Verlangen - Bregje Hofstede - E-Book

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Bregje Hofstede

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Beschreibung

Fest steht: Eine junge Frau heiratet ihre Jugendliebe. Fest steht: Kurz darauf läuft sie ihrem Mann bei Nacht und Nebel davon. Sie nimmt alle ihre Tagebücher mit. Diese Frau bin ich. Diese Nacht ist jetzt. Alles, was davor und danach kommt, ist erfunden. ‹Verlangen› ist die freimütige Geschichte einer jungen Frau, die von zu Hause flieht, weil sie jahrelang vor sich selbst geflohen ist. Sie handelt davon, wie überwältigend die erste Liebe ist – bis sie einen einengt. Und davon, ob es in jeder Liebesgeschichte letztlich um Betrug geht.

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BREGJE HOFSTEDE

Verlangen

ROMAN

Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt

Ich mag ruhig deinen Namen auf mein Werk schreiben, in Wirklichkeit ist es für «sie» (die anderen, die Leser) geschrieben. (…) Wenn ich schreibe, muss ich mich folgender Gewissheit anheimgeben (die mich, je nach meinem Imaginären, erschüttert): es gibt keinerlei freundliches Entgegenkommen im Schreiben, eher Terror: es benimmt dem Anderen den Atem, der weit entfernt, darin die Gabe zu sehen, aus dem Schreiben die Bejahung von Herrschaft, Macht, Wollust, Einsamkeit herausliest. Daher das grausame Paradox der Zuneigung: ich will dir um jeden Preis zukommen lassen, was dich erstickt.

Roland Barthes

Fragmente einer Sprache der Liebe

PROLOG

I. ES WAR EINMAL

II. DIE ANDEREN

III. UNTERWELT

PROLOG

Es gibt unzählige Mythen, in denen jemand von einer rätselhaften Gestalt ein einziges Verbot auferlegt bekommt: Stets gibt es etwas, das absolut untersagt ist, bei Strafe des Verstoßenwerdens.

Psyche bekam allabendlich im Dunkeln Besuch von ihrem Liebhaber, durfte jedoch nie die Öllampe anzünden.

Blaubarts Frau durfte alle Zimmer im Schloss öffnen, nur nicht das eine.

Raymond bekam von seiner Frau Melusine Reichtümer und zehn Kinder, durfte sie aber bei ihrem samstäglichen Bad keinesfalls stören.

Orpheus durfte seine verstorbene Gemahlin Eurydike aus der Unterwelt mitnehmen – vorausgesetzt, dass er sich nicht umdrehte und schaute, ob sie ihm folgte.

Drei Mal darf man raten, was als Nächstes geschah.

I.

ES WAR EINMAL

Es war einmal eine Winternacht. Es war einmal eine Frau, die aus ihrem Haus taumelte, unter einem viel zu schweren Rucksack gebückt ging. Diese Frau bin ich. Diese Nacht ist jetzt.

Ich hätte alles Mögliche mitnehmen können, aber das Erste, was ich in den grauen Rucksack stopfte, war mein Tagebuch. Danach das Heft, das diesen Zweck im Jahr zuvor erfüllt hatte. Und dann das vom Jahr davor. Mit jedem Buch, das in meiner Tasche verschwand, zeigte sich, welchen Teil von mir ich aus diesem Haus mitnehmen wollte: nicht nur die letzten Monate, sondern auch das ganze letzte Jahr und letztlich alle Jahre, die wir zusammen verbracht haben. Ich stapelte eines aufs andere, bis der Rucksack voll war.

In die Verschlussklappe schob ich Zahnbürste, Handy, EC-Karte und verschwand.

Das Brunnenbecken der Brüsseler Vismet ist leergepumpt, bedeckt von einem glitschigen Bretterboden, auf dem vor Kurzem noch der Weihnachtsmarkt stand.

Mitten auf dem Fischmarkt befindet sich ein Sockel mit einem großen Zahnrad, ein Überbleibsel aus der Zeit, als hier ein Hafen lag. Neben dem Sockel stelle ich meinen Rucksack ab und setze mich auf den Rand, in den Widerschein der Restaurants.

So zerbrechlich wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt. Meine Ellbogen und Knie zittern. Dem gestreckten Bein ist nicht zu trauen, und der Arm fühlt sich an, als könnte er jeden Moment einknicken.

All die Seiten, all die ernsthaften Notizen, mit denen ich die Liebe verankern wollte, welche ich gerade gelichtet habe. Ein Anker ohne Schiff ist Kitsch, überflüssiger Ballast, dessen Unverrückbarkeit plötzlich nur noch unpraktisch ist.

Ich stelle mir vor, wie ich aufstehe, meinen Rucksack hierlasse und einfach gehe. Ich könnte einen halben Krebs essen und von meinem Tisch aus zusehen, wie Obdachlose nach meinem Rucksack greifen und die Episoden aus unserem Leben hervorholen, während ich im Innern des Lokals das warme Fleisch aus dem Panzer herauslöse.

Aber ich bleibe sitzen.

Erst als ich völlig durchgefroren bin, suche ich mir ein Hotel, den Rucksack auf dem Rücken.

Deinetwegen war ich schon mal in einer Winternacht unterwegs. Zehn Jahre ist das jetzt her.

Wir waren siebzehn. Ich war ein Nerd aus dem neunzehnten Jahrhundert, der seinen Schokoladenbuchstaben, den er zu Nikolaus bekommen hat, bis Ostern aufhebt, um ihn dann weiß verfärbt über den Seiten von Middlemarch aufzuknabbern.

Du warst damals ein schöner junger Mann, den ich kaum kannte, obwohl ich dich gern beobachtete. Wie eine Comicfigur nahmst du eine schräge Pose nach der anderen ein. Das Einzige, worüber du nie Witze machtest, war dein «Pa», der dir eines Tages in der Mittagspause deine vergessenen Sportklamotten brachte. Wir saßen alle beim Essen am Tisch und sahen zu, wie er sein goldfarbenes Auto vor der Schule abstellte, du eiltest ihm entgegen. Vater und Sohn trafen sich auf dem Weg, der an der Fensterfront der Schulkantine vorbei zum Eingang führte. Er erklärte dir gestenreich irgendwas, während du ausnahmsweise völlig reglos dastandst. Du nahmst die Sporttasche in Empfang, ließt dich seelenruhig umarmen und drehtest dich vor dem Eingang noch einmal um, um ihm zu winken.

In den darauf folgenden Monaten saßen wir in der Pause immer öfter an einem der Kantinentische nebeneinander – ein jeder flankiert von seinem festen Freundeskreis, der als Alibi diente: Du rücktest an den Rand von deinem, und ich näherte mich dir gedeckt von meinem, bis meine Brotdose in fast jeder Pause neben deiner Pommesschale stand.

Während der Unterhaltungen lauschten wir einander mit einer Gier, die ich erst später als Liebe erkannte. Erzähl mir von dir. Erzähl mir, wie du als Kind so warst. Warst du aufbrausend? Ungezogen? Wofür darf ich dich jederzeit wecken, wie hießen deine ersten Freunde, welche Musik hörst du gern, bist du unausstehlich, wenn du krank bist?

Irgendwann im Dezember, als wir in der Kantine saßen und du gerade dabei warst, mit der Spitze deines Zirkels den Anfangsbuchstaben deines Namens in den Tisch zu ritzen – ich war schon an dem Punkt angelangt, an dem ich deinen Namen überall vermutete –, sagtest du: «Schokolade. Für Schokolade darfst du mich jederzeit wecken. Sogar um drei Uhr nachts.»

Du strotztest nur so vor Selbstbewusstsein. Du trugst Glitzerohrringe und trotz deiner schmächtigen, fast mageren Figur eine weite Hose und eine riesige schwarze Jacke mit Fellkragen. Dieses Outfit brachte dir den Spott des bebrillten Teils unserer Gymnasialklasse ein, aber du konntest dir das leisten, wegen deiner nicht abreißenden Schar von Freundinnen – lauter frühreife Mädchen aus unteren Klassen. Seit Neuestem fuhrst du mit Tania auf deiner Enduro herum, ein ziemlich angsteinflößendes Mädchen, dessen Neontanga greller leuchtete als dein Rücklicht.

An diesem Mittag sagte ich kein Wort. Aber beim Schlafengehen stellte ich meinen Wecker auf halb drei und schob ihn unters Kissen. Meine Kleidung hatte ich bereits rausgelegt: meine einzige schwarze Unterwäsche, darüber eine graue Wollhose und eine dünne Karojacke, die ich secondhand in Antwerpen erstanden und deren orangenes Futter ich mit groben Stichen neu befestigt hatte. In ihrer Innentasche steckte das aus der Handtasche meiner Mutter entwendete Handy, weil ich noch kein eigenes besaß.

Derart ausgestattet erklomm ich mit dem Rad den Hügel. Die Straßen lagen völlig verlassen da und glänzten.

Deine Telefonnummer konnte ich auswendig. Um punkt drei tippte ich sie ein, im Schutz der Bäume, auf die eure Wohnung hinausging. Noch immer ist sie neben meiner die einzige, die ich auswendig kann.

Du gingst dran. Als ich sagte, dass ich bei dir vor der Tür stehe, schwiegst du zunächst mehrere Sekunden. Bestimmt fandst du mich gestört – wenn nicht in diesem Moment, dann am nächsten Tag in der Schule. Als du rauskamst, warst du verschlafener, als ich dich je erlebt hatte – auch wenn du später, wenn wir gemeinsam unseren Gründungsmythos erzählten, stets behauptet hast, das Ganze bewusst geplant zu haben. «Ich weiß noch, wie ich dachte, soll ich mein Handy ausstellen? Na ja, dachte ich, na ja, diese Bregje …»

Damals sagtest du «Hi» und fuhrst dir mehrmals durchs Haar, das dir nach allen Seiten vom Kopf abstand. «Ich hab Schokolade dabei», sagte ich, woraufhin ich mit meinem Latein am Ende war. Du hattest geblufft und behauptet, dass du mich reinlassen, einen Film einlegen und Popcorn machen würdest, aber das Schweigen hielt an, bis du sagtest: «Sollen wir eine Runde um den Block drehen?»

Wir liefen durch das nächtliche Viertel. Auf dem Spielplatz vor deiner Grundschule setzten wir uns auf eine Bank, und da holte ich die Schokolade hervor: dunkle Pralinen mit spanischem Pfeffer, die mein Vater von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte. Sie hatten die Form von Brustwarzen, und auf der Schachtel, die zwischen uns lag, stand in geschwungenen Buchstaben: Nipples of Venus. Das sollte eigentlich genügen.

Doch als hätten wir Angst vor etwas so Erwachsenem, redeten wir noch fast eine Stunde über die frühesten Jahre, an die wir uns erinnern konnten: du über deine Grundschulzeit und ich über meine. Dass du damals wegen der Reste vom Vortag aufgezogen wurdest, die dir dein Vater für die Pause mitgab, und dass ich von den Jungs verboten bekam, beim Fußball mitzuspielen. Dass wir uns beide als Außenseiter gefühlt hatten. Gemeinsam waren wir zwei Hälften einer Form, die schon seit langem darauf wartete, gefüllt zu werden.

Wir liefen noch eine Weile durch die ausgestorbenen Straßen. Irgendwann sagte ich, ich geh dann mal wieder, und du fragtest, ob ich nicht kalte Hände hätte. Wir standen einander im Schein einer Straßenlaterne gegenüber, und du nahmst meine Hand. Ich hatte Angst, du könntest an meinen Fingern merken, wie weich meine Knie waren, denn das waren sie. Ich bebte, es war Ende Dezember, und ich war schon seit anderthalb Stunden in meiner viel zu dünnen Jacke unterwegs. Ich dachte: Ich kenne das aus Liedern. Weiche Knie.

Deine Hand war wärmer als meine. Mit einem kleinen Ruck zogst du mich an dich, sodass ich auf die Zehenspitzen ging und nach vorn kippte.

Die einzige Erfahrung, die ich bisher mit einer fremden Zunge hatte, war das eine Mal, als meine Mutter Kalbszunge gebraten hatte. Die rauen Papillen, die wie eine zähe, reglose Kopie auf meinen lagen, waren mit ein Grund, warum ich es in Sachen Jungs noch nicht besonders eilig hatte.

Aber in dieser Nacht schnappte ich dermaßen begierig nach deinem pfeffrigen Mund, dass du lachtest und sagtest: «Immer mit der Ruhe.» Ich holte tief Luft, und mein Rückgrat knackte, sortierte sich neu wie Holz bei plötzlicher Hitze. So ist das also!, dachte ich. Jetzt geht es los.

Inzwischen bin ich sechsundzwanzig und habe immer noch keinen anderen Mann geküsst. Meine Zunge kennt deine spitzen Zähne, die einen schiefen Klumpen inmitten deines breiten Grinsens bilden.

Am nächsten Tag machte die Geschichte meiner nächtlichen Mutprobe die Runde: Ich hatte niemandem was davon erzählt, aber egal, an wem ich vorbeiging, das Gespräch erstarb. Die Niederländischlehrerin unterbrach den Unterricht, als sie davon erfuhr. Dein Freund Jesse fiel von der Treppe, als du es ihm auf dem Weg zum Chemieunterricht erzähltest, und meine Freundinnen verließen kollektiv die Griechischstunde, um aufs Klo zu gehen. Nach zehn Minuten ertappte ich sie bei einem Konklave auf dem Flur. Das hatte niemand von mir erwartet. Ich hatte nie auch nur das geringste Interesse an Jungen gezeigt, und meine Freundinnen hatten mich insgeheim für lesbisch gehalten.

Doch jetzt wollte ich die Liebe erleben. Und entschied mich für dich. Oder aber du bist mir einfach so passiert, weil du in meine Klasse gingst, weil du der Frechste warst, und weil du jedes Mal die Ohren hochgezogen hast, wenn du dir einen Witz ausdachtest.

TAG 2

Montag 16. Februar 2015

Als der Wecker klingelt, muss ich mich mühsam aus dem Schlaf hochkämpfen, so als würde ich nicht auf, sondern unter der Matratze wach.

Das Erste, was ich sehe, ist das Kunststofffenster. Das Fenster befindet sich auf der falschen Seite des Zimmers. Erst als ich es eine Weile angestarrt habe, sehe ich das in das Kissen eingestickte Logo: ein stämmiger Mann, der den Himmel auf seinen Schultern trägt.

Ich drehe mich um, zur leeren Seite des Bettes. Am Nachttisch lehnt der Rucksack voller Tagebücher. Mein ganzer Körper fühlt sich an, als hätte ich eine Treppenstufe verfehlt. Ich habe keinen Plan, keine Bleibe und keine Ahnung, wie ich einfach so durch die Maschen meines eigenen Lebens fallen konnte.

Du hast mir nichts geschickt, dafür sehe ich, dass du nachts um halb drei im Beitrag eines mir Unbekannten markiert wurdest. Du hast den Arm um ihn gelegt, während ihr ein halb leeres Glas hebt. Du hast dein Hemd aufgeknöpft und siehst gut, aber auch verbissen aus, wild entschlossen, dich verdammt noch mal zu amüsieren.

Ich like das Foto, bevor ich es wegklicke.

Es fühlt sich komisch an, in einem Bett zu liegen und es nicht verlassen zu wollen. Dieses Gefühl hatte ich noch nie, und von mir aus kann es gern für immer so bleiben.

Ich hab nicht mal die Bettdecke unter der Matratze hervorgezogen: Meine Zehenspitzen sind der einzige Störfaktor. An der Wand hängen Kunstdrucke, die ich schon so oft gesehen habe, dass sie sich fast schon bis zur Unkenntlichkeit abgenutzt haben. Nichts in diesem Zimmer weist darauf hin, dass hier schon mal jemand anderes geschlafen hat, ja dass es überhaupt andere Menschen gibt.

Neben dem Bett steht mein Rucksack. Dort, wo sich die Notizbuchkanten hineinbohren, ist der raue Stoff ausgebeult. Fünfundvierzig Liter fasst dieses Ungetüm mit den grauen und dunkelroten Fächern – ein Rucksack, mit dem ich schon durch den schwedischen Wald gewandert bin. Irgendwann mal habe ich vorne mittig ein Bügelbild aufgebracht, das eine auf den Hinterbeinen stehende Ratte zeigt. Ihr Schwanz hat sich gelöst und steht vorwitzig ab.

Ich setze mich im Bett auf, ziehe den Rucksack zu mir her, schlage die Decklasche zurück und staple ein Heft nach dem anderen auf den Nachttisch. Ein bunter Turm entsteht, der schwankt, weil manche Kladden kleiner sind als andere. Die oberen sind zehn Jahre alt, das unterste Tagebuch ist das aktuelle. Nur die Kladden aus meiner Pubertät sind noch zu Hause. Was jetzt neben mir liegt, beinhaltet die Hälfte meines Lebens oder besser gesagt meines bewussten Lebens, was für mich auf dasselbe hinausläuft.

17.5.10

Im Bad stellte sich Luc hinter mich und öffnete meinen Morgenmantel, um meine Brüste zu streicheln, meinen Hals zu küssen. So verharrten wir eine ganze Weile – er mit seinen braunen Händen auf meinem weißen Körper, mit seinem herrlichen Hals neben meinem. Wir liebten uns im Stehen vor dem Spiegel, obwohl ich meine Tage hatte, obwohl ich müde war und wusste, dass ich es ihm zuliebe tat (Hauptsache, er wusste das nicht). Als er kam, fielen rote Tropfen auf den Fliesenboden. Er schmiegte sich an mich und sagte, er finde das überhaupt nicht schlimm: Nicht erschrecken, Liebling!

Heute Morgen wurde ich davon wach, dass er das Bett verließ, um aufs Klo zu gehen. Weil er mitbekam, dass ich mich rührte, zog er mitten im Zimmer und ohne sich umzudrehen, die hellblauen Boxershorts runter, entblößte seine braunen Pobacken und wackelte damit. Als er zurückkam, bedeckte ich ihn mit Küssen – trunken vor Glück, weil er hier bei mir im morgendlichen Bett war, lachend und mich verschmitzt anblinzelnd.

Das passiert mir oft mit Luc: dieses Verlangen aus der Ferne nach dem Moment, den ich gerade erlebe – eine Art Vorahnung von Nostalgie. Was auch oft passiert: Dass ich das ungute Gefühl habe, den Moment erst dann ungestört genießen zu können, wenn er vorbei ist. Seinen Widerschein, so wie man auch nicht direkt in die Sonne schauen kann.

Ich habe auch eine von den noch leeren Kladden eingesteckt, die stets auf Vorrat bereitliegen. Auf der Bauchbinde steht SÄUREFREIES PAPIER. Ich werde mir Mühe geben.

Dem alten Tagebuch gebe ich den Titel Insomnia. Damit beschrifte ich sein Rückenetikett. Jede Kladde wird etikettiert, mit einem einzigen Wort versehen, das die jeweilige Lebensphase beschreiben soll. Die Reihe endet nun so: Ehe. Brüssel. Mein Romandebüt. Insomnia. Und was jetzt?

Therapie? Hysterie?

Was muss ich tun, bevor ich Harmonie schreiben kann?

Die Flecken auf meiner Haut werden knallrot unter der heißen Dusche. In den letzten Monaten haben sie juckend und sich schuppend immer mehr Terrain erobert. Sie bilden ein seltsames, regelmäßiges Muster auf meinem Rumpf, so als hätte ich ein zu enges Netzhemd getragen.

Mit großem Widerwillen tausche ich den makellosen Bademantel gegen meine alten Klamotten. Mit Hilfe von Unterhose, Hose und Bluse hülle ich mich in den Angstschweiß von gestern.

Am Frühstücksbüffet ist das gesamte Angebot auffällig niedlich. Mini-Croissants, Mini-Brötchen, Kirschtomaten und Melonen in Murmelgröße. Je mehr man davon isst, desto weniger wird man. Ich gebe etwas davon auf meinen Teller und setze mich in eine Ecke.

Abgesehen von mir sind bloß Männer hier, ein jeder allein an seinem Tisch. Sie wischen mit einer Hand auf dem Handy herum und stecken sich mit der anderen Winznahrung in den Mund. Ich lege mein Tagebuch auf den freien Platz gegenüber.

Ich sollte wieder nach Hause gehen. Jetzt sofort, wo du noch im Bett liegst. Wir sollten uns aussprechen. Aber ich will nicht noch eine Nacht stocksteif neben dir liegen, als müsste ich zwischen Kissen und Fußende einen Abgrund überbrücken. Lass mich noch eine einzige Nacht woanders schlafen.

Airbnb-Wohnungen sieht man sofort an, in welchen gewohnt wird, und welche ausschließlich zum Vermieten gedacht sind. Fotos von Letzteren zeigen die Illusion eines Zuhauses, unangetastet von der Realität. Es sind Wohnungen, auf deren Fensterbänken große weiße Lettern das Wort HOME buchstabieren, oder in denen am Griff von fast jedem leeren Schrank ein Strohherz hängt. An mehreren Wänden entdecke ich das Schild mit FAMILY RULES: work hard / laugh out loud / always say I love you / keep your promises / try new things. Als ob das reichen würde.

Gleich nachdem ich etwas reserviert habe, checke ich aus und gehe zum Bahnhof, wo ich meinen Rucksack in einem Schließfach lasse. Ich habe keine Lust auf neugierige Fragen. Anschließend gehe ich in die Arbeit.

Während ich im Auktionshaus Mails von Fremden beantworte, die ihre Erbstücke anbieten – manchmal abschlägig, manchmal interessiert – blinken auf meinem Handydisplay immer neue verpasste Anrufe von Schwestern, Eltern und Freundinnen auf. Die Nachricht spricht sich herum. Ich habe nicht den Mut, sie zurückzurufen. Was sollte ich auch sagen? Das Freizeichen, das sie zu hören bekommen, wenn sie versuchen mich zu erreichen, fasst meine Situation am besten zusammen.

Keine Ahnung, warum ich nicht in unsere Wohnung zurückkehre, mein Argument ist Bauchweh.

Nach der Arbeit komme ich ihr allerdings gefährlich nah, weil ich mir in meinem Lieblingsladen einen neuen Slip kaufen will. So kann ich mir sicher sein, dass er zu einem meiner BHs passen wird – eine Form von vorausschauendem Denken, die dich ganz wahnsinnig macht.

«Wenn man dich nach einem Bombenattentat finden würde, dürfte es nicht weiter schwerfallen, dich wieder zusammenzusetzen.»

Dass du dem Farbcode meiner Unterwäsche trotzdem etwas abgewinnen kannst, weiß ich, weil du mal bei Freunden nachgehakt hast, ob deren Freundinnen auch stets farblich aufeinander abgestimmte Dessous tragen, um mir anschließend geschmeichelt zu erzählen, dass dem nicht so ist. Hin und wieder steckst du einfach einen Finger in meinen Ausschnitt und wirfst einen Blick unter meine Kleidung, nimmst dir einen Vorschuss auf Verlangen so wie du auch bereits vor dem Essen die größten Leckerbissen aus dem Topf angelst. Ich finde das schade, weil ich das Ausziehen dann nicht mehr so spannend gestalten kann, worum ich mich nach neuneinhalb Jahren immer noch bemühe. «Du verdirbst dir den Appetit», sage ich dann, woraufhin du so tust, als würdest du durch einen Bauchschuss gefällt werden.

Während ich den Slip zahle – zwanzig Euro –, höre ich dich zum x-ten Mal sagen, dass ich zu viel nachdenke.

Ich war nicht immer so sorgfältig gekleidet. In der Grundschule trug ich eine Zeitlang zwei verschiedene Strümpfe. Ich hatte Mitleid mit den verwaisten Exemplaren im Wäschekorb und wollte gern etwas Besonderes sein. Dasselbe Ziel, wenn auch mit umgekehrter Strategie, verfolge ich mit meiner farblich aufeinander abgestimmten Unterwäsche – so wie du dich damals mit blauen Haaren abheben wolltest und heute mit einem perfekt geschnittenen Anzug.

Heute Abend übernachte ich bei einem flämischen Pärchen in Elsene.

Der Mann mit dem schütteren Haar, der mir aufmacht, bietet mir zweimal an, mir den Rucksack abzunehmen, während seine hinter ihm stehende Freundin die Geste in kleinerem Maßstab wiederholt.

Sie haben das richtige Sofa, die richtigen Pflanzen und ein Bambus-Thema, das sich durch die ganze Wohnung zieht. Sie ist klein, aber dank maßangefertigter Einbauschränke optimal genutzt. Die Einrichtung macht mich nervös, so als könnte ich nicht mehr hineinpassen, wenn ich zu tief einatme.

In einer Nische links vom Fernseher liegen aufeinander gestapelte Holzscheite. Weil es keinen offenen Kamin gibt, sehe ich direkt vor mir, wie sie mit diesen Scheiten ankam – ein «gemütlicher Touch», den sie sich von einer Designbeilage abgeschaut hat. Teile eines toten Baumes, die ihnen dabei helfen sollen, Wurzeln zu schlagen.

Meine Gastgeberin fragt, ob ich Tee möchte, den sie mir auf einem Bambustablett bringt. Es ist gerade groß genug, um die Tasse und eine Schale mit Schokoladetäfelchen zu beherbergen. Für den Löffel ist eine Extravertiefung vorgesehen.

Das gemietete Zimmer hat rosa Wände. Darin stehen ein Bett, eine Kommode, ein kleiner Schreibtisch und ein Schrank, ansonsten ist es vollkommen schmucklos.

Als ich den Schrank öffne, um meinen Rucksack darin zu verstauen, sehe ich, dass der bis obenhin voll ist. Strampler, Schühchen so groß wie mein kleiner Finger, Spucktücher in allen Farben. Fünf verschiedene Stofftiere. Eine Nachtlampe mit Zirkuspferden. Spuren einer Geschichte, die ein böses Ende genommen oder nie wirklich angefangen hat.

Dann schiebe ich meine eigene Geschichte eben unters Bett. Irgendwo in meinem Rucksack muss sich die Antwort auf die Frage befinden, warum ich trotz meiner vielen Worte eine Geschichte lebe, die sich mir entzieht. Warum ich hier gelandet bin, an diesem Ort, an dem alles stimmt, und an dem ich dermaßen vor die Hunde gehe.

Unsere Wohnung, die ungefähr drei Kilometer entfernt ist, hat keinen Kamin mehr. Der wurde beim Einbau der Zentralheizung zugemauert. Für Wärme sorgt seitdem ein Heizkörper in der Ecke. Trotzdem haben wir über dem Sims die großen Lettern angebracht, die wir einst zu Nikolaus von meinen Eltern bekamen, ein Gedicht von Willem Hussem:

All das Holz

neben dem Kamin

für ein einziges Feuer

Wärme braucht

jahrelanges Wachstum

Davon würde es immer mehr geben, verspricht das Gedicht, versprachen meine Eltern. Und die sollten es eigentlich wissen, weil sie auch schon seit der Mittelstufe zusammen waren.

Noch mehr Wärme. Noch mehr Liebe.

Erst jetzt fällt mir das eine Feuer wieder ein.

14.1.10

Luc, der sich gerade im Bad rasiert, singt: tüdüdüdü, düü … Und imitiert ein Tröten. Dann Fischlaute. In diesem Moment ist er so entwaffnend, so rührend, dass ich ihn mitsamt seinen Rasierschaumwangen küssen möchte. Gleichzeitig hoffe ich, dass er immer so bleiben, beim Rasieren immer mal wieder Fischlaute von sich geben wird.

Es dauerte eine Weile, bis ich diese Seite von dir zu sehen bekam. Anfangs warst du in erster Linie der coole Typ mit der großen Klappe, extrem charmant, aber auch anstrengend. Zähneknirschend hörte ich mit an, wie du in der Pause damit prahltest, im Dessous-Laden an der Hauptstraße nach einem Werbeplakat zum Masturbieren gefragt zu haben. Vor dem Hinsetzen zogst du jedes Mal betont die Hose hoch. So als hättest du sonst nicht genug Platz für deine «Kronjuwelen» – eine Geste, die ich zu meiner Verärgerung durchaus aufregend fand. Und wenn eines der Mädchen während des Unterrichts aufs Klo musste, hast du nachgemacht, wie sie ihren Tampon rauszieht und pschhhh, das Blut innerhalb weniger Sekunden nur so von den Wänden spritzt, während das Mädchen durch die Gegend kreiselt wie ein unter Druck stehender Gartenschlauchkopf. Wenn dann bei ihrer Rückkehr alle in lautes Gelächter ausbrachen, hieß es: «Hey, das ging aber schnell. Nur auf deinen Wangen sind noch ein paar rote Spritzer.»

Ab und zu fielst du aus der Rolle: Dann hast du aus dem Fenster geschaut, mit den Augen eine Katze verfolgt, die draußen durch die Beete schlich, und so weit weg gewirkt, als hätte man nur bei dir die Pausetaste gedrückt.

Das erste Mal, dass ich so etwas wie Zärtlichkeit für dich empfand, war, als wir im Niederländischunterricht unser Lieblingskinderbuch nennen sollten. Deines war Michael Endes Die unendliche Geschichte.

Gerührt sah ich mich um. Ich staunte, dass du, der angeberische Sprücheklopfer, dich mit der Hauptfigur Bastian Balthasar Bux identifizieren konntest, mit dem schüchternen, pummeligen Jungen, der beim Sport nicht mithalten kann und von seinen Klassenkameraden gehänselt wird, sodass er sich mit einem Buch auf dem Schuldachboden versteckt.

Dieses Buch hat Bastian spontan aus einem Antiquariat mitgehen lassen, weil er das Gefühl hatte, es einfach lesen zu müssen. Und sobald er es aufschlägt, weiß er auch, wieso es ihn magisch angezogen hat. Es scheint von ihm zu handeln, von Bastian Balthasar Bux, der sich auf dem feuchtkalten Dachboden seiner Schule versteckt hat, zwischen ausgemusterten Sportgeräten. Die Hauptfigur dieses Buches ist er selbst, was natürlich unwiderstehlich ist.

Die unendliche Geschichte ist zweifarbig gedruckt: Rot steht für die normale Welt, Grün für Phantásien, die Fantasiewelt, in der Bastian landet, und die er retten muss. Phantásien wird nämlich von allen Seiten vom Nichts verschlungen. Es verschwinden schlichtweg ganze Teile, weil die Menschen den Weg in dieses Land nicht mehr finden. Sie glauben, es gäbe es gar nicht. Währenddessen wird die Menschenwelt immer grauer und eintöniger, aber auch immer weniger echt: Jede Fantasiegestalt, die im Nichts verschwindet, taucht in der Menschenwelt als Lüge auf.

Bastian kann Phantásien retten, aber er zögert: Er hat Angst, man könnte ihn dort auslachen, weil er so ein Pummelchen ist. Als er endlich doch nach Phantásien geht, wünscht er sich, immer schöner, stärker und heldenhafter zu werden, und jeder Wunsch geht sofort in Erfüllung. Während er zunehmend zum typischen Helden wird, vergisst er nach und nach, wer er war und wo er eigentlich herkommt – dass er auf diesem muffigen Schuldachboden sitzt, und dass sein Vater nach ihm sucht. Mit der Zeit entwickelt er sich zu einem grausamen, unausstehlichen Kerl. Je mehr er sich der Geschichte bemächtigt, je mehr sie ihn verschlingt, desto mehr stellt sich die Frage, ob er je wieder zurück kann.

Dieses Buch war das erste, über das wir uns ausgetauscht haben.

Als ich dir nach dem Unterricht sagte, dass wir dasselbe Lieblingsbuch haben, fiel dir zum ersten Mal keine schlagfertige Antwort ein.

Erst als ich Bastian Balthasar Bux in dir sah, begriff ich, dass meine zurückhaltende Art und dein Draufgängertum ein und denselben Ursprung hatten.

Im Tierreich gibt es zwei Möglichkeiten, einem Raubtier zu entkommen: Entweder man versteckt sich, nimmt eine Tarnfarbe an und verharrt reglos (meine Taktik) oder aber man demonstriert mit Hilfe von grellen Farben: Vorsicht, ich bin giftig, von mir bekommst du Bauchschmerzen – so wie die Schwebfliege, die sich mit ihren gelbschwarzen Streifen als Wespe ausgibt.

Wie die Seeanemone konntest du unter günstigen Bedingungen von überwältigender Farbenpracht sein, wenn du Anekdoten erzählt hast, die langen Beine von dir gestreckt, lebhaft mit den Armen fuchtelnd und ganz in deine Geschichte vertieft … nur um dich dann bei einer falschen Berührung winzig klein zu machen. Als wir dann ein Paar waren, hast du dich in solchen Momenten zusammengefaltet auf meinen Schoß verkrochen, auch wenn nur dein Kopf darauf Platz hatte; ich war noch schmächtiger als du.

Es beruhigte mich, dass ich nicht hätte sagen können, welche Version von dir «die echte» war: Im Gegenteil, gerade deine Bandbreite bewies mir, dass du lebst. Dein ständiger Rollentausch gab mir das Gefühl, dass bei dir auch genug Platz für jede Menge Ausprägungen von mir war. Du hast gesagt, du würdest mich auch lieben, wenn ich manisch-depressiv würde oder mit über achtzig verschrumpelt wie eine Rosine, und ich habe dir geglaubt.

Das wichtigste Buch, über das wir uns nicht ausgetauscht haben, ist mein erster Roman.

Du hast es nicht geschafft, mein Debüt auszulesen. Eine Woche nach seinem Erscheinen, was inzwischen ein halbes Jahr her ist, fragte ich – nervös und neugierig –, wie du es findest. Du meintest, du wärst noch nicht dazugekommen, es zu lesen: Du hättest gerade so viel um die Ohren und wolltest ihm gebührende Aufmerksamkeit widmen.

Als ich dich zwei Wochen später erneut danach fragte, meintest du, es wäre komisch für dich, dass ich mich so anders anhöre als sonst, und dass du dich erst noch an die Stimme auf dem Papier gewöhnen müsstest.

Beim dritten Mal meintest du, du fändest das Buch schwer lesbar. In der gesamten Zeit bist du über dreißig Seiten nicht hinausgekommen.

Du hattest mich jahrelang ermutigt und die Entstehung des Buches interessiert verfolgt, obwohl ich gegen Ende immer öfter gedanklich abdriftete und in meiner eigenen Geschichte versank. Du hast mich getröstet, wenn ich das Buch wieder mal misslungen fand, und Zweidrittel der Miete bezahlt, um mich beim Schreiben zu unterstützen.

Ich fragte dich nicht mehr danach, suchte nur noch ab und zu nach dem Buch, das auf der Fensterbank unter einem wachsenden Post- und Zeitschriftenstapel verschwand, und kontrollierte, wo sich der Brief vom Finanzamt befand, der dir als Lesezeichen diente und keine Seite weiter vorrückte.

Ganz vorn hatte ich dir eine Widmung hineingeschrieben. Wie oft hast du mich gefragt: Wo bist du mit deinen Gedanken? Die Antwort hältst du jetzt in Händen, und wenn du mich suchst: Ich bin um deinen Finger gewickelt.

Jedes Mal, wenn ich das Buch wieder zuklappte, wuchs meine Überzeugung, dass etwas nicht stimmte.

Inzwischen ist es genau um die Zeit, zu der du normalerweise deinen Arbeitsplatz verlässt, der sich gleich um die Ecke befindet. Weil du es nicht leiden kannst, allein zu essen, dürftest du durchs Viertel irren und nach einem Lokal Ausschau halten. Oder aber du machst Überstunden, versuchst, dich abzulenken, «dich zu verlieren». So heißt es gern, wenn man nach so einem Moment ziellos umherirrt, nach einem Schock. Als ob man in solchen Momenten nicht längst halb verloren wäre.

Ich habe heute wie besessen gelesen, sogar in der Arbeit, in der Hoffnung, dich dadurch wieder so sehen zu können wie früher. Vielleicht war es verrückt von mir zu gehen; vielleicht finde ich durch die Lektüre den Weg zurück.

Ohne dich finde ich nur teilweise Zugang zu dem, was ich geschrieben habe: Jetzt, wo ich mich in diesem rosa Zimmer vor dir verstecke, ist «Wir» ein seltsames, unzugängliches Gebiet, und meine Tagebuchseiten kommen mir vor wie Eintrittskarten, die ihre Gültigkeit verloren haben, weil sie von etwas abgetrennt wurden. Neben der Perforation stand der übliche Warnhinweis, dass das Ticket nur mit Abriss gültig ist.

Trotz aller guten Vorsätze laufe ich zur Louisalaan. Ich habe Angst, dir zu begegnen und sehne mich gleichzeitig danach, einen Blick auf dich zu erhaschen.

Von der gegenüberliegenden Straßenseite schaue ich nach, ob noch Licht in deinem Stockwerk brennt und zähle die Fenster. Bei dir ist Licht an, sonst sehe ich nur einen Teil der Systemdecke und eine Ecke des Hängemappenschranks. Er enthält die Akten bereits abgeschlossener oder noch aktueller Fälle, von denen du abends regelmäßig ein paar mit nach Hause nimmst.

Ich habe dir nie erzählt, dass ich kurz bevor und kurz nachdem wir etwas miteinander anfingen, manchmal abends mit dem Rad den Hügel zu dir raufgefahren bin. Ich lief im Dunkeln um dein Haus, in der Hoffnung, dich aus der Ferne am erhellten Fenster zu sehen. Siebzehn war ich damals, und siebzehn sein war ein Vollzeitjob. Sogar die Entscheidung für eine bestimmte Unterwäsche war eine tägliche Beichte, mit der ich mir morgens eine Hoffnung oder Erwartung eingestehen musste, die ich dann abends heimlich in den Wäschekorb warf, damit ich sie wieder aufs Neue anziehen konnte, frisch und blütenrein. Siebzehn sein bedeutete, mich zwischen den Bäumen herumzudrücken und zu warten, während es anfing zu regnen. Diese eine Tätigkeit, warten, schloss eine schwindelerregende Anzahl unbekannter Dinge mit ein, eng zusammengerollt in meinen geballten Fäusten. Alles lag noch vor mir.

Und auch wenn du nicht am Fenster deiner Wohnung aufgetaucht bist, schien das Zimmer dermaßen bedeutungsschwanger zu sein, dass es sich nach außen wölbte und die anderen Zimmer verdrängte. Ich sah einen Tisch mit vier Rattanstühlen, einen dicken Kater auf der Fensterbank, ein Sofa mit einer schmuddeligen beigen Decke und darauf die beginnende Glatze deines Vaters, seine plumpe Gestalt. Sogar er hatte eine Aura, weil er eine größere, gröbere Ausgabe von dir war, ein unförmiger Klotz, aus dem mein Blick dich herausmeißelte, wenn ich mir hier ein Stück von der langen Nase und dort eines vom Bauch wegdachte.

Erst als du mich das erste Mal zu dir nach Hause einludst, merkte ich, dass ich die ganze Zeit ins falsche Wohnzimmer gespäht hatte. Dass ich mich dermaßen vom Anblick des ungepflegten Nachbarn hatte verführen lassen, war für mich nicht etwa ein Beweis für die Beliebigkeit meiner Liebe, sondern vielmehr für ihre Kraft: Ich hatte dich aus anderen Eltern erschaffen, jede nur erdenkliche Vergangenheit komplett in meine Liebe zu dir integriert und wollte das auch in jeder nur erdenklichen Zukunft so halten.

Wenn eine Beziehung der Traum von einer gemeinsamen Zukunft ist, dann ist eine Trennung der Moment, in dem diese Zukunft in ihre Einzelbestandteile zerfällt. Auf einmal scheint Lucs Zukunft eine andere zu sein als meine, die davon abbricht.

Während ich in meinem rosa Gästezimmer wachliege, erlebe ich diesen Zerfall in Einzelbestandteile immer wieder. Aus den funkelnden Scherben lege ich ein Mosaik nach dem anderen, ängstlich und aufgeregt angesichts all der möglichen Formen.

Ich schrecke aus einem wiederkehrenden Traum hoch. In diesem Traum wird mir auf einmal klar, dass ich meine zahme Ratte vergessen habe. Nicht erst seit Kurzem, sondern schon seit Jahren. Ich finde das Rattenmännchen in einem verdreckten Käfig vor, ohne etwas zu fressen, mit einem Wasserspender, der schon ganz grün ist vor lauter Algen. Das Tier ist nicht tot: Es schaut mich an und nagt an den Käfigstäben, ohne Unterlass und außer sich vor Wut.

Ich habe schon seit Jahren keine Ratten mehr, aber als ich noch ein Kind war, hat dieses Geräusch meine Nächte erfüllt: das ihrer Zähne am Metall. Jetzt klingt Schlaflosigkeit nach dem Kratzen meines Füllers.

Oft kommt es mir so vor, als schriebe ich abends nur noch, um dieses Geräusch zu hören. Die Papieroberfläche ist ein riesiges Rubbellos mit einer darunter versteckten Geheimbotschaft, einem erlösenden Code. Ich bekomme kaum noch mit, dass ich bei all dem Gekratze keine Schicht abrubble, sondern eine neue hinzufüge.

Um halb vier kann ich immer noch nicht schlafen und sehe, wie mein Handy auf der Kommode aufblinkt. Auch Luc liegt wach und sagt, entschuldige, entschuldige, entschuldige, und dass ich bitte wieder zurückkommen soll.

RATZFATZ

Ich bin neun oder zehn, als ich Ratzfatz morgens an der Wand seines Käfigs hochklettern sehe und den Knubbel bemerke, der zwischen seinen Vorderpfoten wächst.

Wie immer kommt er zu mir, sobald ich das Türchen öffne. Ich hole die Ratte aus dem Käfig und betaste sie. Der Knubbel ist unregelmäßig und fest, hart im Vergleich zu dem weichen Bauch.

Mein Vater weiß auch nicht, was das sein könnte. Ratzfatz schlüpft wendig zwischen seinen bohrenden Fingern hervor und hüpft quer über den Tisch zu mir zurück. Sobald er auf meiner Schulter sitzt, beginnt er sich zu putzen. Seine Pfoten spreizen das weiße Fell, durch das sich seine Schnauze eifrig bewegt. Mit verrenktem Hals erreicht er genau die Stelle, wo wir ihn betastet haben.

Als er damit fertig ist, lässt er sich in den Ausschnitt meines T-Shirts fallen. Eine warme Ausbuchtung bewegt sich auf meinen Ärmel zu.

Ich liebe die rosa Hubbel unter den Hinterpfoten der Ratte, die fast schon menschlichen kleinen Händchen, mit denen das Tier Sonnenblumenkerne dreht und wendet, während es sie knackt. Ich liebe die kleine rosa Zunge, die zwischen den langen Zähnen hervorkommt, wenn Ratzfatz zitternd gähnt. Jetzt hat er zum ersten Mal etwas an sich, das ich hasse.

Der Ballon vor seiner Luftröhre schwillt weiter an, als würde er ihn mit jedem Atemzug mehr aufblasen. Innerhalb von fünf Wochen ist er so groß, dass das Tier seine Vorderpfoten nur noch mühsam aufsetzen kann. Wo der Tumor den Boden berührt, ist das Fell abgeschabt. Immer öfter sitzt Ratzfatz reglos auf dem Käfigboden, legt die Pfoten über den Knubbel und stützt sich mit geschlossenen Augen darauf. Je mehr der Tumor wächst, desto weniger bleibt von dem Tier übrig. Die Hälfte seines Körpergewichts besteht inzwischen aus Wildwuchs.

Ich lasse nicht locker, bis ich mit der Ratte zum Tierarzt darf. Eine Ultraschalluntersuchung lässt mehrere Geschwüre erkennen. Fünfzig Gulden – dafür dass ich mir anhören muss, dass man da nichts mehr machen kann. Als die Ärztin Kontrastflüssigkeit spritzt und Ratzfatz auf den Rücken dreht, um den Tumor zu betasten, rammt er ihr seine Zähne in den aufdringlichen Finger. Ein Tropfen Blut klebt auf der Innenseite des medizinischen Handschuhs, der ganz rosa ist unter dem weißen Latex. Die Tierärztin wird blass um die Nase und bemerkt trocken: «Na ja, Biss hat er jedenfalls noch genug. Sollte sich das ändern, kommst du wieder her.»

Laut der Ärztin ist Ratzfatz mit seinen zwei Jahren bereits uralt, aber er hält sich nicht an das Gesetz, dass in einem kleinen Körper weniger Lebenszeit Platz hat. Unermüdlich schleppt er seine entstellte Gestalt durch den Käfig. Ich betrachte den beweglichen Kranz weißer Schnurrhaare, der sich um seinen Kopf fächert. Das rührend weiche Näschen in der Mitte, das Gerüche abtastet wie konkrete Gegenstände. Daran ändert sich nichts. Aber die sich an seiner Brust spannende Haut wird immer dünner, bis sie reißt. Das Fleisch darunter ist porös und faserig. Ich versuche, die Wunde sauber zu halten, eine zärtliche Folter mit Desinfektionsmittel und Wattestäbchen. Aber sobald ich das Tier in den Käfig zurücksetze, klebt Streu an ihm fest: Farm-i Extra, besonders saugstark. Schon bald bildet sich ein weißer Schaum an den Wundrändern. Das Zimmer stinkt nach verdorbener Leberpastete.

Ratzfatz bekommt Durchfall. Seine gesamte Unterseite ist schmutzig, sein weißes Fell wird braun und klebrig. Wenn ich ihn hochnehme, quietscht er und entleert sich erst recht. Ein Röntgenbild ist nicht mehr nötig: Man kann seine Wirbel zählen, die hier und da von harten Knubbeln gesäumt werden.

Mein Vater sagt, «Mädchen, es wird Zeit».

Ich weiß, dass es nicht mehr lange dauern kann. Wenn ich Ratzfatz durchs Haus trage – in Küchenpapier eingewickelt, um nichts schmutzig zu machen –, hebt das Tier nicht einmal mehr den Kopf und macht keinerlei Anstalten, in meinen Ärmel zu kriechen.

Wir könnten erneut zum Tierarzt gehen, aber ich weigere mich strikt. Eine halbstündige holprige Autofahrt mit Ratzfatz in einer Schachtel, gefolgt von einem Wartezimmer voller verängstigter Tiere, die den Tod wittern. Außerdem wird die Tierärztin bestimmt etwas Schreckliches über meine ausgemergelte Ratte sagen: Wie habe ich es nur so weit kommen lassen können?

Zusammen mit meinem Vater lasse ich in der Küche einen Eimer mit Wasser volllaufen. Ich prüfe die Temperatur mit dem Ellenbogen, so wie ich das bei frisch gebackenen Eltern im Fernsehen gesehen habe. Die Ratte liegt neben der Spüle auf der Arbeitsplatte, vollkommen reglos. Das Tier atmet pfeifend.

«Vielleicht solltest du ihn in ein Handtuch wickeln», schlägt mein Vater vor. «Gut möglich, dass er beißt.»

Bevor ich Ratzfatz in ein Handtuch hülle, beuge ich mich vor, um das Tier zum Abschied zu küssen und zucke wegen des Verwesungsgestanks zurück: ein kurzes Zögern, bei dem heiße Scham in mir aufflammt.

Als mein Vater sagt, dass ich da wirklich nicht dabei sein muss, schüttle ich nur stumm den Kopf. Er legt eine schwere Hand in meinen Nacken, während ich das eingewickelte Tier mit beiden Händen untertauche. Ich habe Angst, zu fest zuzudrücken, Angst, dass weder der Krebs noch das Wasser meine Ratte tötet, sondern ich selbst.

Ob es wohl dunkel ist in dem Handtuch? Ob Ratzfatz wohl weiß, was da gerade passiert? Ich konzentriere mich so auf das Tier in meinen Händen, dass ich spüre, was es spüren muss.

Ein Luftbläschen entweicht dem Stoff, als warmes Wasser eindringt. Das begibt sich auf die Suche nach den letzten Luftreserven im Körper des Tieres.

Bläschen steigen aus dem Handtuch empor.

Dann beginnt Ratzfatz zu zappeln, ein kraftloses Zucken seiner Pfoten an meinen Fingerkuppen.

Ich lasse los.

Kurz treibt das lebendige Handtuch wieder an die Wasseroberfläche: Der lange Schwanz peitscht hervor, ehe mein Vater das kleine Bündel wieder hinunterdrücken kann.

Als ich die Ratte aus ihrem nassen Verband hole, sieht sie aus, als wäre sie schon eine ganze Weile tot: nackt und ausgemergelt, die samtige Schnauze gibt die langen Zähne frei. Erst jetzt kann ich sehen, wie der Krebs Ratzfatz aufgezehrt hat. Unter seinem Schwanz fließt braune Soße auf das Handtuch.

Ich nehme Ratzfatz mit in mein Zimmer. Ich will ihn abtrocknen, damit sein Fell die furchtbare Magerkeit wenigstens etwas kaschiert, merke aber zu spät, dass die Fönluft seine Knopfaugen zu Rosinen verschrumpeln lässt. Ich versuche, die Augen der Ratte zu schließen – vergeblich. Geknickt starre ich auf das, was ich angerichtet habe. Auf Trauer hatte ich mich eingestellt, aber nicht auf Ekel.

Das Ausheben der Grube geht wegen der vielen Wurzeln nur mühsam voran.

Ich bin mir der verschwommenen Gestalt meines Vaters bewusst, die immer wieder am Wohnzimmerfenster auftaucht, und versuche meinen Moment der Schwäche vor dem Eimer dadurch wettzumachen, dass ich stur weiterschaufle.

Als ich in mein Zimmer zurückkehre, ist Ratzfatz zu einer seltsamen Form erstarrt. Sein Schwanz lässt sich nicht richtig unter den Körper falten und rutscht immer wieder hervor. Das Fell ist nur noch eine hauchdünne Schicht, die den Tod bedeckt, und meine Finger spüren das harte Ding darunter. Als ich ihn hochhebe und umdrehe, verändert er seine Haltung nicht, er bleibt lang gestreckt und plattgedrückt, die Pfoten zu Klauen gekrümmt.

Nachdem ich das Grab zugeschüttet habe, bleibt ein großer, schwarzer Buckel zurück. Man könnte meinen, ich hätte aus Versehen noch etwas anderes begraben.

TAG 3

Ich sperre lautlos auf und warte lauschend im Flur, bis ich mir sicher sein kann, dass du wirklich nicht da bist. Erst dann betrete ich das Wohnzimmer.

Du hast meine Post auf den Tisch gelegt. Es sind bloß zwei Briefe, einer von der Bank und einer vom Zahnarzt, trotzdem hast du sie ungewöhnlich sorgfältig angeordnet, leicht versetzt, sodass ich auf beiden Umschlägen meinen Namen lesen kann. Du hast den Moment, an dem ich zurückkehre, also bereits vorweggenommen: die fein justierten Briefe sind Spuren deiner Generalprobe.

Nicht nur die Post präsentierst du mir, sondern auch den leeren Pizzakarton mit dunklen Fettflecken, der als Schatten eines einsamen Abends auf dem Parkett liegt. Auf der Fensterbank steht eine zerbeulte Limodose. Auf dem Sofa sind alle Liebesbriefe ausgebreitet, die ich dir je geschrieben habe. Die Leserichtung des Textes führt zur Leerstelle in der Mitte, wo du gesessen haben musst. Ein Fächer aus Liebesbekundungen und Liebesschwüren, von mir an dich. Papierne Sprachrohre deiner Frau, die dir immer noch nicht gesagt hat, wann sie zurückkommen will.

Liebster Luc,

es ist Mitte Dezember, und ich schreibe dir, weil ich bei dir sein will, am Tag unseres sechsjährigen Jubiläums – wenn nicht körperlich, dann wenigstens auf dem Papier.

Es fühlt sich ein bisschen verrückt an, diesen Brief zu schreiben, wo wir doch noch heute Morgen zusammen aufgewacht sind, und ich dich heute Abend wiedersehen werde. Ich habe dir nicht mal wirklich was zu sagen, dir nichts mitzuteilen. Wenn ich dir schreibe, dass ich dich liebe, ist das bereits seit sechs Jahren keine Neuigkeit mehr. Außer die sechs Jahre sind die Sensationsmeldung. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass es so vieles gibt, von dem ich dir nie erzähle.

Es gibt da ein Gedicht von Margaretha Vasalis, bei dem ich an dich denken muss:

So wie ich von selbst atme

So wie ich das Klopfen meines Herzens

Nur selten spür und mein Gesicht

Sogar im Spiegel kaum noch seh

So find ich für die lange Liebe, die

Ich nicht mehr habe, sondern bin,

Fast keine Worte mehr, Liebling.

Was ich nicht in Worte fassen kann, ist beispielsweise deine Angewohnheit, die Ellenbogengelenke ein winziges bisschen zu überstrecken. Wenn du einladend die Arme ausbreitest, sieht das fast schmerzhaft aus: Du öffnest sie weiter, als dies menschenmöglich scheint. Auch wenn du dich morgens reckst, geschieht das mit dieser anatomisch falschen Hingabe, was mich jedes Mal wieder aufs Neue rührt.

Genauso deine Art zu lachen, gekrümmt, glucksend, überbordend, aber stumm, als hätte dein Witz die Schallmauer durchbrochen.

Oder dass du so furchtbar wütend, furchtbar glücklich, furchtbar geil, furchtbar enttäuscht sein kannst. Manchmal finde ich das anstrengend, möchte es aber um nichts auf der Welt missen. Ich brauche dich nur anzuschauen und fühle mehr, als ich es je für möglich gehalten hätte.

Oder nehmen wir deine Angewohnheit, mich winzig klein zusammengerollt mit Armen und Beinen zu umklammern, um dich dann wieder zu strecken und mir selbstbewusst den Arm um die Schultern zu legen. Du wechselst so übergangslos zwischen Kind und Mann hin und her.

Hab ich deine Füße schon erwähnt? Du beschwerst dich selbst, wie platt sie sind, Donald Duck ist nichts dagegen, so wie sie auf die Fliesen klatschen, wenn du aus der Dusche kommst. Aber ich finde sie rührend, all die zarte Haut, mit der du dir Splitter von meinem Parkett einziehst. Wenn ich dich lecke, rollen sich dir die Zehen auf und spitzen sich wie Ohren.

An all das musste ich denken, als ich das Gedicht im Abreißkalender auf unserem Klo las (ich wiederhole: auf unserem Klo! So viel Rührung auf einer Toilettenschüssel – man stelle sich vor, wozu ich erst bei Kerzenlicht in der Lage wäre.)

Ich könnte endlos Dinge aufzählen, die mich mit dir verbinden, aber das ist es nicht, was ich wirklich meine. Dahinter verbirgt sich noch viel mehr.

Das Gefühl, das du durch deine bloße Gegenwart heraufbeschwörst. Der Geist, der aus der Flasche kommt, wenn ich dich an den richtigen Stellen reibe. Ein Tischlein-deck-dich, eine beständige Wärmequelle, die ich vergeblich auf eine Eigenschaft zurückführen will, auf einen Körperteil, auf einen Gesichtsausdruck.

Nach sechs Jahren wage ich allmählich zu glauben, dass unsere Verbindung genauso funktioniert wie der Zweikomponentenkleber, mit dem mein Vater früher meine Hockeyschläger bestrichen hat. Sobald der Inhalt der zwei Tuben miteinander vermischt wurde, hielt er bombenfest. Eine chemische Reaktion. Pheromone und Hormone, Endorphin, Serotonin, egal, was – es ist und bleibt ein Märchen.

Der Lärm der Stadt dringt nur gedämpft herein. Sonne fällt schräg ins Zimmer, macht die Staubteilchen sichtbar, die wie Plankton durch die Luft tanzen. Als wir diese Wohnung vor einem Jahr bezogen, haben wir zwei Wände blau gestrichen. Trotzdem ist es das erste Mal, dass mich das Zimmer an ein riesiges Aquarium erinnert.

Ich gehe zur blauen Wand und betrachte die Fotos, die ich dort bewusst chaotisch mit Klebepads angebracht und anschließend nie mehr richtig angeschaut habe. Du bist gut getroffen, bleckst lachend deine schiefen Zähne. Ich zähle die Bilder: Es sind zehn, sieben davon zeigen unsere Gesichter, eng nebeneinander, manchmal küssen sie sich. Eher Porträts von unserer Beziehung als von uns.

Der Blick aus unserem Fenster hat etwas von seiner Vertrautheit eingebüßt. Zwischen den grüngeriffelten Platten des Parkhauses direkt gegenüber kann ich Autos fahren sehen, Monster mit roten Augen, die mittlerweile schon bis in Häuser vorgedrungen sind. Links, auf der blinden Seitenmauer eines Apartmentblocks, der zwischen seinen Nachbarn emporragt, ist ein Wandbild von einem riesigen Vogelsaurier zu sehen, der seine Flügel erstmals fröstelnd um seinen nackten Rumpf legt.

Auf der Fensterbank liegen Bücher, die ich nicht kenne und die du in den letzten zwei Tagen angesammelt haben musst. Understanding Comics. 350 Things to Write About. The Seven Habits of Highly Effective People. Die Biographie über Hans van Mierlo, deinen Lieblingspolitiker. Sogar ein Yoga-Ratgeber, verdammt nochmal!

Keine Ahnung, was ich hier eigentlich wollte, aber jetzt, wo ich da bin, weiß ich, dass ich nicht bleiben will.

Ich entsorge den Pizzakarton sowie die Reste deines Frühstücks. Anschließend gieße ich die halb vertrockneten Zimmerpflanzen, ordne die Kissen auf unserem Bett und klopfe sie auf. Die sich türmenden Schuhe neben der Tür stecke ich paarweise auf den altmodischen Flaschenigel, den wir dafür benutzen. Anschließend stecke ich ein paar Klamotten und meinen Laptop ein und hinterlasse dir einen Zettel: Tut mir leid, aber ich brauche mehr Zeit.

Bevor wir uns am Tisch der Schulkantine näherkamen, gingen wir schon eine ganze Weile in dieselbe Klasse. Meine Klasse wurde im zweiten Jahr der Mittelstufe mit der von Luc zusammengelegt. Schon bald kannte ich seinen Namen, denn genau wie ich saß er meist in der ersten Reihe – wenn auch eher unfreiwillig. Wollten ihn die Lehrer so richtig bestrafen, setzten sie ihn neben mich.

Luc war aufwändig frisiert und trug ein Anime-Shirt, ich Sandalen mit einem vernünftigen Korkfußbett. Ich war vollauf damit beschäftigt, Einser zu schreiben, während er den Fahrradschuppen der Schule mit Graffiti besprayte. Wofür ich ihn verachtete, da ihm, nachdem er sich endlich mit der Spraydose im Ranzen durch die Hecke gearbeitet hatte, nichts Besseres eingefallen war, als das Wort SPLASH – in fetten türkisfarbenen Buchstaben, die von den nach Norden hinausgehenden Klassenzimmern deutlich zu sehen waren. Für jemanden, der Comedian werden wollte, fand ich das ein bisschen armselig.

Noch am selben Abend beichtete er das mit dem Graffito, ihn plagten Gewissensbisse. Erst seinem Vater und, auf dessen Rat hin, der Direktorin der Schule, die den Spitznamen «Eiserner Vorhang» trug und zufällig meine Mutter war. Ich war leider nicht zu Hause, als er bei uns auf der Matte stand, denn ich hätte mich bestimmt köstlich amüsiert. Ich erfuhr erst Jahre später davon, als wir längst ein Paar waren, und meine Mutter davon ausging, dass ich es nicht mehr gegen ihn verwenden würde.

Doch bevor es soweit war, stritten wir viel; wir rauften sogar. Luc zog mich auf und provozierte mich. Ich war zurückhaltend, aber gewiss nicht ohne – ich besaß eine messerscharfe Zunge. Nicht umsonst gehörte ich zu den rebellischen Mädchen. Als Luc einmal etwas über meine Mutter sagte, drückte ich ihn, die Hand an seiner Kehle, unter dem erwartungsvollen Oh-oh! unserer Mitschüler an die Wand des Klassenzimmers. Er war größer als ich – die Zeit, da Mädchen riesig waren und Jungs noch im Larvenstadium, war vorbei … Aber er wehrte sich kein bisschen, und ich begriff nicht, dass seine Hänseleien der einzige Weg waren, eine Annäherung zu provozieren. Er verstummte. Ich spürte nur, wie sich sein Kehlkopf unter meiner Hand bewegte, während ich mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen lehnte. Als ich ihn wieder losließ und einen Schritt zurücktrat, brach er in lautes Gelächter aus, mit einem Triumph in der Stimme, den ich nicht verstand.

Auch als wir längst zusammen waren, blieb das seine Methode, die Kluft zwischen uns zu überbrücken. Wenn ich mich zurückzog oder einen für ihn unverständlichen Anfall hatte, war ein körperliches Kräftemessen die einfachste Methode, bis zu mir durchzudringen. Dann packte er mich an den Handgelenken und hielt diese über meinem Kopf fest. Oder aber er warf mich rücklings aufs Bett. Jedes Mal wehrte ich mich. Meine Küsse glichen Bissen, aber zumindest schnappte ich zurück.

Eines Nachmittags saß Luc vor mir im Unterricht und hielt Vorträge. Über seine Heldentaten auf der Enduro, über Weiber. Der Chemielehrer stand wie immer nervös neben der Tafel und wartete, bis es still wurde. Vielleicht weil ihm ein älterer Kollege geraten hatte: «Du brauchst sie bloß schweigend anzusehen, dann hört das schnell auf.» Aber weil dieser Lehrer aussah, als wäre er gerade mal zwei Jahre älter als wir und würde gleich anfangen zu heulen, funktionierte das nicht. Luc sprach weiter, die anderen lachten weiter über ihn. In seiner weiten Jacke mit dem Fellkragen saß er halb nach hinten gedreht auf seinem Stuhl, breitbeinig und die Arme dreist über den Tisch gestreckt, an dem wir manchmal Experimente durchführten.

«Ich bin ein Mann, müsst ihr wissen. I am the man.»

Ich schlug das Buch zu, das ich gerade las.

«Mein Name ist Bond