Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Für die Schuldigen gibt es keine Vergebung: Nach seiner Haftentlassung stirbt der Mörder der 11-jährigen Nicole unter mysteriösen Umständen. Im Keller seines Hauses wird ein furchtbares Geheimnis entdeckt. Wenig später werden drei Mitglieder einer Einbrecherbande nachts, auf offener Straße, hingerichtet. Elisa Batoni und Christian Berghoff von der Kripo Bergstraße entdecken Zusammenhänge zwischen diesen rätselhaften Fällen und nehmen die Ermittlungen auf. Doch dann werden sie mit einem weiteren dramatischen Todesfall konfrontiert: Unter einer Brücke hängt ein Mann an einem Strick. Wenige Sekunden später zerschmettert sein Körper an der Front des Nacht-ICE. Elisa und Christian graben tiefer und stoßen auf ein geheimes Netz aus Schuld und Vergeltung und auf immer mehr Tote und Vermisste mit dunkler Vergangenheit. Über mehrere Jahre hinweg setzen sie das rätselhafte Puzzle zusammen. Doch sie werden selbst zu Gejagten und stellen fest, dass sie vor einem Abgrund stehen. INTENSIV - PACKEND - UNVORHERSEHBAR
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 374
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
JAN HETMAN
VERHÄNGNISVOLLE SCHULD
Kriminalroman
Verhängnisvolle Schuld
Kriminalroman
© 2024 Jan Hetman
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflageveröffentlicht am 05.11.2023
2. Auflageveröffentlicht am 16.07.2024
Covergestaltung:
Buchcoverdesign.de / Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de
Bildmaterial:
Adobe Stock 48040014
Herausgeber:
Jan Hetman
c/o COCENTER
Koppoldstr. 1
86551 Aichach
Amazon-Taschenbuch ISBN: 979-8-33332-949-3
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche
Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit schriftlicher
Zustimmung des Autors zulässig.
Alle in diesem Roman geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig
und nicht beabsichtigt.
Inhalt
Prolog
KAPITEL 1
Aus geschnitztem Erlenholz
Episode 1
Geld stinkt nicht
Wie ein kleines Kätzchen
Episode 2
KAPITEL 2
Zwei Zentner Kampfgewicht
Für immer und ewig
Nur rein platonisch
KAPITEL 3
Die wiedergekehrte Ruhe
Episode 3
Die Mauer des Schweigens
Das Heiligtum
Episode 4
Zu weit gedacht
Minimalziel
KAPITEL 4
Ging schon besser
Episode 5
Nichts für schwache Nerven
Episode 6
Oder raffiniert!
KAPITEL 5
Eisige Kälte stieg auf
KAPITEL 6
Badeschlappen im Urwald
Episode 7
Nur eine Ahnung
Die zweite Säule
Epilog
Berlin-Glienicke
Samstag, 06. Mai 1995, 15.40 Uhr
Der Kies knirschte unter seinen Schuhen, als er auf die alte Villa zuging. Sie könnte wirklich mal einen neuen Anstrich vertragen, ging es ihm durch den Kopf. Auf dem Treppenabsatz stand Frieda, mit einer kleinen Gießkanne in der Hand und erwartete ihn schon.
»Hallo Ronny, er ist hinter dem Haus – Gartenarbeit.«
Auf gebrochenen Gehwegplatten, zwischen hohen Rosenbüschen, ging er um das Haus und stand in der Oase der Ruhe, wie er Grasulkes Garten gerne nannte. So ruhig, dass man meinte, man könnte die Regenwürmer kriechen hören. Wenn das wilde Vogelgezwitscher nicht wäre. Dahinter ragten drei alte Eichen hoch auf, die über das kleine Paradies wachten.
»Otto?«, rief er durch den Garten. Wo steckt der Maulwurf schon wieder. Er rief durch die Hintertür am Haus. Nichts. Vielleicht bei den Eichen? Da saß er gerne an einem kleinen Bistrotisch, mit einem kühlen Bierchen. Wäre jetzt nicht das Schlechteste. Dann duckte er sich unter den tief hängenden Ästen der Apfelbäume hindurch und erstarrte. Sein Freund hing an einem Strick um den Hals, einen Meter über dem Gras. Daneben die kleine Stehleiter. Ganz ruhig hing er da. Nicht einmal der frische Frühlingswind brachte ihn zum baumeln.
»Otto!«, stöhnte er, »was machst du denn für Sachen!«
Der Puls am Handgelenk war nicht mehr zu erfühlen. Sein Gesicht war aufgedunsen und dunkelviolett. Die blaue Zunge hing aus dem leicht geöffneten Mund. Er betrachtete ihn lange. Dann ging er zum Haus und rief durch die Hintertür nach Frieda.
Wenig später standen sie betroffen und wütend vor dem Erhängten. Betroffen über den Tod, wütend über ihr Schicksal. Frieda schluchzte und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ronny überlegte, Otto abzuschneiden. Doch zu Zweit würden sie das nicht schaffen, ohne dass Otto herabstürzen würde. Diese Demütigung wollte er ihm nicht antun. Nicht auch noch im Tod. Nachdenklich ging er ins Haus und rief den Notarzt an. - Zurück im Garten hielt Frieda ein Blatt Papier in der Hand.
»Das lag da drüben auf dem Tischchen.«
»Meine über alles geliebte Frieda, ich danke dir für die vielen glücklichen Jahre, doch ich kann so nicht mehr weiterleben. Bitte verzeih mir. Dein Otto.«
So standen sie unter dem Strick und warteten. Ronny kannte den Gemütszustand seines Freundes. Er wusste genau, wie verbittert er war. Doch er konnte ihm nicht helfen. Oder andersherum - Otto wollte sich nicht mehr helfen lassen. Er hatte abgeschlossen. So war eingetroffen, was er erwartet hatte. Der Schock hielt sich daher in Grenzen. Es war wie ein langer, angekündigter Abschied. Die Zeit war unbestimmt. Das Ende unausweichlich.
Ronny ging zu dem kleinen Tischchen. Die Flasche war halb voll, das Bier noch kühl. Er hob die Flasche Otto entgegen und nahm einen kräftigen Schluck.
»Auf dein Wohl, Alter. Auf mich musst du noch warten...«
Ronny Hartmann setzte sich. Er war erst zweiunddreißig und musste da durch. Weitermachen. Für Frau und Kinder und ein klein wenig auch für sich. Und am Horizont öffnete sich gerade eine Tür für ihn.
Jägersburger Wald
Freitag, 16. November 2012, 17.20 Uhr
Gedankenfunken sammelten sich zu einem Gedankenblitz. Ein schneller Griff, ein Ruck gegen die Türverkleidung und die Beifahrertür sprang auf. Durch den eigenen Schwung kippte das junge Mädchen mit dem Oberkörper aus dem Sitz, griff in den aufgeweichten Waldboden und strampelte sich mit ihren Beinen los. Wild krabbelte sie die ersten Meter über das rutschige Herbstlaub bis sie Halt fand. Der Regen rauschte auf sie herab. Im Nu hingen die blonden, welligen Haare in Strähnen über Gesicht und Schultern.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße! Ich krieg dich, du kleine Schlampe. Dann dreh ich dir den Hals um«, brüllt er ihr durch die offene Beifahrertür nach, während er hastig seine Hose schloss.
In der Dunkelheit erahnte sie die eng stehenden Baumstämme nur vage. Da knallte sie mit dem Kopf gegen einen Ast, fiel auf den Rücken, rappelte sich hoch und floh weiter. Eine vertrocknete Astspitze bohrte sich in ihren rechten Halsmuskel und riss einen Fetzen heraus. Blut quoll aus der offenen Wunde. Die Hände weit nach vorne gestreckt hastete sie durch das Dunkel.
Die Baumreihen lichteten sich. Mit wenigen Schritten überquerte sie einen sumpfigen Grasstreifen und stand auf einem Waldweg. Nach rechts. Regen schlug ihr ins Gesicht. Sie wandte sich um, kniff die Augen zusammen und erahnte einen langen, schnurgeraden Fahrweg. Mit dem Wind rannte sie los, der die kleine Gestalt über die Erde fegte.
Ihr Verfolger tappte durch den morastigen Grasstreifen. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Ruckartig drehte er sich nach links. Weit voraus erahnte er eine schemenhafte Bewegung. Mit weiten Schritten hetzte er durch matschige Pfützen. Meter um Meter warf er sich seinem Ziel näher, rutschte aus, fiel mit dem Knie auf einen Stein, kämpfte sich hoch und drängte weiter über den glitschigen Weg.
Seine Hand verkrampfte sich in ihrem nassen Haar. Sie stampfte und zerrte vorwärts, doch ihre Kraft blieb im Matsch stecken. Das kleine Mädchen wirbelte herum, kam aus dem Gleichgewicht und riss den schweren Mann mit sich.
Langwaden
Freitag, 16. November 2012, 19.37 Uhr
Die Scheinwerfer schoben sich durch die nebelverhangene Dunkelheit des Hessischen Rieds. Dünnbesiedeltes Flachland. In den langgezogenen Kurven, die sich schlangenartig aneinanderreihten, leuchtete die Landschaft wie im Kegel eines Suchscheinwerfers halogenweiß auf. Feuchte Wiesen, durchnässte Ackerböden. Vereinzelt ragten kahle Bäume wie Skulpturen in den Nachthimmel.
Rombach nahm den Fuß vom Gaspedal. Der Wagen rollte die Jägersburger Straße entlang durch das unscheinbare Dorf mit seinen rund dreihundert Einwohnern und den gerade mal vier oder fünf Straßen. Letzte Straße rechts.
Bülows nagelneues BMW Cabrio stand ein paar Meter weiter. Steckte er in der Midlife-Crisis? Er wollte ihm nicht zu nahe treten, auch nicht gedanklich. Doch Claus Bülow war seiner Meinung nach, zumindest bisher, die status- und moderesistenteste Person der Kriminalinspektion Heppenheim. Etwas war aber sichtlich im Wandel. Dazu passten auch seine neuerdings farblich auffälligen und teuren Marken-Poloshirts.
Kaum war er an der Eingangstreppe angekommen, riss Bülow die Tür auf. Er musste ihn durch das kleine Fenster im Treppenhaus gesehen haben. Mittelgroß und hager stand er in der Tür. Mit seinen tiefen Geheimratsecken und den graumelierten, halblangen Haaren, die etwas über die Ohren und in den Nacken gingen, wirkte er wie ein gealterter Statist, der aus ›Saturday Night Fever‹ gefallen war.
»Wolfgang, gut dass du schon da bist.«
Frau Gärtner saß versteinert und verlassen in der Mitte ihrer Couch. Die Augen starr auf den Fußboden gerichtet. Schwerfällig hob sie den Kopf und Rombach blickte in verängstigte, vom Weinen rote Augen. Ihr Mann stoppte sein Auf und Ab neben dem Wohnzimmerschrank und stellte sich hinter seine Frau.
»Guten Abend. Ich bin Hauptkommissar Rombach. Wir werden alles in unserer Macht stehende unternehmen, damit sie ihr Kind schnellstens wiederbekommen.«
Frau Gärtner begann zu wimmern. Mit brüchiger Stimme stammelte sie:
»Mein Kind wird nie mehr nach Hause kommen! Ich weiß es genau - ich spüre das.«
Dann sackte sie wieder zusammen. War das der sprichwörtliche Mutterinstinkt, der jetzt schon wusste, was sie in mühsamer Kleinarbeit erst noch herausfinden würden?
»Herr Gärtner, laut meinen Informationen ist ihre Tochter Nicole erst elf Jahre alt. Ist das korrekt?«
»Ja, wir haben im Oktober erst ihren Geburtstag gefeiert.«
»Hmm, verstehe. - Könnten Sie uns bitte einmal schildern, was genau passiert ist? Seit wann vermissen sie ihre Tochter?«
Aufgeregt erklärte Oliver Gärtner, dass Nicole wie immer freitagnachmittags Sportunterricht im AKG, also im Alten Kurfürstlichen Gymnasium Bensheim, hatte. Gegenüber der Sporthalle sei zwar eine Bushaltestelle für die Linie 767 nach Langwaden, aber die würde freitags ab 14.00 Uhr nicht mehr angefahren. Danach müssten die Kinder vom Bensheimer Bahnhof abfahren.
»Nicki hätte dort wie üblich um 17.17 Uhr einsteigen sollen und wäre dann gegen 17.45 Uhr zu Hause gewesen. Als sie um 18.30 Uhr noch nicht da war, rief ich ihre Schulkameradinnen, Freundinnen und die Krankenhäuser an. Schließlich fuhr ich die Strecke zum AKG ab. - Nichts.«
Herr Gärtner hielt inne und überlegte. Dann fügte er noch hinzu:
»Ach ja! Und im Reitverein war ich auch noch. Da pflegt sie regelmäßig ein Pferd - ist nicht ihr eigenes. Aber das ist ihre ganz große Leidenschaft. - Doch auch dort wusste niemand wo sie war.«
Bülow ließ sich die Namen der Mitschülerinnen geben und verschwand in der Küche. Rombach biss sich auf die Unterlippe. Das tat er immer, wenn er Unangenehmes im Kopf hin und her wälzte.
»Könnte es möglich sein, dass ihre Tochter, ich will sagen, könnte es sein, dass sie nicht nach Hause kommen wollte? - Hatten sie irgendwelche Differenzen?«
Er hatte einen Aufschrei erwartet, doch das Ehepaar schüttelte nur die Köpfe. Ohne aufzuschauen flüsterte Svenja Gärtner:
»Wir haben Nicole geliebt, wie man sonst niemand lieben kann. Sie war unser Sonnenschein - und sie hat uns auch geliebt. Wir waren glücklich, wunderbar glücklich.«
Dann ließ sich Frau Gärtner in ein tiefes Kissen fallen und begrub ihr Gesicht und ihren Schmerz darin. Wäre er nicht Polizist, hätte er mitheulen können.
Wie weit war sein Kollege? Das konnte doch nicht so lange dauern. Claus Bülow lehnte telefonierend im Türrahmen. Er nickte mehrmals kurz seinem Chef zu, was wohl so viel heißen sollte wie ›bin gleich fertig‹. Wahrscheinlich.
»Also! - Ich hatte die beiden Mädchen an der Strippe, mit denen Nicole die Sporthalle verließ. Das war nach ihren Aussagen so gegen 16.10 Uhr. Zu Dritt gingen sie die Fehlheimer Straße entlang. Hundert Meter weiter bogen die beiden Mädchen in die Kirchbergstraße ab, Richtung Europa-Allee. Nicole musste geradeaus weiter.«
Bülow folgerte daraus:
»Es ergeben sich dadurch verschiedene Varianten. Kam sie überhaupt am Bahnhof an? Fuhr sie dort mit dem Bus ab? Stieg sie unterwegs aus? Oder verschwand sie erst in Langwaden?«
»Exakt. Wir brauchen unbedingt die Aussage des Busfahrers. Christian soll sich gleich dranmachen. Kannst du das bitte in die Wege leiten. - Ach ja. Und die Krankenhäuser natürlich noch!«
»Mach ich.«
Rombach bat Herrn Gärtner um ein Foto von Nicole. Er steckte es Bülow zu, damit dieser es per Handy an die Leitzentrale weiterleitete.
»Wir müssen jetzt warten, bis wir neue Informationen erhalten. Meine Leute arbeiten daran.«
Sein Blick ging durch den Raum. Modern eingerichtete Wohnung, sicher nicht billig. Aber nicht protzig oder vermögend. Auf einem Schrank standen Familienbilder. Bilder von einer, tja, man konnte es nicht anders sagen, glücklichen Familie. Zumindest in diesem Bruchteil einer Sekunde.
Von irgendwo her ertönte gedämpft der Radetzkymarsch. Alle blickten sich um. Rombach patschte von oben nach unten auf seinen langen Mantel, bis er die richtige Tasche gefunden hatte. Ich muss endlich einen neuen Anrufton auswählen. Irgendwie war ihm der Radetzkymarsch doch etwas unangenehm. Zu viel Marsch. Zu militärisch. Das passte eigentlich gar nicht zu ihm. Die Leitzentrale teilte mit, dass Christian den Busfahrer ausfindig gemacht hatte und mit einem Bildabzug soeben zu ihm nach Hause gefahren sei.
Wolfgang Rombach war stolz auf sein Kommissariat. Seit über zwanzig Jahren leitete er nun schon als Erster Kriminalhauptkommissar das K10, zuständig für ›Gewalt-, Brand-, Waffen-, Sexualdelikte und Vermisste‹ und hatte peu á peu eine engagierte Truppe aufgebaut. - Rombach war ein Gemütsmensch. Es war nicht einfach, ihn aus der Ruhe zu bringen. Schon seine Erscheinung wirkte beruhigend: etwas über eins-siebzig, Bauchansatz, kurzes, silbergraues Haar. Sein rundes Gesicht strahlte Wärme aus, wobei seine Augen schamlos durchdringend und eiskalt sein konnten, wenn er der Wahrheit näher kommen wollte.
Auf seiner Dugena Matic Vintage war es Viertel vor Neun. Jetzt hieß es warten. Rombach stellte sich an das Fenster neben der Eingangstür. Nur noch eine Handvoll Neugieriger stand am Gartentor. Die Fotografen waren längst schon abgezogen. Neben der Eingangstreppe lehnte ein Kinderfahrrad. Er schaute über den wiesenartigen Garten. Im schummrigen Licht einer Straßenlaterne konnte er eine bunte Kinderschaukel wahrnehmen. Sicher ein sentimentales Überbleibsel aus frühen Kindertagen. Mit jeder Windböe tänzelte der leere Sitz hin und her. Sein Blick löste sich auf, ging durch die Schaukel hindurch und er versank in Gedanken. War der Tod schon unbemerkt in dieses Haus eingezogen? Oder gab es noch Hoffnung? - Die Statistik zeigte klar auf Hoffnung. Doch was nutzte jede noch so positive Statistik, wenn man die Niete zog?
Rombach drückte die Augen fest zusammen und zwang sich in die Realität zurück. Auf dem Weg zur Küche überraschte ihn wieder der Radetzkymarsch. Mit einem gezielten Griff fischte er das Handy aus der rechten Manteltasche und war überrascht über seinen Erfolg im Kampf mit diesem ungeliebten Ding. Christian Berghoff, sein jüngster Kommissar war dran:
»Die Aussage des Busfahrers liegt vor. Er hatte den ganzen Nachmittag und Abend Schicht und ist sich absolut sicher, dass Nicole heute nicht mit dem Bus zurückgefahren war. Er kennt das Mädchen. Langwaden ist immer End- und Wendestation. Da sitzen zum Schluss meist nur noch ganz wenige Fahrgäste im Bus und ›...diese Langwadener kennt man mit der Zeit‹, wie er sagte.«
»Gut. Nicole ist demnach auf dem Weg zum Bahnhof verschwunden – und zwar irgendwo nach der Kreuzung zur Kirchbergstraße. Wir brauchen Suchhubschrauber mit Wärmebildkameras. Parallel dazu Personenspürhunde. Und noch was! Der Staatsanwalt muss auch her - und zwar presto presto! Wir treffen uns alle in etwa fünfundvierzig Minuten vor der AKG-Sporthalle.«
Bülow ging ins Wohnzimmer und bat um ein Kleidungsstück von Nicole, das sie vor Kurzem anhatte. Wenig später überreichte ihm Frau Gärtner Nicoles Schlafanzug wie ein einmaliges Geschenk.
Schon von Weitem konnte Rombach unter dem Schein einer Straßenlaterne Staatsanwalt Magnus Stornebeek aus Darmstadt ausmachen. Groß und schlank - die ausgeprägten Backenknochen und das markant-eckige Kinn unterstrichen seine maskuline Ausstrahlung. In seinen eleganten Maßanzügen wirkte er wie ein smarter Top-Manager. Die Frauen in der Heppenheimer Polizeidirektion waren sich einig: ›Er war einfach ein Traummann‹! - Wenn Stornebeek das Gebäude betrat, jagte diese Nachricht wie ein Lauffeuer durch die weibliche Belegschaft. Als Urheberin dieser Kettenreaktion hatte er Frau Rosario von der Pforte im Verdacht.
Jetzt stand er in ausgebleichten Jeans, Bikerstiefeln und einer fellgefütterten Winterjacke auf dem Gehweg und unterhielt sich mit den Kollegen Berghoff und Raubart. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er für einen Staatsanwalt recht jung. Dennoch galt Stornebeek bereits als sehr erfahren, da er schon mehrere schwere Fälle erfolgreich zu einer Verurteilung gebracht hatte.
Atemnebel umgab die Wartenden. Manche tippelten von einem Bein auf das andere, um die Kälte zu überlisten. Dann endlich kam Sofia Dimitriadis, Leiterin der Diensthundestaffel 1 aus Darmstadt.
»Das hier ist Chica!«, wobei Frau Dimitriadis auf eine schwanzwedelnde deutsche Schäferhündin deutete. Bülow überreichte ihr die Plastiktüte mit den Kleidungsstücken. Die Hundeführerin stülpte Chica kurz den Beutel über die Schnauze und sie zog sofort an der Leine. Zielsicher schnüffelte sie auf dem rechten Gehweg der Fehlheimer Straße entlang stadteinwärts. Jeder spürte, dass sich diese Hündin ihrer Sache absolut sicher war. An der Kreuzung zur Kirchbergstraße erklärte Rombach:
»Hier trennten sich die Wege der drei Mädchen. Sophie und Leonie bogen rechts ab, Nicole ging geradeaus weiter.«
Danach hatte die Straße einen alleenartigen Charakter. Mit breiten Gehwegen und daneben einem Grünstreifen mit prächtigen Kastanienbäumen. Chica roch an einer Gartenmauer, beschnüffelte den Gehweg und blieb an einem dieser hohen Bäume stehen. Sie tapste auf die Straße und noch ein paar Schritte stadteinwärts. Dann setzte sie sich auf die Fahrbahn. Frau Dimitriadis lobte und tätschelte ihre Hündin und erklärte kurz und bündig:
»Hier ist die Spur zu Ende.«
Alle starrten auf den Hund, dann auf die Straße. Hier also verschwand Nicole – spurlos, im wahrsten Sinne des Wortes. Christian Berghoff sprach die beiden Optionen aus als Erster aus:
»Entführt! Mit einem Auto. Oder freiwillig mitgefahren?«
Beide Szenarien waren denkbar. Rombach bat zwei Polizisten, die Anwohner zu befragen.
»Ich habe Kopien von Nicoles Bild dabei«, meldete sich Christian. Rombach war beeindruckt von seinem vorausschauenden Handeln. - In diesem Moment erhielt Stornebeek den Anruf, dass die zwei Suchhubschrauber unterwegs seien.
»Eurocopter 145 mit Wärmebildkameras«, murmelte Michael Raubart. Rombach drehte sich um. Er bewunderte dessen technische Kenntnisse. Wie oft schon hatte er damit die entscheidenden Hinweise geliefert. Dabei fiel ihm einmal mehr auf, wie er aus der Gruppe herausstach. Michael überragte mit seinen zwei Metern alle Umstehenden. Zudem war er überaus kräftig und sperrig. Keinesfalls dick. Allerdings hatte er die Einstufung als sportlich-athletischer Typ schon hinter sich gelassen. Mit seinem rundlichen Gesicht, dem rotblonden Dreitagesbart und den hellwachen Augen wirkte er wie der Prototyp eines kanadischen Holzfällers. Rombach wandte sich Christian zu:
»So gegen 06.30 Uhr sollten wir der Bereitschaftspolizei in Mainz-Kastell Bescheid geben, ob wir sie brauchen. Kann ich mich darauf verlassen?«
»Logisch. Geht klar, Chef«
Irgendwie war er noch wie ein Kind auf einem riesigen Abenteuerspielplatz, erkannte Rombach. Und dieses ›Chef‹ hatte er ihm schon einmal untersagt. Hört einfach nicht zu, der Junge!
Kriminalinspektion Bergstraße, K10
Samstag, 17. November 2012, 01.55 Uhr
Bleierne Schwere legte sich über das K10. Zunächst hatten sie noch die Hoffnung, dass sich durch Anwohnerbefragung, Spürhunde und Suchhubschrauber schnell Ermittlungsansätze ergeben würden. Fehlanzeige! Wie die Zeit, so zerrann auch die Zuversicht. Christians Augen wurden immer schwerer. Sogar drei schwarze Kaffee und zwei Energydrinks halfen jetzt nicht mehr. Der Schlaf eroberte eine Gehirnwindung nach der anderen. Er schleppte sich in sein Büro und ließ sich in den Schreibtischsessel fallen. Noch ehe die Stirn den Arm berührte, hatte sein Gehirn den Stecker gezogen.
Michael ging den Flur auf und ab. Nach jedem Hin und Zurück lehnte er seine Stirn an das Glas des Flurfensters. Drüben am Aldi brannten die Nachtlichter. In ein paar Stunden würden die Menschen wieder einkaufen gehen, wie jeden Tag, als sei nichts geschehen. Es war ihnen auch nicht zu verdenken. Die Gewohnheit, die wiederkehrende Gleichmäßigkeit des Daseins gab Sicherheit und Vertrauen. Hoffentlich würde Familie Gärtner nochmals diesen harmonischen Gleichklang des Lebens erfahren.
Christians Handyalarm signalisierte: Samstag, 06.30 Uhr. Er streckte sich. Wie benommen trottete er in die Leitstelle.
»Wolfgang, sechs Uhr dreißig. Wir müssten jetzt die Bereitschaftspolizei aktivieren. Oder gibt es vielleicht etwas Neues?«
Bülow drehte sich nach rechts und schaute in Rombachs müde Augen. Dann schüttelte er verständnislos den Kopf, schob sich über den Tisch und fauchte Christian an:
»Sieht es hier aus, als ob wir irgendwas Neues hätten? Was für eine saublöde Frage!«
Christian war plötzlich hellwach:
»Hallo! - Was soll das denn bitte!?«
»Oh, auch noch empfindlich!«, konstatierte Bülow.
Michael Raubart, der in der Tür stand, schob Christian zur Seite. Er stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Bülows Tisch, dass er in den Fugen knarrte und brummte:
»Claus! Lass deine schlechte Laune nicht an dem Jungen aus! Ist das klar?«
»Mensch Michael, ist ja gut - war nicht so gemeint.«
Bülow zwickte die Augenlider zusammen, als ob er geblendet worden wäre. Er war verblüfft über Michaels unerwartete Schützenhilfe für den Neuen. Doch mit ihm wollte er es sich nun wirklich nicht verscherzen.
»Leute, bitte! Bleibt bei der Sache!«, ging Rombach dazwischen. Dann wandte er sich Christian zu:
»Ruf bitte die Bereitschaftspolizei an. Sag denen, um acht Uhr auf dem Obi-Parkplatz. Und schick Ferdinand dort hin. Um Acht bitte alle Anderen im Besprechungszimmer.«
Christian schlurfte in sein Büro zurück. Bülow kotzte ihn gewaltig an. Jetzt war er knapp ein halbes Jahr hier und der stellvertretende Leiter des K10 hatte ein Problem mit ihm. Na prima! Welches, war ihm völlig schleierhaft. Aber keinesfalls würde er sich von ihm unterbuttern lassen.
Auch Rombach grübelte über die Beziehung zwischen den beiden nach. Ihm war nicht entgangen, dass Claus versuchte, Christian einzuschüchtern und zu dominieren. Das konnte er natürlich nicht dulden, wollte aber nicht gleich mit dem Holzhammer dazwischengehen.
Kurz vor Acht waren alle anwesend – nur der Chef fehlte noch. Kriminaloberrat Dirk Nowak lehnte mit dem Rücken an der Wand und gestikulierte aufgeregt mit Bülow. Der Leiter der Regionalen Kriminalinspektion Bergstraße/Heppenheim brach abrupt ab als Rombach eintrat und ging sofort auf ihn zu:
»Schreckliche Sache, Wolfgang! Hoffentlich geht das noch gut aus. Du erhältst jegliche Unterstützung, das hab ich mit der Sondermann schon geklärt!«
Rombach nahm sich aus der Zweiliter-Thermoskanne eine Tasse Kaffee. Der aus dem Automat war nun wirklich sehr gewöhnungsbedürftig. Wenn aber Frau Fischer für die großen Besprechungen frisch aufbrühte, schmeckte auch Bürokaffee nach Kaffee. Irgendjemand meinte einmal, ob man vielleicht den ganzen Job als eine permanente Aneinanderreihung von Besprechungen ansehen könnte...?«
Es herrschte keine gefestigte Platzordnung. Nur Rombach saß immer in der Mitte der linken Längsseite. Wer es sich nicht mit Bülow verderben wollte, ließ den Platz rechts daneben frei.
»Wer fehlt noch?«
Nowak blickte fragend in die Runde.
»Sarah ist im Urlaub...«, meinte Elisa Batoni.
»Den könnte sie doch abbrechen. Wir brauchen...«, »...wandern in Chile - Machu Picchu«, warf sie süffisant dazwischen.
»Ok. - gebongt. Wer noch?«
Als keine Meldung mehr kam, gab er an Rombach weiter. Der räusperte sich kurz.
»Claus, könntest du bitte zusammenfassen, damit alle auf dem gleichen Stand sind.«
Claus Bülow zog seine Unterlagen zu sich heran und schilderte in knappen Worten den aktuellen Ermittlungsstand. Er endete mit dem Satz:
»Leider haben wir trotz Befragungen und Suchhubschrauber immer noch keine Spur von Nicole Gärtner!«
Rombach schaute in die Runde.
»Wie wollen wir vorgehen? Ich bitte um Vorschläge!«
Er drehte seine Kaffeetasse im Kreis und betrachtete gedankenverloren die drei Herzchen darauf. Lea Wessinghaus empfahl, ähnliche Fälle rauszusuchen. Auch sollten alle einschlägig Vorbestraften abgecheckt werden. Michael Raubart schlug vor, im Reitverein zu recherchieren, auch in der Schule mit Lehrern und Schülern zu sprechen. Und Elisa Batoni gab die Anregung, die Bewohner Langwadens zu befragen.
Eine unbedeutende Kopfbewegung von Rombach genügte und Bülow ging zum Wandboard, die Vorschläge festzuhalten. Die vielen Jahre der Zusammenarbeit hatten ein beiderseitiges Verständnis wachsen lassen, das oftmals ohne Worte auskam. Anschließend drehte sich Rombach wieder seinem Team zu und fragte:
»So, dann teilen wir mal die Arbeit auf. Wer macht was?«
Kaum hatte Rombach ausgesprochen, meldete sich Christian:
»Ich würde mir gleich mal den Reitverein anschauen.«
»Wer geht mit?«
Elisa Batoni links von ihm hob ihre Hand, ohne vom Schreibblock aufzuschauen.
»Gut«, konstatierte Rombach.
Im rechten Augenwinkel nahm er unterschwellig wahr, wie Bülow den Kopf hob und hinter seinem Rücken vorbei Elisa fixierte. War das des Rätsels Lösung? - Nein, das ist doch Quatsch! Claus war glücklich verheiratet - sagte er zumindest.
Reitverein Bensheim
Samstag, 17. November 2012, 10.12 Uhr
Ein penetranter Geruch von Pferdemist schlug ihnen entgegen. Sie lachten und rümpften ihre Nasen. Durch eine offenstehende Seitentür traten sie in einen schmalen, düsteren Gang, der zwischen Boxen auf den Hauptgang des Stalls führte. Die Luft war warm und feucht. Weiter vorne striegelte eine junge Frau ihr Pferd.
»Wo finden wir denn bitte den Platzwart oder Chef dieser Anlage?«
»Sie haben Glück. Ich bin die Tochter, Jasmin Wanner. Was gibt es denn?«
Sie zeigten ihre Dienstausweise und stellten sich vor.
»Kennen Sie Nicole Gärtner?«, fragte Elisa.
»Ja, schon. Nicole kenne ich gut. Was ist mit ihr?«
Die junge Frau war sichtlich schockiert, als ihr Elisa das Wesentliche erzählte. Dann wollte Elisa wissen, mit wem Nicole näheren Kontakt hatte.
»Mit den von Wiltrops hauptsächlich. Frau von Wiltrop müsste übrigens gerade draußen auf der Springanlage sein.«
Hinter Pferdekoppeln und Dressurplatz ließ eine Frau in Reitbekleidung ihr pechschwarzes Pferd halbhohe Hindernisse überspringen. Elisa winkte Frau von Wiltrop, herüberzukommen. Sie nickte, ritt aber noch ihre Runde fertig.
Wind kam auf und zog von den Feldern über den Platz. Elisa hüllte sich in ihren dicken Schal. Ihre dunklen, schulterlangen Haare wirbelten in der Luft. Sie war eine überaus sympathische Frau. Jeder mochte ihre offene, freundliche Art. Und sie war unwiderstehlich sexy und gutaussehend. Jedenfalls in Christians Augen. Wenn sie allerdings wütend wurde und ihr sizilianisches Temperament durchbrach, konnte man ihre Gestik nicht mehr als jugendfrei einstufen. ›Stronzo‹ war da noch eines der harmloseren Vokabeln.
Wie Elisa meinte, war sie das Ergebnis eines riskanten, aber letztlich doch sehr erfolgreichen sizilianisch-deutschen Genexperiments. Der Vater aus Palermo und dennoch kein Mafiosi, wie sie jedem gleich mit auf den Weg gab, bevor man überhaupt darüber nachdachte. Mutter Offenbacherin.
Vor wenigen Jahren ließ sich Elisa scheiden. Ihr Mann konnte nicht mit ihrer offenen, herzlichen Art umgehen. Eigentlich hatte er sie nie wirklich verstanden. Unberechtigte Eifersucht zerstörte die Liebe zu ihm. Sie nahm wieder ihren Mädchennamen an - Fleischhauer gefiel ihr ohnehin noch nie. Und heute, mit dreißig Jahren, fühlte sie sich endlich frei und ungezwungen.
Christian stand hinter ihr und beobachtete, wie sie wieder eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht schob. So ästhetisch und elegant. Ihm wurde wieder einmal bewusst, wie sehr sie ihm gefiel. Die gerade Stirn, dünne Augenbrauen, große dunkle Augen mit langen Wimpern, ihre gerade Nase, das ovale Kinn und die ebenmäßigen, vollen Lippen. Umrahmt von glatten und dunklen, seidig glänzenden Haaren.
Natürlich war ihm gleich in den ersten Tagen aufgefallen, welch attraktive Frau im K10 arbeitete. Wenn er ehrlich war, betrieb er aber zunächst auch nur die typische männliche Augengymnastik - Brüste, Beine, Po. Doch mit der Zeit überwältigte ihn ihre Anmut und feminine Art. Als sie ihren Kopf drehte und zu ihm nach oben schaute, wandte er sich verlegen ab. Elisa lächelte.
Dass er bei ihr keine Chance hatte war ihm natürlich klar. Allein schon der Altersunterschied von gut acht Jahren. Und dann noch einfacher Kommissar mit wenig Kohle und sie war Oberkommissarin. Elisa musste ein Traum bleiben.
Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er vor zwei Jahren das letzte Mal mit einer Frau geschlafen hatte – nach einer Party bei Matti. Und wenn er es genau betrachtete war es davor nochmals über ein Jahr her. Und im Moment war Flaute. Totalflaute. Sexuelles Notstandsgebiet. Obwohl er meist als gutaussehend und amüsant eingestuft wurde. Aber etwas lief im direkten Kontakt mit den ins Visier genommenen Frauen schief. Wenn es so weiterging, hatte er bald dicke Schwielen an den Händen und die Kosmetiktücher könnte er demnächst palettenweise bestellen.
Der schwarze Hengst trabte herüber. Sein Körper dampfte und aus den Nüstern schnaubte stoßweise heißer Atem. Frau von Wiltrop blieb hoch zu Ross sitzen. Nachdem sie sich vorstellten begann Christian:
»Sie sind Frau von Wiltrop, nehme ich an?«
»Ja, Susanne von Wiltrop. Um was geht es denn?«
»Sie kennen Nicole Gärtner?«
»Ja, das ist richtig. Sie hilft oft im Stall und kümmert sich um eins meiner Pferde. - Wieso? Hat sie was angestellt?«
Elisa blickte der Reiterin direkt in die Augen:
»Sie wird vermisst!«
Mit offenem Mund starrte die Frau nach unten:
»Das ist ja entsetzlich! Am Mittwoch hatte sie noch Lucky Angel versorgt.«
Elisa schätzte Frau von Wiltrop auf Anfang Vierzig, hatte aber den Eindruck, dass sie älter aussah als sie wirklich war. Irgendwie wirkte sie verbraucht, müde. Ihre dicken Tränensäcke unterstrichen dieses Bild.
»Haben Sie vielleicht eine Beobachtung gemacht, die uns weiterbringen könnte?«, wollte Christian wissen.
Frau von Wiltrop verneinte.
»Hatte sie Freundinnen oder Freunde hier? Jemand, mit dem sie häufiger zusammen war?«
»Hmm. Also... mit meiner Ältesten, mit Marie, war sie hier wohl am meisten zusammen. Sonst wüsste ich nicht.«
Aus der Innentasche ihrer Jacke zog sie eine Visitenkarte und reichte sie herunter.
»Falls sie meine Tochter mal sprechen wollen...«
Als sie zum Auto zurückgingen erhielt Elisa den ersehnten Anruf.
»Endlich!«, stöhnte sie. »Ein Hubschrauber hat etwas gefunden. Im Jägersburger Wald.«
Hatten sie sich bisher mit den Modalitäten, Chancen und Wegen des Auffindens beschäftigt, so stand urplötzlich die Angst im Raum, was man dort vorfinden würde.
»Jetzt wird’s ernst...«, meinte Christian, »...Rettung oder Horror.«
Zehn Minuten später standen sie an der Autobahnunterführung bei Schwanheim. Nacheinander trafen der Notarzt und ein Bergungs-Unimog der Feuerwehr ein. Der Zugführer tippte die Koordinaten in sein Tablet und hob seinen Kopf in Richtung eines Weges:
»Ein dichtes Waldstück, circa achthundert Meter westlich von hier.«
»Also dann los«, drängte Rombach.
Der Unimog preschte durch die Salzlack-Schneise, dahinter der Notarztwagen. Auf der dritten Wegkreuzung hielten sie an.
»Wir müssen zu Fuß halbrechts rein.«
Sie vermummten sich mit Tatort-Schutzkleidung und verschwanden im Unterholz. Nach ungefähr siebzig Metern lag eine gewaltige, vom Sturm gefällte Eiche vor ihnen. Ihre Wurzeln hatten ein tiefes Loch in den Waldboden gerissen.
»Was ist das?«, rief Christian und zeigte nach unten.
Aus einem länglichen Erdhaufen ragte eine kleine, helle Hand. Dr. Mousavi glitt in die Grube und schob die schwere, durchweichte Erde beiseite. Dreckverschmierte Haarsträhnen erschienen. Sein erster Griff ging an die Halsschlagader. Kein Pochen, kein pulsieren, nichts! Ihre Körpertemperatur schätzte er auf plus minus fünfzehn Grad. Nicole war tot - unwiderruflich tot. Das Ende eines jungen Lebens. Er drehte sich zu Rombach und schüttelte den Kopf.
Christian stand wie eine Eisskulptur am Rande des Lochs. Sein Blick verschwamm. Nicoles versäumtes Leben drang zu ihm hoch. Die erste Liebe, die sie nicht erleben durfte. Der erste Job, vielleicht Hochzeit und Kinder, Enkel und Urenkel und in weiter Ferne das Scheiden aus dieser Welt.
Gegen 15.40 Uhr traf Prof. Dr. Griesbacher von der Rechtsmedizin Frankfurt ein.
»Na Wolfgang, dir bleibt vor der Pensionierung auch wirklich nichts erspart! Du kannst mir echt leid tun!«
Griesbachers rationale Unempfindlichkeit gegenüber den Leiden und Qualen der Menschen konnte Rombach mittlerweile sehr gut einordnen. Es war der Drang nach Erkenntnis, die Suche nach der Wahrheit und die in all den Jahren gewachsene Dickhäutigkeit. Doch es war nach Rombachs langjähriger Beobachtung tatsächlich die einzig sinnvolle und zielführende Einstellung zu diesem Job.
Griesbacher rutschte in das Loch. Als er den Kopf anheben wollte, spürte er die Starre der Halsmuskulatur. Der Rigor Mortis, die Totenstarre war vollständig ausgeprägt und die blau-violetten Totenflecken waren deutlich an der unteren Gesichtshälfte zu erkennen. Griesbacher fasste die Tote an der Hüfte und rollte den gesamten Körper aus dem Dreckhaufen. Christian sackte das Herz in die Hosentasche. Das Wort ›Geisterbahn‹ schwirrte durch seinen Kopf und im gleichen Atemzug schämte und verurteilte er sich, diesen Begriff im Zusammenhang mit Nicoles Tod überhaupt gedacht zu haben. Doch es war grauenhaft und gruselig zugleich, wie das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt und der Körper in die Totenstarre gezwängt war.
»Ihr seht hier nicht die Fixierung der Todesschmerzen. Es ist allein die Leichenstarre, die die Gesichtsmuskulatur und Extremitäten so grotesk verzerrt.«
Christian begann zu frieren. Diese scheiß Kälte, redete er sich ein. Geradezu zärtlich strich der Rechtsmediziner über Nicoles Kopf. Sein Zeigefinger drückte auf eine braune Stelle an der linken Stirnseite, die unter dem Druck nachgab. Aus dieser Verletzung waren Ausblutungen zu sehen.
»Das ist nur der Ablageort, nicht der Tatort. Die Ausblutungen sind atypisch für die Auffindesituation. Todesursache ist ziemlich sicher stumpfe Gewalt. Der linke Stirnknochen ist zertrümmert und geöffnet.«
Zwischen den verdreckten Beinen bemerkte er helle, gelartige Anschmierungen. Unter Ihren Fingernägeln konnte er vertrocknete Blut- und Hautreste ausmachen.
»Eine Vergewaltigung erscheint mir sehr wahrscheinlich.«
»Tatzeitpunkt?«, fragte Rombach.
»Zusammengefasst kommen wir auf einen Tatzeitpunkt irgendwo vor rund zwanzig bis dreiundzwanzig Stunden. - Jetzt rechne mal.«
»Gestern zwischen siebzehn und zwanzig Uhr«, platzte Christian heraus.
»Respekt«, lobte Griesbacher und Rombach drehte sich anerkennend zu seinem jüngsten Kommissar und meinte: »Das passt mit den anderen Uhrzeiten zusammen.«
Melanie Kässer vom Erkennungsdienst winkte Rombach:
»Kommt ihr mal bitte, wir haben da was gefunden.«
»Hier, auf dem Boden, parallel verlaufende Schleifspuren. Der Täter muss das Kind an den Armen gezogen haben.«
Sie gingen den Spuren bis zu einem Waldweg nach. Dort ging sie in die Hocke. Ihr Zeigefinger formte einen Kreis über der feuchten Erde.
»Ein Kurztest und eine UV-Digitalaufnahme bestätigten uns eine Blutlache, die mit bloßem Auge nicht zu sehen ist. Vermutlich der Tatort.«
»Haben Sie ein Unterhöschen gefunden?«, fragte Christian. »Am Ablageort war keines. Sonst schien die Kleidung vollständig zu sein.«
Als Kässer verneinte, meinte er:
»Vielleicht hat er es als Trophäe mitgenommen?«
Ein Hundeführer mit Bayerischem Gebirgsschweißhund kam auf sie zu. Der Hund beroch die Todesstelle und nahm die Spur auf. Schnurgerade zog er den Weg entlang. Dann bog er rechts in den Wald. Durch tiefen Boden stapften sie hinterher, bis sie wieder auf einem Waldweg standen. Der Spürhund ging mehrmals im Kreis, dann setzte er sich.
»Wie in der Fehlheimer Straße«, meinte Christian und Rombach fügte hinzu:
»Hier sind Täter und Opfer vermutlich aus dem Auto gestiegen.«
Sie drehten sich, jeder auf seine Weise, um sich selbst und nahmen die Umgebung in sich auf. In ihren Köpfen liefen verschiedene Filme ab. Doch alle mit demselben schrecklichen Ende. Ihre Blicke folgten dem Fluchtweg und es war ihnen, als sähen sie das kleine Kind durch den nächtlichen Wald davonjagen.
Am Nachmittag besprachen sie ihr bisheriges Wissen. Der Besprechungsraum war voll und der Besprechungskaffee schmeckte wie immer hervorragend. Noch Zucker und Milch, das war Christians Kaffeetraum. Sabrina spendierte heute auch noch leckere Kekse, verteilt auf drei Teller.
›Gegen die Unterzuckerung...‹, wie sie meinte.
Hoppla, dachte Christian. Sie taut auf. Macht sogar ein Späßchen. Er bemerkte, wie Rombach ihr mit einem väterlichen Lächeln nachsah und wohl ähnliches dachte. Denn Sabrina Fischer, die neue Büroassistentin kam vor circa vier Monaten zu ihnen und war zunächst recht schüchtern und daher oft viel zu förmlich. Anscheinend hatte sie sich so langsam hier eingelebt.
Aber Christian schaute ihr nicht nur wegen des Kaffees und der Plätzchen hinterher, als sie in ihren knallengen schwarzen Leggins, mit dem überlangen Pulli, den Raum verließ. Er schweifte ab in wirre Phantasien.
»Christian!«, platzte es plötzlich in den Raum. Sofortige Stille. »Bring uns alle mal bitte auf den neuesten Stand.«
Elektrisiert schnellte sein Kopf nach oben. Damit hatte er nicht gerechnet. Er war gerade so schön gemütlich in seinen heißen Kaffee vertieft gewesen und zwischen den Beinen von Sabrina verschwunden. Für wenige Sekunden breitete sich völlige Leere in seinem Kopf aus - bis zur letzten Gehirnwindung nur Luft, nichts als Luft. Doch er hatte gelernt: Einfach loslegen. Der Rest kam von allein – wenn man von einer Sache Ahnung hatte.
»Ähm... Also... - wir haben leider die Gewissheit, dass die im Jägersburger Wald gefundene Kinderleiche Nicole Gärtner aus Langwaden ist. Vom Täter fehlt noch jede Spur.«
Er ging zum Whiteboard und skizzierte Nicoles Beziehungsgeflecht. Freundinnen, Bekannte, Verwandte, Nachbarn, Schule, Reitverein. Darüber setzte er noch den Ort des Verschwindens und darunter den Tatort und Auffindeort.
»Alles kann ein unfassbarer Zufall gewesen sein, von dem wir nichts ahnen. Dem widerspricht allerdings die Meinung der Eltern und Bekannten, dass Nicole niemals in ein fremdes Auto gestiegen wäre. Also Entführung?«
Er machte eine kurze Gedankenpause.
»Wohl eher nicht! Denn es war ein Einzeltäter, das legen die Spuren im Wald nahe. Aber eine einzelne Person hätte wiederum kaum ein elfjähriges Mädchen auf offener Straße kidnappen können – am Nachmittag, auf belebter Straße und vermutlich gegen ihren Widerstand. Vielmehr deutet alles auf eine gewaltfreie und daher unbemerkte Mitnahme hin. Also: Opfer und Täter kannten sich! Und zwar recht gut.«
Institut für Rechtsmedizin, Universität Frankfurt
Montag, 19. November 2012, 09.00 Uhr
Mit zu viel Schwung krachte die schwere Holztür mit der gusseisernen Klinke gegen den Gummistopper an der Wand. Rombach schaute vorwurfsvoll zu Christian, der entschuldigend die Hände hob. Zielstrebig steuerten sie das Empfangsbüro am Ende des Ganges an:
»Hallo Ellen, Guten Morgen. Ist Martin schon da?«
Ellen gehörte gewissermaßen zum Inventar der Rechtsmedizin. Seit unzähligen Jahren schlug Rombach in unregelmäßigen Abständen im Institut auf. Und immer saß Ellen hinter dem Empfangstresen. Sie müsste auch bald in die Rente gehen, wurde ihm bewusst. - Tja! Alles geht einmal zu Ende.
»Hallo Wolfgang. Hab’s gehört – furchtbar. Der Professor ist unten in den Katakomben. Kennst ja den Weg.«
Sie nahmen die Treppe nach unten, gingen durch einen hell beleuchteten Flur und standen kurz darauf in einem langen, neongrellen Seziersaal. Als alle Personen anwesend waren, schaltete Griesbacher das Aufnahmegerät ein, das mit Drahtseilen über dem Seziertisch fixiert war.
»Montag, 19. November 2012, neun Uhr sechs Minuten. Institut der Rechtsmedizin an der Universität Frankfurt. Obduktion Nicole Gärtner. Ausführende Ärzte sind Professor Griesbacher und Frau Dr. Jong.«
Auf ein Zeichen deckte Dr. Jong das Leintuch ab. Starr und steif lag die kleine Mädchenleiche vor ihnen. In einem unterbewussten Reflex faltete Christian seine Hände.
»Vor uns liegt die Leiche eines jungen Mädchens im prä-pubertären Entwicklungsstadium. Ihr Körper weist deutlich ausgeprägte Totenflecken auf.«
Christians Blick wanderte von den Beinen bis zum Kopf. War das Nicole? Das Mädchen, das er auf dem Foto gesehen hatte? Er konnte es kaum glauben.
»Der Schädel weist ein asymmetrisch geformtes Loch in der linken Stirnseite auf. Der Stirnknochen wurde durch mehrere Schläge mit einem stumpfen Gegenstand durchschlagen. Der Blutabfluss erfolgte zum linken Ohr hin, so dass man davon ausgehen kann, dass das Opfer während der Gewalteinwirkung auf dem Rücken lag.«
Griesbacher zupfte mit einer Pinzette Gesteinsfragmente und Schädeltrümmerteile ab.
»Die Schläge erfolgten frontal. An den Einschlagrändern lassen sich Gesteinssplitter und Abriebspuren erkennen.«
Er zog ein Vergrößerungsglas heran.
»Die Blutgefäße des linken Schläfenlappens sind durch die Schläge geplatzt. Das Gehirn ist an dieser Stelle auf eine Tiefe von circa vier Zentimeter zerquetscht. - Es müssen gewaltige Schläge gewesen sein!«
Dann musterte er ihre Hände und nickte seiner Kollegin zu. Dr. Jong nahm einen Metallschaber und kratzte Dreck und Blut unter den Fingernägeln hervor und verschloss es in Reagenzgläsern. Griesbacher führte eine Minikamera in den Genitalbereich und warf die Bilder auf einen großen Monitor, der auf einem fahrbaren Gestell befestigt war.
»Das Opfer wurde schwerstens vergewaltigt. Blutgefäße sind aufgerieben, Schleimhäute gerissen. – Und hier erkenne ich eindeutig Samenspuren.«
Christians Herz pochte bis zum Hals. Der Seziertisch verschwamm. Mit gespreizten Fingern stützte er sich ab und kämpfte seinen Schwächeanfall nieder.
Das schmatzende Geräusch ging durch Mark und Bein, als Griesbacher die Leiche öffnete. Nachdem er alle Organe begutachtet hatte, legte er die Werkzeuge auf eine Ablage und wischte sich die Hände sauber. Er nickte Dr. Jong zu und wandte sich dann an die Anwesenden:
»Aus jetziger Sicht gehe ich davon aus, dass das Kind an einem massiven Hirntrauma gestorben ist. Durch die schweren Hirnverletzungen setzte die Steuerungsfunktion des Gehirns aus. Dadurch versagten aber wiederum verschiedene Körperfunktionen. Zuletzt kam es zum Herzstillstand.«
Er nahm die Endoskopiesonde und führte sie nochmals in den Genitalbereich ein.
»Die Verletzungen im Unterleib lassen darauf schließen, dass die Vergewaltigung post mortem erfolgt ist. Es sind keine signifikanten Blutungen nachweisbar.«
Diese Erkenntnis verursachte bei Rombach schweres Unbehagen, verbunden mit einer unangenehmen Vorahnung. Auch bei Stornebeek.
Als Christian zu seinem Wagen ging, verspürte er ein Grummeln im Magen. Er hatte wegen Aufregung vor seiner ersten Obduktion heute Morgen nicht gefrühstückt. Doch irgendwann müsste er auch an so einem schrecklich bedrückenden Tag etwas essen. An der Abfahrt Bensheim fuhr er von der A5.
»Menü mit Cola«
»Ja, mit Käse.«
»Zum hier essen.«
»Bitte ohne Eis.«
»Mit Ketchup und Mayo bitte.«
Er ließ sich in eine gepolsterte Sitzbank am Fenster fallen. Ein herzhafter Biss in den Burger und einen kräftigen Schluck Cola - wie er das liebte. Doch er kaute und kaute, aber das Essen wollte nicht runter. Er betrachtete seinen Burger, den er mit beiden Händen vor sich hielt - das vom Biss freigelegte Fleisch zwischen Ketchup und Mayo, Salat, Zwiebeln, Gurken und Tomaten. Normalerweise für ihn ein köstlicher Anblick – aber heute…? - Es ging nicht. Also legte er ihn beiseite und schaute hinaus zum Parkplatz und über das angrenzende Feld.
Bensheim, Fehlheimer Straße
Montag, 19. November 2012, 19.50 Uhr
Wie ausgestorben lag die Fehlheimer Straße an diesem späten Novemberabend da. Mit hochgezogenem Kragen starrte Christian auf die Stelle, von der aus das Mädchen verschwand. Genau da lag ihre Hand auf der knorrigen Rinde der Kastanie. Ein weißer Kreis, von der Spurensicherung gesprüht, wies auf die letzten Sekunden in Liebe und Freiheit hin. Unwillkürlich berührte er die Rinde, als ob eine Verbindung mit dem Baum und Nicole hergestellt werden könnte. In mystischen Krimis würde sich jetzt ein Rabe auf
einen Ast setzen und laut krächzend den Weg weisen. Aber in der bitteren Realität? - Nichts, einfach gar nichts.
Schritt für Schritt ging er auf ihrem Nachhauseweg zurück. Zurück in der Zeit, in das unbeschwerte Jungmädchenleben der Nicole Gärtner. Vielleicht war sie hier in kindlicher Spontaneität gehüpft? An der Kreuzung hatte sie sich von ihren zwei Schulkameradinnen verabschiedet. Wie durch einen Traumschleier sah er das blonde Mädchen über die Kreuzung springen - winkend, lachend. Weiter zurück kamen die Mädchen aus der Sporthalle gerannt. Und hier war sein Gang in die Vergangenheit auch schon zu Ende.
Christian hockte sich auf die halbhohe Backsteinmauer, die den altehrwürdigen Schulkomplex einfasste. Woher kam der Täter? Wohnte er in einem der Mehrfamilienhäuser am Ende der Straße? Kam er aus der Schule? Auf der anderen Straßenseite nur Parkplätze vor einem Elektronikmarkt. Jetzt, kurz nach Feierabend war alles still und leer. Ein diffuses Leuchten drang aus dem Ladeninneren. Wie sah das wohl am Freitagnachmittag aus? Voller Parkplatz, viele Kunden. Und Elektronik kaufen Männer. Na ja, ein Klischee, schmunzelte er. Aber manchmal halfen sie – die plattesten Klischees.
Seine Uhr zeigte 20.19 Uhr. Schnell über die Straße. Er presste Stirn und Nase an die Glastür.
»Hallo, ist da noch jemand?«, rief er und hämmerte gegen das Türglas. Mit wehendem Arbeitsmantel kam ein junger Mann auf die Eingangstür zu:
»Wir haben geschlossen. Da ist nichts mehr zu machen!«
»Polizei! Öffnen Sie bitte«, rief Christian und klatschte seinen Dienstausweis auf die Scheibe. Im Nu schob sich die Glastür auf. Er kam sofort zur Sache:
»Haben Sie im Kassenbereich oder auf dem Parkplatz Kameras installiert?«
Als der Marktleiter verneinte, schwand sein Enthusiasmus dramatisch. Verdammt nochmal! Unsicher kratzte er sich am Kopf. Irgendwie wollte er die verpuffte Hoffnung nicht akzeptieren.
»Ihre Kunden kaufen auch mit EC- oder Kreditkarte?«
»Ja, schon. Aber wen suchen Sie denn eigentlich?«
Christian entschuldigte sich und stellte sich endlich vor. Dann erklärte er dem Marktleiter seine Überlegungen.
»Ich habe von dem Fall in der Zeitung gelesen. Das ist unfassbar. Also bei uns wird gerne in bar bezahlt, natürlich aber auch per EC- oder Kreditkarte.«
Christians Stimmung hellte sich etwas auf.
»Es geht um letzten Freitagnachmittag. Können Sie mir die Namen der Käufer geben, die mit Karte bezahlt hatten? - So in der Zeit zwischen 16.00 und 16.30 Uhr?«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren drehte sich der junge Mann um und rauschte in sein Büro im hinteren Bereich. Christian hinterher. Die Münzzählmaschine ratterte und eine Verkäuferin trug Beträge in eine Liste ein. Ihr Chef tippte in die Computertasten und kurz darauf kreischte der altersschwache Tintenstrahldrucker.
»Da stehen jetzt nur die Kartennummern und die verschiedenen Anbieter. - Datenschutz! Die Kundennamen selbst erhalten Sie von den Kartenanbietern.«
Der Marktleiter deutete auf die verschiedenen Nummern:
»Das hier sind EC-Kartennummern, hier eine Kreditkarte und hier hat jemand mit einer Kundenkarte bezahlt. Besitzer von Kundenkarten sind meist Unternehmer, die auf Rechnung kaufen.«
Zufrieden bedankte sich Christian. Noch ein kräftiger Händedruck und er stand wieder auf der Straße.
Zwei Striche bei 16.10 Uhr und 16.20 Uhr engten den Kreis potentieller Zeugen oder Täter deutlich ein. Er rief in der Leitzentrale an und gab die Nummern durch. Zwanzig Minuten später hatte er Namen und Adressen und die Bestätigung, dass keiner der Kunden einschlägig vorbestraft war. - Wäre ja zu schön gewesen! Als er den Zündschlüssel drehte, zeigte die Uhr am Armaturenbrett 20.45 Uhr! Noch Zeit, ein oder zwei der Kunden zu befragen.
Thomas Rothermel war direkt nach dem Einkauf zum Fußballtraining gefahren, was sein Trainer am Telefon auch bestätigte. Und Jessica Herbst war eine überzeugte Autogegnerin. So schnell ging es nun also doch nicht, stellte er geknickt fest. Er knallte seinen Fuß aufs Gaspedal, dass die Reifen quietschten.
Kurz vor ein Uhr, nach langem Grübeln und Spekulieren, fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Er schaffte es gerade noch pünktlich zur Morgenbesprechung. Allerdings ohne Frühstück. Und das bedeutete, ohne Cappuccino – eine mittlere Katastrophe. Nachdem der Puls wieder auf Normalmaß zurückgegangen war, schilderte Christian mit wenigen Sätzen seine Hypothese vom Vorabend. Wie so oft hatte Bülow schnell seine Meinung gebildet:
»Na dann viel Spaß! - Kannst ja gleich das Telefonbuch abklappern.«
Rombach blickte streng zu seinem Stellvertreter. Diese Bemerkung war völlig unpassend und zudem auch unlogisch. Er wunderte sich über Bülows eigenartiges Verhalten und spürte Christians Selbstzweifel.
»Wir müssen jeder Spur nachgehen. Bleib dran!«
Dann wandte er sich Lea Wessinghaus und Ferdinand Drömer zu, die in den Datenbanken recherchiert hatten:
»Habt ihr was bezüglich vergleichbarer Fälle gefunden?«
Lea blickte auf den vor ihr liegenden Datenauszug:
»Wir haben einen vergleichbaren Fall aus dem Jahr 2005 - Vergewaltigung mit schwerer Körperverletzung. Der Täter wurde 2010 aus der Haft entlassen. Allerdings starb er Mitte dieses Jahres unter etwas merkwürdigen Umständen während einer Kletterpartie im Heubacher Steinbruch. Fällt damit also für uns weg.«
Gerade als Lea den nächsten Satz beginnen wollte hakte Elisa nach:
»Was meinst du mit ›...merkwürdigen Umständen‹?«
»Nun. Dieser Mann, Leon Silbereisen, war angeblich ein hervorragender Kletterer. Er hatte angeblich die Steilwand in diesem Steinbruch geschafft, hatte allem Anschein nach gerade seine Seile zusammengelegt und war dabei abgerutscht. Er stürzte vierzig Meter senkrecht in die Tiefe und war sofort tot.«
»Ohne Fremdeinwirkung einfach so abgestürzt?«, fragte Elisa nach. Da schaltete sich Michael Raubart ein: