Einschlafen - Bregje Hofstede - E-Book

Einschlafen E-Book

Bregje Hofstede

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Beschreibung

Sie hat alles ausprobiert: angefangen bei Gute-Nacht-Tees über Ohrenstöpsel und dunkle Gardinen bis hin zu Tabletten. Doch nichts hilft. Die Schlaflosigkeit bleibt - und eine intensive Suche beginnt. In 24 (!) Kapiteln erforscht die Schriftstellerin Bregje Hofstede den Schlaf, der in ihrer Kindheit so selbstverständlich war wie Atmen und im Lauf der Jahre irgendwann abhandengekommen ist. Gekonnt schlägt sie - ausgehend von persönlichen Erfahrungen - den Bogen zu Wissenschaft, Literatur und Geschichte und betrachtet das Verhältnis zwischen Körper und Geist, Mensch und Moderne, Individuum und Gesellschaft.

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Bregje Hofstede

Einschlafen

Wie eine Schlaflose die Nacht zurückerobert

Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt und Janine Malz

OKTAVEN

Für Toine It’s a beautiful day.

Is it me tossing

or is this bed

a small boat

in an unprotected cove?

Haul

anchor, I suppose.

That is: turn on

a light and read

all night.

«Insomnia Song», Gregory Orr1

INHALT

00:00 Sterne gucken

DER KAMPF UM DEN SCHLAF

01:00 Alle Tiere schlafen

02:00 Schlaf als Zeitverschwendung

03:00 Schlaf zur Steigerung der Leistungsfähigkeit

04:00 Dem Schlaf hinterherhecheln

05:00 Schlaftabletten helfen nicht

06:00 Entspannen um jeden Preis

SCHLAFLOSIGKEIT IM GEHIRN

07:00 Wir wissen wenig über den Schlaf

08:00 Schlaf ist nicht schwarz-weiß

09:00 Sanduhr und Uhr

10:00 Hyperarousal

11:00 Die Sonnenseite von Hyperarousal

12:00 Unverarbeitete Gefühle

13:00 Schlaflosigkeit, Angst und Depression

14:00 Schlaf und psychische Verfassung

SCHLAFLOSIGKEIT ALS WARNSIGNAL

15:00 Schlaflosigkeit ist kein Defekt

16:00 Ein «Schlaglicht» auf den Schlaf

17:00 Wir fühlen mehr als wir fühlen

18:00 Träume als Zugang zu Emotionen

WASHÄLT UNS WACH?

19:00 Das persönliche Umfeld

20:00 Geld

21:00 Zeit

22:00 Raum

23:00 Die Anderen

00:00 Das Gewicht von Schlaf

DANK

Anmerkungen

Impressum

00:00

STERNE GUCKEN

Ich war elf, als ich die Milchstraße zum ersten Mal sah. In einer Sommernacht auf dem Peloponnes, ein menschenleerer Landstrich in Griechenland, wo ich mit meinen Eltern und meinen Schwestern Urlaub machte.

Abends, nach einem Tag am Meer, liefen wir den Hügel hinauf, zu einem kleinen einfachen Lokal, das einsam zwischen Olivenhainen lag. Es war schon spät, wir hatten Hunger, und die untergehende Sonne verlieh uns zwanzig Meter lange Beine, damit wir schneller oben wären.

Während wir das gegrillte Hühnchen aßen, das «Tante Niki» uns vorgesetzt hatte, kroch die Nacht die Berge hinauf. Und ungefähr um die Zeit, als wir uns die Finger ableckten, hatte sich die Terrasse zwischen den Olivenbäumen in ein orangefarbenes Floß auf pechschwarzer See verwandelt.

Wir machten eine Taschenlampe an und wateten in die Nacht hinein.

Eine dunklere Dunkelheit hatte ich noch nie erlebt. Kein Mensch weit und breit, der holprige Weg unbeleuchtet. Die tiefe Schwärze, die uns umgab, war dermaßen von Zikadengesang erfüllt, dass man nicht mehr wusste, wo etwas anfing und wo etwas aufhörte. Ohrenbetäubende Finsternis.

Der grelle Lichtkegel, der vor uns über den Weg huschte, erhellte die Schritte meiner Eltern, aber wir, die wir wenige Meter hinter ihnen her strauchelten, hatten Mühe, den Boden vor unseren Füßen zu erkennen. Meine Schwestern und ich forderten nacheinander die Taschenlampe ein und trugen sie abwechselnd, sodass sie, ungeschickt entrissen und wieder entwunden, auf den Weg fiel und ausging.

Wir tasteten nach der Lampe. Wie die Kiesel glühte sie noch nach, wollte aber nicht wieder angehen.

Als das Nachbild des Lichtkegels auf unserer Netzhaut erloschen war, schien das Lampenlicht zerstoben und nach oben geschwebt zu sein. Über uns tauchten unzählige Sterne auf, in deren Mitte eine weiße Linie verlief.

Mein Vater vergaß seinen Ärger über die kaputte Taschenlampe und erklärte uns, was wir sahen. «Diese bandförmige Aufhellung am Nachthimmel sieht aus wie ein Streifen», sagte er, «besteht aber tatsächlich aus mehreren hundert Milliarden Sternen. Die sind Teil der Milchstraße, der Galaxie, zu der auch unsere Sonne gehört, und bilden eine riesige Spirale, von der ihr einen Ausschnitt seht. Die Sonne ist einer von Milliarden Sternen dieser Spirale. Und die Erde wiederum ein winziger Gesteinsbrocken, der um diesen einen Stern kreist.»

Ich konnte kaum glauben, was er da sagte, nämlich dass die Milchstraße immer da war, und wir sie zu Hause bloß nicht sahen. Ich fand es verrückt, dass etwas so unfassbar Großes, das auch noch Licht spendet, dennoch dem Blick entzogen werden kann, durch Straßenlaternen, Scheinwerfer, Außenwandlampen. Dass etwas so Wesentliches von etwas so Unbedeutendem unsichtbar gemacht wird.

Damals schlief ich noch gut. Ohne mir Gedanken darüber zu machen. Ich schlief, wie ich atmete.

Zwanzig Jahre später lief ich an einem Sommerabend durch Amsterdam. Es war schon spät, und ich war kurz vor Ladenschluss unterwegs zum Supermarkt. Mofas knatterten im schmutzig gelben Dämmerlicht an mir vorbei.

Beim Albert Heijn in der Sarphatistraat suchte ich in den grell beleuchteten Regalen nach etwas, das mich durch die Nacht bringen würde. Es war schon wieder Wochen her, dass ich gut geschlafen hatte, meine Augen waren ganz trocken vor Müdigkeit. Ich hatte gelesen, es könne helfen, abends noch etwas Eiweißhaltiges zu essen. Je mehr Eiweiß, desto langsamer der Verdauungsprozess und desto geringer das Risiko, nachts von einem knurrenden Magen geweckt zu werden. Ob das auch stimmte, wusste ich nicht, aber ich war zu allem bereit.

Blinzelnd las ich mir die Etiketten durch.

Eiweiß. Fett, gesättigte Fettsäuren …

Ich war dreißig und fürchtete mich vor der Nacht wie ich mich als Kind nie davor gefürchtet hatte. Ich suchte nach etwas, woran ich mich nachts klammern konnte: an Tabletten, Pülverchen, Ohrstöpsel, Gute-Nacht-Tee, an einen gesunden Lebensstil. Jede «Lösung» war ein Lichtstrahl, dem ich folgte, bis er erlosch, woraufhin ich wieder weitersuchen musste.

An diesem Abend kaufte ich mir einen Quark mit extra viel Eiweiß, 12,5 Gramm pro hundert Gramm.

Doch in meinem tiefsten Innern wusste ich ganz genau, dass die Lösung für meine Schlafprobleme nichts mit Grammangaben zu tun hatte. In meinem tiefsten Innern wusste ich, dass ich etwas übersah. Nur hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was ich sonst machen sollte. Alle Tipps, die ich finden konnte, hatte ich längst ausprobiert.

Ich trat mit meinen Einkäufen ins Freie, ohne nach oben zu schauen. Zwischen den Straßenlaternen gab es nie viel zu sehen. Höchstens einen Mond, kaum Sterne und schon gar keine Milchstraße.

Inzwischen weiß ich, dass fast 40 Prozent der Menschheit die Milchstraße niemals zu Gesicht bekommt. Die Lichtverschmutzung ist einfach zu groß. Zwischen uns und den Sternen ist alles Mögliche im Weg: Satelliten, die Straßenbeleuchtung, die Gesamtheit des Lichts, das unsere Bildschirme, Lampen und Neonreklamen abgeben.

Einige finden das schlimm. Sie gründen Vereine wie die International Dark Sky Association, verweisen auf die negativen Folgen des vielen Lichtsmogs für die verschiedensten Tiere und fordern das Recht ein, nachts Sterne beobachten zu können – einschließlich der Milchstraße, der Galaxie, zu der auch wir gehören.

Tatsächlich fordern sie das Recht ein, das größere Ganze zu sehen.

Ich habe jahrelang schlecht geschlafen. Zwischen zwanzig und dreißig führte ich einen Grabenkampf mit der Nacht, bei dem ich jeden Zentimeter Boden, den ich erobern konnte, gleich wieder preisgeben musste. Mir war, als würde ich da nie wieder rauskommen. An schlechten Tagen war die Erschöpfung eine Mauer, über die ich kaum noch schauen konnte.

Ich begann mich für alles zu interessieren, was mit Schlaf zu tun hatte, fast schon obsessiv. Es war, als wäre ich von einem Liebhaber verlassen worden, um den ich mir nie viel Gedanken gemacht hatte, bis er auf einmal weg war und ich feststellen musste, dass ich nicht ohne ihn leben konnte. Und so verführerisch ich auch gurrte – er kehrte nicht zu mir zurück.

Eine Schlaflosigkeit, die ich erst loswurde, als ich akzeptierte, dass meine Probleme nichts mit Schlaf zu tun hatten, mit der Art, wie ich das Thema Schlafen anging, mit den pragmatischen Aspekten der Nacht: mit dem Gute-Nacht-Tee, den Schlaftabletten, meinem Schlafzimmer, mit der Art der «Schlafhygiene», mit der ich mich auf das Zubettgehen vorbereitete. Ich starrte mich blind an der Nacht, aber das Problem war der gesamte Zeitraum von vierundzwanzig Stunden: die Art, wie ich meine Tage verbrachte. Erst als ich meine Schlaflosigkeit als Warnsignal wahrnahm, als Einladung, genauer hinzuschauen und größer zu denken, fand ich erneut einen Weg durch meine Nächte.

Ich lernte, mich zu fragen, was in meinem Leben mich unbewusst dermaßen irritierte, dass es mich wachhielt, lernte, dass ich etwas daran ändern musste. Nicht an meinen Nächten musste ich arbeiten, sondern an meinen Tagen. Im Grunde an meinem ganzen Leben. Das ist eine Erkenntnis, die so naheliegend ist, dass ich mich fast schäme, sie aufzuschreiben. Und dennoch eine, zu der ich, so viel ich auch über das Thema Schlaf las, erst nach langem Rätselraten gelangte. Eine, die wir nur selten zu lesen bekommen, weil sie nicht zum heutigen Forschungsansatz mit seiner großen Vorliebe für alles Neurologische und Mechanische passt. Dieser Ansatz kann uns zwar viel über den Schlaf beibringen, ist aber unvollständig. Chronische Schlafprobleme sind häufig nicht die Folge mangelnder Schlafhygiene und lassen sich deshalb auch nicht mit noch irgendeinem Abendritual oder einer neuen Matratze lösen. Schlechte Nächte sind die Folge unserer Tage. Und damit nicht genug: Sie sind die Folge einer Welt, in der diese Tage stattfinden.

Ich habe knapp zehn Jahre gebraucht, um dahinter zu kommen, und hätte mir jemand vor zehn Jahren gesagt, dass ich alle vierundzwanzig Stunden meines Alltags überdenken muss, um nachts schlafen zu können, hätte ich ihm nicht geglaubt. Deshalb nehme ich Sie gerne mit auf meine Schlafodyssee.

In Wahrheit hat sie Jahre gedauert, wurde aber hier auf einen symbolischen Vierundzwanzigstundenzyklus zusammengekürzt. Dieser Zyklus beginnt mit einer schlaflosen Nacht und dem dazugehörigen Psychokrieg mit dem Schlaf. Anschließend gehe ich auf die derzeitige «Morgenröte» der (Neuro)wissenschaften ein, auf die Biologie des Wachliegens. Der Nachmittag bringt einen Wendepunkt, nämlich die Erkenntnis, dass Schlaflosigkeit ein Warnsignal sein kann – nicht etwa dafür, dass mit unserem Gehirn, sondern dafür, dass mit unserem Leben etwas nicht stimmt. Die Abendstunden widme ich schließlich den Möglichkeiten, die wir haben, um auf dieses Warnsignal zu hören: Und zwar indem wir uns überlegen, welches Verhältnis wir zu so grundlegenden Themen wie Geld, Zeit, unsere aktuelle Wohnsituation, unser Ego und die Menschen in unserem persönlichen Umfeld haben.

Wenn Sie nach diesem Buch gegriffen haben, dürften Sie ebenfalls Bekanntschaft mit den frühen Morgenstunden gemacht haben: ein schöner Ort, den wir dann und wann an einem alkoholseligen Abend mit Freunden aufsuchen, aber die Hölle, wenn wir wiederholt allein dort feststecken. Vermutlich haben Sie genau wie ich schon alles probiert, um besser schlafen zu können, liegen aber dennoch wach. In diesem Fall lade ich Sie dazu ein, mir auf meine Odyssee durch die Nacht zu folgen und weit über den Horizont der Schlafhygiene hinauszublicken. Denn wenn ich in meinen schlaflosen Nächten eines gelernt habe, dann, dass es auch bei Schlafproblemen von entscheidender Bedeutung ist, das große Ganze zu sehen.

DER KAMPF UM DEN SCHLAF

01:00

ALLE TIERE SCHLAFEN

Wenn ich nicht schlafen konnte, schaute ich mir manchmal Tierfilme an, in meiner Sofaecke in meinem Zimmer in Amsterdam.

Am liebsten welche mit Ottern: Die schwimmen auf dem Rücken, die angewinkelten Pfoten vor der Brust verschränkt, und das Fell an ihrem Bauch zu nassen Strähnen verklebt. Sind sie zu zweit, haben sie sich untergehakt, damit sie nicht voneinander forttreiben. Es gibt einen Film mit einem Otterweibchen, das sich träge auf dem Rücken treiben lässt, während das Junge ausgestreckt auf ihrem Bauch liegt. Das Kleine schläft, gewiegt von der Atmung seiner Mutter und dem riesigen Wasserbett darunter.

Nach schlafenden See-Elefanten musste ich länger suchen, aber auch die lohnen sich: Im Bild sieht man Dunkelblau, schraffiert von schräg einfallenden Sonnenstrahlen, darin schiebt ein See-Elefant seine zweitausend Kilo durchs Wasser. Sobald er tief genug abgetaucht ist und so Orcas und Haie hinter sich lässt, dreht er sich auf den Rücken, faltet die Vorderflossen auf dem Bauch zusammen und lässt sich dann reglos im dunklen Wasser nach unten sinken. The falling leaf phase – die Phase des fallenden Blattes, wie die darüber gelegte Stimme erklärt. Ist das Blatt eine Viertelstunde lang abwärts getrudelt, verwandelt es sich erneut in ein Tier und setzt sich aktiv in Bewegung, schwimmt mit kräftigen Schlägen schnurstracks zum Luftholen nach oben.2

Es gibt Tiere, die im Stehen schlafen können. Die Flamingos im Artis Zoo, an denen ich jahrelang regelmäßig vorbeiradelte, schlafen beispielsweise aufrecht auf einem Bein, während sie das andere zwischen den warmen Bauchfedern verstecken.

Im Grunde wissen wir von keiner einzigen Tierart, die nicht schlafen würde. Sogar ein Delfin, der gar nicht aufhören kann, sich zu bewegen, weil er dann ertrinken würde, kann schlafen: nur mit einer Gehirnhälfte, sodass die andere wach bleibt, und er weiterschwimmen kann. Schlaf ist anscheinend dermaßen unabdingbar, dass er sich zwangsläufig durchsetzt.

Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Schlaf zeitgleich mit den ersten Lebensformen entstanden sein muss. Er ist eine evolutionäre Konstante, auf die keine Art verzichten kann. Eine Spinne zieht die Beine an, und ihr Stoffwechsel verlangsamt sich. Regenwürmer nehmen eine besondere Schlafhaltung ein: leicht gekrümmt wie ein Eishockeyschläger. Sogar die primitivsten Einzeller kennen aktive und passive Phasen, die auf den Tag-und-Nacht-Rhythmus unseres Planeten abgestimmt sind.3

Und dennoch setzt sich der Schlaf bei sehr vielen Menschen nicht automatisch durch. Wenn Sie sich in eine Supermarktschlange einreihen, dann hat einer von fünf Wartenden vor Ihnen ein Schlafproblem.4 Wenn Sie eine Schulklasse der Mittelstufe betreten, wälzt sich die Hälfte der Teenager vor Ihnen nachts hin und her.5 Und auch sonst erfüllt ungefähr einer von zehn die strengen diagnostischen Kriterien für Insomnie beziehungsweise Schlaflosigkeit.6

Könnte ich es in puncto Schlaf locker mit dem Regenwurm aufnehmen, hätte ich dieses Buch nie geschrieben. Und wenn Sie mühelos schlafen könnten, hätten Sie vermutlich nie danach gegriffen.

Irgendwie hat der Mensch, die einzige Tierart mit Insomnie, das Schlafen zu einer komplizierten Angelegenheit gemacht.7 Zum Beispiel indem er den Schlaf als Zeitverschwendung abstempelt, als Versuchung, der es nicht nachzugeben gilt.

Immer wenn ich wirklich überhaupt nicht mehr schlafen konnte, setzte ich mich aufs Sofa, klappte meinen Laptop auf und sagte mir: Na dann eben nicht. Dann mach ich eben was Sinnvolles. Und da saß ich dann, missgelaunt und zerknautscht. Ein Kind, das sagt: Ich will überhaupt nicht mehr auf deine blöde Party!

02:00

SCHLAF ALS ZEITVERSCHWENDUNG

@elonmusk

the colour orange is named after the fruit

Ich starrte auf diese Meldung, die ohne jeden Kontext in meiner Timeline erschien. Gefolgt von Hunderten von Reaktionen, unter anderem:

@moment_in_time

Go to sleep lol

@yoboibleach

Elon what the Frick tis 3am and u tweet that does Elon ever sleep?

Nein, Elon schläft nie. Der Firmenchef von Tesla und SpaceX ist nicht nur für seine Genialität und sein Arbeitspensum berühmt, sondern auch für seine unverständlichen nächtlichen Tweets. Regelmäßig werden sie von Fans mit der Botschaft Elon, go to sleep beantwortet: Elon, geh schlafen.

Aber Schlaf betrachtet der Unternehmer als Zeitverschwendung. In einem Interview mit der New York Times sagte Musk, seine Wochenarbeitszeit betrage 120 Stunden, und in seinen Nächten habe er häufig die Wahl zwischen «gar keinem Schlaf und Ambien», das bekannte Schlafmittel, das bei uns unter dem Namen Stilnox verkauft wird.8

Der Versuch, den Schlaf zu steuern, ist jahrhundertealt, auch wenn der früher ganz anders aussah als heute. Es gab eine Zeit, in der Musks Einstellung ganz normal war. Vor allem im 19., 20. Jahrhundert galt es als Zeichen von Schwäche, dem Schlafbedürfnis nachzugeben, während die Fähigkeit, wachbleiben zu können, höchst begehrt war. Noch immer gibt es Menschen, die dem Schlaf nicht hinterherhecheln, sondern ihn verachten.

Donald Trump zum Beispiel kultiviert bereits seit Jahren das Image des top dog, der weit über Schlaf erhaben ist. Er schläft bloß sechs Stunden die Nacht. Das schrieb er zumindest in seinem ersten Bestseller, Trump: The Art of the Deal. Aber das war im Jahr 1987. 2004 brachte er ein neues Werk heraus, Trump: Think Like A Millionaire, in dem er schrieb, höchstens vier Stunden zu schlafen. Mehr Stunden sollten wir nur dann im Bett verbringen, wenn wir gerne Nobodys bleiben wollen, an also-ran in life. Im letzten Werk aus seiner Feder, Think Big and Kick Ass in Business and Life, ist Trumps Schlafbedürfnis auf drei Stunden geschrumpft. (Ich warte noch auf den Moment, in dem er verkündet, während seiner Präsidentschaft überhaupt nicht geschlafen zu haben.)

Denn so engagiert ist er. «Wenn Sie lieben, was Sie tun, werden Sie vermutlich nicht mehr als drei oder vier Stunden schlafen.»9 Erschöpfung als Motivationsproblem.

Diese erfolgreichen Unternehmer schlafen so gut wie gar nicht. – 5 bizarre Schlafgewohnheiten erfolgreicher Menschen. – How Much Sleep Do Millionaires Get? – So zählt die Elite Schafe. – How Many Hours Do Celebrities Sleep?

Nicht sehr viele, wenn wir diesen Aufzählungen glauben dürfen. Jack Dorsey (Twitter): vier bis sechs Stunden pro Nacht. Tom Ford (der Modedesigner): drei Stunden. Richard Branson (Virgin): fünf bis sechs Stunden. Winston Churchill kam mit vier Stunden Schlaf aus, und Napoleon schlief auch selten länger.

Schwer zu sagen, wie viel der Mensch vor Beginn der Neuzeit geschlafen hat, aber viele Schätzungen gehen von um die sieben Stunden aus10, also weniger als die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen acht. Die paradiesischen Zeiten, in denen der Mensch unbehelligt von Arbeit, Lärm und Schmerz nach Herzenslust schlafen konnte, hat es nie gegeben. Auch die Vorstellung, dass Schlaf Zeitverschwendung ist, ist nicht neu.11 Doch die eigentliche Verhöhnung des Schlafs kam erst ab dem 18. Jahrhundert so richtig in Mode. Und das nicht zufällig, denn es hatte einen praktischen Nutzen: Die Vorstellung, dass ein echter Kerl mit vier Stunden auskommt, passte perfekt zu den Anforderungen der industriellen Revolution an die Arbeiter. Wer in teure Dampfmaschinen und Fabriken investiert hatte, konnte das Geld am schnellsten wieder reinholen, wenn er sie Tag und Nacht laufen ließ. Baumwollfabriken und Schmieden wurden rund um die Uhr betrieben. Und das funktionierte am besten, wenn die Menschen, die die Produktion aufrechterhielten, möglichst viel Ähnlichkeit mit den von ihnen bedienten Maschinen aufwiesen und einen eisernen Rhythmus durchhielten. Die Maschinen liefen Tag und Nacht, und um den Schlaf ins selbe Korsett zu pressen, kam der Wecker in Mode.

Nicht nur die Fabriken, sondern auch die Läden in den großen Städten blieben ab dem 18. Jahrhundert immer öfter bis nach Mitternacht geöffnet, und die Entwicklung, die damals begann, sollte nie mehr zum Stillstand kommen. Sie beschleunigte sich sogar noch, als um 1880 die Glühbirne aufkam. Überall, wo sie aufglimmte, ließ sich die Dunkelheit mit einem Mal problemlos und durchaus bezahlbar verbannen.12

Im Grunde war das Einzige, das einem perfekten Wirtschaftssystem noch im Wege stand, diese seltsame Angewohnheit des Menschen, innerhalb von 24 Stunden regelmäßig das Bewusstsein zu verlieren. Ließ sich darauf nicht verzichten?13

Der Erfinder der Glühbirne, Thomas Edison, bejahte das. In den vielen Interviews, die er in seinem Leben gab, behauptete er gern, der Mensch brauche gar keinen mehrstündigen Schlaf. «Ein paar Minuten oder dann und wann eine Stunde Ruhezeit genügen.» Und wo er schon dabei war: Warum gingen die Leute eigentlich überhaupt noch ins Bett? Diese Angewohnheit sei bloß entstanden, weil der Mensch vor Erfindung der Glühbirne nichts Besseres mit seiner Zeit anzufangen wusste. In Zukunft würden wir mit dieser absurden Beschäftigung bestimmt bald kurzen Prozess machen. Schlaf, so glaubte der Geschäftsmann, sei eine Absurdität, eine schlechte Angewohnheit. Wir könnten das Joch dieser Knechtschaft zwar nicht einfach abschütteln, aber irgendwann würden wir es abschütteln.14

Er selbst konnte davon nur profitieren. Und er war auch nicht der Einzige, der ein großes Interesse am Ideal des unermüdlichen Arbeiters hatte. Je länger der Tag, desto mehr Zeit für Produktion und Konsum. Und als der große Erfinder verkündete, dass 18-Stunden-Arbeitstage eingeführt werden sollten, griffen die Zeitungen das dankbar auf.

Auch Autoren populärer Ratgeber verkündeten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, wie nutzlos Schlaf sei, und wie wenig Zeit wir ihm widmen sollten. Zwei Stunden reichen vollauf, hieß es. Starautor Dale Carnegie schrieb in seinem Bestseller Sorge dich nicht – lebe! aus dem Jahr 1948, dass wir «keine Ahnung haben, wie viel der Einzelne schlafen muss. Ob wir überhaupt Schlaf brauchen!»15

In der Zwischenzeit ist unsere Schlafdauer weltweit geschrumpft wie alles, womit sich kein Geld verdienen lässt. Im Lauf des letzten Jahrhunderts haben wir durchschnittlich ein Fünftel unserer Schlafdauer eingebüßt, so die Weltgesundheitsorganisation. Schon 1998 warnte sie, die Hälfte der Erwachsenen in den Industrieländern leide an Schlafstörungen. Die offizielle Empfehlung lautet acht Stunden Schlaf pro Nacht. Alles unter sieben Stunden gilt als «Schlafentzug» und damit als schädlich.16

Dennoch schlafen rund zwei Drittel der Niederländer sieben Stunden oder weniger pro Nacht. Beinahe ein Drittel schläft sogar nur sechs Stunden oder weniger.17

Nicht nur die Nächte schwinden dahin, auch der Mittagsschlaf stirbt aus. 2006 beschloss die spanische Regierung, die Siesta bei Beamten zu verbieten. Der japanische Mittagsschlaf, inemuri genannt, wird zunehmend verachtet oder sogar verboten. In China war ein Mittagsnickerchen 1950 noch im Grundgesetz verankert, aber auch dieses Recht erodierte, und die Pausendauer wurde von drei Stunden auf eine verkürzt.18

Deshalb gibt es kein Büro ohne Kaffeemaschine. Das schwarze Gebräu – nach Öl das meistgehandelte Produkt der Welt, so der Schlafforscher Matthew Walker – sorgt nämlich dafür, dass wir die eigene Müdigkeit nicht mehr spüren.19

Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht mehr da wäre. Sie wird bloß kaschiert.

Stellen Sie sich Ihren Kopf als Sanduhr vor, die sich ab dem Aufwachen füllt. Je voller sie wird, desto müder werden Sie. Der «Sand» heißt Adenosin, ein Stoff, der sich mit jeder Stunde, die Sie wach sind, im Gehirn anreichert. Je mehr Adenosin, desto stärker spüren Sie: Es wird Zeit, ins Bett zu gehen. Erst wenn Sie schlafen, kann das Adenosin abgebaut werden. Schlafen wir hingegen nicht lange genug, bleibt etwas davon übrig, mit dem wir dann am nächsten Tag aufstehen. Und deshalb morgens dringend Kaffee brauchen.

Koffein sorgt dafür, dass wir vorübergehend unempfänglich für Adenosin werden. Das Koffein besetzt nämlich die Rezeptoren, die normalerweise auf Adenosin reagieren. Das sorgt dafür, dass diese das noch im Gehirn befindliche Adenosin nicht aufnehmen können, und Sie (vorübergehend) gar nicht merken, wie müde Sie sind. Inzwischen läuft die Sanduhr noch mehr voll, der «Schlafdruck» erhöht sich konstant.

Kaffee bringt die Müdigkeit nicht zum Verschwinden, sondern überspielt sie nur. In den Augen der Schlafforscher ist er deshalb nicht bloß irgendein Getränk, sondern eine der beliebtesten Drogen der Welt.20

03:00

SCHLAF ZUR STEIGERUNG DER LEISTUNGSFÄHIGKEIT

Kaffee heilt Sie von Schlaf, Red Bull verleiht Ihnen Flügel, und schlafen können Sie, wenn Sie tot sind. Aber seit einigen Jahren ist die Einstellung, Schlaf gleich Zeitverschwendung, wieder auf dem Rückzug: Messungen und Tests beweisen immer wieder, dass sich kurze Nächte nachteilig auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit auswirken. Daher gibt es gerade eine Flut von Veröffentlichungen, die hartnäckig auf der Wichtigkeit von Schlaf bestehen – darauf, dass Schlafmangel gefährlich ist.

In den Jahren, in denen ich immer schlechter schlief, konnte ich regelrecht zusehen, wie sich die Schlagzeilen zum Thema Schlaf veränderten: Fast alle erfolgreichen Menschen stehen früh auf war out, jetzt hieß es Sleep Your Way to Success. Schlaf powert Ihr Sozialleben, ja sogar Schlafen oder sterben.

Während früher galt, dass wir so wenig wie möglich schlafen sollen, heißt es heute: Schlafen so viel es nur geht.

Ich erfahre in allen Einzelheiten, wie ungesund mein Schlafrhythmus ist, als ich an einem regnerischen Frühlingstag bei Gegenwind zu einem Bürogebäude beim Amsterdamer Westerdok radle. Dort empfängt mich Els van der Helm, eine Frau um die dreißig, deren Niederländisch mit englischen Begriffen durchsetzt ist, weil sie als Schlafforscherin lange in Harvard war.

Während der Regen gegen die Fenster prasselt, sagt Van der Helm: «Neurowissenschaftliche Forschung kann heute sehr gut zeigen, welche Auswirkungen Schlafmangel hat.» Sie selbst wurde in diesem Thema promoviert. «Und diese Auswirkungen sind echt dreadful.

Zunächst geht eine verkürzte Nacht auf Kosten Ihrer Fähigkeit, zu denken, zu organisieren und Probleme zu lösen. All das sind nämlich Prozesse, für die der präfrontale Cortex zuständig ist.»

Das ist der Teil des Gehirns, der hinter der Stirn liegt. Der präfrontale Cortex ist evolutionsgeschichtlich einer der jüngsten Areale des menschlichen Gehirns. Er befähigt uns, alle möglichen komplexen Gedächtniskunststücke zu vollbringen, wie Pläne schmieden und logisch denken. Aber er ist nicht sehr robust: Er scheint außergewöhnlich empfindlich auf Schlafmangel zu reagieren. Und das geht schnell: Nach neunzehn Stunden Wachsein sind wir genauso aufmerksam wie jemand mit 0,8 Promille im Blut, also wie jemand, der offiziell betrunken ist.21 Selbst die eine Stunde, die uns nach der Sommerzeit-Umstellung fehlt, schlägt sich in einer erhöhten Sterblichkeit am nächsten Tag nieder – hauptsächlich durch eine Zunahme von Autounfällen.22

Wir selbst merken in dem Moment vermutlich gar nicht, dass unsere Fähigkeiten nachlassen – auch das ein Merkmal von Schlafmangel, so Van der Helm.

«Tests, bei denen Probanden zwei Wochen lang nur vier oder sechs Stunden pro Nacht schlafen durften, haben ergeben, dass sie bei Konzentrationsaufgaben immer mehr Fehler machten. Irgendwann sinkt die Leistung wirklich dramatisch ab. Dennoch beharrten sie darauf, dass alles in Ordnung sei: Wir gewöhnen uns einfach an die Müdigkeit. Irgendwann wissen wir nicht einmal mehr, wie es sich anfühlt, wirklich ausgeruht zu sein. Sie selbst haben vielleicht den Eindruck mit ausreichend Kaffee noch wunderbar zu funktionieren, aber das kann auch an dem durch Schlafmangel verminderten Urteilsvermögen liegen.»23

Und das logische Denken ist nicht das Einzige, was weniger gut funktioniert: Nach einer unruhigen Nacht sind Sie auch nicht mehr so gut in der Lage, soziale Signale von anderen richtig zu interpretieren. Darüber hinaus neigen Sie dazu, sich mehr auf negative Dinge zu konzentrieren, an die Sie sich im Nachhinein auch besser erinnern können als an positive, so Van der Helm.

Auch die Selbstbeherrschung lässt nach. «Menschen, die zu wenig schlafen, stellen eine ganze Bandbreite von Kompensationsverhalten zur Schau. So wippen sie die ganze Zeit mit dem Fuß, um wach zu bleiben. Sie essen auch mehr, konsumieren mehr Kaffee, mehr Zucker, betreiben online mehr social loafing, also mehr «soziales Faulenzen», erzählt mir Van der Helm.24 Beschämt denke ich an die vielen Schokoriegel in meiner Schreibtischschublade.

«Wie gesagt, Schlafmangel wirkt sich besonders stark auf Ihren präfrontalen Cortex aus», fährt sie fort. «Aber dieses Hirnareal ist nicht nur für komplexe Dinge wie Nachdenken zuständig. Es hat noch andere wichtige Funktionen, wie Ihr Gefühlszentrum, die Amygdala, zu kontrollieren. Wer schlecht geschlafen hat, kann Gefühle schlechter ‹einbremsen› und reagiert daher impulsiver und weniger beherrscht.» Verschiedene kleinere Studien legen nahe, dass Versuchspersonen, die wach gehalten werden, am nächsten Tag mehr Geld ausgeben, vor allem für Junkfood und Spontankäufe. Van der Helm verweist auch auf Untersuchungen, die nahelegen, dass Führungskräfte, die schlecht geschlafen haben, am nächsten Tag ungeduldiger und gereizter sind, ihren Untergebenen gegenüber aggressiver auftreten.25 Sofort habe ich Mitleid mit Elon Musks Kollegen.

Die Folgen von zu wenig Schlaf addieren sich auf. Forschungen haben ergeben, dass ein anderer wichtiger Teil des Gehirns, der Hippocampus, bei lang anhaltendem Schlafmangel schrumpft (zumindest bei Versuchstieren). Das sind schlechte Nachrichten für die Auffassungsgabe, denn der Hippocampus ist für die Verarbeitung und Speicherung von Informationen unverzichtbar. Deshalb lässt Ihre Fähigkeit Neues zu lernen nach, wenn Sie wenig schlafen.26

Nicht nur Ihr Gehirn leidet – im Grunde scheint es keine Körperfunktion zu geben, die bei Schlafmangel nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Herz- und Gefäßerkrankungen, Diabetes, Übergewicht, Krebs, Alzheimer, Depressionen: Jede durchwachte Nacht ist ein zusätzliches Los für diese gruselige Schicksalslotterie. So scheinen Krankenschwestern, die regelmäßig Nachtschichten machen, ein um 60 Prozent höheres Brustkrebsrisiko zu haben. Je mehr Nachtschichten, desto größer das Krebsrisiko.27

Sich selbst um den Schlaf zu bringen scheint so schädlich zu sein, dass das Guinness-Buch der Rekorde Rekordversuche in Sachen Wachbleiben nicht länger akzeptiert. Fallschirmspringen aus 39 Kilometern Höhe? Immer gerne! Aber Schlafentzug gilt als zu gefährlich.28

Im Eilzug-Tempo werden deshalb Schlafkurse, Gesundheitskampagnen und Abhandlungen über den Schlaf herausgebracht. Forschungsanstalten beziffern den Gewinn, den ein Betrieb pro Arbeitnehmer einbüßt, der zu wenig schläft und aufgrund von Fehlzeiten, Gesundheitsbeschwerden, Unfällen sowie nachlassender Konzentration weniger wegschafft.29

Auch Van der Helm besitzt momentan ein Unternehmen, das Schlaftrainings anbietet, die die Produktivität der Teilnehmer erhöhen sollen. Und die Nachfrage nach solchen Trainingseinheiten ist groß. Nach all den Artikeln und Zeitungsberichten, die in den letzten Jahren über die negativen Folgen von Schlafmangel erschienen sind, begreifen die Firmen allmählich: nicht lange Tage, sondern lange Nächte sind der Schlüssel zu Turbo-Mitarbeitern. Unternehmensberatungen preisen die Nachtruhe als «unkomplizierte, einfache und günstige Methode, um die Produktivität anzukurbeln».30

1968, im Jahr der Studentenproteste, tauchte am Streckenabschnitt der Pariser Metro zwischen Innenstadt und Banlieue folgendes Graffito auf:

Vous dormez pour le patron.31

«Sie schlafen für den Chef.»

Inzwischen dürfen wir das getrost wörtlich nehmen. Es gibt bereits Firmen, die ihren Angestellten für jede Nacht, in der sie mindestens sieben Stunden schlafen, einen Bonus zahlen. Was diese allerdings beweisen müssen, indem sie einen Sleeptracker tragen, damit ihr Chef ihnen bis ins Bett folgen kann.32

Nicht nur in den Niederlanden bieten Krankenversicherungen Beitragsrabatte an, und zwar jedem, der über eine TrackApp «Bonuspunkte» sammelt – unter anderem durch ausreichend Schlaf.

Wer dagegen nicht auf seine Schlafhygiene achtet, muss büßen. Als Elon Musk das Interview zu seiner 120-Stunden-Woche gab, rief das großen Protest hervor. Investoren machten sich öffentlich Sorgen über seine geistige Verfassung, und die Tesla-Aktie fiel um 9 Prozent.33 Unvernünftig, unverantwortlich, hieß es in der Presse. Go to sleep, Elon zwitscherte Twitter.

Im Grunde ist die Motivation derer, die verzweifelt versuchen einzuschlafen, dieselbe wie die derjenigen, die den Schlaf meiden, nämlich die, die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern. Erst haben wir geglaubt, dass uns der Schlaf um die Zeit bringt, alles Mögliche erledigen zu können. Inzwischen glauben wir, dass Schlafmangel uns die dafür nötige Energie raubt. Ob wir nun verzweifelt versuchen zu schlafen oder ihn vielmehr meiden – unterm Strich ist das Ziel dasselbe: Wir sollen aus den wachen Stunden so viel wie möglich rausholen. Schlaf als winziger Schritt Richtung Supermensch.

Damit ist der Schlaf zum zigsten Gebiet geworden, auf dem wir Leistung erbringen oder aber scheitern können.

04:00

DEM SCHLAF HINTERHERHECHELN

Ich hasse es, zu scheitern, und ich hasse es, müde zu sein. Also habe ich mich eifrig einer neuen Aufgabe verschrieben: Du sollst schlafen.

Gut, aber wie? Ich las mich ein. Ich durchforstete Artikel und Bücher wie Das große Buch vom Schlaf von Matthew Walker, ein Bestseller über die enorme Bedeutung des Schlafs. Mit einer Fülle von Forschungsergebnissen bläut er uns ein, wie ungesund es ist, wach zu liegen. Aber er ist ein Optimist: Schlaf ist eine Frage guter Angewohnheiten. Schlafen wir nicht gut, so Walker, fehlt es vermutlich an «Schlafhygiene» – gemeint ist die Art, wie wir uns auf die Nacht vorbereiten. Sein Buch endet daher mit einer Liste von Tipps, die den Schlaf in greifbare Nähe bringen sollen. Sie dürften sie in etwa kennen, weil es auch in Zeitschriften und im Internet nur so davon wimmelt: Nicht rauchen, nicht trinken. Abends keinen Kaffee und keine schweren Mahlzeiten mehr. Sport treiben, aber nicht kurz vor dem Schlafengehen. Darauf achten, dass wir tagsüber etwas Sonne tanken. Einen festen Rhythmus beibehalten. Schwere Vorhänge anschaffen und derlei mehr.

Ich saugte das alles förmlich auf. Irgendwann kannte ich sämtliche Fakten: Dass achtzehneinhalb Grad die ideale Temperatur für Schlafzimmer ist; dass es sieben Stunden dauert, bis die Hälfte der Tasse Kaffee verstoffwechselt ist; dass das künstliche Licht von Lampen und Bildschirmen den Schlafrhythmus durcheinanderbringen kann usw.

Ich wusste es nicht nur, ich verhielt mich auch entsprechend. Wenn die Lösung in guten Angewohnheiten bestand – prima! Dann würde ich meine Angewohnheiten eben entsprechend anpassen. Ich strich erst den Kaffee, dann den Tee, schließlich sogar meine geliebte tägliche Ration pure Schokolade. Ich kaufte mir eine Brille mit Blaulichtfilter und installierte eine App, bei der mir ein Brite namens Andy erzählte, meine Beine würden schwer.

Ich kann darüber hinaus noch viel mehr Tipps aufzählen, die ich in den letzten Jahren ausprobiert habe, um schlafen zu können.

Mehr Bewegung.

Weniger Zucker.

Vor dem Schlafengehen etwas Eiweißhaltiges essen.

Ein fester Rhythmus.

Ein kühles Schlafzimmer. Ein dunkles Schlafzimmer. Ein leises Schlafzimmer. Ohrstöpsel. Eine Schlafmaske. Dunkle Vorhänge.

Meditieren.

Nicht meditieren, einfach ganz normal mit Freunden ausgehen.

Durcharbeiten, bis die Augen brennen. Rechtzeitig aufhören und sich Zeit für ein ausgedehntes Schlafritual nehmen. Eine Tasse heiße Milch, eine Stunde Lesen, eine warme Dusche, Lavendelöl auf dem Kissen.

Aufstehen, wenn es nicht klappt. Erst recht liegen bleiben, wenn es nicht klappt. Dem Bett nicht entfliehen, denn das, wovor man flieht, wirk dadurch nur noch beängstigender. Von tausend rückwärtszählen. Von zehntausend rückwärtszählen. In Dreierschritten.

Aufschreiben, woran wir denken. Alles, woran wir denken, als unwichtig ad acta legen.

Kognitive Verhaltenstherapie.

Melatonin. Magnesium. Baldrian. Hopfen. Kamille.

Joints aus dem offenen Schlafzimmerfenster rauchen, bis wir schlichtweg zu high sind, um noch in der Senkrechten zu bleiben.

Ich könnte diese Liste endlos fortsetzen.

Der Sandmann kam nicht. Trotz meiner Bemühungen um Schlafhygiene, blieb ich anscheinend zu unhygienisch, um ins Bett gehen zu können.

Ich beschloss, es mit schwereren Geschützen zu probieren, auch wenn die nicht legal waren.

Eine Kollegin erzählte mir, sie schwöre auf THC, den Wirkstoff von Cannabis. Ihr zufolge war das das Cillit BANG in Sachen Schlafhygiene. Diskret besorgte sie mir ein kleines Glasfläschchen mit einem dunkelgrünen zähflüssigen Öl. Ein paar Stunden bevor ich an diesem Abend zu Bett ging, tropfte ich mir mit Hilfe der Pipette zwei Tropfen davon unter die Zunge. Der Geruch nach fauligem Gras stieg mir in die Nase, bis in meine Nebenhöhlen stank es nach Gras.

Ich musste an einen früheren Mitbewohner denken: der beste Schläfer, den ich je gekannt habe. Zu jeder beliebigen Uhrzeit war er auf dem Sofa unserer heruntergekommenen Brüsseler Wohnung vorzufinden, den Kopf zwischen den Kissen, die Beine über der Lehne baumelnd. Von Zeit zu Zeit stand er auf, um die Cannabispflanzen im Garten vor gefräßigen Schnecken zu beschützen, auch wenn er vom vielen Kiffen an einigen Tagen Mühe hatte, ihnen zuvorzukommen.

Erwartungsvoll lag ich im Bett. Der Anfang war herrlich. Ich spürte die Entspannung in den Muskeln um meine Wirbelsäule, so als wären sie eine Reihe von Schlössern, die klick-klick-klick eines nach dem anderen aufgeschlossen werden.

Ich entspannte mich mehr und mehr. Ich wurde dermaßen relaxed, dass ich glaubte, gar keine Wirbelsäule mehr zu haben.

Nach und nach lösten sich die Knochen in meinem Körper auf. Ich war keine Frau mehr, die verspannt im Bett lag. Ich war überhaupt keine Frau mehr. Ich bildete mir ernsthaft ein, zur Schnecke geworden zu sein. Lieber mal nachschauen. Es wäre hilfreich gewesen, die Augen zu öffnen, aber das ging nicht mehr. Hatte ich noch Augen? Oder musste ich sie wie eine Schnecke an Fühlern aus meinem glitschigen Leib stülpen? Nachdem ich kurz über meine Metamorphose nachgedacht hatte, beschloss ich, keine Wirbellose mehr sein zu wollen. Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, aber auch das ging nicht mehr. Schnecken rufen nicht. Schließlich schlief ich zum Glück doch noch ein.

Es war eine beängstigende Erfahrung, und die Lethargie der Schneckenfrau klebte noch zwei Tage an mir. Ich beschloss, keine weiteren Experimente mehr zu wagen. Doch als der Druck groß genug war, vergaß ich meine guten Vorsätze wieder.

Es gab da eine Nacht, die ich auf dem Sofa einer Freundin verbrachte. Ihre schwarze Katze, die diesen Eindringling an ihrem Stammplatz so gar nicht leiden konnte, trippelte lautlos auf der Sofalehne hin und her. Sie hielt das lange durch, dann setzte sie sich, schaute mich aber weiterhin an. Ab und zu schlug ich die Lider auf und sah die grüne Membran hinter ihren Augen im Schein der Straßenlaternen aufleuchten. So langsam wurde mir das unheimlich. Katzen waren schließlich Raubtiere. Die Kehle schnürte sich mir zunehmen zu. Auch meine Nase ging zu, und ich bekam nur noch mühsam Luft. Als meine Freundin schließlich nachschauen ging, woher dieses Pfeifen kam, erschrak sie über mein aufgedunsenes Gesicht und gab mir ein Allergiemittel.

Auf diese Weise stellte ich fest, dass ich nicht nur auf Katzen allergisch bin, sondern auch von Antihistaminika furchtbar träge werde. So träge, dass ich im Nu einschlafe.

Eine Zeitlang nahm ich Allergiemittel zum Einschlafen, auch wenn gerade keine Katze in der Nähe war. Doch selbst in diesem Fall waren die Nachteile zu massiv; die zähe Trägheit durch die Tabletten hielt fast 24 Stunden an. Wenn ich am Ende ohnehin müde wurde, konnte ich genauso gut einen weniger blöden Weg mit demselben Ergebnis wählen: Nachts einfach wieder aufstehen und etwas tun.

Diesen Ausweg nahm ich stufenweise: Zunächst drohte ich mit Aufstehen wie bei einem Streit, bei dem wir nur so tun, als würden wir gehen, in der Hoffnung, aufgehalten zu werden. Ich ging aufs Klo und kehrte zurück, in der Hoffnung auf eine Art Neustart, eine neue Chance.