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Tod im Vinschgau.
Tiberio Tanner wollte eigentlich nur den Südtiroler Frühling genießen. Doch als seine Lebensgefährtin Paula das geerbte Haus ihrer Tante in Naturns besichtigen will, finden sie im Keller die ermordete Leiche der Mieterin Ellie Dafatsch. Wer steckt dahinter? Und warum?
Während Commissario De Santis in alle Richtungen ermittelt, stößt Tanner auf rätselhafte Zusammenhänge zwischen alten Feindschaften, dunklen Familiengeschichten und einem gefährlichen Glaubenseifer. Bald wird klar: Ellies Tod ist kein Einzelfall …
Ein atmosphärischer Südtirol-Krimi mit Witz, Spannung und einem Ermittler, der lieber Wein trinkt, als sich an Regeln zu halten.
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Seitenzahl: 399
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tod im Vinschgau.
Tiberio Tanner wollte eigentlich nur den Südtiroler Frühling genießen. Doch als seine Lebensgefährtin Paula das geerbte Haus ihrer Tante in Naturns besichtigen will, finden sie im Keller die ermordete Leiche der Mieterin Ellie Dafatsch. Wer steckt dahinter? Und warum?
Während Commissario De Santis in alle Richtungen ermittelt, stößt Tanner auf rätselhafte Zusammenhänge zwischen alten Feindschaften, dunklen Familiengeschichten und einem gefährlichen Glaubenseifer. Bald wird klar: Ellies Tod ist kein Einzelfall …
Ein atmosphärischer Südtirol-Krimi mit Witz, Spannung und einem Ermittler, der lieber Wein trinkt, als sich an Regeln zu halten.
Max Oban, geboren in Oberösterreich, studierte in Wien und Karlsruhe. Er schlug eine Karriere als Manager ein, arbeitete für einen internationalen Konzern in Deutschland, den USA und Teheran, bevor er sich seiner Tätigkeit als Schriftsteller widmete. Max Oban ist erfolgreicher Autor zahlreicher Romane, unter anderem der Paul-Peck-Krimireihe. Er lebt in Salzburg und in der Wachau.
Mit dem Privatdetektiv Tiberio Tanner sind bisher zwei Kriminalromane im Aufbau Taschenbuch erschienen: »Blutroter Wein« sowie »Tödlicher Herbst«.
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Niamend isch perfekt, obor als Südtiroler
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Südtiroler Weisheit
Si colmi il calice – Füllet den Becher
Di vino eletto; – mit köstlichem Wein;
Nasca il diletto, – es wachse die Freude,
Muoia il dolor. – es schwinde die Pein.
Francesco Maria Piave, 1810–1876
Was du heute kannst entkorken,
das verschiebe nicht auf morgen.
Tiberio Tanner
Dieser Roman beruht nicht auf Tatsachen. Namen, Personen, Orte und Handlungen sind frei erfunden. Irgendwelche Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, Orten oder Personen, seien sie lebend oder tot, sind rein zufällig.
Zum besseren Verständnis und um Missdeutungen auszuschließen, wird der Leser darauf hingewiesen, dass der Autor die Meinungen und Sichtweisen seines Protagonisten Tiberio Tanner in wesentlichen Punkten teilt.
»Schön, dass ihr da seid«, erklang Paulas Stimme.
Die Gäste sind eingetroffen, dachte er, faltete die Zeitung zusammen und warf sie neben sich auf den kleinen Tisch. Im Gänsemarsch betraten Maurizio und Schluzzer die Küche. So schwungvoll, wie es sein Rücken erlaubte, griff Tanner nach der bereitstehenden Plastiktasche, sprang auf Maurizio zu und rief: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«
»Da klirrt was drin«, sagte Maurizio mit neugierigem Gesicht und zog eine der Flaschen aus der Tasche. Mit hochgeschobener Brille betrachtete er das Etikett und las laut vor: »Vernatsch, alte Rebe, Rotwein aus dem Überetsch-Unterland. Sportlicher Körper, verspieltes Wesen und uriger Charme. Der Wein passt zu mir. Ein praktisches, aber kurzlebiges Geschenk.«
Zu viert nahmen sie am Tisch Platz, während Maurizio von dem grauenhaften Feierabendverkehr rund um Kaltern berichtete.
»Zu deinem Ehrentag haben wir einen Sauvignon Riserva vorbereitet und bereits dekantiert. Aus einer bevorzugten Hanglage am Ritten.« Tanner schenkte allen ein und hob zuerst Maurizio das Glas entgegen, der ihm einen lächelnden Blick zuwarf, kurz die Augen schloss und konzentriert einen Schluck trank. Und dann noch einen. So hatte Maurizio immer schon gehandelt. Wenn er etwas tat, dann mit voller Konzentration. Deshalb war er auch als Commissario Capo bei der Questura di Bolzano viele Jahre erfolgreich gewesen. Bis zu seiner Pensionierung vor rund einem Jahr.
Paula servierte das Essen. »Milzschnittensuppe und hinterher Rohnenknödel. Deine Lieblingsspeise.« Sie klopfte Maurizio auf die Schulter. »Danach gibt’s noch eine Buchweizentorte.«
»Für die Kerzen auf deiner Geburtstagstorte haben wir übrigens Mengenrabatt bekommen«, sagte Tanner. »Aber wir reden heute nicht über die Anzahl deiner Lebensjahre, sondern darüber, wie gut du aussiehst.«
»Darf ich rauchen?« Maurizio zog eine Packung Benson & Hedges aus der Jackentasche.
»Ich dachte, du hast das aufgegeben«, sagte Paula. »Oder zumindest gegen elektronisches Dampfen eingetauscht.«
»Mit dem Rauchen aufhören ist nicht schwierig, ich hab es schon dreimal gemacht.« Maurizio wedelte mit der Zigarettenpackung. »Wie ist es nun? Darf ich mir eine anstecken?«
»Ausnahmsweise«, sagte Paula. »Weil du heute Geburtstag hast.«
Nach dem Essen trugen sie ihre halb vollen Weingläser ins Wohnzimmer. Paula streifte die Hausschuhe ab und kauerte sich tief in die Kissen auf der Couch.
Maurizio stellte die Tasche mit seinem edlen Geburtstagswein sicher in eine Ecke, lockerte seine Krawatte und ließ sich stöhnend neben Tanner auf einen der Polstersessel fallen.
Schluzzer nahm neben Paula auf der Couch Platz. »Wie geht es dir, meine Lieblingscousine?«
Paula schüttelte den Kopf. »Lieblingscousine … Soweit ich weiß, hast du außer mir keine andere.«
»Wie geht es dir, Cousine? Ich habe gehört, dass deine Tante Gisela gestorben ist und dir ein Haus vererbt hat. Für mich ist leider keine Erbschaft übriggeblieben. So ist das Leben.« Schluzzer nahm einen Schluck aus seinem Weinglas. »Aber ich bin auch einige Grade weiter entfernt verwandt als du. Wie alt ist Tante Gisela eigentlich geworden?«
»Fast neunzig.«
Maurizio, der aufmerksam zugehört hatte, zog die Augenbrauen hoch und hob sein Weinglas. »Neue Hausbesitzerin! Ganz schleichend kehrt der Reichtum bei euch ein. Was für eine Art von Haus ist das? Ein Ansitz aus dem Mittelalter vielleicht? Mit Zinnen und edlen Kemenaten?«
»Nix Kemenaten.« Paula schüttelte den Kopf. »Ein kleines Einfamilienhaus. Ziemlich heruntergekommen noch dazu.«
»Wo?«
»In Naturns. Etwas außerhalb des Ortszentrums. In der Kugelgasse. Via delle Bocce.«
»Naturns liegt im schönen Vinschgau«, sagte Maurizio. »Ziehst du jetzt dahin?«
»Cazzata! Das Haus ist langfristig vermietet. Aber etwas Eigenartiges ist passiert. Zweimal hat mich schon ein Immobilienhändler angerufen, der das Haus in Naturns kaufen möchte. Ich frage mich, woher der weiß, dass …«
»Die Burschen sind gut informiert und vernetzt«, unterbrach Tanner. »Offenbar hat er Wind davon bekommen, dass die alte Besitzerin gestorben ist.«
»Und?« Schluzzer beugte sich fragend vor. »Wirst du verkaufen?«
»Kommt nicht infrage. Ich habe heute mit der Mieterin telefoniert. Sie wohnt schon drei Jahre in dem Haus.« Paula sah zu Tanner hinüber. »Hab ich dir das schon erzählt? Ellie Dafatsch heißt die Frau. Ihr Mann ist vor zwei oder drei Jahren gestorben, und ihr jetziger Freund wird zu ihr ins Haus ziehen und möchte das Untergeschoss zu einem Hobbyraum ausbauen. Eine Kellermauer muss versetzt werden. Ich habe ihr schon mal prinzipiell mein Okay gegeben. Morgen oder übermorgen fahre ich zu ihr hin.« Sie wandte sich Tanner zu. »Kommst du mit?«
Tanner nickte. »Vielleicht ist die Frau dunkelhaarig und hübsch.«
Maurizio stellte mit den Worten »Der Sauvignon schmeckt herrlich« sein leeres Glas auf den Tisch.
»Manchmal ist ein Wink mit dem Zaunpfahl nicht ausreichend, dann muss man den ganzen Zaun werfen.« Tanner griff nach der Flasche und schenkte Maurizios Glas voll.
»Sehr aufmerksam.« Maurizio verbeugte sich leicht. »Gibt es keinen neuen Auftrag für dein Detektivbüro? Was machst du eigentlich den ganzen Tag, Tiberio? Ich habe den Eindruck, dir wird langsam fade.«
»Seine Langeweile würde mich nicht stören.« Paula lächelte hintergründig. »Das Problem ist nur, dass ein Mann, der nicht ausreichend beschäftigt ist, der Frau auf die Nerven geht.«
»Keine Angst, Paula.« Tanner lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. »Morgen bin ich den ganzen Tag in Brixen. Nervenschonend weit weg.«
»Tiberios Nichte Heidi wird gefirmt«, sagte Paula zu Maurizio. »Die Familie ruft, und Tiberio folgt.«
»Meine Nichte Heidi ist ein außerordentlich kluges und hübsches Mädchen«, ergänzte Tanner. »Nur meinen Schwager Robert kann ich nicht leiden.«
»Warum?« Die Frage kam von Schluzzer.
Tanner überlegte einige Augenblicke, wie er das am besten beantworten sollte. »Weil er ein Stoanesel ist«, sagte er schließlich. »Robert ist ein knottiger Sauriffl, er hat ein eigenartiges intellektuelles Strickmuster, und außerdem lacht er über meine Witze nicht.«
»Deine Nichte wird gefirmt.« Maurizio runzelte die Stirn. »Ich dachte, es gibt keine Firmungen mehr in Südtirol.«
Tanner nickte. »Meine Schwester Claudia hat mir das erklärt. Zwei Jahre gab es tatsächlich keine Firmung mehr bei uns. Jetzt kommt ein Neustart. Die Kirche will, dass die Firmung zu einer bewussten Entscheidung wird. Nach den zwei Jahren Pause geht das Ganze in Richtung Erwachsenenfirmung. Sechzehn Jahre Mindestalter und ein Jahr Vorbereitungszeit.«
»Du auf einer Familienfeier … das passt gar nicht zu dir.« Paula lachte leise in sich hinein. »Wann fährst du morgen?«
»Gleich nach dem Frühstück. Wenn ich mit dem Verkehr Pech habe, brauche ich mehr als eine Stunde bis Brixen.«
Paula wandte sich Schluzzer zu. »Dein Chef ist auf Reisen. Was machst du in der gewonnenen Freizeit?«
In gespielter Empörung hob Schluzzer die Hände. »Jetzt muss jeder Rechenschaft über seine Freizeit ablegen. Aber bitte: Ich habe morgen schon meinen zweiten Kurs auf der Volkshochschule.«
»Davon haben Sie mir bisher nichts erzählt!«, sagte Tanner, möglicherweise eine Spur zu laut. »Welchen Kurs besuchen Sie?«
Schluzzer lächelte, als hätte er diese Frage erwartet und sich eine Antwort zurechtgelegt. »Chef, ich höre von Ihnen ständig die Aufforderung, bei der Klärung unserer Fälle mehr Logik einzusetzen. Und manchmal höre ich den Vorwurf heraus, nicht genügend davon zu haben. Widerspruchsfrei und konsistent muss man als Detektiv denken können, haben Sie mir schon einige Male erzählt. Ich weiß zwar nicht genau, was das bedeutet, aber ich habe eine Lösung gefunden, wie man Logik trainieren kann.«
»Das interessiert mich, Schluzzer!« Tanner rutschte auf die vordere Kante seines Sessels und beugte sich vor. »Wie trainieren Sie Logik?«
»Ganz einfach, Chef. Ich lerne Schach.«
»Sie lernen … was?«
»Schach. Auf der VHS in Bozen. In der Schlernstraße.«
»Schach … und was bringt das?«
Nun war Schluzzer nicht mehr zu halten. »Ich bin tief eingestiegen, Chef. Denken Sie an Sherlock Holmes, meinen berühmten Kollegen. Er schlägt vor, dass man zur Lösung eines Kriminalfalles zuerst alle Informationen sammeln soll. Bis dahin ist das nur eine Fleißaufgabe, ohne Logik. Doch dann, meint Sherlock, muss man alle unmöglichen Lösungen ausschließen, und das, was schließlich übrigbleibt, ist die Wahrheit. Die einzig richtige Lösung. Analytisches Denken heißt das, sagt unser Schachlehrer auf der VHS. Verstehen Sie den Zusammenhang mit dem Schachspiel, Chef? Wie viele Züge kann man vorausberechnen? Als Detektiv wie beim Schach. Der Gegner ist der Mörder, den man überführen will. Bis er schachmatt ist.«
»Ich bin stolz auf Sie.« Tanner schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Es gibt nur ein Problem, Chef.« Schluzzer zog die Stirn in Falten. »Die Volkshochschule ist teuer. Mit einer kleinen Gehaltsaufbesserung könnte ich …«
»Wie schmeckt dir der Wein?« Tanner drehte sich Maurizio zu und griff nach der Flasche. »Im Keller gibt es noch Reserve.«
Maurizio streckte den Zeigefinger in die Luft. »Eigenartig, ich war über zwanzig Jahre Ermittler in der Questura und nicht einer der schlechtesten und habe meine Fälle meist mithilfe der Logik gelöst. Nur Schachspielen kann ich nicht. Ich kenne nicht einmal die Regeln.«
Das Gespräch verstummte. Schluzzer und seine Cousine Paula warfen sich einen kurzen Blick zu, den Tanner nicht deuten konnte. Schachspiel und Kriminalfälle lösen sind wahrscheinlich zwei völlig unterschiedliche Dinge, dachte er, sprach es aber nicht aus.
Nach einigen Augenblicken kam das Gespräch wieder in Gang. Schluzzer hob sein Glas und prostete Paula zu. »Wie geht es eigentlich Emma?«
»Sie versucht, ihr Studium fertig zu bekommen.«
»Was studiert sie?«
»Emma hat Accounting and Business Administration studiert und macht jetzt noch ihren MBA.«
Schluzzer pfiff durch die Zähne. »Ich weiß zwar nicht genau, was das ist, aber ich bin beeindruckt. Vielleicht gibt es auch einen Schach-MBA. Den würde ich gern machen.«
Maurizio beugte sich zu Tanner und flüsterte ihm zu: »Wer ist Emma?«
»Paulas Tochter. Ich hab sie auch erst ein oder zwei Mal gesehen. Sie studiert in Amerika.« Tanner winkte zu Paula hinüber. »Welche Uni besucht deine Tochter noch mal?«
»Die Western Kentucky University in Bowling Green.«
»Wo ist Kentucky?«, fragte Maurizio.
Paula lachte. »In der flachen Landschaft. Knapp tausend Kilometer westlich von New York.«
Das Gespräch verstummte wieder. Tanner hatte die Landkarte der USA im Kopf und fuhr im Geist von der Ostküste nach Westen, kam jedoch nicht in Kentucky an, sondern verirrte sich irgendwo in einem Waldgebiet in der Nähe von Pittsburgh.
Gut gelaunt stieg Tanner in sein Auto. Begleitet von Ernestos Arie aus Donizettis Don Pasquale schlängelte er sich von der Terrasse am Fuß des Mendelkamms auf der schmalen Straße ins Tal. Die Ruine Leuchtenburg thronte auf dem Mitterberg, der das Etschtal von der Hochebene des Kalterer Sees trennt. Neben der Ruine konnte man noch die steil aufgerichtete Felsformation der Rosszähne erkennen. Die kleine Ortschaft Klughammer am nordöstlichen Ufer des Kalterer Sees verband Tanner vor allem mit dem gleichnamigen Restaurant, in dem er gemeinsam mit Sophia schon viele wohltuende Abende direkt am Ufer verbracht hatte.
Langsam fuhr Tanner die Altenburger Straße ins Tal hinunter, sämtliche Weingüter rechter Hand fest im Blick, die sich auf der Südtiroler Weinstraße wie Perlen aneinanderreihten. Diese Strecke hatte er lieben gelernt, seit er aus Turin wieder in das Überetsch zurückgekehrt war. Fast dreißig Jahre war Tanner bei Fiat im Management beschäftigt gewesen, bis die Fusion mit Chrysler Änderungen im Personalbereich nach sich zog, die dazu führten, dass sein Vertrag aufgelöst wurde und Tanner mit einer mageren Abfindung auf der Straße stand. Während der langen Jahre bei Fiat war er auf der ganzen Welt unterwegs gewesen. Jetzt begann er sich wieder in der alten Heimat wohlzufühlen.
Seine Gedanken blieben bei dem Begriff Heimat hängen. Seit die Rechtspopulisten in der Südtiroler Regierung saßen, war Tanner versucht, den Begriff der Heimat als beinahe fahrlässig zur Seite zu schieben, da er in der Politik als sehr ideologisch verwendet wurde. Der Blick aus dem Auto zeigte ihm die Landschaft, die er so liebte, die Berge und Dörfer rund um den Kalterer See. Hier lebten die Menschen, die er schätzte, seine Freunde, Verwandte, und hier hatten schon seine Eltern und Großeltern gelebt. Tanner wuchs im Südtiroler Unterland auf und ging in Kaltern zur Schule. Er fühlte sich wohl in dieser Gegend, die ihn seit seiner Jugend geprägt hat.
Als er an der Anschlussstelle Bozen Süd auf die A22 fuhr, sah er auf die Uhr. Er würde pünktlich in Brixen sein. Tanner freute sich, seine Schwester Claudia wiederzusehen, mit der er sich einigermaßen gut verstand. Die Erinnerungen an die Kindheit waren fest mit den gemeinsamen Erlebnissen im Elternhaus verbunden, auch wenn Claudia um viele Jahre jünger war. Anders sein Schwager Robert, der eine überhebliche und ignorante Art hatte, die Welt rund um ihn in Besitz zu nehmen. Ein Dompfplouderer eben. Tanner konnte ihn nicht leiden. Wie konnte ein Dottloff wie Robert eine so hübsche und kluge Tochter haben? Auf Heidi freute sich Tanner besonders. Er hatte immer versucht, alle Verwandten, egal ob Nichten oder Neffen gleichermaßen zu lieben, aber aus irgendeinem Grund mochte er seine Nichte Heidi am meisten. Darum hatte er sofort zugesagt, als sie ihn zu ihrer heutigen Firmung eingeladen hatte.
Der Verkehr in Brixen floss wie ein träger Strom dahin, und pünktlich erreichte er das Stadtzentrum, als ihn in der Alpinistraße Bremslichter aus seinen Gedanken rissen. Ein Stau.
Die Firmungszeremonie war bereits im Gang, und lauter Orgelklang begrüßte ihn, als er mit schlechtem Gewissen den bis auf den letzten Platz gefüllten Dom betrat und durch den Mittelgang einige Reihen nach vorn schlich, wo sich ein paar Leute seiner erbarmten, so dass er sich neben eine schwarz gekleidete Frau quetschen konnte. Sie roch intensiv nach Parfum.
Wenn er sich etwas von seinem Platz erhob, konnte Tanner gerade noch einen Teil der Firmlinge erkennen, die vorn beim Altar aufgereiht waren. Hinter jedem stand der Pate, seine rechte Hand auf die Schulter des Schützlings gelegt. Nach Heidi suchte er vergeblich. Sie befand sich wohl auf der anderen Seite der Kirche, da, wo er nicht hinsehen konnte. Jetzt erschien ein dicker Mann, der ein weißes Gewand trug mit viel Gold am Kragen. Das musste der Bischof sein, der, soweit Tanner von seinem aus Platz sah, langsam die Reihe der Firmlinge entlangschritt und jedem ein Kreuz auf die Stirn malte. Tanner konnte sich noch gut an diesen feierlichen Moment bei seiner eigenen Firmung in der Bozner Marienpfarrkirche erinnern. Von Onkel Ludwig, seinem Firmpaten, hatte er eine Armbanduhr geschenkt bekommen. Eine echte Detomaso. Die Uhr existierte heute noch, irgendwo in einer der Schubladen im Wohnzimmer.
Es war ein sonniger Frühlingstag, als sie sich nach der Firmungszeremonie am Platz vor der Kirche umarmten.
»Wir dachten schon, du kommst nicht«, sagte Claudia. »Wie nett. Ich freue mich, dass du hier bist.«
Wie nett … Tanner erinnerte sich daran, dass »nett« immer schon das Lieblingswort seiner Schwester gewesen war. Alles war nett bei ihr. Claudia hat keine Kosten gescheut, dachte Tanner und betrachtete ihr weit geschnittenes Kleid aus schwerem Stoff, der wie ihr kleiner Hut in dunklem Lila gehalten war. Und sie hatte immer noch ihre Kleinmädchenstimme, wie Tanner sie von früher her kannte.
»Hallo«, sagte Robert, der bisher hinter seiner Frau gestanden hatte und Tanner die Hand hinhielt. Sie wechselten einen frostigen Händedruck.
In diesem Moment ging ein Raunen durch die Menschenmenge, und einige traten ehrfurchtsvoll zur Seite, als der Bischof auf den Stufen der Kirche erschien. Begleitet von zwei jungen, schwarz gekleideten Priestern, die freundlich umherblickten, stolzierten sie die Stufen herunter.
Heidi hatte sich bei Tanner untergehakt und drückte sich an ihn. »Ich wäre sehr traurig gewesen, wenn du nicht gekommen wärst, Onkel Tiberio.«
Tanner lächelte Heidi an. »Wie könnte ich meine Lieblingsnichte so enttäuschen?« Mit ausgestreckten Armen hielt er Heidi von sich, um sie anzuschauen. »Dein Firmungskleid ist eine Wucht.« Wie alle weiblichen Firmlinge war Heidi weiß gekleidet, nur war ihr Kleid im Gegensatz zu den anderen weiblichen Firmlingen deutlich tiefer ausgeschnitten, wohl um die Aufmerksamkeit auf ihre kleinen Brüste zu lenken.
»Ach Gott, Anita ist auch da«, stöhnte Heidi auf. Mit dem Kinn deutete sie auf eine etwa vierzigjährige Frau, die ein Mädchen ungefähr in Heidis Alter an der Hand führte.
»Das arme Ding«, flüsterte Heidi.
»Wer ist das?« Tanner bemerkte, dass er auch in ein Flüstern verfallen war.
»Nachbarn von uns. Anita heißt sie. Die schwarz Gekleidete ist ihre Mutter. Schau dir das arme Ding an …«
Das Mädchen, von dem Heidi sprach, hatte sich von seiner Mutter gelöst. Mit kleinen, unsicheren Schritten, wie eine Betrunkene leicht schwankend, näherte es sich einem der beiden Priester, der gerade lachend bei einer Gruppe Frauen stand.
»Was hat das Mädchen?«
»Anita Bortolotti heißt sie«, sagte Heidi. »Ich kenne sie gut. Das junge Ding ist nicht ganz richtig im Kopf. Und ihre Mutter ist furchtbar zu ihr.«
»Bleib da!«, rief die Frau ihrer Tochter Anita nach, die auf den Priester zusteuerte. Die Mutter hatte eine raue Stimme, wie ein Bassbariton. Sie trug einen dicken schwarzen Wollrock und einen dunklen Pullover und grapschte fortwährend nach der Hand ihrer Tochter, die versuchte, ihr zu entkommen.
Da entwickelt sich etwas Eigenartiges, dachte Tanner.
Von der Seite schob sich eine blonde Frau durch die Menschenmenge.
»Das ist Anitas Schwester«, sagte Heidi. »Barbara heißt sie. Was für eine tolle Frau.«
»Barbara gefällt mir besser als die andere.« Die Bemerkung brachte Tanner eine Rüge Claudias ein, die sich von hinten genähert und seinen letzten Satz mitgehört hatte. »Reiß dich zusammen, Brüderchen. An Barbara finden mehr Männer Gefallen.«
»Barbara ist blond wie ein Weizenfeld.« Tanner lächelte. »Und das hagere Mädchen da … wie heißt sie noch mal? Anita … ist dunkelhaarig. Sind das wirklich Schwestern?«
»Halbschwestern«, sagte Claudia. »Gleicher Vater, andere Mutter.«
»Was hat die Dunkelhaarige für eine Krankheit?«
»Anita? Manche behaupten, sie ist vom Teufel besessen.«
In diesem Moment kam es zum Eklat. Die zarte, dunkelhaarige Anita stieß einen schrillen Schrei aus. Tanner, der nur einige Schritte von dem Geschehen entfernt war, sah das schmerzverzerrte Gesicht des Mädchens, dem die Augen hervortraten. Sie hatte die Arme an den Brustkorb gepresst, ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Plötzlich stürzte sie mit einem Wutschrei auf den jungen Pfarrer zu, schlug ihm ins Gesicht und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. »Ich bring dich um«, rief sie und riss am Zipfel des Talars. Der Priester zog ein Kreuz aus seiner Kutte und hielt es hoch. Mit der anderen Hand versuchte er, ihren Arm einzufangen und ihre Schläge abzuwehren. Daraufhin verzerrte sich Anitas Gesicht noch mehr, und ihr ganzer Körper begann, sich in furchtbaren Krämpfen zu winden. »Du Drecksau«, kreischte sie und schlug dem Pfarrer mit der Faust ins Gesicht, dass Blut aus seiner Nase spritzte. »Du Schweinehund!« Dann heulte sie und fiel zu Boden.
Abgesehen von dem Geschrei des Mädchens war es still geworden am Domplatz.
Einige der Menschen bekreuzigten sich und fielen auf die Knie. »Sie lästert Gott«, sagte ein alter Mann und nickte wissend.
Zwei Männer, einer davon der Priester, der sich ein blutgetränktes Taschentuch gegen die Nase drückte, hoben das wie bewusstlos am Boden liegende Mädchen auf und trugen es weg.
Es dauerte einige Zeit, bis wieder Leben in die Umstehenden kam. Auch Tanner war von dem dramatischen Auftritt verwirrt, und so bemerkte er erst jetzt, dass die blonde Schönheit, die Heidi vorhin als Barbara bezeichnet hatte, neben ihm stand. Claudia kam herbei, immer noch blass vor Schreck, und umarmte Barbara. »Das ist schlimmer geworden mit Anita. Warum tut ihr nichts? Deine Schwester gehört zu einem Arzt.« Sie griff nach Tanners Oberarm und sagte: »Das hier ist übrigens mein Bruder. Er ist aus Bozen.«
Sie gaben sich die Hand. Wie alt Barbara wohl ist, fragte sich Tanner, kam aber zu keinem klaren Ergebnis. Fünfundzwanzig. Vielleicht auch etwas älter. Und sie hat einen kräftigen Händedruck. Er schenkte der gut aussehenden Blondine sein freundlichstes Lächeln.
»Gehen wir.« Claudia nickte Barbara zum Abschied zu. An Tanner gewandt sagte sie: »Das Firmungsfestessen ist bei uns im Haus. Ich hoffe, du findest noch hin. Wir haben übrigens auch Mike eingeladen.«
Erst jetzt fiel Tanner der Bursche auf, der schüchtern in einiger Entfernung stand, als ob er sich nicht näher zu kommen traute. Der blasse junge Mann hatte lange Haare, einen Bart und einen, so schien es Tanner, femininen Körperbau.
»Mike, eigentlich Michael … er ist Heidis Freund«, flüsterte Claudia. »Wir dachten, es wäre nett, wenn er bei unserem kleinen Festessen dabei ist.«
»Wie war noch mal die Adresse?«
»Karlspromenade 77. Du fährst über die Andreas-Hofer-Brücke und dann rechts.«
Das GPS leitete Tanner in den Norden der Stadt, wo er auf dem Kreisverkehr beim Interspar die Brennerstraße verließ und dann dem Eisack-Fluss folgte. Als er an seine Schwester dachte, musste er lächeln. Alles ist nett bei ihr. Claudia war immer schon selbstbewusst gewesen. Es gab nichts, was sie aus der Ruhe brachte. Höchstens ein Gespräch über Dinge, die sie nicht verstand. Und deren gab es genug. Claudia hatte Matura und war mit ihrem intellektuellen Strickmuster Robert, ihrem Mann, haushoch überlegen. Die Intelligenteste in der Familie, da gab es für Tanner keinen Zweifel, war jedoch die Tochter Heidi. Außer ihm natürlich.
Die Häuser auf beiden Seiten der Straße sahen alle gleich aus. An manchen Fenstern hingen keine Gardinen, und man sah das Flackern eines Fernsehers. In einigen Zufahrten standen Wohnwagen. Die Straße schlängelte sich einen Hang entlang, der parallel zum Fluss verlief.
Nach einem halben Kilometer erreichte er die Nummer 77. Claudia öffnete ihm. »Nett, dass du da bist.«
In dem kleinen Wohnzimmer standen alle zusammengepfercht und starrten ihn an, als er hereinkam, als ob sie auf ihn gewartet hätten.
Mit einem Mal verspürte Tanner große Lust, die ganze Gesellschaft zu verlassen. Das Festessen, zu dem er eingeladen war, würde von jetzt an noch zwei, vielleicht sogar drei Stunden dauern. So schmackhaft konnte kein Essen sein, dass es über die langweiligen Gespräche hinweghelfen würde, die ihm nun unweigerlich bevorstanden. Wenn er sofort in sein Auto stiege, könnte er in einer Stunde wieder in Bozen sein und auf der Couch liegen, eine dekantierte Flasche Vernatsch neben sich und das Buch »Der Leopard« von Giuseppe di Lampedusa in der Hand, das er vor einigen Tagen begonnen hatte. Oder mit Paula reden. Und dazu vielleicht ein oder zwei von den selbstgebackenen Südtiroler Apfelküchlein.
»Gefällt’s dir bei uns?« Die Frage kam von Claudia. »Unsere neue Wohnzimmereinrichtung hast du ja noch gar nicht gesehen. Nett, nicht? Hat Robert alles selbst gezimmert.«
Robert machte auf sich aufmerksam, indem er beide Hände hob. »Ich bin nun mal handwerklich sehr begabt.«
Tanner sah zu Heidi, und ihre Blicke trafen sich. Sie sah ihn stumm an und zog eine Augenbraue hoch. Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen. Als wollte sie fragen: Was soll man von diesen alten Leuten halten? Vielleicht interpretierte Tanner aber auch die Augenbraue falsch. Er sah sich im Zimmer um. Die Wände waren weiß, indirekt aus nicht sichtbaren Lampen beleuchtet, die so gut wie keinen Schatten gaben. Tanner fühlte sich wie Peter Schlemihl, nachdem er seinen Schatten verkauft hatte.
»Zum Essen gehen wir in die Küche hinüber«, sagte Claudia.
Die Küche war eher eine Kochnische. Zu fünft saßen sie auf der viel zu engen Eckbank, so dass sich ihre Knie manchmal berührten, was Tanner unangenehm war.
Es gab eine blasse Graupensuppe und hinterher Schweinefleisch mit einer graubraunen Zwiebelsoße. Beeindruckt sah Tanner, wie Mike, der neben Heidi saß, sein Stück Fleisch in mittelgroße Stücke schnitt. Dann legte er das Messer weg, um jeden Brocken konzentriert mit der Gabel aufzuspießen und in die Soße zu tauchen, bevor er ihn in den Mund einfädelte.
Claudia öffnete eine Flasche Weißwein und schenkte allen das Glas voll. Lediglich Robert trank keinen Wein, sondern nur Antialkoholisches. Tanner erinnerte sich, dass sein Schwager ein trockener Alkoholiker war. Wahrscheinlich musste er bis heute darum kämpfen, es zu bleiben.
Tanner kannte die ganze Geschichte nur vom Hörensagen, erinnerte sich aber an Gerüchte, dass Robert bereits zum Zeitpunkt seiner Hochzeit mit Claudia von manchen als Säufer eingestuft worden war. Meist kam er angetrunken von der Arbeit nach Hause, und als er im Wohnzimmer den Fernseher aufdrehte, hielten sich alle fern von ihm. An solchen Abenden war Robert ein Nervenbündel, ständig schwankend zwischen depressiven Tiefs und aggressiven Energieausbrüchen, die nicht selten in einem widerlichen Zusammenbruch endeten.
Einmal kam Tanner unangemeldet zu seiner Schwester, die gerade nicht da war, und fand Robert im abgedunkelten Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen, in dem gerade eine Sendung über die Reparatur alter Autos lief. Mit offenem Mund verfolgte Robert den Beitrag, und Tanner musste zwei Mal »Hallo« rufen, bis sein Schwager reagierte.
»Draußen ist Sonnenschein«, sagte Tanner leise. »Wieso sitzt du im Dunkeln? Und warum bist du nicht in der Arbeit? Bist du krank?«
Sein Schwager hatte nur ein Knurren von sich gegeben, aber nicht geantwortet.
Tanner wusste, dass Robert einen einigermaßen gut bezahlten Job bei einer Bozener Industriefirma gehabt hatte, wo es ihm gelungen sein soll, ein oder zwei Erfindungen zum Patent anzumelden. Im Detail hatte Tanner die Geschichte von Roberts Kündigung nie erfahren, aber es lag wohl daran, dass er während der Arbeit trank oder schon betrunken erschien und mehrmals sogar am Schreibtisch eingeschlafen war. Einmal, so ging das Gerücht, sei Robert im Suff beinahe aus dem Fenster gefallen. Aus dem dritten Stock. Das Paar hatte sich gerade eine Eigentumswohnung gekauft, und so musste Claudia eine schlecht bezahlte Stelle als Sekretärin bei irgendeinem karitativen Verein annehmen, um die Familie zu ernähren und die Kreditraten bezahlen zu können. Tochter Heidi, die damals ein kleines Mädchen war, hatte in dieser Zeit die Familie versorgt, gekocht, Wäsche gewaschen und das Haus sauber gehalten.
Tanner sah zu Robert, der sich an sein großes Glas Orangensaft klammerte, und ließ den Blick dann zu dem jungen Mike schweifen, der das offensichtliche Gegenteil eines trockenen Alkoholikers war. Mit beängstigender Geschwindigkeit leerte er ein Glas Wein nach dem anderen, und etwas später fiel ihm zum ersten Mal ein größeres Stück Fleisch, an dem er kaute, aus dem Mund. Als Tanner dem jungen Mann eine Frage stellte, merkte er, dass Mike zwar seine Schüchternheit verloren hatte, aber nicht mehr sauber artikulieren konnte. Nach dem Essen begann er, stinkende, filterlose Zigaretten zu rauchen, und Tanner sah, dass Mike die Asche auf den Linoleumboden fallen ließ, was offenbar niemanden störte.
Nach dem Essen sprachen sie zuerst über das Sakrament der Firmung, und Heidi erzählte, dass ihr die lange Vorbereitung Spaß gemacht habe. »Abgesehen von meinem Glauben weiß jetzt jeder, dass ich kein kleines Mädchen mehr bin, sondern eine junge Dame.«
»Darauf trinken wir!« In Mikes Augen glitzerte der Alkohol. Er hob sein Glas, nickte durch den dichten Zigarettenrauch allen zu und zog die Brauen hoch, als wäre ihm soeben etwas Wichtiges über Heidi klar geworden.
»So nett«, sagte Claudia.
Tanner drehte sich seiner Schwester zu, sah ihr in die Augen und erschrak. Sie hatte die gleichen Augen wie er. Die gleiche Farbe und derselbe Ausdruck. Warum war ihm dies früher nie aufgefallen?
»Kennt ihr dieses Mädchen näher, das den peinlichen Auftritt vor der Kirche hatte?«, fragte Mike in die Runde. Das war der erste vernünftige Satz, den Tanner von dem Jungen hörte.
Die Antwort kam von Heidi: »Anita Bertolotti … Ich war fast zwei Jahre mit ihr in einer Klasse. Dann begannen bei ihr die Probleme, und sie musste den Jahrgang wiederholen.«
»Was hat sie eigentlich?«, fragte Tanner.
»Bei ihr ist eine Schraube locker.« Heidi machte eine Handbewegung, als schraubte sie eine Glühbirne seitlich in ihre Schläfe.
»Sylvia, also ihre Mutter …« Claudia hob den Arm und zeigte zu einem der Fenster. »Sie wohnt mit Anita gleich hier in der Nähe. Aber wir wollen nicht so viel mit ihr zu tun haben. Anita tut uns natürlich leid. Sylvia erzählt allen, dass ihre Tochter vom Teufel besessen sei. Daran glaube ich aber nicht.«
»Was glaubst du?«, meinte Tanner.
»Vor ein paar Tagen hat mir Sylvia erzählt, dass sie Anita zu einem Exorzisten bringen will.«
»Teufelsaustreibung?«
»Gar nicht so selten«, sagte Robert und zwinkerte Tanner zu, als hätte er ein Geheimnis ausgeplaudert.
Claudia nickte. »In Brixen gab es so etwas schon mal. Vor einem Jahr hat eine Frau unseren Pfarrer im Beichtstuhl angegriffen. Gotteslästerungen soll sie ausgestoßen haben, und den Priester hat sie geschlagen. Die Kirche war damals sogar ein paar Tage gesperrt. Der Pfarrer hat daraufhin einen Exorzisten geholt. Von unserer Wallfahrtskirche. Gemeinsam mit drei Ordensbrüdern haben sie einige Tage lang versucht, den Teufel aus dem Leib der Frau zu vertreiben. Und das im einundzwanzigsten Jahrhundert. Hoffentlich bleibt Anita so etwas erspart. Aber Sylvia ist eine verbissene Esoterikerin. Der traue ich alles zu.«
Tanner dachte einige Augenblicke nach, deutete auf seinen leeren Teller und streckte den rechten Daumen nach oben, um anzuzeigen, dass ihm das Essen geschmeckt hatte. »Diese blonde Frau, die du mir vorgestellt hast … Barbara hieß sie wohl … Wohnt die auch hier in eurer Nachbarschaft?«
»Mein lieber Bruder, uns ist natürlich allen aufgefallen, wie du um Barbara herumgeschlichen bist. Was würde wohl deine Paula dazu sagen?«
»Erstens bin ich nicht um sie herumgeschlichen, und zweitens erfährt Paula es nicht. Außer einer von euch denunziert mich.«
»Barbara wohnt in Klausen«, sagte Heidi. »Aber pass auf. Die Frau ist gefährlich.«
Claudia verließ kurz die Küche und kam mit einem Schreibheft zurück, das sie Tanner sichtbar stolz überreichte.
»Kannst du dich noch daran erinnern?«
»Meine frühen schriftstellerischen Werke.« Tanner hob den Kopf. »Wo hast du das her?«
»Ich habe es in Mamas Unterlagen gefunden. Offenbar hat sie alles von dir aufgehoben.« Claudia verzog säuerlich das Gesicht. »Sie war ja so stolz auf dich und alles, was du getan hast. Mir ist neulich eine Tasche mit Mamas altem Kram untergekommen, und da war das drin. Freust du dich?«
Wortlos blätterte Tanner in dem Schreibheft, während ihn alle anstarrten. Wie alt war er, als er das schrieb? Fünfzehn vielleicht. Oder sechzehn. Schriftsteller wollte er damals werden. Während er die vielen mit krakeliger Schrift gefüllten Seiten überflog, kamen Gedanken aus seiner Jugendzeit zurück, die ihn mit Wehmut erfüllten.
Auf einer Seite stieß er auf ein sechszeiliges Gedicht:
Es war einmal ein Speer;
War um einiges zu schwer.
Speer flog deshalb viel zu kurz;
Die Flugbahn endete mit Sturz.
Publikum wartete noch sehr
Auf den viel zu schweren Speer.
Ringelnatz lässt grüßen, dachte Tanner. Er blätterte weiter, fand jedoch keine weiteren Gedichte mehr.
»An dir ist kein Dichter verloren gegangen«, sagte Robert, und alle begannen zu lachen.
»Ich nehme alle meine Jugendwerke an mich.« Mit einer theatralischen Armbewegung sah er auf seine Armbanduhr und stieß einen erstaunten Ruf aus. »Es ist schon spät, und ich habe noch einen weiten Weg vor mir.«
»So nett, dass wir alle wieder einmal zusammen waren.« Der Hinweis kam natürlich von Claudia.
Als Tanner später den Motor startete, war er sicher, dass er nicht mehr Auto fahren durfte.
Es war schon zehn Uhr vorbei, als er zu Hause ankam. Müde öffnete er die Autotür, hob sich langsam und unter leichten Rückenschmerzen aus dem Wagen und steuerte auf das unbeleuchtete Gebäude zu. Offenbar lag Paula schon im Bett, denn hinter den Fenstern im oberen Geschoss, wo sich die Küche befand, war es dunkel.
Er zog seine Schuhe aus, warf zielsicher sein Sakko an den Garderobenhaken und wunderte sich über einen fremden Mantel und eine modische Damenjacke, die da hingen. Aus dem Wohnzimmer waren Stimmen zu hören. Langsam schlich er näher und hielt das Ohr an die Tür. Zwei Frauen. Eine davon war Paula. Auf der Stelle überfiel ihn schlechtes Gewissen. Darf man an der Tür lauschen? Man darf. Wenn es die eigene Tür ist. Aber es war eigentlich Paulas Haus. Mutig betrat er das Wohnzimmer, in dem es nach Essen und Alkohol roch. Die Luft war blau von Zigarettenrauch. Auf der Couch saß Paula gemeinsam mit ihrer Tochter Emma.
»Das ist aber eine Überraschung«, sagte er und ärgerte sich, dass ihm keine intelligentere Begrüßung eingefallen war. »Kentucky, knapp tausend Kilometer westlich von New York, habe ich mir gemerkt. Du hast eine gewaltige Reise hinter dir.«
Emma lächelte. »Louisville, Kentucky bis Milano waren genau acht Stunden und zwanzig Minuten.«
Ungefähr fünfundzwanzig Jahre dürfte Emma jetzt sein … und eine ganz Hübsche ist sie, dachte Tanner. Er suchte nach einer Ähnlichkeit mit Paula, fand jedoch keine. Im Unterschied zu ihrer Mutter trug sie ihr Haar kurz geschnitten. Etwas abgenommen hatte sie, aber es stand ihr gut. Er rechnete nach, wann er Emma zuletzt gesehen hatte, kam aber zu keinem klaren Ergebnis. Mindestens zwei Jahre her. Auf dem Tisch stand eine halb volle Rotweinflasche. Er holte sich ein Glas aus der Vitrine, hielt es gegen das Licht und goss es zur Hälfte voll. »Zum Wohl«, sagte er und an Emma gewandt: »Schön, dass du da bist.«
»Mein lieber Tiberio!« Paulas Stimme klang bedrohlich. »Wenn du eines meiner Weingläser aus dem Schrank holst, brauchst du es auf Sauberkeit nicht zu prüfen. Und zweitens ist das der Rotwein von Emma und mir. Deiner ist im Keller. Wenn ich jedoch deinen Atem richtig interpretiere, hast du heute schon Wein getrunken.«
»Alles für die Familie und das Sakrament der Firmung«, sagte er. Paula verzog das Gesicht, also warf er einen Blick zu Emma, um zu sehen, ob wenigstens bei ihr der Scherz angekommen war. Doch sie schien in Gedanken versunken zu sein, saß mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck da und starrte auf einen imaginären Punkt an der Wand. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Verstohlen sah Tanner von einer zur anderen. Was war los zwischen den beiden? Eine eigenartige Stimmung lag in der Luft, die Tanner deutlich spüren, aber nicht beschreiben konnte. Möglicherweise eine Mischung aus Feindseligkeit und Spannung.
»Wie war’s bei deiner Schwester?« Mit dieser Frage beendete Paula die Gesprächspause.
»Ich geh mal meinen Koffer auspacken«, sagte Emma, sprang auf und marschierte aus dem Zimmer.
Tanner rutschte im Sessel nach vorn und sah Paula an. »Was ist los?«
Sie sah zur Tür, hinter der Emma verschwunden war, dann lächelte sie traurig und flüsterte: »Einmal Mutter, immer Mutter. Ich mag jetzt nicht darüber reden.«
»Zu deiner Frage: Mein Schwager ist ein Lopp, und meine Nichte Heidi hat sich einen Bsuff als Freund ausgesucht.«
»Wer sich in die Familie begibt, kommt darin um«, sagte sie.
»Und danach gab es einen unliebsamen Auftritt eines Mädchens, von dem seine Mutter behauptet, dass es vom Teufel besessen sei.«
»Gibt es so etwas?«
Tanner hob die Schultern. Er beschrieb Anitas Angriff auf den jungen Priester und die wüsten Beschimpfungen, erzählte von der Halbschwester Barbara und der eigenartigen Einstellung der Mutter.
Nach der langen Erzählung zog Paula die Augenbrauen hoch. »Ist dir aufgefallen, dass du schon zwei Mal den Namen Barbara erwähnt hast?«
»Was schließt du daraus?«
»Lass mich raten: sehr blond und viel Busen.«
»Nun bin ich beleidigt.« Tanner verzog das Gesicht. »Du stellst mich als Lüstling hin, der nur nach Äußerlichkeiten geht.«
»Männer sind nun mal sehr einfach denkende Geschöpfe.« Sie lächelte und klopfte neben sich auf die Couch. »Setz dich zu mir, oder geh gleich Zähneputzen. Und dann ab ins Bett. Du siehst müde aus.«
Manchmal wachte Tanner sehr früh auf. Obwohl meist seine innere Uhr dafür sorgte, dass er erst munter wurde, wenn die Sonne schon am Himmel stand, gab es Tage, an denen er sich bereits vor Paula ausgeruht fühlte. Das hat mit dem Hormon Melatonin und der Zirbeldrüse zu tun. Diese Weisheit hatte er von Lorenz, einem ehemaligen Klassenkameraden, der in Margreid eine Arztpraxis mit angeschlossener Klinik unterhielt.
Den Ärger über seine frühe Munterkeit schob er beiseite und warf einen liebevollen Blick auf Paula, die sich gerade leise seufzend umdrehte. Träge schwang er die Beine aus dem Bett.
In der Früh fand sich Tanner wenig attraktiv, und so versuchte er, sich zu rasieren, ohne sein Gesicht im Spiegel anzusehen. Durch das kleine Badezimmerfenster kündeten die Geräusche der vorbeifahrenden Autos davon, dass es Menschen gab, die noch wesentlich früher als er aufgestanden waren.
Es klopfte fordernd. »Lass mich rein!« Das war Paula. »Ich muss auf die Toilette!«
Mit der Zahnbürste im Mund verließ er das Badezimmer und ließ Paula eintreten.
Als er dann im Bad seine Morgentoilette beendete, kam ihm jener Tag ins Gedächtnis, an dem er zum ersten Mal entdeckte, dass sein Körper älter wurde. Wenn er die Finger ausstreckte, legte sich die Haut auf der Oberseite der Hand in hässliche Runzeln. Wo waren die Zeiten geblieben, in denen es ihm, wenn auch mit Mühe, gelungen war, den Bauch einzuziehen, wenn auf der Straße eine hübsche Frau vorbeiging? Plötzlich bekamen die Oberschenkel eine faltige Haut, als ob er sich stundenlang im Wasser aufgehalten hätte. War das Cellulitis? Bis dahin war Tanner überzeugt, dass dies nur Frauen bekämen. Das ist der bevorstehende Verfall, dachte er niedergeschlagen, der Übergang vom Mittelalter zum Alter, und dann kam der Tod als nächste Stufe.
Mit der Frage »Wo ist eigentlich deine Tochter?« kam Tanner aus dem Badezimmer.
Paula zögerte mit ihrer Antwort. Sie machte den Eindruck, als müsste sie darüber nachdenken.
Als sie beim Frühstück in der Küche saßen, sagte sie schließlich: »Emma ist schon in der Stadt. Sie trifft sich mit einer Freundin aus alten Zeiten. Du bist heute auch schon früh aufgestanden. Die Gerontologie nennt das senile Bettflucht. Außerdem hast du fürchterlich geschnarcht.«
»Das glaube ich nicht.«
»Doch. Das beweist, dass du der Einzige bist, der bei diesem Schnarchlärm schlafen kann.«
»Deine Bemerkung passt gut zu meinen abschreckenden Gedanken, die ich heute schon im Badezimmer hatte.« Tanner sah auf die Uhr. »Fahren wir.«
Als sie im Auto saßen und auf der SS 38 Richtung Meran unterwegs waren, spürte Tanner, wie bei ihm die gute Laune durchbrach. Die Sonne schien, es war einer jener Tage im Frühjahr, an denen man das Gefühl hatte, dass sich das Jahr an der Grenze zwischen Winter und Sommer befand. Mit einem leichten Übergewicht des Sommers.
»Danke, dass du mich zu meiner Mieterin begleitest«, sagte Paula und tätschelte kurz seinen Unterarm.
Er zeigte aus dem Fenster. »Da oben liegt noch Schnee.«
»Weißt du, wie die Berge da vorne heißen?«, fragte Paula.
»Sag mir lieber, wie deine Mieterin heißt. Die war doch Teil deiner Erbschaft.«
Paula lachte. »Da vorne, das ist die Texelgruppe, der Gipfel mit dem Schnee ist übrigens ein runder Dreitausender und heißt Zielspitze, der da hinten ist der Ifinger und gehört schon zu den Sarntaler Alpen. Frauen, die sportlich unterwegs sind, kennen die Berge.«
»Du klingst wie mein alter Geografielehrer. Wie heißt nun die Mieterin?«
»Ellie Dafatsch. Eine nicht ganz arme Frau. Was das Geld betrifft.«
»Wie alt ist sie?«
»Fünfzig, schätze ich.«
»Verheiratet?«
»Witwe. Seit zwei Jahren, glaube ich. Und nun hat sie wohl wieder einen Freund, erzählte sie mir am Telefon.«
»Diese Ellie wohnt schon drei Jahre im Haus, hast du gesagt. Kennst du den Mietvertrag?«
»Jetzt bricht bei dir der Manager durch.« Sie deutete mit dem Daumen nach hinten. »Eine Kopie des Vertrages liegt auf dem Rücksitz.«
»Und?«
»Nichts und. Ein ganz normaler Standardvertrag.«
Nach Meran bog die Straße in einer weiten Linkskurve, stets der Etsch folgend, nach Westen ab, auf der sie zehn Minuten später den Ort Rabland durchquerten.
»Was wirst du eigentlich mit dem Haus machen, das du geerbt hast? Verkaufen oder behalten?«
»Behalten und weitervermieten.« Paulas Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Und bevor du fragst, ich hab mit Gernot gesprochen …«
»Bevor du weiterredest … Wer ist Gernot?«
»Den hast du sogar schon mal getroffen. Mein Steuerberater.«
»Und was sagt dein Gernot?«
»Das ist nicht mein Gernot. Er berät mich. Und er sagt, dass ich mit dem Vermieten eine Bruttorendite von rund fünf Prozent erwirtschaften kann. Wenn ich das Haus verkaufe und das Geld zur Raiffeisenbank in Bozen trage, sind die Zinsen deutlich niedriger.«
»Gernot ist klug.«
»Die Erbschaftsgeschichte war übrigens gerade abgeschlossen, da hat sich ein eigenartiges Immobilienbüro gemeldet. Sie hätten einen Interessenten, der das Haus kaufen möchte.«
»Das kenne ich schon. Und was war deine Reaktion?«
»Auf keinen Fall, habe ich gesagt. Ich verkaufe nicht.«
Beim nächsten Kreisverkehr verließen sie die SS 38 und nahmen die Hauptstraße Richtung Ortszentrum von Naturns. »Da hinein geht’s übrigens zur Prokulus-Kirche.« Paula zeigte nach rechts. »Eigentlich sollten wir uns die wieder mal ansehen, aber ich habe Ellie versprochen, dass wir um zehn Uhr da sind.«
»Deine Tochter Emma …« Tanner sah zu Paula hinüber, deren Gesicht keine Regung zeigte. »… hat sie irgendwelche Schwierigkeiten? Ist sie krank?«
»Ich möchte nicht darüber reden.«
»Dann zu einem anderen Thema. Wie alt ist das Haus eigentlich, das du geerbt hast?«
»Keine Ahnung. Siebzig, achtzig Jahre mindestens.«
»Da kommen Reparaturen auf dich zu, mein Schatz. Die musst du von Gernots Rendite abziehen.«
»Ich verkaufe nicht«, sagte sie trotzig. »Ganz im Gegenteil. Ellie ist dabei, den Keller umzubauen. Dazu hat sie sich schon von Erbtante Gisela das Okay geholt. Schriftlich übrigens. Und ich werde das Okay nicht widerrufen.«
»Keller umbauen … was heißt das?«
»Die Frau hat einen Mann kennengelernt … Josef heißt der. Glaube ich zumindest. Und dieser Josef hat vor, bei Ellie einzuziehen, will aber einen großen Raum im Keller für seine Liebhabereien haben. Verstehst du? Der Mann ist Hobbytischler oder so etwas Ähnliches. Wir werden es gleich sehen, die Arbeiten im Keller sind schon seit einiger Zeit im Gang. Im Moment, so habe ich Ellie am Telefon verstanden, ist eine Mauer im Keller schon zur Hälfte abgerissen.«
»Josef der Hobbytischler«, sagte Tanner leise.
»Wir sind da.« Paula deutete aus dem Wagenfenster. »Du kannst direkt vor der Tür parken.«
Es war ein beinahe idyllisches Haus, dem man das Alter ansah. Tanner ging auf die andere Straßenseite hinüber und besah sich die Vorderfront des Gebäudes, das etwas vom Gehsteig zurückgesetzt war. Ein kleines Einfamilienhaus mit je vier Fenstern an der vorderen Fassade. Zwei zu ebener Erde, zwei oben. Hinter dem Fenster im Erdgeschoss brannte ein spärliches Licht, und Tanner sah eine Bewegung hinter der Gardine, einen Schatten, der sich vorbeibewegte und dann verschwand.
»Deine Mieterin wartet schon auf uns.«
Ein großer Müllhaufen war im Vorgarten aufgeschichtet, überall lagen Fetzen von Teerpappe und ganze Berge von Steinen und zerbrochenen Ziegelteilen wild durcheinander. Die Bauarbeiten waren voll im Gang.
»Arbeiten die heute?«, fragte Tanner und zeigte auf die Schuttberge im Garten.
»Soweit ich weiß, machen die Arbeiter erst nächste Woche weiter.«
Die Staatsstraße war offenbar nicht weit entfernt, denn man hörte den Lärm der Autos. Hat alles Einfluss auf die Rendite, dachte Tanner, sagte es aber nicht. Ein Mann mit einem langhaarigen Windhund kam ihnen auf dem Gehsteig entgegen, als sie den Vorgarten betraten, in dem ein schmaler Weg aus Betonplatten zur Haustür führte.
Paula läutete. Keine Reaktion. »Eigenartig.« Sie sah auf ihre Uhr. »Wir waren fest verabredet.«
Die Haustür war unversperrt. Dicker Staub lag auf dem gefliesten Boden im Vorzimmer.
»Das ist das Wohnzimmer.« Paula klopfte kurz und trat ein. Leise Musik war zu hören. Sa Bastasse Una Canzone. Eros Ramazzotti. Tanner erkannte die Reibeisenstimme. Das Wohnzimmer war leer.
Paula ging ins Vorzimmer zurück und rief laut nach Frau Dafatsch. Keine Reaktion. Im ganzen Haus herrschte Totenstille.
»Vielleicht im Keller.«
Paula zeigte auf die Stiege, die in den ersten Stock führte. »Ich gehe kurz rauf.«
Tanner schüttelte den Kopf. »Wirklich eigenartig. Ich habe vorhin jemanden hier im Erdgeschoss gesehen.« Er ging in die Küche, die ebenfalls menschenleer war. Alles wirkte aufgeräumt und sauber.
Er warf noch einen Blick ins Badezimmer, dann kam Paula vom ersten Stock zurück. Sie hatte ihr Handy am Ohr. »Oben ist kein Mensch, und ans Telefon geht keiner ran.«
Langsam stiegen sie die Treppe hinunter in die Dunkelheit. Plötzlich war da eine Bewegung. Erschrocken zuckte Paula zusammen. An ihren Füßen vorbei raste eine schwarze Katze die Stiege hinauf.
»Das war deine Bewegung von vorhin.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Da war der Schatten einer Person zu sehen. Und ich glaube, in der Küche.«
Tanner drückte den Lichtschalter. Eine Leiche lag im Vorraum des Kellers. Paula schrie auf und blieb wie erstarrt stehen. »Um Gottes willen! Das ist Ellie Dafatsch!«
Tanner war sicher, dass die Frau tot war. »Bleib, wo du bist!« Er sah zu Paula zurück, die sich zitternd an der Wand abstützte.
Vorsichtig trat er dicht an den leblosen Körper heran, ging in die Knie und sah der Toten ins Gesicht. Etwas Rouge auf den Wangen und ein bisschen Lidschatten. Die Augen waren weit geöffnet und gaben dem Gesicht einen überraschten Eindruck, als wäre sie nicht damit einverstanden, was über sie hereingebrochen war.
»Ellie Dafatsch«, flüsterte Paula. »Furchtbar! Was ist mit dir passiert?«
»Sie ist tot«, sagte Tanner. »Ich bin kein Arzt, aber meiner Meinung nach wurde sie erdrosselt. Hier am Hals hat sie blauviolette Flecken. Ich kenne das von einem früheren Fall. Wahrscheinlich stand der Mörder hinter ihr, als er sie erwürgt hat.«
»Um Gottes willen«, stöhnte Paula und griff sich an den Hals.
Tanner erhob sich, verlor kurz das Gleichgewicht und hielt sich am Türrahmen fest. Er konnte seinen Blick nicht von der Leiche abwenden, die leicht gekrümmt halb auf dem Rücken lag. Stabile Seitenlage hieß das bei der Ersten Hilfe. Das Kleid der Frau war bis über die Knie hochgerutscht, ihr brünettes Haar war struppig und wirr durcheinander.
»Das Haus bringt dir kein Glück«, sagte Tanner. »Zuerst stirbt die Erbtante und nun die Mieterin.«
»Die arme Frau.« Erschrocken hielt sich Paula die Hand vor den Mund. »Was machen wir jetzt?«
»Wir rufen die Polizei.« Tanner zeigte nach oben. »Aber zuerst sehen wir uns im Haus um, ob was geklaut wurde. Vielleicht war es ein Einbrecher, der bei seiner Arbeit gestört wurde.«
Plötzlich erstarrten sie. Oben im Haus waren Geräusche zu hören. Schnelle, trampelnde Tritte. »Er ist noch im Haus«, rief Tanner. Mit fliegenden Haaren rannte er die Treppe nach oben und sah gerade noch jemanden aus dem Haus laufen. Ein Mann. Eindeutig ein Mann. Er konnte strähnige dunkle Haare erkennen und dass der Bursche Jeans und eine dunkelblaue Jacke trug.
Tanner spürte, wie das Adrenalin in seine Adern schoss. Verdammt! Jetzt würden sich zehn Kilo weniger und ein regelmäßiges Fitnesstraining auszahlen, das ihm Paula so oft schon empfohlen hatte. Ohne zu zögern lief er dem Mann hinterher, der bereits um die Ecke verschwunden war.
Der Typ vor ihm war in einen grasbewachsenen Fußweg eingebogen. Vicolo San Zeno
