeichen von Leben waren die Schnürspur eines Fuchses und das Werk der Zähne von Mäusen und Kaninchen, die in Ermangelung von Grünfutter die Rinden der Baumstämme benagt hatten. Die klare Luft machte es möglich, einen Blick auf den Rhein zu erhaschen, der sich in der Ferne als gewundenes Band dahinschlängelte, ein Anblick, der unweigerlich Grimhilds Herz zum Klopfen brachte. Der Fluss und die Täler ringsumher waren für sie der Inbegriff von Geborgenheit. Sie besaß keine Erinnerung an die Zeit, bevor ihr Vater das Land links des Rheins erobert hatte. Für sie war dies das Land ihrer Sippe.

Grimhild drehte sich um und konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Tolbiacum, das einstige vicus der Römer, das sich die Niflungen zum Herrschersitz erkoren hatten, war längst hinter bewaldeten Bergrücken verschwunden. Niemand verfolgte sie, obwohl ihr heimlicher Ausflug nicht unbemerkt geblieben war. Volker, der Skop, hatte sie gesehen, als sie sich ihre Stute holte. Aber es war ihr gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass sie nur einen Spazierritt unternahm, und nachdem sie eine Weile mit ihm gescherzt und ihm erlaubt hatte, ihr ein paar Komplimente zu machen, hatte er sie gehen lassen. Es war leicht, einen Mann dazu zu bringen, ihr gefällig zu sein. Männer waren jungen Mädchen gern behilflich, zumal einem hübschen.

Zweifellos setzte sie sich Gefahren aus, wenn sie allein durch das Land ritt. Die Wege waren unsicher, allerlei Gesindel trieb sich in der Gegend herum. Hin und wieder sandte König Aldrian, ihr Vater, eine Eskorte aus, um die Straßen zu sichern und Wegelagerer zu vertreiben, aber es nützte nicht viel, sie kamen immer wieder. Der Hunger trieb sie dazu, besonders in diesem strengen Winter. So manch einer wurde nach dem Verzehr von schlechtem Mehl vom Heiligen Feuer heimgesucht, litt unter Krämpfen und bekam Brandblasen oder gar brandige Glieder. Ihre Mutter hatte ihr den Pilz am Getreide gezeigt, der die Schuld daran trug. Und Menschen waren nicht die Einzigen, die Hunger litten. Auch Wölfe näherten sich neuerdings den Siedlungen und umschlichen die Wehrzäune in der Hoffnung, etwas Essbares zu erwischen. Aber Grimhild hatte sich noch nie von einer Gefahr oder einem Verbot zurückhalten lassen zu tun, was sie für richtig hielt.

Sie warf einen letzten Blick umher und nickte befriedigt. Niemand würde sie suchen. Dass sie sich vom Webstuhl fortgestohlen hatte, war nichts Ungewöhnliches. Und wem sollte es auch auffallen? Ihr Vater weilte bei Didrik von Bern, um Beistand zu erbitten, falls der schwelende Grenzkonflikt mit Jarl Elsung zum Ausbruch kommen sollte. Ihre Mutter hatte alle Hände voll zu tun, die Herstellung neuer Holzfässer zu überwachen, nachdem sie heute früh entdecken mussten, dass einige der gelagerten Weinfässer leck waren, weil irgendjemand am Pech gespart hatte. Und ihre Brüder kümmerten sich nicht um sie. Vor dem Abendessen würde ihre Abwesenheit kaum bemerkt werden.

Sollte allerdings doch jemand dahinterkommen, dass sie ohne Erlaubnis fortgeritten war … aber selbst dann hatte sie nicht viel zu befürchten. Da ihr Vater nicht daheim war, würde Gunter versuchen, sie für ihren Ungehorsam zu bestrafen. Grimhild grinste. Als künftiger König glaubte er gelegentlich, ihr Befehle erteilen zu können. In der Regel beachtete sie ihn einfach nicht, was ihn maßlos ärgerte. Ob er mehr Durchsetzungskraft haben würde, wenn er erst König war? Aldrian besaß Autorität, seinen Befehlen gehorchte jeder widerspruchslos. Gunter … nun, er war einfach zu still. Die Leute mochten ihn, und meist gehorchten sie ihm auch, doch mehr, weil sie ihn gern hatten, als aus Respekt. Grimhild rieb ihre kalten Hände aneinander. Sie mochte ihren ältesten Bruder, aber sie stand ihm nicht nahe. Sie fühlte sich mehr zu Männern der Tat hingezogen.

Und das brachte sie wieder zu dem Grund ihres Ausrittes. Grimhild fluchte über ihre Trödelei und trieb das Pferd an. Sie durfte nicht zu lange verweilen, wenn sie vor Anbruch der Dunkelheit zurück sein wollte. Die Tage waren kurz, und sie hatte noch ein gutes Stück Weges vor sich. Sie würde sich nicht lange bei Thiota aufhalten können, aber für ihre Zwecke musste es genügen. Die Blätter der Schafgarbe, die sie jede Nacht auf ihre Augenlider legte, hatten ihr einen Traum beschert, den sie nicht zu deuten wusste. Die Seherin musste ihr helfen, Klarheit zu gewinnen. Sicher würde sie sich wieder zieren und sie ermahnen, sich vor Fragen zu hüten, deren Antwort sie gar nicht wissen wolle, und dass es Unglück bringe, die Zukunft zu kennen, und dergleichen mehr. Grimhild verzog das Gesicht. Alle glaubten ständig, ihr Ratschläge geben zu müssen und behandelten sie wie ein kleines Kind. Dabei war sie schon elf!

Und ihr Traum war wichtig. Immerhin ging es darum, eine Vision von ihrem zukünftigen Mann zu erhalten! Doppelt wichtig sogar, wenn man bedachte, wie langweilig die meisten Männer in Tolbiacum waren. Na schön, da gab es Hagen, den Waffenmeister, der zu den Wenigen gehörte, die gegen den Zauber ihrer Augen immun zu sein schienen. Trotz seiner Hässlichkeit, trotz seiner Verschlossenheit – oder gerade deswegen – faszinierte er sie. Jedenfalls war er der einzig interessante Mann in der Niflungenburg, wenn man von Volker, dem Sänger absah, aber der umwarb jede Frau und war daher keine Herausforderung. Flüchtig dachte sie an ihren Vetter Irung, einen reizbaren, schnell beleidigten Krieger, der sich neuerdings darum bemühte, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Wenn er nur nicht ständig versuchen würde, sein struppiges Haar mit Butter zu glätten! Grimhild mochte ihn mit zerzausten Haaren lieber, er sah dann immer richtig verwegen aus. Aber er schien zu glauben, dass er den Frauen imponieren könne, wenn er mit ranzigem Fett eingeschmiert herumlief. Männer!

Fála scheute plötzlich und schnaubte. Hatte die Stute etwas gewittert? Grimhild tätschelte ihr beruhigend den Hals und sah sich aufmerksam um. Nicht weit voraus entdeckte sie die Spuren zweier Pferde. Sie schienen aus verschiedenen Richtungen gekommen und an dieser Stelle zusammengetroffen zu sein. Eine kurze Strecke liefen sie friedlich nebeneinander her, aber zwei Steinwürfe entfernt war der Schnee wie von einem Kampf zerwühlt. Eine Blutspur führte in ein nahe gelegenes Gehölz.

Grimhild biss sich auf die Lippen. Sie wusste, sie sollte nicht hier sein. Unschlüssig drehte sie sich hin und her. Sollte sie weiterreiten, als ob nichts geschehen wäre? Undenkbar! Also blieben ihr nur zwei Möglichkeiten. Sie konnte umkehren, ihrer Sippe Bericht erstatten und sich wie ein kleines Mädchen für ihren Ungehorsam ausschelten lassen. Oder sie konnte herausfinden, was geschehen war. Gescholten werden würde sie auf jeden Fall. Aber wenn sie der Sache auf den Grund ging, würde sie sich zumindest den Respekt ihrer Sippe erwerben. Außerdem, und das gab am Ende den Ausschlag, mochte es ja sein, dass der Anlass für die blutige Fährte harmlos war, und in diesem Fall brauchte sie gar nichts zu sagen. Aber daran glaubte sie selbst nicht.

Mit einem Schnalzen brachte sie Fála dazu, der roten Fährte zu folgen. Vor einer Gruppe von Büschen wurde das Pferd langsamer und scharrte nervös mit den Hufen. Grimhild schluckte. Was immer der Grund für die Blutspur war, gleich würde sie ihn zu Gesicht bekommen. Ihr hugi, der Teil ihrer Seele, der Neigung und Instinkt in sich trug, warnte sie, aber sie ignorierte seine Stimme und unterdrückte das Zittern ihrer Glieder. Vorsichtshalber zog sie ihr Messer. Dann atmete sie tief durch und trieb Fála durch einen Schenkeldruck weiter.

Sie war nicht vorbereitet auf das, was sich ihren Augen darbot, und im ersten Moment fühlte sie sich, als würde sämtliche Luft aus ihren Lungen gepresst. Sie erkannte den Toten sofort, trotz seiner grauenvollen Lage und obwohl alles, aber auch alles von Blut nur so triefte: die verkrümmt daliegende Gestalt, der Felsen, auf dem man sie ausgebreitet hatte, sogar das umliegende Gesträuch und der Schnee ringsumher. Der Anblick erinnerte sie an das Schlachten von Schweinen.

Der steifgefrorene Krieger war eindeutig einer Blutrache zum Opfer gefallen. Jemand hatte ihm den Blutaar geritzt: Sein Rücken war vom Kreuzbein bis zum Nacken aufgeschlitzt, die Rippen sorgfältig vom Rückgrat abgetrennt und wie Adlerschwingen auseinandergefaltet worden. Anschließend hatte man die Lungenflügel herausgezogen. Dass der Hingerichtete während dieser grausamen Prozedur noch am Leben gewesen war, bewiesen die abgerissenen Fingernägel; offenbar hatte er versucht, sich zu wehren, während er Qualen erlitt, die sich das erschütterte Mädchen nicht annähernd vorzustellen vermochte.

Es dauerte eine Ewigkeit, bevor Grimhild ihr Zittern unter Kontrolle bekam und den Mut aufbrachte, vom Pferd zu steigen. Der Blutgeruch verursachte ihr Übelkeit, doch sie kämpfte erfolgreich gegen den Wunsch an, sich zu übergeben. Vor dem Leichnam sank sie auf die Knie.

»Vater!«, flüsterte sie erstickt.

1

(Sommer 477)

Sigfrid kommt

1.

Das Scheppern von Metall auf Metall hallte über das freie Gelände vor den umwehrten Höfen der Niflungen, Kampfgeschrei begleitete jeden Schlag. Hagen, der Waffenmeister, hielt seine täglichen Übungen mit dem zwölfjährigen Gislher, dem jüngsten von Aldrians Söhnen, ab. Die beiden trugen ihre Brünnen, eng anliegende Hemden aus zusammengeketteten Eisenringen, und waren schweißgebadet.

Hagen war ein Krieger, der überall Aufsehen erregt hätte. Niemand würde ihn einen schönen Mann nennen, aber er besaß eine Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen konnte. Er überragte die meisten Männer um Haupteslänge, was ihn an und für sich schon zu einer Furcht einflößenden Erscheinung machte, der schwarze Bart, die Narben und die tief hängenden Brauen taten ein Übriges, seine düstere Natur zu unterstreichen. Zudem war er einäugig. Wo sich das linke Auge befunden hatte, gähnte ein Loch. Er sprach nie davon, bei welcher Gelegenheit er das Auge verloren hatte, und wenn man an seinem Leben hing, tat man gut daran, ihn nicht danach zu fragen. Meist verbarg er die unheimliche Höhle unter einer Augenklappe, nur in der Schlacht nahm er die Bedeckung ab, weil er genau wusste, welche Wirkung er damit unter seinen Feinden erzielte. Und Hagen war zu klug, um sich einen Vorteil wie diesen nicht zunutze zu machen.

Das Training dauerte bereits den halben Tag. Trotz seiner Behinderung war Hagen ein guter Lehrer. Es gab keinen besseren Kämpfer weit und breit. Endlos probte er mit Gislher das Parieren eines bestimmten Hiebes und den darauf folgenden Gegenangriff, bis die Muskeln des Jungen die Kombination derart verinnerlicht hatten, dass sie von selbst reagierten. Die Übungen wurden mit der Spatha abgehalten, einem zweischneidigen Langschwert, das links getragen wurde. Es waren stumpfe Waffen, natürlich, doch auch so schmerzte ein Treffer noch genug, zumal Hagen seinen Schüler nicht schonte und die Schläge mit aller Kraft führte.

Wie gewöhnlich beendete der Waffenmeister seinen Unterricht mit einem Scheinkampf. »Wir nehmen das Sax und den Schild«, entschied er. Das Breitsax mit der kurzen Griffangel war eine Mehrzweckwaffe, sowohl für den Hieb als auch zum Zustoßen geeignet.

Ohne besondere Aufforderung zog Gislher seine Brünne aus und legte Helm und Beinschienen beiseite. »Beweglichkeit ist alles in einem Kampf«, pflegte Hagen zu sagen. »Wenn du dich mit einer Brünne schützt, bedeutet das, dass du dir nicht vertraust. Das ist so gut, als würdest du dich von vornherein für verloren geben.«

Die nackten Oberkörper der Kontrahenten glänzten in der Sonne, als sie sich gegenseitig belauerten. Wie Hagen es ihm beigebracht hatte, beobachtete der Junge seinen Lehrmeister auf der Suche nach einer Blöße. Er war fest entschlossen, ihn diesmal zu besiegen. Seit den Tagen, da er als Kind mit Stockfechten auf den Schwertkampf vorbereitet wurde, träumte er davon. Er bewunderte den Waffenmeister; ihm im Kampf überlegen zu sein, schien Gislher das erstrebenswerteste Ziel auf der Welt.

Hagen stand breitbeinig, die Füße leicht auswärts gestellt. Seine Arme hingen entspannt an ihm herab, die rechte Hand umfasste locker den Griff des Schwertes, dessen Spitze auf den Boden zeigte. Sein gesundes Auge war eher beiläufig auf seinen Gegner gerichtet. Alles in allem bot er ein Bild der Selbstversunkenheit, doch Gislher ließ sich nicht täuschen. Er bemühte sich, es seinem Lehrer nachzutun und eine selbstbewusste Haltung einzunehmen, war dabei allerdings nicht sehr erfolgreich. Mehrmals zuckten seine Muskeln, weil das unerwartete Brüllen eines Ochsen ihn erschreckte oder ein Windstoß durch Hagens Haare fuhr und ihm Bewegung vorgaukelte, wo keine war.

»Du hast alles vergessen, was ich dich gelehrt habe«, sagte Hagen verdrossen.

Gislher spürte, wie er rot wurde. »Was meinst du?«, fragte er, obwohl er die Antwort kannte.

»Du zappelst herum wie ein neugeborener Säugling. Dies ist kein Spiel. Konzentriere dich!«

»Ich bin konzentriert.«

Hagen beachtete seinen Einwand nicht. »Du hast den Kontakt zu deinem megin verloren.«

Beschämt senkte Gislher den Kopf. Natürlich hatte sein Lehrmeister recht. Und wenn er im nächsten Jahr auf dem Thing als freier Mann und Krieger in den Kreis der Sippe aufgenommen werden wollte, tat er besser daran, auf ihn zu hören. Der Junge atmete tief durch und bemühte sich, die Anspannung loszulassen. Nach und nach lockerten sich seine Muskeln, der Druck in seinem Bauch ließ nach. Schließlich konnte er es wieder spüren, sein megin, die Kraft, die aus der Essenz seiner Seele gespeist wurde. Jetzt war er bereit.

Unvermutet stürmte er vor und zielte auf Hagens Kopf. Der Waffenmeister blockte den Hieb mit einer sparsamen Bewegung ab, ohne seinerseits anzugreifen. Gislher trat nach dem ungeschützten Unterleib seines Lehrers, doch der stand längst an einer anderen Stelle, reglos, als habe er sich nicht gerührt. Er unternahm keinen Versuch, mit dem Schwert nach Gislhers Bein zu schlagen, aber der Niflunge wusste auch so, dass der Waffenmeister es gekonnt hätte. Hagens scheinbare Schutzlosigkeit hatte ihn verleitet, die Deckung aufzugeben. Es ärgerte Gislher, dass seine Reaktionen so vorhersehbar waren. Verbissen drang er auf seinen Lehrer ein und traf doch immer nur dessen Schild. Das war das Frustrierendste an einem Kampf mit Hagen: dass dieser seine wütenden Attacken mit spielerischer Leichtigkeit parierte. Es schien ihn nicht einmal außer Atem zu bringen. Wo Gislher mit dem Eifer eines Knaben auf ihn eindrosch, konterte Hagen mit der Kunst eines Schwertmeisters.