Vergissmeinnicht - Was bisher verloren war - Kerstin Gier - E-Book
BESTSELLER

Vergissmeinnicht - Was bisher verloren war E-Book

Kerstin Gier

0,0
16,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Saum ruft: Der zweite Band der Vergissmeinnicht-Trilogie lädt zum Träumen ein.  Mit Feen abzuhängen, durch Portale in eine Parallelwelt zu spazieren und Superkräfte zu besitzen, daran hat Quinn sich mittlerweile gewöhnt. Blöd nur, dass ihn jedes Geheimnis, das er aufdeckt, vor neue Rätsel stellt. Ohne Matilda und ihre ganz spezielle Art, den Dingen auf den Grund zu gehen, wäre er völlig aufgeschmissen. Dass er sie doch eigentlich vor den Gefahren des Saums beschützen wollte, hindert Matilda nicht daran, sich kopfüber ins Abenteuer zu stürzen. Denn die beiden müssen dringend ein paar Fragen klären: Steckt eine Geheimgesellschaft hinter dem Tod von Quinns Vater? Wie bändigt man eine Sphinx– und erst die intrigante neue Mitschülerin? Und kann man überhaupt verliebt sein, wenn man ständig in Lebensgefahr gerät? »Stell dir nur mal vor«, sagte Matilda begeistert. »Wir beide in einem Wal-Zeppelin!« Jetzt schien Quinn endlich zu kapieren. Seine Augen weiteten sich. »Nur über meine Leiche.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 617

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kerstin Gier

Vergissmeinnicht

Was bisher verloren war

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Mit Feen abzuhängen, durch Portale in eine Parallelwelt zu spazieren und Superkräfte zu besitzen, daran hat Quinn sich mittlerweile gewöhnt. Blöd nur, dass ihn jedes Geheimnis, das er aufdeckt, vor neue Rätsel stellt. Ohne Matilda und ihre ganz spezielle Art, den Dingen auf den Grund zu gehen, wäre er völlig aufgeschmissen. Dass er sie doch eigentlich vor den Gefahren des Saums beschützen wollte, hindert Matilda nicht daran, sich kopfüber ins Abenteuer zu stürzen. Denn die beiden müssen dringend ein paar Fragen klären: Steckt eine Geheimgesellschaft hinter dem Tod von Quinns Vater? Wie bändigt man eine Sphinx– und erst die intrigante neue Mitschülerin? Und kann man überhaupt verliebt sein, wenn man ständig in Lebensgefahr gerät?

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kerstin Gier, Jahrgang 1966, hat 1995 ihr erstes Buch veröffentlicht und schreibt seither überaus erfolgreich für Jugendliche und Erwachsene. Ihre Edelstein-Trilogie und die »Silber«-Bücher wurden zu internationalen Bestsellern, mehrere Romane von ihr sind verfilmt worden. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

Prolog

Einige Wochen später

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Epilog

Nachwort

Personenverzeichnis

Für alle, die sich manchmal verloren fühlen.

Ihr seid nicht allein.

Prolog

Es ging alles so schnell, dass Jeanne d’Arc nicht mal Zeit für einen Gedanken hatte, außer vielleicht für ein nicht sehr einfallsreiches »Verdammt!«. Der Junge, Quinn, wirbelte mit einem seltsam ruhigen Gesichtsausdruck zu ihr herum und fegte sie mit einer einzigen Handbewegung von den Beinen. Die Flammen in ihrer Hand hatten keine Chance gegen den Luftstrom, den er scheinbar mühelos kontrollierte. Mit dem Kopf voran schoss sie über das Dach an ihm vorbei auf das Portal zu. Das Einzige, was sie tun konnte, war, Arme und Beine anzuspannen, wie eine Katze, die man aus dem Fenster wirft, möglicherweise fauchte sie auch, dann war sie auch schon durch das flimmernde Feld des Portals hindurch. Nicht so anmutig, aber sehr viel weicher als befürchtet landete sie auf der anderen Seite in einer halbkreisförmigen Sitzgruppe, die so aufgestellt war, als rechnete man geradezu damit, dass die Leute nicht gesittet durch dieses Portal spazierten, sondern hindurchgeschleudert wurden.

Jeanne schaute direkt in die gelben Augen einer Federschlange, die nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht lag und wie ein erschrockenes Sofakissen dreinschaute. Während sie sich aufrappelte, erhaschte sie einen letzten Blick auf den Jungen und das sturmumtoste Dach des Ärztezentrums, dann fiel eine verzierte Eichentür vor dem kollabierenden Flimmerfeld ins Schloss, und es wurde schlagartig still.

Bis Jeanne jemanden atmen hörte. Sie fuhr herum.

Severin! Er hatte nicht so viel Glück bei der Landung gehabt. Ihn und einen Stuhl hatte es offenbar über die Sitzgruppe hinweg bis an die gegenüberliegende Wand katapultiert, er lag vor einer weiteren schweren Tür voller Schnitzereien. Die vier Wände des kleinen Raums bestanden quasi nur aus solchen Türen, eine neben der anderen. Jeanne zählte insgesamt dreizehn. Zwischen den Ornamenten konnte sie die Zahlen erkennen, mit denen sie gekennzeichnet waren. Bis auf eine waren alle Türen durchnummeriert, Severin kauerte in ungesund verdrehter Haltung vor Nummer 6, die Tür, durch die sie gekommen waren, trug die Nummer 11. Vor Nummer 4 rekelte sich eine weitere Federschlange, eine dritte kroch auf Severin zu. Die auf der Sitzgruppe war immer noch dabei, sich zu sammeln.

Jeanne strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Mit Severin und drei Federschlangen würde sie es allemal aufnehmen, so wütend, wie sie gerade war, trotzdem wusste sie, dass es ratsam war, so schnell wie möglich zu verschwinden, bevor jemand anderes sie entdeckte. Das hier war selbst für sie gefährliches Terrain.

»Na, Liebster? Ist das Genick gebrochen?«, fragte sie mit zuckersüßer Stimme, während sie ihren Blick prüfend über die Türen hinter Severin gleiten ließ. Welche würde sie hier rausbringen? »Wer hätte gedacht, dass ein kleiner Nachfahrenbengel und sein menschliches Fangirl es mit zwei Nex der Extraklasse aufnehmen können? Obwohl – die Extraklasse ist bei dir ja schon etwas länger her.«

Severin rückte seine Knochen mit übelkeiterregenden Geräuschen wieder in Position. Wäre er woanders als im Saum gelandet, hätte er wohl niemals wieder aufstehen können. »Diese verfluchten Krähen kamen garantiert von den Feen, Cassian weiß wahrscheinlich schon Bescheid.« Mit einem letzten Knacken seiner Wirbel richtete er sich auf. »Wir müssen uns also eine verflucht gute Geschichte ausdenken.« Er sah sie an. »Ich weiß, du bist sauer, Darling, aber wir beide sollten jetzt unbedingt zusammenhalten.«

»Zusammenhalten?« Jeanne gab den zuckersüßen Tonfall auf. »Sag doch einfach, dass ich dir den Arsch retten soll.«

»Ich versichere dir, es wird sich auch für dich lohnen.« Severin versuchte, seiner Stimme einen verheißungsvollen Klang zu verleihen. »Willst du denn nicht wissen, wo wir hier sind?«

»Vergiss es!« Jeanne schnaubte. »Schwarzmagische Runenschnitzereien, Federschlangen und eine Sitzgruppe, überzogen mit Norwegermuster – glaub mir, ich weiß, wo ich bin. Und für wen du arbeitest. Geschmacklosigkeit ist sein Markenzeichen.« Sollte sie einfach die nächstbeste Tür benutzen? Oder sollte sie Severin vorher noch einmal das Genick brechen? Ihr war gerade danach. »Ich wusste es in dem Moment, als du das Portal geöffnet hast. Wie tief muss man eigentlich sinken, um für einen Psychopathen wie Frey zu arbeiten?« Ihre Stimme triefte jetzt vor Verachtung. »Undercover als Physiotherapeut, du lieber Himmel!«

Befriedigt registrierte sie den betroffenen Ausdruck, der kurz über Severins Gesicht huschte.

Dann zuckte er mit den Schultern. »Das hohe Ratsmitglied Frey ist auch nicht schlimmer als die anderen. Und seine Zahlungsmittel sind … nun ja … einzigartig. Weshalb ich immer wieder gern für ihn arbeite.« Er lachte kurz auf, bevor er spöttisch fortfuhr: »Während du, Darling, dich seit Jahrhunderten völlig umsonst abrackerst, immer in der Hoffnung, endlich mal ein Lob von deinem Boss zu bekommen. Wenn du willst, erzähle ich ihm gern, wie sehr du dich ins Zeug gelegt hast, um diesem Undercover-Physiotherapeuten hier« – er zeigte mit beiden Daumen auf seine breite Brust – »Informationen zu entlocken. Hinter seinem Rücken. Ich bin neugierig: Was hattest du eigentlich genau vor? Wolltest du ihm Quinn vor die Füße legen, wie eine Katze, die eine Maus anschleppt?«

Jetzt war es an ihr, zusammenzuzucken, zumindest innerlich. Dieser Mistkerl hatte ihren wunden Punkt getroffen. Aber sie würde ihm nicht den Gefallen tun, darauf einzugehen. Ihr »Boss« würde sie wenigstens nicht umbringen. »Einzigartige Zahlungsmittel, aha«, wiederholte sie langsam. »Glaube ich sofort. Einzigartig und illegal. Wie diese Portale hier. Und wie das, was Frey mit dir anstellen wird, wenn er hört, dass du deinen Auftrag so was von vergeigt hast. Stimmt es, was man sich erzählt? Füttert er seine Blutwölfe wirklich bevorzugt mit Leuten, die bei ihm in Ungnade gefallen sind?«

Severins Augen weiteten sich, als dämmerte ihm jetzt erst, dass er nicht nur ein Problem mit Cassian und den Feen hatte. »Das ist deine Schuld«, sagte er. »Diese dumme Göre! Wenn sie uns nicht zusammen gesehen hätte und du nicht beschlossen hättest, sie vom Dach zu werfen …«

»… dann hätte dein kleiner Patient vielleicht nie bemerkt, dass er sich in einen Tornado verwandeln kann, schon klar«, ergänzte Jeanne. Sie hatte ihren Blick wieder auf die Türen gerichtet. Wenn sie nicht selber als Futter für die Blutwölfe enden wollte, war es allerhöchste Zeit abzuhauen. Nur wollte sie nicht blindlings durch ein Portal stolpern und womöglich direkt in einem von Freys Blutwolfzwingern oder seiner berüchtigten norwegischen Folterkammer landen. Egal – sie musste jetzt eine Entscheidung treffen.

»Lass uns …« Als habe Severin ihre Gedanken gelesen, kam er auf sie zu. Die Federschlangen drehten ebenfalls ihre Köpfe in ihre Richtung und ließen ihre spitzen Eckzähne sehen. Widerliche Viecher. »Jeanne, Darling! Wenn wir jetzt klug handeln, können wir aus diesem Fiasko noch einen Vorteil …«

Jeanne wartete nicht, bis er sie erreicht hatte. Mit drei großen Schritten war sie bei der einzigen Tür, die keine Nummer trug, drückte die Klinke hinunter und stieß sie auf. Zu ihrer Erleichterung befand sich dahinter kein Flimmerfeld, sondern ein heller Korridor, durch dessen Fenster sie die perlmuttschimmernde Sternwarte sehen konnte, das schneckenhausförmige Regierungsgebäude der Arkadier. Sie hatte richtig geraten. Hier ging es direkt hinaus auf die Straße.

Triumphierend drehte sie sich zu Severin um und setzte mit einer einzigen geschmeidigen Handbewegung die hässliche Sitzgruppe in Brand. »Du kannst jetzt natürlich Alarm schlagen und versuchen, mich einzufangen, um bei Frey von deinem eigenen Versagen abzulenken!«, sagte sie, während die Flammen sich knisternd in das Gewebe fraßen. Das Schlangensofakissen fing ebenfalls Feuer, die Federn brannten lichterloh. »Aber wir beide wissen, dass du besser beraten wärst, dich vor deinem Auftraggeber und seinen Leuten zu verstecken, solange du noch kannst, Liebster.«

Severin war stehen geblieben. Seine Kiefer mahlten. Er wusste, dass sie recht hatte. Und dass sie im Zweifel ohnehin schneller war als er. Ein paar Sekunden lang starrten sie einander an, beide sprungbereit, während die Federschlange auf dem Sofa zu Asche zerfiel und sich sogleich von neuem zusammensetzte.

Dann wandte Severin sich ab und ging auf die Tür mit der Nummer 8 zu. »Viel Glück«, sagte er. Aber das hörte Jeanne schon nicht mehr, sie rannte bereits den Korridor hinunter.

Einige Wochen später

Quinn

Ich sprintete durch Gassen, Innenhöfe und Gärten, über Treppen und unter Torbögen hindurch, schlug Haken, sprang über Mauern und an Hauswänden hinauf, rollte mich ab, schlug Saltos, balancierte an Vorsprüngen entlang, und das alles irrsinnig präzise und schnell. Zu schade, dass mich niemand sah – und dass das hier nicht die wirkliche Welt war, die, in der ich immer noch Schmerzen hatte und ohne Krücken nicht mal gehen konnte, geschweige denn Parkour laufen.

Die Sonne schien, der Himmel war strahlend blau, und doch blinkten goldene Pünktchen darin wie Sterne. Und als wäre das noch nicht unrealistisch genug, schwamm hoch über mir ganz gemächlich ein Wal mit einer Passagiergondel entlang. Vielleicht schaute ja wenigstens von dort oben jemand zu.

Ich setzte zu einem letzten Sprung an und landete mit einer vollkommen überflüssigen, aber megacoolen Dreihundertsechzig-Grad-Drehung auf einer Mauerkrone. Von dort blickte ich triumphierend in die Gasse hinab, in der ich meinen Lauf begonnen hatte. Das dachte ich jedenfalls.

Tatsächlich aber war mir diese schmale, gepflasterte Straße unter mir völlig fremd. Keines der Gebäude kam mir bekannt vor, und den Baum mit den auffälligen, sternförmigen Früchten, der seine Äste über die Mauer gegenüber streckte, hatte ich definitiv noch nie gesehen. Dafür allerdings die beiden schwarz gekleideten, bis an die Zähne bewaffneten Gestalten, die unter dem Baum standen und sich unterhielten. Oder vielmehr unterhalten hatten. Jetzt waren sie verstummt und starrten mich an.

Ich starrte zurück. Tja, da war ich wohl doch nicht so präzise und megacool unterwegs gewesen wie gedacht.

»Du musst dich nur an drei Regeln halten, wenn du allein im Saum unterwegs bist«, hatte Hyazinth mir eingeschärft und mich ernst unter seinem roten Feenhaarschopf hervor angeschaut. »Nummer eins: Halt dich vom Chaosnebel fern. Nummer zwei: Geh niemals in den Untergrund. Nummer drei: Mach einen weiten Bogen um alle Nex.«

»Und um den flachschnabeligen Mauerpieper«, hatte sein Feenfreund Emilian ergänzt. Möglicherweise hatte er auch »mauerschnabeliger Flachpieper« gesagt oder »flachbrüstiger Mauerschnabel«, irgendwas in der Art jedenfalls. Als ich gefragt hatte, wie die Dinger denn aussähen, hatte er nur geantwortet, ich würde sie schon erkennen, wenn ich sie sähe. Nur solle ich dann nicht zu nahe herangehen, sie würden nämlich mit schleimiger grüner Flüssigkeit spucken, wenn sie sich bedroht fühlten.

Die bewaffneten Gestalten unter dem Torbogen waren jedenfalls Nex, was im Saum die Bezeichnung für so eine Art Soldat, Polizist oder Geheimagent war, so richtig war ich da noch nicht durchgestiegen. Diese beiden Exemplare hießen Gudrun und Rüdiger, wobei Letzteres nur geraten war. Er sah einfach aus wie ein Rüdiger, und bei meinem Anblick lächelte er sein echt fieses Rüdigerlächeln. Auch in Gudruns wasserhellen Augen glaubte ich so etwas wie Wiedersehensfreude zu erkennen, nur in bösartig. Es war entweder ein grausamer Zufall, dass wir einander immer wieder über den Weg liefen, oder aber ihr Hauptquartier musste sich hier irgendwo ganz in der Nähe befinden.

»Ja, wen haben wir denn da?«, fragte Gudrun gedehnt. »Hinkepink, den Auserwählten der dämlichen Feen?« Sie war mindestens einen Kopf größer als ich und hatte glattes, weißblondes Haar, das an der einen Seite raspelkurz abrasiert war und ihr auf der anderen Seite ins Gesicht fiel. Mit ihren ebenmäßigen Gesichtszügen, der durchtrainierten Figur und dem grimmigen Blick hätte sie jederzeit Model werden können, als Werbefigur für Wurfspieße oder Verdauungsmittel.

Rüdiger lachte heiser. »Hinkepink ist gut. Wo sind denn deine Krücken, Kleiner?«

Dass alle Nex, die ich bisher kennengelernt hatte, wie Psychopathen rüberkamen, war laut Hyazinth reiner Zufall, die meisten seien absolut in Ordnung, behauptete er. Und ich solle – Regel Nummer drei – nur deshalb einen Bogen um sie herum machen, weil ich nun mal diese unglückselige Neigung meiner arkadischen Vorfahren geerbt hätte, mir ständig Ärger einzuhandeln, indem ich mich mit Stärkeren anlegte.

Da war leider etwas Wahres dran. Denn anstatt einfach die Klappe zu halten und abzuhauen, hörte ich mich selber sagen: »Sorry, aber ich soll nicht mit flachschnäbeligen Mauerpiepern sprechen.«

Gudruns Augen verengten sich. Und Rüdiger sah übergangslos stinksauer aus. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er als Nächstes wirklich eine schleimige grüne Flüssigkeit versprühte.

»Flach… was? Soll das eine Beleidigung sein?«, stieß er hervor. »Willst du dich wirklich mit uns anlegen, du Baby?«

Noch mehr Angst als seine mordlüsterne Miene machte mir nur diese kleine Stimme in meinem Inneren, die begeistert »Ja, bitte! Eine Prügelei! Eine Prügelei!« rief und wollte, dass ich mich auf Rüdiger und Gudrun stürzte, als gäbe es kein Morgen. Aber ich hatte Hyazinth versprochen, seine drei Regeln einzuhalten, deshalb sagte ich: »Ein anderes Mal, ihr Vögel«, und ließ mich in den Garten hinter mir zurückfallen, solange ich noch halbwegs vernünftig denken konnte.

Mit Anlauf setzte ich über die nächste Mauer, schlug dann einen Haken nach links und rannte ein Stück die Straße hinauf, bis ich eine Mauer fand, die niedrig genug war, um hinüberzuspringen. So schnell ich konnte, durchquerte ich einen kleinen Innenhof mit einem plätschernden Springbrunnen, kletterte über ein Tor in die nächste Gasse und bog gleich noch einmal ab. Dann quetschte ich mich durch eine Mauerlücke in die Sicherheit eines verwinkelten Innenhofes und blieb schwer atmend stehen, den Rücken gegen die Steine gelehnt.

Okay, kleine Bestandsaufnahme: Ich wusste zwar immer noch nicht, wo ich war, aber Gudrun und Rüdiger hatte ich abgehängt. Wenn sie mir denn überhaupt gefolgt waren. Vom Chaosnebel hatte ich mich ferngehalten – ich hatte heute nicht eine einzige dieser eigenartig schlierig bunt wabernden Wölkchen gesehen –, und ich war auch nicht versehentlich in den Untergrund gestolpert. So weit war alles gut. Jetzt musste ich halt nur noch irgendwie zurückkommen.

Unter meinem Ärmel schob sich mein Lentigo hervor, ein Krake mit neun Armen, der über meine Haut schwamm wie ein lebendiges Tattoo. Lentigos waren nur hier im Saum zu sehen und so eine Art Fingerabdruck für Arkadier und Feen, wenn ich das richtig verstanden hatte. Im Gegensatz zu mir, der ja nur zum Teil arkadisch war, besaßen sie sogar zwei davon. Beim Anblick meines kleinen Nonapus hob sich meine Laune sofort, und ich fühlte mich nicht mehr allein. Es war ja nicht das erste Mal, dass ich mich hier verlaufen hatte. Diese Gegend des Saums rund um Emilians Schutzstation für heimatlose Zwergwalddrachen war das reinste Labyrinth und alles, nur nicht rechtwinklig und übersichtlich. Wegen der hügeligen Lage, der Natursteinfassaden und der mediterran anmutenden Bepflanzung in den ummauerten Gärten hatte ich das Viertel »Klein-Ligurien« getauft, in Erinnerung an das italienische Bergdorf, in dem meine Eltern und ich mal Urlaub gemacht hatten. Viele der Häuser und Gärten hier gehörten Feen. Nicht zuletzt deshalb war diese Gegend Hyazinth und Emilian zufolge die ruhigste und sicherste im ganzen Saum.

Nachdem Matilda und ich von der heiligen Johanna beinahe zu Röstbrot verarbeitet worden wären und mein Physiotherapeut Severin sich als der Arm des ultimativ Bösen entpuppt hatte, war ich anfangs gar nicht scharf darauf gewesen, den Saum so ganz ohne Begleitschutz zu erkunden. Aber Professor Cassian hatte mir versichert, dass »der Vorgang«, wie er es so schön nannte, aufgeklärt sei und mir niemand mehr gefährlich werden könnte.

»Fürs Erste jedenfalls«, hatte Hyazinth dazu gemurmelt, und ich hatte beschlossen, das einfach mal zu glauben. Die Hintergründe für »den Vorgang« waren – wie alles im Saum – kompliziert, und Professor Cassians halbherzige Erklärungsversuche hatten mich wie immer mehr verwirrt als aufgeklärt.

Daran, dass es Leute gab, die mich für den Auserwählten einer dubiosen Prophezeiung hielten, der demnächst die Welt vor dem Untergang bewahren sollte oder so, hatte ich mich mittlerweile gewöhnt – dass sie falschlagen, würden sie ja spätestens merken, wenn die Welt unterging. Aber darüber, dass Severin Zelenko gar nicht der nette, einfühlsame Kerl war, für den ich ihn gehalten hatte, war ich auch nach mehreren Wochen noch nicht hinweg.

In Wirklichkeit hatte er mich für einen Fiesling namens Frey ausspioniert, der ein hohes Tier im Saum war. Beziehungsweise gewesen war, nun verrottete er hoffentlich in irgendeinem Saumgefängnis und konnte niemandem mehr etwas tun.

Ich war nicht sicher, ob die Feen und Professor Cassian wussten, dass ich meine unbeaufsichtigte Zeit im Saum ausschließlich dazu nutzte, Parkour zu laufen und dabei ein bisschen Sightseeing zu machen. Sie erhofften sich wahrscheinlich, dass ich mich unbeobachtet den Übungen widmete, mit denen sie bisher vergeblich versucht hatten, mir gewisse Fähigkeiten beizubringen, die jeder Arkadier beherrschte. Und die ich ihrer Ansicht nach unbedingt ebenfalls beherrschen lernen sollte.

Aber ich fürchtete, darauf konnten sie lange warten – das Konzept Saum wollte sich mir einfach nicht erschließen, ganz gleich, wie oft sie mir noch erklärten, dass es sich hier um eine nicht materielle Welt handelte, die man mit purer Vorstellungskraft manipulieren oder völlig neu erschaffen konnte. Wie um Himmels willen sollte man das denn bitte auch verstehen? Es war mir bisher jedenfalls noch in keiner Übung gelungen, eine Tür in eine Mauer zu »denken« oder einen grünen Stein rot zu färben, geschweige denn mir Flügel wachsen zu lassen oder irgendeins der anderen Wunderdinge zu tun, die sie mir täglich demonstrierten.

Mein Frust darüber hielt sich allerdings in Grenzen, denn mich hier im Saum ohne Gehhilfen und ohne Schmerzen bewegen zu können, war ja allein schon ein Wunder. Warum sollte ich meine Zeit mit irgendwelchen Übungen zum Umfärben von Steinen verschwenden, wenn ich stattdessen laufen und springen konnte?

Drüben in der wirklichen Welt machte ich übrigens durchaus Fortschritte in Sachen Superkräfte. Mein Supergehör und meine Supersehkraft kamen und gingen zwar nach wie vor, wie es ihnen gefiel – meistens dann, wenn ich sie gerade gar nicht brauchen konnte –, dafür hatte ich das mit der Luftbewegung eindeutig besser unter Kontrolle. Ich konnte Türen schließen, mühelos Gegenstände von einem zum anderen Ende des Raums bewegen und vom Fenster aus Wind durch die Friedhofsbäume in fünfzig Meter Entfernung rauschen lassen. Es fühlte sich vollkommen natürlich an. Ganz so, als sei die Luft ein Teil von mir. Vorgestern hatte ich auf diese Weise mein ganzes Zimmer umgeräumt, ohne meinen Schreibtischstuhl zu verlassen.

Ausgerechnet hier im Saum aber, wo doch angeblich allein durch Vorstellungskraft alles möglich war, funktionierte das kein bisschen.

»Weil eben alles im Saum eine Illusion ist«, hatte Professor Cassian mir mehrfach zu erklären versucht. »Und damit natürlich auch die Luft. Sie ist hier lediglich ein kollektiv erdachtes Konstrukt, das wir aus purer Gewohnheit atmen, weil wir es von der Erde so gewohnt sind, verstehst du?«

Die einzige Antwort darauf war: »Nein!« Mit einem dicken Ausrufezeichen.

Der geduldige Professor Cassian war zwar sicher, dass es mir früher oder später schon noch gelingen würde, meinen Geist »von seinen menschlich-materiellen Beschränkungen zu befreien«, wie er sich ausdrückte, aber Hyazinth meinte trocken, möglicherweise fehle es mir einfach an der erforderlichen Phantasie.

Und das stimmte. Für die Phantasie war Matilda bei uns zuständig, sie hatte nicht nur genug Fantasyromane für uns beide zusammen gelesen, sondern besaß auch die Fähigkeit, mir die unglaubwürdigsten und lächerlichsten Sachverhalte so zu präsentieren, dass sie plötzlich glaubhaft und logisch wirkten. Matilda. Ich spürte einen kurzen Stich in der Brustgegend. Seit der Begegnung mit Jeanne und Severin auf dem Dach, bei der sie um Haaresbreite zehn Stockwerke in die Tiefe gefallen oder wahlweise verbrannt worden wäre, gab es kein »uns« mehr. Und keinen Tag, an dem mich das nicht fertigmachte.

Einen Moment lang gestattete ich mir, mich daran zu erinnern, wie es gewesen war, sie zu küssen, wie gut ihr Haar gerochen hatte und wie unbeschreiblich mutig sie sich Jeanne und Severin und den gefiederten Schlangenmonstern entgegengestellt hatte. Mit einer Tomatenstange! Gott, wie ich sie vermisste. Aber auch wenn es sich nicht so anfühlte: Es war die richtige Entscheidung gewesen, Schluss zu machen. Meinetwegen wäre sie fast gestorben. Das konnte ich kein zweites Mal zulassen. Und inzwischen war sie bestimmt längst über mich hinweg.

Ach, verdammt! Das war der Grund, warum man niemals sinnlos in der Gegend herumstehen sollte: Man bekam sofort trübe Gedanken.

Vorsichtig versuchte ich, durch die Mauerlücke vor mir zu spähen, um zu schauen, ob die Luft rein war und ich endlich meinen Weg zu den Feen zurückfinden konnte. Die Gasse war auch tatsächlich leer, jedenfalls dachte ich das. Aber in dem Moment, als ich aus meiner Lücke trat, löste sich eine schwarz vermummte Gestalt aus dem Schatten eines überwucherten Torbogens direkt gegenüber. Er sah aus wie ein als Ninja verkleideter Nex.

Scheiße! Sie hatten mich entdeckt.

Doch dann schob der Ninja-Nex das Tuch von seinem Kopf, und ich erkannte, wer da vor mir stand.

»Severin!«, stieß ich hervor.

»Mein Lieblingspatient«, gab er zurück. Er sah aus wie immer, beeindruckend groß und durchtrainiert, das dunkle Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Die lange Narbe, die knapp an seinem Augenwinkel vorbeischrammte, machte sein einnehmendes Gesicht nur noch interessanter. Nicht mal sein Lächeln hatte sich verändert, es wirkte genauso warm und herzlich wie früher.

Nur dass ich nicht mehr darauf hereinfallen würde.

In den letzten Wochen hatte ich mir manchmal ausgemalt, was ich Severin bei einem Wiedersehen alles an den Kopf werfen würde. Aber jetzt, wo er vor mir stand, sagte ich nur ziemlich lahm: »Ich dachte, sie hätten dich für immer weggesperrt.«

»Das haben sie dir erzählt?« Severin hob eine Augenbraue. »Woran du siehst, dass die es mit der Wahrheit auch nicht so genau nehmen.« Er machte einen Schritt auf mich zu. »Sie mögen Frey vorübergehend den Sitz im Hohen Rat entzogen und ihn vielleicht sogar in Haft genommen haben, und natürlich hat Na’il Jeanne mit Schimpf und Schande aus seiner ach so elitären zwölften Zenturie entlassen, aber mich haben sie bisher noch nicht erwischt.«

Tja, ganz offensichtlich nicht. Ich Dummkopf war nur davon ausgegangen, weil Professor Cassian und Hyazinth behauptet hatten, es bestünde keine Gefahr mehr für mich, die Schuldigen würden ihrer gerechten Strafe anheimgeführt. Ja, sie hatten wirklich »anheimführen« gesagt, offenbar wussten sie nicht, dass das Wort schon seit hundert Jahren ausgestorben war. Wie dem auch sei, ich hatte ihr saumtypisch schwammiges Gerede mal wieder falsch interpretiert und Severin genau wie Frey ganz selbstverständlich in irgendeinem Saumgefängnis verortet.

Und von wegen keine Gefahr! Severin mochte zwar freundlich lächeln, aber seine Muskeln waren angespannt, sein Blick lauernd. Er schien nur darauf zu warten, dass ich mich bewegte.

»Die Feen sind ganz in der Nähe«, sagte ich, wobei ich mich ein bisschen anhörte wie Klassenpetze Luise Martin in der Grundschule, wenn sie »Warte nur, bis das unsere Lehrerin sieht« leierte.

»Kein Problem.« Severin schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Solange es nur Feen sind. Abgesehen davon habe ich meine ganz speziellen Fluchtwege.« Er zeigte auf eine von Rankpflanzen versteckte Öffnung im Mauerwerk hinter sich, wo eine Treppe abwärtsführte. Ich konnte nur die ersten Stufen sehen, der Rest lag schon in völliger Dunkelheit.

»Der Untergrund«, entfuhr es mir. Die Abgänge, vor denen Cassian und Hyazinth mich gewarnt hatten, führten unter die Erde, oder wie immer man den Boden hier im Saum auch nannte. Angeblich erstreckten sich dort in der Tiefe unendliche, vielstöckige Labyrinthe, die sich ständig veränderten und in denen Dämonen und andere unheimliche Kreaturen hausten. Was ich sofort glaubte, denn manchmal hörte man ein leises Knurren, Raunen oder seltsames Summen, wenn man an einem solchen Abgang vorbeikam, und ich hatte auch schon ein paar rote Augen aus der Tiefe eines Brunnens zu mir heraufblinken sehen.

Severin lachte leise. »Ja, der Untergrund«, wiederholte er. »Glaub mir, Quinn, da unten ist es nicht annähernd so gefährlich, wie sie dir erzählen. Na ja, zumindest wenn man sich ein bisschen auskennt und weiß, wie man sich die Mahre und das Dämonengesocks vom Hals hält – und natürlich den verdammten Sphinxen aus dem Weg geht. Okay, dafür muss man schon ein bisschen was draufhaben, aber du kannst mir vertrauen.« Er ließ seine Blicke prüfend über die leere Straße gleiten und sah mich dann treuherzig an. »Im Gegensatz zu hier könnten wir uns dort unten ungestört unterhalten. Ich versuche schon seit Tagen, dich zu treffen.«

Für wie blöd hielt er mich eigentlich?

»Hast du da unten auch Schokolade und niedliche Welpen?«, fragte ich wütend und setzte mich wieder in Bewegung. Um Severin zu demonstrieren, dass ich keine Angst vor ihm hatte, marschierte ich auf direktem Weg an ihm vorbei den Hügel hinauf. »Unsere Unterhaltung müssen wir ein anderes Mal führen, ich habe eine Verabredung.«

In Wirklichkeit hatte ich ein ziemlich mulmiges Gefühl dabei, ihm so nahe zu kommen. Wie viel größer er doch war als ich! Und seine Hände waren regelrechte Pranken. Wenn er mich damit packte und in den Untergrund zerrte, war ich selber schuld. Oder vielmehr mein großkotziger arkadischer Kampfinstinkt, der in meinem Inneren gegen die Angst antrompetete: »Soll er ruhig mal versuchen, mich anzufassen, dann wird er ja sehen, was er davon hat!«

Aber zu meinem Glück tat Severin nichts dergleichen. Er ging nur mit langen Schritten neben mir her und redete auf mich ein: »Quinn, bitte. Es tut mir so leid, was passiert ist. Auf dem Dach, das ist irgendwie total aus dem Ruder gelaufen. Ich weiß, dass du dich von mir betrogen fühlst, aber ich hätte nie zugelassen, dass dir etwas zustößt, das musst du mir glauben.« Und ganz sanft setzte er hinzu: »Wir waren doch Freunde.«

Ja, und manchmal vermisste ich diese Zeiten geradezu schmerzlich. Was hatte ich mich immer auf die Therapiestunden gefreut. »Du hast mich die ganze Zeit belogen«, frischte ich unser beider Erinnerungen auf, das half gegen die sentimentalen Gefühle, die in mir hochwallten. »Deinetwegen wäre Matilda fast gestorben!« Wie konnte er so dumm sein zu denken, dass ich ihm das jemals verzeihen würde?

»Es war Jeanne, die sie vom Dach werfen wollte und mit Feuer traktiert hat«, stellte Severin richtig.

Ich schüttelte nur den Kopf. Damit konnte er sich nun wirklich nicht herausreden.

»Aber ich hätte früher eingreifen müssen, das ist richtig«, schob er hastig hinterher. »Was auf dem Dach passiert ist – ich kann mich wirklich nur entschuldigen. Aus tiefstem Herzen.«

Herrje. Wie schaffte er es nur, derart schwülstige Sachen von sich zu geben und dabei so ehrlich und aufrichtig zu klingen? War das die Feenmagie, die er angeblich von irgendeinem Vorfahren geerbt hatte? Ich spürte jedenfalls, wie meine Wut ein wenig nachließ.

Er setzte noch einen drauf: »Wie du sicher schon gemerkt hast, können Arkadier ziemliche Idioten sein«, sagte er mit einem kleinen Lachen. »Wir hassen es zu verlieren …«

Ich seufzte. Mein Viertelanteil Arkadieridiot wusste ganz genau, wovon er sprach.

»Was willst du von mir?«, fragte ich so unwirsch wie möglich. Er sollte nicht merken, dass ich gar nicht mehr so wütend war.

»Ich brauche deine Hilfe«, antwortete Severin.

Ich gab ein verächtliches Schnauben von mir und beschleunigte meine Schritte. Mittlerweile befanden wir uns wieder auf vertrautem Terrain. Zumindest glaubte ich die enge Gasse, in die ich jetzt einbog, zu kennen.

Severin passte sich sofort meinem Tempo an. »Bitte, Quinn, ich weiß, dass ich kein Recht habe, dich um irgendwas zu bitten. Aber …«

»Aber was?«, knurrte ich.

»Ich habe dir geholfen, wieder laufen zu lernen, hast du das vergessen?«

Verdammt. Er war wirklich gut. Und nein, ich hatte nicht vergessen, was er nach meinem Unfall für mich getan hatte. Als Physiotherapeut war Severin absolut großartig gewesen. Ohne ihn wäre ich nur halb so motiviert und doppelt so deprimiert gewesen.

Ich sah ihn von der Seite an. »Wobei könnte ich dir bitte helfen?«

»Ich kann mich nicht für immer verstecken«, sagte Severin. »Die Nex werden nicht aufhören mich zu jagen, und sie sind überall. Du musst bei Cassian und Themis ein gutes Wort für mich einlegen. Auch wenn es ihnen politisch gerade sehr in den Kram passt, können sie Frey wegen ein paar unangemeldeter Portale und ein bisschen Spionage nicht ewig festhalten. Und selbst für das haben sie ohne mich keine Beweise, nur eure und Jeannes Aussagen.«

Was bedeutete »nicht ewig« in der Zeitrechnung von Unsterblichen? Fünfzig, sechzig Jahre würden mir persönlich völlig reichen.

»Frey hat jede Menge Anhänger und viele Vorkehrungen getroffen. Wenn er sich jetzt einsperren lässt, dann nur, um den Märtyrer spielen zu können und das Ganze politisch auszuschlachten«, fuhr Severin fort. »Und spätestens wenn er wieder frei ist …« Er hielt kurz inne. »Frey ist die rachsüchtigste Person, die ich kenne, und er wird mir die Schuld für seinen Arrest geben, auch wenn es genau genommen Jeanne war, die ihn verraten hat. In seinen Kerkern leben Leute, die er schon seit Jahrhunderten foltert.« Seine Stimme zitterte jetzt leicht. »Sie betteln um ihren Tod, aber er schafft sie immer wieder zur Regeneration in den Saum, um dann direkt von vorne anzufangen. Ich würde mich ungern dort einreihen.«

Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Nach allem, was ich bisher über ihn gehört hatte, musste dieser Frey der Teufel in Person sein. Laut Fees und Hyazinths Erzählungen züchtete er in seiner norwegischen Festung seit Jahrhunderten nicht nur besonders grausame Blutwölfe, sondern auch eine Art Privatarmee aus eigenen Nachkommen heran.

»Sie wissen zwar nicht erst seit heute, dass Frey gefährlich ist, aber sie haben keine Ahnung von seinen wahren Plänen. Von dem, was er wirklich von dir will. Und wie gesagt: Ohne mich haben sie nichts gegen ihn in der Hand.« Noch bevor Severin weitersprach, wusste ich, worauf er schon die ganze Zeit hinauswollte: »Wenn Themis und Cassian mir zusichern, dass ich straffrei davonkomme, dann würde ich mich stellen und ihnen im Gegenzug Informationen über Frey liefern, die ihn politisch ruinieren und für die nächsten hundert Jahre aus dem Verkehr ziehen würden. Dinge, die nur ich über ihn weiß. Ich kann ihnen jede Menge Beweise liefern.«

Ich wurde eine Spur langsamer und wandte meinen Blick zur Seite. Das klang eigentlich ganz … vernünftig.

»Und für dich habe ich auch ein paar … nennen wir es: nützliche Informationen«, sagte Severin gedehnt. »Zum Beispiel über deine Großeltern.« Er lachte kurz auf. »Du würdest staunen.«

»Du weißt, wer meine …?« Ich brach ab, weil ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Hatte Severin nicht vorhin erst gesagt, dass die Nex überall waren? Tja, damit hatte er wohl recht.

»Verflucht!« Jetzt hatte er sie auch entdeckt.

Schräg vor uns, höchstens fünfzig Meter entfernt, waren wie aus dem Nichts zwei schwarz gekleidete Gestalten aufgetaucht. Als ich herumwirbelte, sah ich, dass sich zwei weitere von hinten aus Richtung des Torbogens näherten. Und diese beiden kannte ich, es waren Gudrun und Rüdiger.

»Wir müssen hier weg«, knurrte Severin leise. »Sie haben uns gesehen.«

Uns? Ich hatte ja nicht wirklich etwas verbrochen, oder? Ich meine, mal abgesehen davon, dass ich sie flachschnabelige Mauerpieper genannt hatte. Aber vielleicht hielten die Nex mich automatisch für kriminell, weil ich mich in Severins Gesellschaft befand.

Ich blickte von Severin zu den Nex, die von zwei Seiten auf uns zukamen, und wollte lieber nicht abwarten, bis ich diese Frage mit ihnen durchdiskutiert hatte.

Als Severin lossprintete, tat ich es ihm deshalb vorsichtshalber gleich und rannte hinter ihm her.

Matilda

»Untersteh dich«, sagte Bax streng.

»Was denn?«, gab ich zurück. »Ich werde mir ja wohl noch ein Gemälde angucken dürfen. Dieses Auferstehungstriptychon von 1587 gehört zu den interessantesten Kirchenschätzen der Stadt.«

»Ja, ein wahrer Touristenmagnet, wie man sieht.« Mit seiner krallenbewehrten Steintatze zeigte Bax auf die leeren Kirchenbänke. »Machen wir uns nichts vor, Lockenköpfchen, die Einzige, die sich für dieses Gemälde interessiert, bist du. Und das nicht wegen der Kunst. Dich juckt es in den Fingern, das Portal zu öffnen, obwohl du genau weißt, wie gefährlich das für Menschen ist.«

»Na ja, ich würde ja nicht hindurchgehen«, sagte ich. »Ich würde nur schauen, ob es noch funktioniert. Von Petrus zu …«

»Wenn du es versuchst, muss ich dir leider die Hand abbeißen.« Bax entblößte seine spitzen Eckzähne. »Ich bin der Wächter dieses Portals, schon vergessen?«

»Oh, jetzt habe ich aber Angst!«, spottete ich. »Du bist ein Geist, du kannst nicht mal eine Oblate durchbeißen.«

»Dämon, nicht Geist!« Beleidigt begann er, sich mit seiner langen Zunge die Tatze abzulecken. Die meisten steinernen Wasserspeier, die man auf historischen Gebäuden sah, waren wie furchteinflößende, abschreckende Monster gestaltet, aber bei Bax – oder Baximilian Grimm, wie er mit vollem Namen hieß – handelte es sich um ein ausgesprochen niedliches Exemplar. Sein Kopf glich bis auf die gedrehten Hörnchen, die zwischen seinen Ohren saßen, am ehesten dem eines Fuchses, die Flügel hatte er von einer Fledermaus und die Tatzen und den langen Schwanz von einem Drachen. Obwohl er sich stets bemühte, grimmig dreinzuschauen und wahnsinnig gefährlich zu wirken, war er das mit Abstand putzigste Wesen, das ich jemals gesehen hatte, Lämmchen, Labradorwelpen und Babylöwen eingeschlossen. Ich konnte mich immer nur mit Mühe davor bewahren, meine Hand nach ihm auszustrecken, um ihn zu kraulen. Wobei das ohnehin nicht funktioniert hätte, denn obwohl Bax sehr lebendig wirkte, war er letztlich nur ein Abbild, wie ein Hologramm, durch das man hindurchgreifen konnte. Was ihn allerdings nicht daran hinderte, ein beträchtliches Selbstbewusstsein an den Tag zu legen.

»Man muss schon sehr beschränkt sein, um den Unterschied zwischen einem Geist und einem mächtigen und trickreichen Dämon nicht zu erkennen«, sagte er herablassend.

»So mächtig und trickreich kannst du ja nicht gewesen sein, wenn es möglich war, dich in eine Steinfigur zu bannen«, erwiderte ich.

»Typisch Mensch. Von nichts eine Ahnung, aber zu allem eine Meinung.« Er schnaubte empört durch seine Fuchsnase. »Auch der mächtigste Dämon hat keine Chance gegen diese hinterhältigen Mistkerle von Arkadiermagiern, wenn sie deinen vollständigen Namen und die dazugehörige Beschwörungsformel kennen. Aber natürlich hast du noch nie etwas von König Salomons ›Buch der sieben Siegel‹ gehört. Ich weiß gar nicht, warum ich mich überhaupt mit dir abgebe.«

»Vielleicht weil ja auch ein mächtiger und trickreicher Dämon ab und zu mal jemanden zum Reden braucht«, sagte ich beschwichtigend. »Was mich angeht: Ich bin sehr froh, dass du dich mit mir abgibst. Wenn du nicht wärst, könnte ich mit niemandem mehr über den Saum reden und würde wahrscheinlich längst denken, ich hätte das alles nur geträumt.«

Bax flatterte vom Kopf der überlebensgroßen Statue des heiligen Christophorus auf das Dach des Beichtstuhls. »Ach ja? Und warum warst du dann eine ganze Woche lang nicht hier?«, fragte er und klang ein wenig eifersüchtig. »Wahrscheinlich hast du mit den Feen abgehangen, stimmt’s?«

Ich seufzte. »Nein, die habe ich schon länger nicht mehr gesehen. Sie sind nicht mal mehr in ihrem Blumengeschäft. Offenbar haben sie eine Floristin eingestellt, die jetzt den Laden schmeißt.« Und die war definitiv keine Fee und schien auch sonst nichts mit dem Saum zu tun zu haben. Auf meine Testfragen hatte sie jedenfalls ausgesprochen menschlich reagiert.

»Ähm, nein, ich bin noch nie mit einem Zeppelinwal geflogen, kenne niemanden mit gelben Augen, und hier arbeitet auch keine Angelika unter der Ladentheke«, hatte sie gesagt und sehr erleichtert ausgesehen, als ich wieder gegangen war.

Seitdem schaute ich immer nur durch das Schaufenster, wenn ich an »Maiglöckchen und Vergissmeinnicht« vorbeikam, in der Hoffnung, Fee oder Hyazinth zu sehen. Es gab da noch so viele Fragen, die ich ihnen stellen wollte. Aber ganz offensichtlich brauchten sie die Tarnung des Ladens nicht mehr. Vielleicht gingen sie mir auch absichtlich aus dem Weg. Oder sie hatten einfach Wichtigeres zu tun. Den Weltuntergang verhindern, beispielsweise.

Auch Professor Cassian und den Geist des Volksdichters Clavigo Berg, der ab und an in seiner eigenen Bronzestatue wohnte, hatte ich seit Wochen nicht mehr getroffen, ganz gleich, wie oft ich auch über den Friedhof spaziert war. Ich fühlte mich wie ein Kind, das eine Zeitlang mit den coolen Kids hatte spielen dürfen – und jetzt nicht mal mehr wusste, wo sie wohnten. Sogar das anatomische Schädelmodell mit den herausnehmbaren Augäpfeln und Gehirnteilen, das Quinn seiner Psychotherapeutin geklaut hatte, lag bei mir einfach nur stumm auf dem Schreibtisch und wirkte kein bisschen magisch.

Deshalb war ich wirklich dankbar, dass wenigstens Bax zuverlässig erschien, sobald ich dem Triptychon zu nahe kam.

»Es ist schon ungerecht, dass der Saum für Menschen nicht zu betreten ist«, sagte ich seufzend.

»Das stimmt ja gar nicht«, erwiderte Bax. »Menschen können den Saum sehr wohl betreten, genau genommen tun sie das sogar jede Nacht in ihren Träumen.«

Ja, ganz toll, nur davon konnte ich mir auch nichts kaufen. Bax war zu meinem Glück sehr viel auskunftsfreudiger, als es die Feen jemals gewesen waren. Auch wenn ich nie wusste, ob er mir wirklich die Wahrheit erzählte, hatte ich ihn schon deshalb sehr in mein Herz geschlossen. Ohne ihn wäre ich vermutlich an meinem geheimen Wissen erstickt. Oder ich hätte Julie davon erzählt, obwohl ich Professor Cassian feierlich hatte schwören müssen, das niemals zu tun. Oder noch schlimmer: Ich hätte meinen letzten Rest Würde und Stolz über Bord geworfen und Quinn eine Nachricht geschickt. So tief durfte ich auf keinen Fall sinken, denn schließlich war er es gewesen, der mit mir Schluss gemacht hatte, und in sämtlichen Ratgebern zum Thema »Entlieben für Anfänger«, die Julie für mich im Internet gefunden hatte, war die Kontaktaufnahme unter diesen Umständen ein absolutes No-Go.

Doch obwohl ich mich an die Ratschläge hielt, klappte das mit dem Entlieben kein bisschen. Ich konnte einfach nicht aufhören, Quinn zu vermissen. Und es tat weh. So verdammt weh, dass ich mich wieder nach den guten alten Zeiten sehnte, in denen ich ihn nur von weitem angehimmelt hatte und er nicht mal wusste, dass ich überhaupt existierte. Bevor wir zusammen diese wunderbar-schrecklichen Abenteuer erlebt hatten. Bevor wir uns geküsst hatten. Aber Gefühle kann man nun mal nicht zurückdrehen wie eine Uhr, egal wie sehr ich das auch wollte.

»Heulst du etwa?«, fragte Bax.

»Nein«, antwortete ich und wischte mir hastig das Gesicht ab. »Heuschnupfen. Die, äh, Birken blühen dieses Jahr recht spät. Und falls es dich interessiert: Ich war nur deshalb eine Woche nicht hier, weil ich in dieses Bibelcamp musste. Brücken der Verständigung bauen.«

»Ach du Scheiße«, sagte Bax.

»So schlimm war es erstaunlicherweise gar nicht«, gab ich zu. Eigentlich war es sogar ganz nett gewesen. Zumal Luise und Leopold nicht dabei gewesen waren. »Wir mussten keine echten Brücken bauen, nur im übertragenen Sinne. Das Essen war viel besser als bei uns zu Hause, und es gab einen Kletterpark und Osterfeuer und so. Und ich kann jetzt ›Oh Happy Day‹ auf der Ukulele spielen.«

»Klingt grauenhaft«, sagte Bax.

»Nein, es klingt sogar ziemlich gut«, widersprach ich. »Julie war jedenfalls ganz begeistert. Sie meinte, ich hätte echt Talent …«

Wir wurden vom Abendläuten der Kirchenglocken unterbrochen. Erschrocken nahm ich mein Handy aus der Tasche und sah auf die Uhr. Mist, ich hatte mal wieder die Zeit verpasst. Nichts hassten meine Eltern mehr als Unpünktlichkeit beim Abendessen. Außer vielleicht Leute, die nur an Weihnachten und Ostern in der Kirche aufkreuzten.

Bax begleitete mich flatternd zum Ausgang. Er kannte meine hektischen Abschiede schon.

»Werden sie dich wieder stundenlang exorzieren?«, fragte er sensationslüstern.

»Nein.« Vielleicht hatte ich manchmal ein wenig übertrieben, wenn ich über meine familiären Probleme gejammert hatte. »Heute ist Sonntag, da dauert das Abendessen nie so lang, weil meine Eltern immer zusammen mit Tante Bernadette und Onkel Thomas ›Tatort‹ schauen.« Seit ich denken konnte, war »Tatort« schauen und sich hinterher über die mangelnde Qualität aufregen bei den Martins ein feststehendes Sonntagabendritual.

Abendlicht flutete in die Kirche, als ich die Tür öffnete, und Bax machte sich unsichtbar. Ich konnte aber noch seine Stimme hören, die ganz verzückt »Tatort« wiederholte, bevor die Tür hinter mir ins Schloss fiel.

***

Ich überquerte den Agnesplatz so schnell ich konnte, ohne in Laufschritt zu verfallen. Die Zeitschriften am Kiosk waren seit einigen Tagen voll mit Berichten über den Kometen, der diesen Sommer so nah an der Erde vorbeifliegen sollte, dass er wochenlang mit bloßem Auge gut zu erkennen sein würde. Keine Ahnung, warum ausgerechnet jetzt alle darüber berichteten, als wäre es die Sensation schlechthin. Es musste an einem Mangel anderer Nachrichten liegen, denn entdeckt worden war der Komet schon vor ein paar Jahren, und er hatte seine damals berechnete Laufbahn nicht verändert: Er würde die Erde in etwa hundertfacher Entfernung zum Mond passieren, ein wenig näher als der Halleysche Komet, aber immer noch Millionen Kilometer weit weg. Trotzdem war sich eine Zeitung nicht zu schade für die Schlagzeile »Killer-Komet im Anflug« gewesen, die sie dann im Kleingedruckten mit dem hohen Cyangasvorkommen auf der Oberfläche begründeten – was natürlich angesichts der Distanz vollkommen unerheblich war. Korrekt hieß der Komet C2019XR1 oder Visser-Komet, nach seinem Entdecker, dem niederländischen Astronomen Piet Visser, aber irgendein Journalist hatte ihm den Spitznamen »der fliegende Holländer« verpasst, und nun ergingen sich alle in unwissenschaftlichen Schifffahrtallegorien. »Der fliegende Holländer hat Meteoritenschauer im Kielwasser«, las ich und verdrehte die Augen. Da versuchten sie, aus allem eine große Story zu machen, während sie für die echten Sensationen blind waren. Anstatt Schlagzeilen wie »Notwehr? Schülerin tötet seltene Federschlange« oder »Entführungsversuch gescheitert – Tür in andere Dimension kollabiert« hatte es am Tag nach Quinns und meinem letzten Zusammentreffen lediglich die nüchterne Minimeldung »Windhose beschädigt Dach« in die Zeitung geschafft.

Im Vorbeilaufen warf ich routinemäßig auch einen Blick auf den Blumenladen, aber der hatte sonntags selbstverständlich geschlossen.

»Vorsicht! Da liegt ein Hundehaufen«, krähte eine Stimme plötzlich direkt neben meinem Ohr.

Ich kreischte laut auf und sprang zur Seite.

»Puh, noch mal Glück gehabt«, sagte die Stimme. Unverkennbar Bax, der sich irgendwo links von mir befinden musste. Unsichtbar, aber leider nicht unhörbar. »Wenn ich nicht gewesen wäre, wärst du da voll reingelatscht«, fuhr er zufrieden fort. »Und das war nicht die Hinterlassenschaft eines Chihuahuas, das war mindestens ein ausgewachsener Schäferhund.«

»Spinnst du, mir so einen Schrecken einzujagen?«, schimpfte ich, wenn auch mit gedämpfter Stimme, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. »Du kannst mich doch nicht unsichtbar stalken.«

»Willst du vielleicht, dass ich dich sichtbar stalke? Ich fürchte, dann würden die armen Leute hier reihenweise in Ohnmacht fallen.« Bax kicherte. »Nicht alle sind so cool wie du und können den Anblick eines Dämons aushalten. Nicht mal, wenn er so schön ist wie ich.«

Da hatte er vermutlich recht.

»Warum fliegst du mir überhaupt hinterher? Musst du denn nicht auf dein Portal aufpassen?«, fragte ich, während ich mich wieder in Bewegung setzte.

»Ich fliege gar nicht«, sagte Bax vergnügt, und dieses Mal kam seine Stimme von unten. »Und ganz ehrlich, bevor du mit deinem Angebeteten kamst, ist das Portal jahrzehntelang von niemandem geöffnet worden. Da wird ja wohl nicht ausgerechnet dann jemand angeschlappt kommen, wenn ich mal ein verdientes Päuschen einlege.«

Ich wollte gerade antworten, dass Quinn nicht mein Angebeteter sei, als ich ein eng umschlungenes Paar die Alte Friedhofsstraße hinaufschlendern sah. Es waren die Eltern meines Angebeteten, Herr und Frau von Arensburg, und sie kamen direkt auf mich zu.

Reflexartig stolperte ich seitlich in die Einfahrt von Hausnummer 2 und rettete mich hinter die Mülltonnenabtrennung. Mein Herz schlug schneller als vorhin, als Bax mich mit der Hundekacke zu Tode erschreckt hatte.

»Das war knapp«, keuchte ich. Mit etwas Glück hatten sie mich gar nicht bemerkt. Ärgerlich war es trotzdem. Seit Wochen tat ich alles, um zu verhindern, den von Arensburgs zu begegnen, und jetzt wäre ich ihnen beinahe direkt in die Arme gelaufen.

»Wohnst du hier?«, fragte Bax. »Und wenn ja, warum ziehst du den Kopf ein?«

»Das ist nur deine Schuld«, zischte ich. »Du hast mich so abgelenkt, dass ich beinahe vergessen hätte, den Schleichweg zu nehmen.«

So toll ich das auch immer gefunden hatte, direkt gegenüber von Quinn zu wohnen – seit wir Schluss gemacht hatten, verfluchte ich diese Tatsache jeden Tag aufs Neue. Mir war schon klar, dass ich einem Zusammentreffen mit den von Arensburgs nicht ewig aus dem Weg gehen konnte, aber solange ich allein bei dem Gedanken daran vor Scham feuerrot anlief, tat ich alles, um nicht von ihnen gesehen zu werden. Den Umschlag mit dem Geld, das Frau von Arensburg mir gezahlt hatte, damit ich mich um Quinn kümmerte, hatte ich morgens um halb fünf in ihren Briefkasten geworfen, um ganz sicher zu sein, dass ich auch ja niemanden traf.

Schwieriger gestaltete es sich bei Tageslicht. Aber wer sagte denn, dass man immer durch die Vordertür gehen musste? Meine Eltern wunderten sich zwar, dass ich neuerdings immer durch den Kellereingang kam und ging, aber vermutlich war es für sie nur ein Punkt mehr, den sie der Liste meiner Eigenarten hinzufügten. Wenn ich über den Friedhof kam, zum Beispiel von Julie, war es relativ einfach, da musste ich gar nicht erst auf die Straße, sondern konnte direkt über die Mauer in unseren Garten klettern, mit Hilfe des Grabsteins einer gewissen Ruth Erika Schachins, gestorben 1972, den ich pietätsloserweise als Trittleiter benutzte. Von der anderen Seite aus, also wenn ich wie jetzt über den Agnesplatz nach Hause kam, war es deutlich komplizierter. Aber alles in allem funktionierte die Hinterhofroute mittlerweile ganz gut. Jedenfalls wenn niemand dabei war, der dumme Bemerkungen machte.

»Du schleichst also lieber wie ein Einbrecher durch die Gärten, anstatt bequem auf dem Bürgersteig zu gehen?«, fragte Bax, während ich durch eine Lücke zwischen Zaun und Hecke auf das nächste Grundstück schlüpfte.

»Richtig.« Ich umrundete einen Sandkasten und duckte mich unter einer Wäscheleine hinweg. »Da ich mich leider im Gegensatz zu dir nicht unsichtbar machen, fliegen oder einfach im Boden versinken kann, wenn es nötig ist, muss ich diesen kleinen Umweg auf mich nehmen. Mittlerweile kenne ich hier jede Lücke, auch solche, die auf den ersten Blick gar nicht wie eine Lücke aussehen. Wie diese zum Beispiel.«

Mühsam quetschte ich mich zwischen zwei Büschen mit unangenehm stacheligen Blättern hindurch, die seit letzter Woche bedauerlicherweise ein wenig gewachsen waren und mir nun über die Wangen kratzten.

»Ich glaube, das ist das Bemitleidenswerteste, was ich jemals gesehen habe«, kommentierte Bax irgendwo über mir. Dann quietschte er erschrocken auf.

»Was ist los?«, wollte ich fragen, aber da hörte ich bereits das Gekläffe und kicherte schadenfroh. In Hausnummer 10 wohnte nämlich eine Englische Bulldogge namens Roger. Roger verbrachte viel Zeit allein im Garten, doch anstatt sich zu freuen, wenn jemand vorbeikam, regte er sich immer schrecklich darüber auf.

Die Mischung aus hysterischem Gebell und Geröchel klang noch furchterregender als sonst, aber Bax hatte sich schon wieder von seinem Schrecken erholt. »Das Ding sieht aus wie ein Dämon, den ich mal kannte. Nur dass der zwei von diesen plattnasigen Faltenköpfen hatte.«

Roger schnappte knurrend in die Luft.

»Haha, daneben«, krähte Bax. »Versuch’s noch mal, Dickerchen.«

Ich war inzwischen über den Jägerzaun gekraxelt und hielt die Tüte mit den Hundeleckerlis hoch, die ich extra für Roger angeschafft hatte. Als er das Knistern hörte, ließ er von seinem sinnlosen Tänzchen ab und kam schnaufend auf mich zu.

»Sabberkopfs Verhalten sollte nicht noch belohnt werden«, sagte Bax empört. »Und gut für seine Figur ist das auch nicht.«

»Aber für meine Nerven.« Ich beeilte mich, das Grundstück zu verlassen, bevor Roger mit Fressen fertig war. Es war jetzt viel länger hell als noch im Februar, wo es im Schutz der Dunkelheit recht einfach gewesen war, unbemerkt an allen Fenstern vorbeizukommen, dafür waren die Büsche nun belaubt und sorgten für Deckung. Richtig schwierig würde meine Hinterhofroute erst werden, wenn die Grillsaison wieder eröffnete und die Leute ständig in ihren Gärten waren. Aber dann konnte ich immer noch behaupten, ich würde nach meiner entlaufenen Schildkröte suchen oder so.

Zwischen Nummer 10 und Nummer 12 gab es leider nirgendwo eine Lücke, da musste ich eine zwei Meter hohe Mauer überwinden. Was vielleicht für Parkourläufer wie Quinn ein Klacks gewesen wäre, mir aber sehr viel Mühe abverlangte. Trotzdem besaß ich auch hier mittlerweile Routine. Zielstrebig kletterte ich über einen wackeligen Brennholzstapel in den Komposthaufen, hievte mich von dort bäuchlings auf die Mauerkrone und ließ mich auf der anderen Seite mit den Füßen voran wieder hinunterrutschen.

»Anmutig wie eine Katze«, sagte Bax. »Oder wie heißen die Tiere mit den großen Augen, die immer auf Sandbänken herumliegen? Ist es noch weit? Wenn ja, mache ich mir echt Sorgen um dich.«

»Geh nach Hause. Du nervst.« Ich klopfte mir im Weitergehen Moos von der Jacke und ignorierte das Knirschen kompostierter Eierschalen unter meinen Schuhsohlen.

»Selber«, sagte Bax, fügte dann aber sehr viel freundlicher hinzu: »Ich würde aber so gern ›Tatort‹ schauen. Bitte. Der nette alte Herr, bei dem ich immer geschaut habe, ist ins Seniorenheim gekommen – und finde du heutzutage mal jemanden, der überhaupt sonntags ›Tatort‹ schaut und dabei nicht die ganze Zeit umschaltet, redet oder schlimme Schmatz- und Furzgeräusche macht.«

»Meine Familie wird dir gefallen, sie nehmen den ›Tatort‹ alle sehr ernst«, versicherte ich ihm. Bei der Vorstellung von Bax, der auf dem Sofa vor unserem Fernseher herumlümmelte, fing ich an zu kichern. Plötzlich war ich viel besser gelaunt. »Na gut, dann komm halt mit.« Ich hatte nie ein Haustier haben dürfen, und die heilige Familie Martin in Gesellschaft eines waschechten Dämons zu wissen, würde das Highlight meiner Woche werden. Nur schade, dass man es nicht fotografieren und ihnen bei Gelegenheit unter die Nase halten konnte.

Es war nicht mehr weit, nur noch durch eine Buchenhecke und den Garten meiner Tante, dann war ich zu Hause. Höchstens zehn Minuten zu spät zum Essen, was hoffentlich gerade noch so geduldet werden würde.

Aber als ich mich durch die Buchenhecke gewurschtelt hatte, stand ich unvermittelt vor einem Hindernis, mit dem ich nicht mehr gerechnet hatte: Luise und Leopold, meine Cousine und mein Cousin. Oder wie die halbe Schule sie nannte: die Zwillinge des Grauens.

Sie starrten mich eher befremdet als überrascht an.

»Wohin des Wegs?«, fragte Leopold, der gern so sprach wie Buchfiguren aus dem letzten Jahrhundert.

»Wieso kommst du durch unsere Hecke?«, wollte Luise wissen.

»Weil ich …« Ach, wie doof! Jetzt hatte ich es doch fast geschafft. »Ihr habt nicht zufällig meine Schildkröte gesehen?« Ich hielt meine Hände in die Luft. »Ungefähr so groß?«

»Nein.« Leopold schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Schildkröte gesehen. Aber wir legen hier gerade ein Salatbeet an.«

»Toll«, sagte ich und versuchte, mich an ihm vorbeizuschieben.

»Nee, nicht toll, wenn deine Schildkröte hier frei herumläuft.« Leopold bedachte mich mit einem vorwurfsvollen Augenaufschlag. »Schildkröten fressen Salat.«

»Absolut! Und deshalb sollte ich sie wirklich finden. Sagt Bescheid, wenn ihr sie seht.« Die Gärten unserer beiden Familien waren weder durch einen Zaun noch durch eine Hecke getrennt, es gab nur eine Magnolie als Grenzbaum. Und auf diese Magnolie hielt ich jetzt zu. »Schönen Abend noch!«

»Warte!«, rief Luise hinter mir.

»Du hast doch überhaupt keine Schildkröte.«

Mist!

»Echt nicht?«, fragte Leopold perplex.

»Natürlich nicht, du Depp«, antwortete Luise. »Das würde Tante Britta doch nie erlauben.«

Leopold sog entrüstet die Luft ein, wahrscheinlich um zu tarnen, dass er auf die Schildkrötenstory hereingefallen war. »Du sollst nicht lügen«, deklamierte er salbungsvoll und hielt seinen Zeigefinger in die Höhe, als erwartete er, dass Gott auf der Stelle einen Blitz schickte, um mich zu bestrafen.

Stattdessen ertönte ein unheimliches Raunen von oben: »Und du sollst den Feiertag heiligen, Leopold!« Wenn ich nicht gewusst hätte, dass das Bax war, hätte ich mich entsetzlich gegruselt. »Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten sollst du ruhen. Und nicht gärtnern.«

Leopold war der Spaten aus der Hand gefallen, er und Luise schauten beide mit offenen Mündern in den Himmel hinauf. Ich nutzte den Moment, um mich zu unserer Kellertreppe zu retten.

Wie großartig es doch sein konnte, einen unsichtbaren Freund zu haben. Plötzlich taten sich vor meinem inneren Auge ganz neue Möglichkeiten auf.

»Kannst du eigentlich auch Wasser spucken?«, erkundigte ich mich.

»Ist der Papst katholisch?«, kam es prompt zurück, und ein Schwall Wasser platschte vor mir auf die Stufen.

Quinn

Verdammt! War das ein Hecheln gewesen? Hatten sie etwa Blutwölfe dabei? Die letzte Begegnung mit so einem Vieh war nicht gut für mich ausgegangen. Während ich hinter Severin her über einen kleinen Platz hetzte, warf ich einen Blick über meine Schulter. Die Nex waren uns auf den Fersen, ja, aber einen Blutwolf konnte ich nirgendwo entdecken. Wenigstens das. Möglicherweise war das, was ich für ein Hecheln gehalten hatte, mein eigenes Japsen gewesen.

Warum ich so selbstverständlich mit Severin davonrannte, war mir bei genauerem Nachdenken nicht ganz klar. Immerhin war er doch der Böse in dieser Geschichte, der Typ, der versucht hatte, mich zu entführen, oder? Aber angesichts der Truppe schwerbewaffneter Nex war er mir instinktiv als das kleinere Übel erschienen.

Und offenbar hatte mein Instinkt recht, denn jetzt wurde von weiter hinten »Im Namen des Hohen Rates! Ergebt euch!« gebrüllt, was ja wohl hieß, dass sie mich gleich mitfangen wollten. Oder Schlimmeres. Nun zischte nämlich etwas an mir vorbei, und als ich den Pfeil sah, der zitternd in einer bunt bemalten Haustür stecken blieb, wurde ich selber pfeilschnell und schloss zu Severin auf. Nebeneinander bogen wir in eine Seitenstraße ein.

»Wie war das noch?«, keuchte ich. »Hier im Saum kann man nicht getötet werden, richtig?«

»Richtig«, gab Severin zurück. »Außer man gerät an eine Sphinx. Aber das hier sind nur Nex. Trotzdem sollten wir uns von denen nicht erwischen lassen.«

Das zu vermeiden, konnte allerdings schwierig werden, denn jetzt sah ich, dass wir uns dummerweise in eine Sackgasse geflüchtet hatten, mit einer hohen Hauswand am Ende. Auch zwischen den anderen Fassaden und Mauern rechts und links war nirgends eine Lücke zu erkennen. Tja. Dumm gelaufen, im wahrsten Sinn des Wortes.

Aber kein Grund zur Panik. Wozu hatte ich all die Wochen hier Parkour trainiert? Wenn ich mich mit viel Schwung frontal an der Hauswand abstieß, könnte ich es auf einen schmalen Sims an der Seite schaffen, ein paar Meter balancieren und in den nächsten Garten springen, in dem es dann hoffentlich einen Hinterausgang gab.

Mein Ex-Physiotherapeut hatte offenbar etwas Ähnliches vor, er hatte sein Tempo kein bisschen verringert. Im Gegenteil, auch er schien Anlauf zu nehmen.

»Severin Zelenko!« Einer der Nex hatte den Eingang der Sackgasse erreicht. »Du kannst uns nicht entkommen!«, brüllte er, und ich glaubte, Rüdigers Stimme zu erkennen. »Ergib dich!«

Severin brüllte ebenfalls etwas, allerdings in einer fremden Sprache, ich verstand nur das Wort »Tango«.

Falls Severin nicht plötzlich tanzen wollte, bedeutete es übersetzt wahrscheinlich so etwas wie »Vergiss es, du Pfeife«, was auch den wütenden Kampfschrei des Nex erklärte, der von den Fassaden widerhallte.

Weder Severin noch ich waren langsamer geworden, während wir auf die Hauswand zustürmten. Ich fixierte kurz den Sims, auf den ich springen wollte, dann setzte ich zum Wall Run an. Doch meine Füße traten ins Leere. Denn die Wand, an der ich mich abstoßen wollte, hatte sich plötzlich in ein Flimmerfeld verwandelt, und mein Körper wurde mit den Füßen voran hindurchkatapultiert. Mit voller Wucht krachte ich neben Severin auf den Boden.

Scheiße, tat das weh!

Selbst wenn ich nicht mitbekommen hätte, dass ich gerade durch ein Portal vom Saum in die wirkliche Welt geschlittert war, wäre es mir spätestens jetzt klargeworden. Sämtliche Muskeln in meinem Körper fingen gleichzeitig an zu schmerzen, und meine Knochen fühlten sich an, als ob sie einmal durch die Waschmaschine gezogen worden wären.

Stöhnend rollte ich mich auf die Seite und starrte hinter mich auf die gekachelte Wand, durch die wir gekommen waren. Das Flimmerfeld hatte sich bereits geschlossen, stattdessen prangte dort ein großes Werbeplakat für eine Tanzschule, mit einem überlebensgroßen tanzenden Paar, das einander tief in die Augen blickte.

»El tango te espera«, las ich, und irgendwo in meinem Hinterkopf setzten sich die Puzzlestücke zusammen: »Tango« war Teil des Codeworts, mit dem das Portal offenbar gesichert war.

Und gelandet war ich – ich drehte mich mit einem weiteren Stöhnen auf die andere Seite – in einer U-Bahn-Station. Ja, ganz eindeutig. Das erklärte auch den penetranten Uringeruch. Nicht weit von mir öffnete sich eine Tunnelröhre, Menschen scharten sich in der Mitte des Bahnsteigs, die Blicke gelangweilt auf ihre Handys gerichtet. Anscheinend hatte keiner mitbekommen, dass da gerade zwei Leute durch ein Plakat geflogen waren.

»Sorry, Kleiner, wir müssen unsere Unterhaltung leider später fortsetzen«, sagte Severin. Im Gegensatz zu mir war er elegant in der Hocke gelandet und richtete sich raubkatzengleich auf, während meine Beine wie Wackelpudding zitterten und mir einmal mehr bewusst wurde, wie sehr mich mein Körper in der echten Welt im Stich ließ.

»Bist du wahnsinnig, ein Portal zu öffnen?«, keuchte ich. »Hier bekommen die Nex uns doch erst recht.«

»Mich nicht.« Er warf einen prüfenden Blick auf das Plakat, dann lächelte er mich an. Meine ausgestreckte Hand ignorierte er. »Und dir werden sie schon nichts tun. Du musst ihnen nur klarmachen, dass du unter Cassians persönlichem Schutz stehst, bevor sie dir die Zähne einschlagen. Keine Sorge, im Saum heilt das meiste wieder.«

Was?

»Bitte, sprich mit Cassian«, fügte er hinzu. »Du wirst es nicht bereuen.«

Ich versuchte erneut, mich aufzurichten. Doch keine Chance, meine Muskeln weigerten sich schlicht, und meine Füße rutschten auf dem glatten Kachelboden ab. Verdammt!

»Entspann dich, Quinn. Ich finde dich schon wieder!« Severin zwinkerte mir zu. »Ach, da kommt ja auch schon meine Bahn. Wie praktisch.«

Ich bemerkte es ebenfalls, das leise Rattern, das sich durch den Tunnel näherte, der Luftzug, der mich erfasste. Severin hatte sich bereits abgewandt und trat ein paar Schritte vor zur Bahnsteigkante.

Na toll, der konnte jetzt gemütlich mit der U-Bahn flüchten, während ich hilflos am Boden lag und nicht mal wusste, wo wir uns hier überhaupt befanden. Madrid, vielleicht? Oder – war bei meiner allerersten Begegnung mit Gudruns Leuten nicht von einem Portal die Rede gewesen, das nach Buenos Aires führte? Mein Blick glitt suchend über die Köpfe der wartenden Menschen zu einem Schild, das in die Wandkacheln eingelassen war. »Plaza Miserere«, las ich. Der Stationsname passte perfekt zu meiner Misere. Entweder machten meine Zähne gleich Bekanntschaft mit ein paar trainierten Nexfäusten, oder ich konnte meinen Eltern eine Postkarte aus Buenos Aires schicken. Hallo Mama, hallo Papa, unser Essen bei diesem neuen Sushi-Laden muss heute leider ausfallen, könntet ihr mich stattdessen bitte in Argentinien abholen? Und bringt meinen Reisepass mit. Danke und liebe Grüße.

Herrje!

»Severin, jetzt hilf mir wenigstens hoch, verdammt«, rief ich.

Severin tat so, als hörte er mich nicht, er drehte nicht mal seinen Kopf zu mir, sondern schaute nach rechts in die Tunnelröhre, von wo ein gelber U-Bahn-Zug heranratterte. Und so war nur ich es, der mitbekam, dass über mir das Plakat wieder anfing zu flimmern.

Ich konnte mich gerade noch zur Seite rollen, als der Nex, der uns in die Sackgasse gefolgt war, aus dem Portal sprang.

Es war tatsächlich Rüdiger. Er brauchte nicht mal eine halbe Sekunde, um sich zu orientieren, dann ließ er mich buchstäblich links liegen und stürmte auf Severin zu.

»Hinter dir, Severin!«, schrie ich.

Diesmal reagierte Severin auf meine Stimme. Blitzschnell riss er sein Bein hoch und traf den heranrauschenden Rüdiger am Kinn. Rüdigers Kopf flog nach hinten, aber er packte Severins Fuß und versuchte, ihn herumzuschleudern. Halt suchend schlang Severin die Arme um Rüdigers Hals, und sie umklammerten sich gegenseitig in einer Art bizarrem Tanz.

Und dann fror die Szene vor meinen Augen ein.

Als der Zug heranbrauste, verloren die beiden das Gleichgewicht und stürzten direkt vor den ersten Waggon aufs Gleis.

In dem einen Augenblick sah ich ihre Silhouetten noch vor mir, einen Wimpernschlag später war da nur noch das Gelb der Bahn, während die Bremsen in meinen Ohren schrillten. Es erschien mir wie eine Ewigkeit, bis der Zug endlich über die gesamte Breite des Bahnsteigs zum Halten kam.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, eine panische Durchsage des Lokführers vielleicht, ein Notsignal in der Station, Menschen, die entsetzt schrien und ihre Handys ans Ohr hielten – aber nichts davon passierte. Stattdessen öffneten sich die Türen der Bahn zischend, und die Menschen strömten aus dem Zug in die Station, während die Wartenden sich seelenruhig einreihten, um die Waggons zu betreten.