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Was würdest du tun, wenn mit einem Mal nichts mehr funktioniert? Kein Licht, kein Kühlschrank, kein modernes Kommunikationsmittel mehr. Woher bekommst du nun Nahrung? Und wie wertvoll wird die Sicherheit die einem eine Gemeinschaft geben kann? Mit diesen Fragen setzten sich Ashley und Markus, zwei junge Erwachsene aus Zürich, auseinander, nachdem der Strom durch eine elektromagnetische Streuung eines Meteoriten, der die Erdatmosphäre streifte, aus bleibt. Sie begeben sich auf eine Reise, aus ihrem alten Leben in der Stadt, hinaus aufs Land wo sie bei ihrem Onkel, einem bodenständigen Landwirt, Unterschlupf finden und eine für sie komplett neue Welt entdecken.
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Seitenzahl: 473
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Die geschilderten Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Verloren
Unwissenheit
Der Plan
Aufbruch
Geisterbahn
Angriff
Geschichten
Der Nachbarsjunge
Trauma
Die Geschichte dahinter
Erste Annäherung
Ausgeflogen
Das Gesetz des Bauern
Du gehörst nicht hierher
Musik
Das Geschenk der Natur
Das Geheimnis
Überzeugungen und Hungersnöte
Würmer
Ungeahnte Möglichkeiten
Verhandlung
Aufstände
Unsicherheit
Teure Sicherheit
Verkaufte Freiheit
Notlage
Entscheidungen
Der Tod
Abstimmung
Fr 31.März 2045
Es dauerte viel zu lange. War viel zu anstrengend gewesen. Doch Ashleys Eltern wollten und wollten nicht aufbrechen. Beinahe vermutete Ash, dass ihre Eltern gar nicht gewillt waren, in den Urlaub zu fahren.
»Bist du dir sicher, dass du alles im Kühlschrank hast, was du brauchst?« - »Du weißt, dass du jeweils am Montag und Donnerstag für deinen Bruder kochen musst? Dann kommt er von der Arbeit direkt nach Hause.« - »Vergiss bitte nicht, den Kühlschrank zu kontrollieren, ob er die richtigen Bestellungen abschickt.« - Und, und und. Ash ließ die Hinweise und Anweisungen stoisch über sich ergehen, unterdrückte genervtes Augenrollen und nickte, wenn ihre Mutter sie misstrauisch beäugte.
Dann endlich. - Endlich nahm Mum sie in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, den Ash widerwillig über sich ergehen ließ. Ihr Vater verstrubbelte ihr das lange braune Haar zum Abschied und dann waren sie fort. Aus der Tür raus, der Motor des Autos startete nur einen Moment später und dann fuhren sie aus der Ausfahrt des stattlichen Familienhauses, das am Rande der Stadt mit dem besten Ausblick auf den See dastand.
Sturmfrei. Endlich. Nach so langer Zeit.
Ashley seufzte erleichtert, verdrehte noch einmal die Augen und sah sich dann einen Moment lang befreit im großen Wohnzimmer um.
»James, schalte den Fernseher ein. Wiederholung der Schattenjäger.« Auf ihr Kommando hin leuchtete sofort der riesige Fernseher auf und das gewünschte Programm strahlte über den Bildschirm.
»Wünschen sie sonst noch etwas, Ashley?«, erklang die monotone Stimme des Housekeepers. Ash schüttelte den Kopf, was das System durchaus erkennen konnte. Schnell huschte Ashley in die Küche, öffnete den Schrank und ergatterte sich eine Packung Chips. Mit ihrer Errungenschaft aus der Küche setzte sie sich auf das Sofa und zog sich ihre Lieblingsfolge zu Gemüte.
»Ich werde die Tür aus Sicherheitsgründen wieder verschließen«, informierte sie das Housekeeper-Programm und sogleich konnte Ash das Surren des sich schließenden Schlosses hören.
»Hättest du schon lange tun sollen. Schließlich ist das deine Aufgabe. Dafür haben dich meine Eltern angeschafft«, murrte Ash leise.
Das Housekeeper-Programm war eines der heutigen Standard-Systeme. Das Programm überwachte das Haus, managte die Fernsehprogramme, kommunizierte automatisch mit den Handwerkern, wenn etwas defekt war. Was angeschlossen war, erledigte es sogar an Haushalt. Die Waschmaschine musste nur noch befüllt werden, das Essen nur vorbereitet und in den Ofen geschoben werden. Den Rest tat James. So nannte die Familie Neuer das Programm. Wie alle Systeme und Programme reagierte auch dieses auf Stimmen. Es wurde registriert, wer über das Programm verfügen durfte und dieses horchte nur auf die Stimme des Auftraggebers.
»Entschuldigen Sie, Ashley. Ich werde in Zukunft schneller die Tür verriegeln.« Und das Programm war sogar lernfähig. Ashley sah auf den kleinen grauen Kasten, der nahe der Küche an der Wand angebracht worden war. Ein blaues Licht blinkte. Normalbetrieb.
»Gut. Und jetzt sei still, James. Ich will fernsehen.« Als der Abspann ihrer Sendung lief, zappte sie ein wenig durch das Programm. Natürlich wieder mit der Hilfe von James, der sie über alles informierte. Sie verfolgte, auf die Empfehlung von James hin, eine Zeit lang eine Detektivsendung, dann schaltete sie um auf eine Dokumentation und als ihr diese zu langweilig wurde, wechselte sie einfach wieder.
»… wird uns heute Nacht streifen. Azoktai wurde das erste Mal durch Astronomen vor zwei Jahren entdeckt. Die Wissenschaftler waren durch die Kollision zweier Asteroiden auf ihn aufmerksam geworden. Durch die Berechnungen der Astronomen soll der Splitter des ursprünglichen Asteroiden Azoktai die Erde um exakt 03:23 streifen. Wir können uns glücklich schätzen, wenn der Splitter die Erde nur streift, denn seine Größe könnte eine Katastrophe zur Folge haben. Ähnlich dem Einschlag vor 65 Millionen Jahren, was das Aussterben der Dinosaurier zur …« Weiter kam der Sprecher nicht, denn Ash schaltete bereits wieder um. Humbug, schoss es ihr durch den Kopf. Meteoriten oder was auch immer. Steine aus dem All interessierten sie nicht. Endlich wurde es sieben Uhr und ihre Sendungen starteten, gleichzeitig betrat ihr Bruder Markus das Haus.
»Hi«, begrüßte Ash ihn, ohne aufzusehen. Markus brummte etwas, hängte die Jacke auf und kam herübergeschlendert. James schloss sofort die Tür wieder. Lässig sprang Markus über die Lehne auf das schwarze Ledersofa neben sie und warf einen kurzen Blick in die Glotze, ehe er hämisch grinste und zu Ashley sah.
»Kleines Schwesterchen. Topmodels steht dir nicht. Du kleiner Emo solltest eher so etwas wie die Wahrsagerkanäle schauen. James, umstellen auf den Sportkanal«, zog er sie auf, worauf er von ihr mit einem giftigen Blick aus ihren schwarz geschminkten Augen traktiert wurde. Das Fernsehprogramm wechselte.
»Vergiss es. Kannst ja hoch in dein Zimmer und deine Hip Hop Mucke in dein kleines bedeppertes Hirn dröhnen lassen. Dann gehst du mir wenigstens nicht auf den Zeiger«, fauchte sie zurück und an das Haus gewandt meinte sie: »James, wieder zurück.« Markus hob seine fein säuberlich gezupfte Augenbraue und grinste sie schräg an.
»Ist der Emo scheiße gelaunt? Hei, die Eltern sind weg. Lass mal ein wenig locker hier.« Gechillt legte er seine Füße auf den Salontisch.
»Du wirst aufputzen, wenn du so weiter machst«, entgegnete Ashley kühl und deutete mit ihrem Blick auf seine dreckigen Arbeitsschuhe, die er immer noch trug. Markus überging ihren Kommentar, stopfte ein paar Chips in seinen Mund und sah zum Fernseher.
»Unser Schätzchen wird dann schon aufräumen. Nicht wahr, James?« Die monotone Stimme erklang wieder.
»Wenn Ihr es wünscht, Markus, werde ich mein Möglichstes tun, um das Haus wieder zu säubern.« Markus ging nicht weiter darauf ein. Er musterte seine kleine Schwester einen Augenblick, ehe er eine weitere Handvoll Chips nahm.
»In den Zeitungen war heute was wegen eines Asteroiden, der die Erdatmosphäre streifen soll. Hast du davon gehört? Soll ziemlich spektakulär aussehen am Nachthimmel«, plapperte er weiter. Ashley stöhnte genervt auf.
»Markus! Wenn es dich nicht interessiert, dann geh. Ich will hier fernsehschauen!«
»Hei! Easy. Ist ja schon gut. Ich geh ja schon«, murrte er und erhob sich aus dem Sofa und trollte sich. »Ja, sie spinnt mal wieder rum«, konnte sie ihn reden hören. Wütend sah sie ihm hinterher.
»Mit wem redest du da über mich?«, schrie sie ihm hinterher. Markus sah über die Schulter zurück und grinste.
»Flavio. Kennst du eh nicht«, entgegnete er und verschwand dann auf der Treppe. Abermals seufzte Ash auf und versuchte, sich dann wieder auf ihre Fernsehsendung zu konzentrieren. Von wegen diese Sendung sei nichts für mich, maulte sie innerlich. Nur weil ich nicht Mainstream bin, heißt das noch lange nicht, dass mich die neuste Mode nicht interessiert.
»E, ruf Lea an.« Sofort aktivierte sich ihr E-Dot und verband sich mit Lea, ihrer besten Freundin. Die Stimme der schlaksigen Blondine erklang in Ashleys rechtem Ohr. Ash drückte den E-Dot etwas besser an ihre Ohrmuschel.
»Was gibts, Ash?«
»Wollte nur ein wenig quatschen. Mir ist langweilig. Was tust du heut Abend so?«, wollte sie von Lea wissen. Während die mageren Topmodels über den Bildschirm stolzierten, wartete Ash auf Leas Antwort.
»Ich bin mit Brandon und Jenny unterwegs. Kennst du das Royal?«, informierte sie nach einem Moment. Ash schüttelte den Kopf. »Nee, kenn ich nicht. E, zeig mir das Royal, von dem Lea spricht.« Und sofort reagierte ihr E-Dot, suchte via GPS Leas Koordinaten und forschte nach Informationen über das Restaurant. Die Topmodels auf dem Fernseher verschwanden und anstelle erschienen Bilder eines schicken Restaurants, das wohl direkt am Seeufer lag. Für einen Moment konnte Ashley durch Leas E-Dot die Umgebung auf ihrem Fernseher erleben. Helle, cremefarbene Wände, rote Vorhänge und ein bombastischer Blick hinaus auf den See.
»Komm doch auch vorbei«, forderte Lea sie auf, als die Bilder wieder erloschen. Ashley seufzte.
»E, wie weit ist es bis zum Royal?« Ihr E-Dot spukte sogleich mehrere Routen aus. Mit dem Fahrrad, zu Fuß oder mit dem Bus. Schließlich war ihr E- Dot mit dem Housekeeper und Bella, dem Aston Martin ihrer Eltern verbunden und wusste, dass das Auto nicht in der Garage stand, da dies von den Eltern genutzt worden war, um zum Flughafen zu kommen.
»Nee du. Ich glaub, ich bleib zu Hause. Das Auto ist nicht hier«, nutzte sie als Ausrede. Lea akzeptierte ihre Entscheidung und so blieben sie einfach über die E-Dots verbunden und wechselten hin und wieder ein paar Worte. Nebst den Sendungen im Fernseher ließ sich Ashley hin und wieder Bilder von einigen ihrer Freunde auf den Bildschirm holen. Ihr E-Dot, welcher befugt war, den Bildschirm zu nutzen, half ihr dabei. In Sekundenschnelle durchsuchte der E-Dot das Internet und fütterte Ashley mit den Ergebnissen. Nachdenklich studierte sie gerade einen großen Garten, der auf dem Bildschirm erschien. Ein gut aussehender junger Mann saß dort unter einer alten Linde, gemeinsam mit seinen Mitbewohnern und grillte gemütlich mit ihnen.
Joshua. Wie gern sie ihm zusah. Und wie einfach es mit der modernen Technik geworden war. Kaum vorstellbar, dass ihre Eltern zu Jugendzeiten noch mit altmodischen Handys zurechtkommen mussten. Auf dem Bildschirm Nachrichten schreiben oder dann selbst Routen und Standorte heraussuchen. Mit dem E-Dot war dies so viel einfacher geworden. Wie der Hüter, oder auch Bella, das Auto, reagierte der E-Dot auf die Stimme. Sobald der kleine Knopf ins Ohr gedrückt wurde und man ihn mit der Stimme weckte, arbeitete er für einen. Mit einem einzigen Kommando konnte man neue Freunde finden oder blockierte andere, es erlaubte einem mit jemandem zu sprechen, egal wo auf der Welt dieser gerade war. Dies machte es natürlich auch einfacher, die Distanz zu ihrer älteren Schwester Silvia zu überbrücken und zu vergessen. Was war schon London von Zürich entfernt. Ein Katzensprung.
Ashley liebte es, die Fotos und Eindrücke ihrer Schwester zu betrachten und zu kommentieren. So fühlte sie sich, nach wie vor, nah und verbunden mit ihr. Wie sie es schon immer gewesen waren. Den Schmerz, der sie manchmal erfüllte, wenn Silvia nicht da war, konnte sie besänftigen, indem sie einfach nur mit ihrem E-Dot nach London reiste und dank der Satelliten Silvia verfolgen konnte. Es war ein gutes Gefühl, so bei ihr zu sein. Und auch Silvia war manchmal mit der modernen Technik ganz nahe bei ihr. Eine unsichtbare Verbundenheit, die so viel Nähe erschaffen konnte, auch wenn viele hundert Meilen dazwischen lagen. Verbunden mit der ganzen Welt und doch allein, wenn man es wollte. Man brauchte nur seinen E-Dot abzulegen und die Verbindung zur Welt war gekappt. Doch im Moment genoss es Ashley, sprach kurz mit Silvia und wurde sich einmal mehr bewusst, wie sehr sie sich ihre Schwester zurückwünschte. Wäre doch besser Markus gegangen. Dieser nervte sowieso nur.
Ihr Bruder drehte irgendwann die Musik auf in seinem Zimmer, jedoch hielt er sich zurück mit der Lautstärke, um sie nicht noch mehr zu ärgern, worüber Ashley dankbar war. Die Uhr zeigte beinahe 22 Uhr an, als er wieder aus dem oberen Stock kam. Frisch geduscht, gut duftend und gestylt. Wie immer mit seinem obligatorischen Old Skool Cap, den lockeren, tiefhängenden Hosen und dem Kapuzenpullover ausgestattet, wenn er nicht in Arbeitsklamotten steckte.
»Ich geh noch raus. Den Feierabend ausklingen lassen«, informierte er Ash kurz, ehe er die Jacke schnappte und verschwand.
Nachdem er gegangen war, schlich Ashley abermals in die Küche und holte sich eine Packung feiner Butterkekse. Sie konnte sich wirklich glücklich schätzen, sie nahm nicht zu von all dem ungesunden Zeug, das sie ständig in sich hineinstopfte. Zufrieden verbrachte die junge Ashley diesen Freitagabend, der noch so manches Problem mit sich ziehen würde. Nichtsahnend, dass sich ihr Leben schon bald brutal ändern würde.
Die Tragödie nahm ihren Lauf um beinahe Mitternacht. Ashley war vor dem Fernseher eingenickt und schreckte schlaftrunken aus einem Traum auf, den sie nicht mehr so richtig nachvollziehen konnte. Irgendein komisches, reißendes Geräusch weckte sie.
Verwirrt rieb sie sich die Augen und sah auf den Fernseher, der eine Liveübertragung einer Spielshow brachte. Ausgiebig gähnte Ashley, streckte sich und beschloss gerade, ins Bett zu gehen, als der Fernseher abschaltete - ohne ein Kommando ihrerseits. Unsicher runzelte sie die Stirn. Was war nun mit dieser verfluchten Flimmerkiste? War der Fernseher am Ende von ihren Eltern programmiert worden? Das würde ihr grad noch fehlen.
»James, was soll das? Ich hab nicht gesagt, du sollst ausschalten«, murrte sie gereizt und rieb sich die Augen. Sie erwartete bereits eine Gegenfrage, da ihr Befehl ungenau war, doch wo das Programm eine Antwort hätte geben sollen, erfüllte Stille den Raum. Verwirrt sah sich Ash im Wohnzimmer um.
»James?« Nichts. Verärgert stand Ashley auf. Natürlich musste genau dann ein Defekt an diesem verfluchten Programm sein, wenn die Eltern nicht zu Hause waren.
»E, wie spät ist es?«, wollte Ash von ihrem E-Dot wissen - doch auch dieser reagierte nicht. Unsicher nahm sie den kleinen Knopf aus dem rechten Ohr und studierte ihn einen Moment. Kein gelbes Licht, das anzeigte, dass er online war. Und auch kein rotes Licht, das darauf hingewiesen hätte, dass der Akku leer war. Nun doch sichtlich verwirrt, steckte sie ihn wieder ins Ohr.
»Starten.« Nichts passierte.
»Verdammtes Scheißding!«, tobte sie und warf wütend den kleinen Knopf aufs Sofa. Das konnte sie jetzt gerade gar nicht gebrauchen. Was wenn Joshua mit ihr reden wollte, oder eine ihrer Freundinnen sie brauchte? Und die Nachricht ihrer Eltern, ob sie bald landen würden, konnte sie so auch nicht empfangen.
Ihr Blick wanderte nach draußen, wo sie den See hinter den anliegenden Häusern den Mond widerspiegeln sah. Die Straßen- und Wohnungslichter leuchteten in kontinuierlicher Beständigkeit und spiegelten sich sanft im dunklen See. Gedankenverloren sah sich Ashley um und landete mit ihrem Blick auf der Uhr an der Wand. Die Funkuhr zeigte eine kuriose Zeit an.
Sechs Uhr fünfunddreißig am Morgen, was sicher nicht stimmen konnte. Und dann drehten sich die beiden Zeiger. Mehrere Runden drehten die Zeiger, als suchten sie die richtige Zeit und ließen langsam ein ungutes Gefühl in Ashley aufkommen. Waren die Batterien alle, dass die Uhr durchdrehte? Sie machte einen Schritt auf die Uhr zu, die Zeiger stoppten bei Mitternacht und im Bruchteil der nächsten Sekunde löschten alle Lichter.
Dunkelheit herrschte.
Nicht nur in der Villa, sondern auch außerhalb des Fensters. Dunkelheit umrahmte den See, sodass man das Ufer nicht mehr vom Wasser unterscheiden konnte. Kein Licht erhellte mehr die Welt. Nur die vielen tausend Sterne über der Stadt Zürich leuchteten unschuldig, und spendeten einen kümmerlichen Rest Licht.
Ashley stand sprachlos da. Was war jetzt los? Unsicher drehte sie sich um die eigene Achse, als hoffte sie die Antwort in ihrer Nähe zu finden.
Kerzen, schoss es durch ihren Kopf. »Ich brauche Kerzen.« Blind wie ein Maulwurf tastete sie sich langsam vor, hinaus aus dem Wohnzimmer in den Gang zu den Schränken mit den allgemeinen Vorräten an Batterien, Kerzen, Putzmitteln und und und.
»Aua!« Der Schmerz holte sie sofort ein, als sie mit den Zehen des rechten Fußes an irgendeinem Absatz anstieß. Fluchend tastete sie sich wie eine Blinde weiter voran und kramte im Schrank, bis sie eine Kerze in die Finger bekam. Weiter ging die Suche nach einem Feuerzeug. Jetzt hätte sie ihren Bruder gebrauchen können. Raucher waren schließlich immer mit Feuer ausgerüstet. Endlich fand sie eines und zündete die Kerze an. Für einen Moment musste sie blinzeln; das plötzliche Licht der Flamme blendete sie. Doch nach und nach gewöhnten sich ihre Augen daran und sie sah sich in der Wohnung um. Ein ungutes Gefühl beschlich sie.
Was sollte sie nun tun? War der Strom ausgefallen? Aber offensichtlich nicht nur bei ihnen im Haus, sondern in der ganzen Gegend. Aber warum spielte dann ihr E-Dot verrückt. Dieser sollte noch genügend Akku haben, um zu telefonieren. Und auch James. Er hätte sich abgemeldet. Unschlüssig schritt Ashley mit der Kerze in der Hand den Gang hinaus, zog ihre Schuhe und die Jacke an, bevor sie zur Tür nach draußen ging. Diese war nach wie vor verschlossen.
»James, öffne die Haustür!«, fauchte Ash wütend in die Dunkelheit. Nichts. Kein Surren, kein Knacken. Die Tür blieb geschlossen. Wütend vor sich hin schimpfend, stellte sie die Kerze auf die Kommode, welche im Gang stand und kramte dann in den Schubladen. Irgendwo dort drin musste ein Schlüssel für Notfälle sein. Endlich fand sie ihn und kehrte zur Tür zurück. Manuell öffnete sie und trat in die dunkle Nacht hinaus. Vor das Kerzenlicht hielt sie schützend die Hand, damit das zarte Flämmchen nicht vom Wind ausgepustet wurde.
Sie ging durch den Vorgarten und drückte den Knopf, um das Tor zu öffnen, welches das Anwesen von der Straße trennte. Doch es geschah nichts. Ashs Herz sank in die Hose. Elektrisch. Alles elektrisch. Und für dieses Tor gab es noch nicht einmal einen Schlüssel. Sie war auf dem eigenen Grundstück eingesperrt. Und als wäre diese Erkenntnis nicht genug, fegte ein Windstoß um die Ecke. Dunkelheit umhüllte Ash erneut. Panik breitete sich in ihr aus. Halb rennend, halb stolpernd kehrte sie zurück ins Haus, schlug die Tür zu, zündete die Kerze wieder an und ging zum Kühlschrank. Aus.
Noch war es kalt im Kühlschrank, aber wenn der Strom nicht bald zurückkam, würden Butter, Joghurt, Gemüse, Fleisch und was noch alles dort drinnen lagerte verderben.
»Oh Mann. Mum und Dad werden nicht erfreut sein, wenn hier alles verdirbt.« Doch was sollte sie schon tun? Sie konnte weder nach außen kommunizieren, noch wusste sie, was genau passiert war, und ob sie selbst etwas tun konnte, damit der Strom zurückkam. Abermals ging sie an die große Scheibenfront im Wohnzimmer und sah hinunter auf die Stadt. Vereinzelt waren kleine Lichtscheine zu erkennen. Wohl von Kerzen stammend. Aber kein elektrisches Licht mehr. Nicht einmal mehr ein Auto, das durch die Straßen fuhr. Auch das war höchst verdächtig.
»Markus. Wo bist du?« Hoffnungslos sah Ashley hinaus. Auch wenn ihr um zwei Jahre älterer Bruder eine riesige Nervensäge sein konnte, so vermisste sie ihn jetzt doch sehr. Er arbeitete im Büro einer Elektrikerbude und er hätte bestimmt gewusst, was zu tun war. Oder zumindest gewusst, wen man anrufen musste. Ohne E-Dot. Doch wer wusste schon, wie weit weg Markus mit seinen Jungs am Feiern war. Und wie lange er brauchte, um nach Hause zu kommen.
Eingeschüchtert und mit mulmigem Gefühl beschloss Ashley, dass sie im Moment nichts tun konnte. Aber einfach nur hinlegen und schlafen, daran war im Moment auch nicht zu denken. Vielleicht sollte sie zu den Nachbarn hinübergehen? Oder waren die bereits im Bett, somit lohnte es sich wahrscheinlich nicht, den hohen Zaun zu bezwingen, nur um beim nächsten Grundstück auf taube Ohren zu stoßen. Und selbst wenn sie ihre Nachbarn wecken konnte, was nützte dies? Sie würden sauer auf sie sein. Ändern konnten sie aber auch nichts. Nachdenklich kaute Ash auf ihrer Lippe herum und kam schließlich zu dem Entschluss, dass sie nichts weiter tun konnte außer abzuwarten.
Morgen ist bestimmt alles wieder gut. In Gedanken versunken schleppte sich Ash ins Zimmer hinauf und legte sich dann ins Bett. Hoffnungsvoll, dass dies nur eine kleine Störung war, lag sie da und starrte an die Decke. Drehte und wälzte sich hin und her. Aber der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Das kleine Lämpchen ihres E-Dots fehlte. Der schwache Schimmer der Stadt außerhalb ihres Fensters, der von den Vorhängen nicht ganz abgedeckt werden konnte, ebenfalls. Verloren vergrub sie ihren Kopf im Kissen. Was passierte hier gerade? Unfähig das Ausmaß zu begreifen, wurde ihr Atem schließlich doch langsamer und ihre Augen fielen zu.
Die Nacht war für Ashley eine Tortur. Sie machte kaum ein Auge zu, versuchte immer wieder, ihren E-Dot zu aktivieren und irgendjemanden zu erreichen. Sei es nun Markus, Joshua oder Lea. Sogar das Kommando, ihre Eltern anzurufen, gab sie. Doch blieb der kleine Kopfhörer, der so viel konnte, stumm und ließ sie einsam und allein zurück. Die absolute Dunkelheit um sie herum drückte schwer auf ihr. Dazu kam, dass sie nicht wusste, wie spät es war. Ihr Wecker war elektrisch.
Immer wieder döste sie weg, nur um dann wieder von Albträumen geweckt zu werden. Sie begrüßte es, als endlich der Morgen anbrach. Der schwarze Himmel wurde dunkelblau, und wechselte langsam in hellere Farben. Todmüde stand Ashley auf und ging hinüber ins Bad. Sie ließ die Dusche laufen und wartete darauf, dass das Wasser warm wurde. Währenddessen studierte sie sich im großen Spiegel. Sie seufzte, als sie die dunklen Ringe unter ihren Augen erkannte. Ausgelaugt von der Nacht, schlüpfte sie aus ihren Klamotten und streckte dann vorsichtig ihre Hand unter den Wasserstrahl, um dessen Temperatur zu messen. Aber das Wasser war nach wie vor kalt.
»Aaahh!« Wütend stampfte sie auf den Boden, riss die Badetücher von den Haltern und warf sie quer durch den Raum, bis sie sich wieder ein wenig beruhigte. »Das ist doch wohl ein schlechter Scherz!« Wimmernd gab sie jedoch auf und stellte sich unter den kalten Strahl. Das arschkalte Wasser traf ihre warme Haut. Erschrocken schnappte sie nach Luft. Die Kälte weckte sie und spülte die Müdigkeit weg. Doch der nächste Hammer folgte sogleich. Ash seifte sich in diesem Moment die Haare ein, als der Strahl der Brause nachließ, zweimal gurgelnd spukte und dann versiegte. Die Hände und Haare voller Seife, tastete sie nach dem Drehknopf der Dusche, drehte diesen wie eine Irre hin und her. Doch das Wasser blieb aus. »Was zum Henker noch mal. Diese verfluchte, verdammte, nichtsnutzige Dusche! Hat sich denn heute die ganze Welt gegen mich verschworen?» Zeternd wie ein Rohrspatz kletterte sie aus der Dusche, schlitterte über den Plattenboden zum Waschbecken und drehte diesen Hahn auf. Das Wasser schoss ins Becken und sofort machte sich Ash daran, ihr Haar so gut es ging abzuwaschen. Sie war gerade fertig, als auch diese Leitung leergelaufen war und der Hahn nur noch die letzten Tropfen ausspuckte. Frierend sammelte sie die Badetücher zusammen, wickelte eines um ihr Haar, ein weiteres um ihren von Gänsehaut überzogenen Körper und tapste zurück in ihr Zimmer.
Sie schlüpfte gerade in einen warmen kuschligen Pullover, als die Haustür geöffnet wurde und sogleich Markus Stimme ertönte.
»Ashley! Bist du da? Bitte sag, dass du hier bist.« Angst schwang in seiner Stimme mit, als er nach ihr rief. Eine Emotion, die Ash von ihrem Bruder nicht kannte. War er doch sonst immer tendenziell der Typ, der seine Gefühle hinter Mauern verbarg und sie nur mit dummen Sprüchen ansprach. Doch nun schien er ernsthaft besorgt zu sein.
»Hier oben«, entgegnete Ashley deshalb und trat aus dem Zimmer. Insgeheim war sie schließlich ebenso froh, dass er zurück war. Nach wie vor gab es keinen Strom im Haus. Markus nahm zwei Stufen auf einmal, erklomm die Treppe und schloss sie sogleich in die Arme.
»Oh Gott. Ich bin so froh, dich hier zu wissen. Glaub mir, das war eine Höllennacht.« Ashley ließ die Umarmung zu, genoss die Anwesenheit ihres Bruders. Nicht mehr allein mit diesem Wahnsinn zu sein, beruhigte sie ein wenig.
»Wo wart ihr?«
»Auf der anderen Seite des Sees. Wir mussten den ganzen verdammten Weg nach Hause gehen. Ich war drei Stunden unterwegs. Meine Füße sind voller Blasen, meine Beine brennen. Hast du überhaupt was mitbekommen?« Seine dunklen Augen sahen Ash plötzlich unsicher an. Die Stimme klang vorwurfsvoll, was Ashley sofort zurückweichen ließ.
»Ich hab gerade kalt geduscht. Der Kühlschrank ist aus und das Einfahrtstor geht nicht mehr. Also ja - ich hab was mitbekommen«, entgegnete sie zynisch. Markus seufzte. Seine 21 Jahre würde man ihm nicht mehr geben im Moment. Er wirkte eher nahe den Vierzigern. Planlos sah er sich in der Wohnung um.
»Ich kann das Ganze nicht begreifen. Es ist alles weg. Kein Strom, kein Licht. Wie?« Ash verzog den Mund. Er war hier der technisch Begabte, nicht sie. Und selbst er schien ahnungslos, wie das alles passieren konnte, auch wenn sie noch so auf ihn und sein Fachwissen gebaut hatte. Noch nicht einmal das ganze Ausmaß begriff er.
»Kein Geld mehr. Wie sollen wir essen kaufen? Wird das wieder hergestellt?«, pflanzte Ash also ihre Vermutungen in Markus Überlegungen. Dieser sah sie bleich an. So weit schien sein Hirn natürlich noch nicht gedacht zu haben.
»Die werden wohl Server haben, die all diese Daten abgespeichert haben«, meinte er kleinlaut, fuhr sich allerdings unsicher durch die braunen Haare.
»Wie sollen diese Server laufen, wenn nicht einmal mehr mein E-Dot funktioniert? Dieses Gerät müsste Saft haben. Der Akku war noch nicht leer. Warum fahren die Autos nicht mehr? Die sind schließlich nicht mit Kabeln verbunden. Solange sie noch Strom haben und ihre Akkus gefüllt sind, müssten die noch fahren!«, entgegnete Ash, langsam wurde sie hysterisch. »Ich glaube nicht, dass irgendwelche Server noch funktionieren. Und offensichtlich ist es ein etwas größeres Problem, wenn die ganze Stadt nachts dunkel war.« Markus sah seine kleine Schwester einen Moment lang nachdenklich an, ehe er antwortete.
»Es wird sicher außerhalb noch alles normal sein. Bald werden wieder Autos durch die Straßen fahren und die Bankdaten werden auch wieder hochgeladen. Das müsste ein weltweiter Breakdown sein, damit alles gelöscht wäre.« Ashley spürte, dass ihr Bruder sie beschwichtigen wollte. Sie fühlte aber auch seine Unsicherheit. Wenn es nicht ein größeres Problem war, warum dann keine Autos? Und warum dauerte es so lange, bis der Strom wieder da war?
Die beiden jungen Erwachsenen kehrten ratlos in die Küche zurück, suchten sich einige Lebensmittel aus dem Kühlschrank, der nicht mehr länger kühl, sondern gefühlt in etwa auf Zimmertemperatur war. Kaffee gab es keinen. Milch und Wasser musste den beiden für ihr Frühstück genügen. Unschlüssig stocherte Ashley in ihrem Joghurt herum und sah immer wieder aus dem Wohnzimmerfenster. In der Stadt war reges Treiben. Menschen irrten umher und sie wirkten nicht glücklich. Wild gestikulierten sie, liefen ziellos durch die Straßen, suchten nach etwas, was sich Ashley nicht zusammenreimen konnte. Sie fühlte sich sicher im Wohnzimmer der Villa. Von hier aus konnte sie alles beobachten, wie eine Königin. Das Geschehen aus sicherer Distanz an sich vorbei ziehen lassen, wenn das Problem bald gelöst sein würde.
»Wir sollten vielleicht auch raus gehen. Vielleicht wissen einige, wo das Problem liegt«, überlegte ihr Bruder laut, während er müde auf seinem Stück Brot herum kaute. Die Nacht hatte ihre Spuren bei ihm hinterlassen. Ash musterte ihn einen Augenblick nachdenklich. Waren gestern schon diese Schatten um seine Wangen? Oder waren die Bartstoppeln so schnell nachgeschossen?
»Vielleicht solltest du schlafen gehen und ich werde mich informieren«, schlug Ash ihm vor. Sie glaubte, nie wirklich viel für ihren Bruder übrig gehabt zu haben. Den grossgekotzten Macker, den er raus hängen ließ, behagte ihr gar nicht. Dementsprechend selten erledigte sie etwas für ihn. Doch so abgekämpft, wie er im Moment an seinem Brot herumkaute, tat er ihr beinahe etwas leid. Markus nahm das Angebot dankend an und verschwand nach dem Frühstück oben im Zimmer. Ashley räumte die Teller in die Spüle, schlüpfte in bequeme Jeans und eine warme Jacke, ehe sie sich auf den Weg nach draußen machte.
Der Frühling zeigte sich golden. Die Sonne strahlte vom Himmel und die ersten frischen Blätter leuchteten hell zurück. Am Zaun angekommen umfasste Ash die Gitterstäbe und zog sich nach oben. Mühselig kletterte sie über die Spitzen und landete anschließend unsanft auf der anderen Seite. Fluchend stampfte sie zwischen den Büschen hervor und trat auf die Straße, die durch ihr Viertel führte. Einige Nachbarn waren draußen und berieten sich kopfschüttelnd.
»Morgen!«, rief ihnen Ashley entgegen und stellte sich dann zu dem Grüppchen dazu. Mit ihren 18 Jahren war sie im Viertel die Jüngste. Die anderen Häuser waren meist nur noch von den Eltern der Familien bewohnt - die Kinder bereits ausgezogen und somit nicht mehr in der Nähe.
»Ashley, Kind«, begrüßte sie Cornelia aus dem Haus gegenüber der Straße. Sie war mit Ashleys Mutter eng befreundet und saß häufig bei ihnen zu Hause in der Küche zum Kaffee und Tratsch. Nun wirkte sie völlig durch den Wind. Ihr Haar war nicht fein säuberlich gestylt, die Kleider nicht aufeinander abgestimmt und vor allem ihr Gesicht nicht geschminkt. Offensichtlich schien sie dies - angesichts der Situation - nicht für wichtig befunden zu haben.
»Das liegt an diesem Kometen, der die Erde gestreift hat letzte Nacht. Darauf würde ich meinen Arsch verwetten«, sprach nun Cornelias Mann mit zeternder Stimme weiter. Eine weitere Nachbarin nickte.
»In den Nachrichten wurde nicht darüber informiert, dass diese Streifung solche Folgen haben wird«, entgegnete Cornelia ihrem Mann. Dieser schnaubte abwertend auf.
»Ach, das hast du doch gar nicht mitbekommen. Du warst wieder an deinem E-Dot und hast laut herumgeträllert und getratscht mit irgendeiner deiner Freundinnen«, fauchte er seine Frau an.
»Es ist erwähnt worden, das elektromagnetische Felder kurzzeitige Störungen hervorrufen könnten. Aber diese Störungen sollten längst vorüber sein. Der Asteroid streifte die Erde um drei Uhr morgens«, entgegnete die älteste der Nachbarinnen aus der Straße, Frau Mörtel.
»Und was haben wir nun für eine Zeit?«, entgegnete Cornelias Mann schnippisch.
Dem sind heute Morgen aber besonders viele Läuse über die Leber gekrochen, schoss es durch Ashs Gedanken als sie ihren Nachbarn studierte. Sein Schnurrbart zitterte vor Aufregung und Wut.
»Daniel. Beruhige dich bitte ein wenig«, versuchte Cornelia, ihn zu beschwichtigen. Doch er schnaubte nur wie ein verärgertes Walross.
»Es kann doch nicht sein, dass von solchen Magnetfeldern alles zusammenbricht. Stromnetzwerke vielleicht. Aber warum die E- Dots? Und Fahrzeuge? Die gesamten öffentlichen Verkehrsmittel? Haben die nicht irgendwelche Notstromaggregate?«, erkundigte sich ein Nachbar, den Ashley nicht gut kannte. Daniel schüttelte ahnungslos den Kopf.
»Mit diesen neuen, verfluchten Schwarten geht ja ohne Strom gar nichts mehr.« Daniel zeigte auf seinen nagelneuen Tesla, der unschuldig in der Einfahrt parkte. Ashley hätte beinahe über Daniels geliebtes Auto geschmunzelt, wäre ihr nicht plötzlich der Gedanke gekommen, was wohl mit ihren Eltern sein mochte. Wenn schon Autos, Züge und sonstige Fahrzeuge auf dem Boden ihren Dienst verweigerten, was war dann mit den Flugzeugen hoch am Himmel passiert? Eine Welle der Übelkeit überkam sie und ließ sie taumeln. Sie fasste sich hilflos an den Kopf, ehe ihre Beine versagten und sie zusammenbrach.
»Was ist passiert?« Die Stimme ihres Bruders war das Erste, was Ashley vernahm.
»Wir sprachen darüber, das keine Fahrzeuge fahrtüchtig seien, als sie zusammenbrach.« Ashley atmete tief aus und öffnete schwerfällig die Augen. Das Licht der Sonne blendete sie. Einige Schemen zeichneten sich vor dem hellblauen Himmel ab. Und schließlich erkannte Ash fragende Gesichter.
»Sie kommt zu sich«, erkannte Ash Frau Mörtels Stimme.
»Das arme Ding. Völlig aus ihrer Welt gerissen.«
»Markus?« Ashley sah sich die Gesichter über ihr an. Offensichtlich war ihr Bruder gerufen worden, denn er tauchte in ihrem Blickfeld auf.
»Mum und Dad. Sie waren in einem Flugzeug. Sie wären erst in den frühen Morgenstunden in Moskau gelandet«, entgegnete Ashley ihrem Bruder schwach. Tränen füllten ihre Augen. »Was ist mit ihnen geschehen? Sind die Flugzeuge weiter geflogen?« Beklommene Stille. Sie konnte das geschockte Augenpaar ihres Bruders erkennen. Unscharf sah sie, wie Cornelia ihre Hände vor den Mund schlug. Andere standen mit bestürzten Mienen um sie herum. Ashley konnte im Blick ihres Bruders erkennen, dass ihn diese Erkenntnis tief traf. Schmerz erfüllte seine sonst herablassenden, unnahbaren Gesichtszüge, was Ashley nur noch mehr auflöste. Cornelia, die neben Markus kniete, sah zu ihrem Mann hoch, der betreten von einem Fuß auf den anderen trat. Die Situation schien ihm unangenehm.
»Nein. Keine Sorge, Kind. Da wird sicherlich nichts Schlimmes passiert sein. Die Flugzeuge konnten bestimmt weiterfliegen. Und deine Eltern sind gut in Moskau gelandet. Vielleicht haben sie sogar schon versucht anzurufen, was leider im Moment nicht funktioniert«, versuchte Daniel, sie zu beruhigen. Er schien sich absolut sicher zu sein, auch wenn er es nicht wissen konnte. Wer denn schon? Schließlich waren sie abgeschnitten. Abgeschnitten von der Welt und auf einmal sich selbst überlassen.
»Ich denke auch, dass die Flugzeuge weiter geflogen sind. Sicherlich. Das kann gar nicht sein, dass die alle abgestürzt sind. Stellt euch das einmal vor«, überlegte einer der Nachbarn. Tränen lösten sich aus Ashleys Augen.
Es ist für die doch einfach nicht vorstellbar, deshalb streiten sie es ab! Wenn hier in der Stadt nichts mehr funktioniert, wie weit greift diese Katastrophe? Ist nur Zürich betroffen? Oder die Schweiz? Oder am Ende doch ganz Europa? Wie konnte dann der Tower mit den Piloten kommunizieren? Wie hätte ein Flugzeug die Landepiste finden sollen ohne Lichtmarkierung?
»Ich glaub das nicht. Was ist das für ein verdammter Albtraum? Was wird weiter passieren? Wo werden wir Nahrung finden? Was trinken? Und werden wir jemals wieder mit unseren Eltern sprechen können? Mit Silvia?« Ashley sah ihren Bruder an. Ihre große Schwester war vor zwei Jahren nach London gezogen. Ihrer großen Liebe hinterher. Eine Distanz, die Ashley mit einem Mal unendlich weit vorkam.
»Beruhige dich, Ashley. Es wird bestimmt alles wieder gut. Bald wird der Strom wieder angeschaltet und wir leben weiter wie bisher«, versicherte ihr Markus. Wie falsch der junge Bursche doch lag.
An jenem Morgen kehrten die beiden Geschwister in die riesige Villa zurück und versuchten, sich ein wenig von der neuen Situation zu erholen. Quälend langsam verstrich der Tag. Und mit der nächsten Nacht kehrte die Dunkelheit zurück. Wimmernd kroch Ashley zu ihrem Bruder ins Bett, der sie fest in seinen fitnesstrainierten Armen hielt und ihr dadurch Schutz bot.
Die kleine, heile Welt war zerbrochen. Ashley spürte es. Sie spürte, dass sie fortan mit weit tief greifenderen Problemen konfrontiert werden würden, als mit Fragen zum Outfit, Styling und den heißen Typen in den Klubs. Ihre kleine, düster geglaubte Welt war zusammengebrochen und zeigte eine ernsthaft zerrüttete Welt.
Die Tage verstrichen. Der Kühlschrank und der Vorratsschrank leerten sich. Und nicht nur die beiden Geschwister merkten langsam, dass sie sich um die Nahrungsbeschaffung kümmern mussten. In einem der Nachbarhäuser war eingebrochen worden. Jugendliche schlugen die Scheiben ein und waren eingedrungen. Sie klauten Goldarmbänder und Perlenketten und den Kühlschrank leerten sie bis aufs Letzte.
Die Stimmung an der Goldküste Zürichs wechselte von unwissend, überrumpelt und unsicher zu einer aggressiven, gewalttätigen Atmosphäre. Die Schaufenster der verschiedensten Läden waren eingeschlagen worden. Andere Scheiben deuteten Gewaltspuren auf, waren jedoch nicht zerbrochen. Es waren Lebensmittel und Wasser geklaut worden. Ashley traute sich nicht mehr allein raus. Wenn dann ging sie mit ihrem Bruder hinunter in den Vorort Zürichs, um nach Lebensmitteln zu suchen. Nach nur einer Woche kehrten die beiden jungen Erwachsenen jedoch völlig verstört und ohne etwas Essbares zurück.
Ashley entschied an diesem Morgen, sie wollte abermals losziehen, um einige Restaurants abzuklappern. Vielleicht waren diese noch nicht überfallen oder geplündert worden. Und Markus, der sie nicht allein gehen lassen wollte, blieb nichts anderes übrig, als sie zu begleiten. Ash konnte ziemlich stur sein. Bald waren die beiden unterwegs und suchten das erste Restaurant in ihrer Nähe auf. Sie erreicht dieses beinahe, da vernahmen sie Lärm. Laute Stimmen, die zu ihnen herübergetragen wurden. Geistesgegenwärtig packte Markus seine Schwester und zog sie in ein nahe gelegenes Gebüsch. Kaum einen Augenblick später rannte eine Frau mittleren Alters über einen Parkplatz hinaus auf die Straße, wo die Geschwister gerade eben noch verharrten. Dicht hinter ihr folgten zwei Männer. Panisch sah die Frau über ihre Schulter zurück und schrie dann erschrocken auf, als sie erkannte, dass die Männer aufholten. Sie versuchte, abermals zu beschleunigen, doch einer der Männer packte sie grob an der Schulter und zerrte sie herum. Unter ihrem Arm fiel etwas hervor und sofort bückte sich der zweite Mann danach. Ash erkannte aus ihrem Versteck, dass es sich um einen Laib Brot handelte.
»Hast uns das Brot geklaut, Schlampe!«, schimpfte der Mann, der sie festhielt. Er packte sie grob am Nacken und zerrte sie mit sich hinter eine Hauswand. Die Frau in seinem Griff jammerte und bettelte. Entschuldigte sich dafür und schwor, dass es nie mehr vorkommen würde. Der Typ jedoch hielt sie weiter eisern fest.
»Das hast du gestern schon gesagt. Und wir haben dir gestern gesagt, noch einmal ein Diebstahl in unserem Revier und du wirst es bereuen«, klärte der Mann sie auf. Zitternd und mit Tränen in den Augen sah sie zu ihm auf. Jammerte, dass ihr Kind nichts zu essen hat.
Ashley schüttelte fassungslos den Kopf. Sie empfand Mitleid mit der Frau. Zudem kroch eine unbändige Wut in ihr auf. Wer teilte hier die Gebiete jemandem zu? Sie waren schließlich alle hungrig. Voller Tatendrang wollte Ash der Frau zu Hilfe eilen, doch Markus hielt sie zurück. Mit bösem Blick sah sie ihren Bruder an, wollte bereits einen zornigen Kommentar loswerden, was er denn für ein Weichei sei. Doch soweit kam sie nicht. Sie hörte die Frau aufschreien und drehte ihren Blick wieder zu ihr zurück. Konnte gerade noch sehen, wie der Mann, der sie bis dahin festhielt, mit einem Messer ausholte und ein weiteres Mal auf die am Bodenliegende zustach.
Ashley schrie erschrocken auf und nur Markus’ schneller Reaktion war es zu verdanken, dass die beiden sie nicht hörten. Er drückte seiner Schwester hart die Hand auf den Mund, sodass ihr Schrei erstickte, bevor er überhaupt aus ihrem Mund kommen konnte. Die beiden Männer sahen sich misstrauisch um, ehe sie die Frau etwas hinter eine Hausecke zogen und dann wie zwei Verbrecher davon huschten. Und dies alles nur wegen eines Laibs Brot, schoss es durch Ashleys Kopf. Einen Moment verharrten die beiden dort im Gebüsch. Beide waren unfähig zu begreifen, wovon sie gerade Zeuge geworden waren. Sie waren Beobachter eines Verbrechens geworden.
»Sie hat ein Kind«, flüsterte Ashley fassungslos und sank auf die Knie, nachdem Markus seine Hand zurückzog. Nach wie vor wollte es ihr nicht so recht gelingen, die Situation zu begreifen. Überhaupt zu realisieren, welcher Gefahr sie selbst ausgesetzt waren. Die Männer waren bewaffnet. Sie nicht. Und sie selbst konnte sowieso kaum etwas ausrichten. So wenig wie die Frau es konnte. Ashley wurde schlecht. Um sie drehte sich alles.
»Mark. Die Frau. Ist sie …? Sollten wir nachsehen?«, unsicher sah sie zu ihm. Er war kreidebleich und schüttelte den Kopf.
»Lass uns nach Hause gehen. Dort sind wir sicher.« Dies glaubte er zumindest. Er zog Ashley auf die Beine und führte sie dann wieder die Straße entlang, die sie gekommen waren.
»Wir müssen etwas unternehmen. Wir können nicht darauf hoffen, dass alles wieder wird wie vorher«, sprach Ash die unausgesprochene Tatsache aus, als sie den Hang hinauf schritten. In ihr tobte nach wie vor ein Orkan. Sie konnten die nächsten sein. Was wenn diese Männer nicht die einzigen waren, die Gewalt gegen andere einsetzten? Neben ihr seufzte Markus und ließ die Schultern hängen.
»Irgendwie müssen wir an Essen herankommen, ohne dass wir gleich abgemurkst werden«, gab er seine Bedenken preis. Sah über seine Schulter zurück, dorthin, wo die Frau in etwa liegen musste. Noch war die Stelle zu sehen. Doch schon bogen sie ab und das Haus verschwand hinter weiteren Gebäuden. Erst da drosselte Markus seine Geschwindigkeit.
»Lass uns bei Sebastian vorbei schauen. Der hat bestimmt noch irgendwo eine Kühltruhe voller Tiefkühlpizzen. Ist halt ein weiter Marsch«, schlug er gedankenverloren vor. Ash verdrehte die Augen.
»Idiot. Tiefkühlpizzen? Ernsthaft?« Ihre braunen Augen bohrten sich in Markus’ Gesicht. Dieser schnaubte verärgert aus.
»Verdammte Scheiße. Ich kann es einfach nicht glauben! Es kann nicht sein, dass nichts mehr funktioniert! Menschen gehen aufeinander los, Ash! Ich kann das nicht! Ich kann nicht den Helden spielen.« Wild gestikulierte er, blieb stehen und sah seine kleine Schwester zornig an. »Du bist jetzt meine einzige Familie. Und ich bin nicht einmal fähig, dich zu beschützen und zu ernähren. Wir haben niemanden mehr. Meine Kumpels wohnen kilometerweit weg. Zu Fuß wäre das ein zwei Stunden Marsch, und wer weiß, wer uns da alles auflauert. Ich weiß nicht, wen ich fragen soll, ich bin einfach nur noch überfordert. Verstehst du das?« Ashley sah den sonst so coolen Hip-Hopper an. Es dauerte eine Woche. Eine ganze Woche, bis Markus’ Schale brach. Oder lag dieser Zusammenbruch mit dem eben Gesehenen zusammen? Ashley versuchte, das Bild zu verdrängen. Das Messer, welches silbern aufblitzte, ehe es hinunterfuhr und sich in den Körper der Frau bohrte. Angewidert schüttelte sie sich. Sie wollte nicht mehr länger dieses Bild vor Augen haben.
»Ich weiß nicht, was wir tun sollen, Ash«, gestand er kleinlaut und setzte sich auf eine kleine Mauer am Straßenrand. Er wirkte verstört, den Tränen nahe. »Ich wünsche mir, Mum und Dad wären hier. Dad wüsste, was zu tun wäre. Er wüsste, wie er sich zu wehren hätte«, jammerte er und fuhr sich über die Augen. Ashley setzte sich unsicher neben ihn und lehnte sich an seine Schulter.
»Wir werden einen Weg finden, dass alles hier zu überleben. Wir schaffen das gemeinsam.« Insgeheim staunte sie über ihre zuversichtlichen Worte, wo sie doch selbst kaum aus der Negativ-Spirale herausfand. Ihre Gefühle drehten sich und spielten Achterbahn mit ihr. Immer wieder weinte sie um ihre Eltern. Vermisste Joshua und ihre Freunde und verfiel dann in Panik, wenn sie an die Ungewissheit der Zukunft dachte.
»Wir könnten zu Svenja oder zu Joshua. Die würden uns bestimmt aufnehmen.« Und sie wäre nicht mehr ganz so allein. Svenja war eine ihrer besten Freundinnen. Allerdings wohnte diese auf der anderen Seite des Sees. Und Joshua? Wie lange wanderte man von Zürich bis nach Rapperswil?
»Echt jetzt? Du überlegst dir ernsthaft, zu diesem Ökofritzen gehen zu wollen? Dein Joshi ist bestimmt schon längst am Durchdrehen. Diese Promenadenmischung aus Lehrer und Bauer. Mit seinem Karohemd und der überdimensionalen Brille in der Fresse.« Wütend sprang Ash auf und hätte ihrem Bruder für diesen Kommentar am liebsten eine gescheuert. Wie konnte sie auch nur glauben, dass er sich änderte, und seine abfälligen Kommentare lassen würde.
»Spinnst du? Lass Joshua in Ruhe! Der hat mehr Style, als du dir jemals in deine blöden Muskeln pumpen könntest! Außerdem wüsste er sicher, wie er mich ernähren könnte.« Markus’ Blick schnellte vom Boden hoch und verhöhnte Ash sichtlich.
»Wow, du verteidigst diese Wurst ja richtig. Dann ist das also richtig ernst zwischen euch? Habt ihrs schon getrieben? Bringt er es?« Ashs Wangen loderten feuerrot auf. Der Zorn war ihr ins Gesicht geschrieben.
»Was geht dich das an? Du beknacktes Schwein. Hast dich ja bisher auch nie für mich interessiert!« Fuchsteufelswild drehte sie sich um und schritt eilig die letzten Meter den Berg hoch. Markus konnte ihr gestohlen bleiben mit seinen primitiven blöden Bemerkungen. Doch sie kam nicht weit, da holte er sie schon ein und hielt sie am Arm zurück. Erschrocken riss sie sich los. Nach wie vor brannte die Szene von gerade eben in ihrem Hirn.
»Ey, sorry. Ich bin halt grad echt auf den Felgen. Ich will nicht, dass du sauer bist. Ich möchte, dass du mir vertraust, und dass du daran glaubst, dass wir einen Weg finden. Auch ohne andere Hilfe. Wir sind schließlich Familie.« Seine braunen Augen sahen sie flehend an. Ashley schüttelte traurig den Kopf.
»Dann hör auf, mich so zu behandeln. Ständig diese doofen Kommentare. Das ist in der momentanen Situation echt nicht angebracht. Schnallst du das etwa nicht?« Markus nickte bedröppelt.
»Komm. Wir machen ein Feuer im Garten und grillen die beiden Steaks aus dem Kühlschrank. Wenn wir sie lange genug auf dem Feuer lassen, können wir das Fleisch vielleicht sogar noch essen, ohne das wir es anschließend bereuen. Und für morgen müssen wir uns halt was überlegen.« Lange sah Ash ihren Bruder an, ehe sie sein Friedensangebot annahm. Was blieb ihr auch anderes übrig. Er war alles, was ihr blieb.
Das Feuer im Garten brannte und spendete den Geschwistern Wärme, während sie schweigend im Gras saßen und jeder für sich über ihre Zukunft nachdachte. Ashley sah gedankenverloren zum Himmel, studierte die Sterne. Folgte mit ihrem Blick der Milchstraße, die nun, da keine wirkliche Lichtverschmutzung mehr die Nacht trübte, klar sichtbar war.
»Schon krass. Man könnte meinen, die Sterne seien direkt über uns. Man müsste nur nach ihnen greifen, so nahe wirken sie«, stellte sie staunend fest. Markus folgte ihrem Blick und nickte dann.
»So weit weg, und doch wird unter den Menschen erzählt, dass einer dieser Sterne schuld am ganzen Desaster sei.« Ashley sah ihren Bruder nachdenklich an.
»Ist ein Asteroid ein Stern?« Markus zuckte nur mit der Schulter.
»Was auch immer dieser Asteroid war oder ist. Ein Gesteinsbrocken, der durch das All fliegt …« Er hielt einen Moment inne und seufzte leise. »Er war wunderschön anzusehen, wie er über den Himmel hinweg zog. Wie eine riesige Sternschnuppe. Langsamer, aber um ein Vielfaches heller leuchtete er. Beinahe bläulich schien er«, erzählte Markus seiner kleinen Schwester.
»Warum hast du kein Foto gemacht?«, wollte diese wissen, doch verdrehte sogleich die Augen, als ihr klar wurde, dass sein E-Dot zu jenem Zeitpunkt bereits tot war.
»Ich frage mich, wie lange diese elektromagnetische Störung anhält. Der Asteroid ist längst wieder viele hunderttausende Kilometer entfernt. Warum haben wir nach wie vor keinen Strom?«, wunderte sich der gutgebaute junge Mann. Ash zuckte mit der Schulter.
»Keine Ahnung. Aber weißt du, was mich schon seit einiger Zeit verunsichert? Was passiert mit all den Atomkraftwerken? Haben die einfach abgestellt? Müssen die nicht diese Brennstäbe kühlen?« Sie hörte einst in einer Wissenssendung etwas darüber. Konnte jedoch nicht mehr so genau reflektieren, was genau dort gesprochen worden war. Markus sah sie lange an.
»Ich weiß nicht. Eigentlich sollten AKWs eine Notstromversorgung haben, welche sie langsam herunterfahren lässt. Aber wenn kein Strom mehr fließt, kann es schon sein, dass die Kühlung der Brennstäbe nicht mehr funktioniert.« Er verfiel in eine lange Pause, ehe er anfügte, »zum Glück hat die Schweiz das letzte AKW im Jahr 2038 abgeschaltet. Und auch Europa hat mehr und mehr auf Wind und Solarenergie gesetzt. Vielleicht haben wir dadurch eine kleine Aussicht, nicht verstrahlt zu werden, falls tatsächlich irgendwo ein AKW in die Luft geht.« Ashley zog die Augenbrauen hoch.
»Tolle Aussichten. Wenn wir nicht verhungern, werden wir verstrahlt.« Erneut verfielen sie in eine unangenehme Stille. Außer dem Knistern des Feuers war kaum ein Geräusch wahrzunehmen. Hin und wieder konnte man Schreie hören, von Auseinandersetzungen, die in der Stadt unten stattfanden. Doch in der Nachbarschaft war es ruhig. Auch wenn Ashley am Anfang über den verfluchten Zaun schimpfte, so war sie nun doch froh, bot dieser dem Grundstück und ihnen Schutz. Denn die hungrige Meute suchte sich Orte, die einfacher zu plündern waren. Sie hätte nicht gewusst, wie sie sich gegen einen Eindringling hätte zur Wehr setzen sollen. Selbst wenn sie ein Messer aus der Küche bei sich tragen würde, sie wusste nicht, ob sie sich eher wehren konnten, als die arme Frau am Nachmittag.
»Wir sollten morgen aufbrechen«, stellte Markus plötzlich in die dunkle Nacht fest. Ashley wandte ihm ihren Blick zu.
»Und wohin willst du gehen?« Ihre dunklen Augen wirkten beinahe schwarz im fahlen Licht. Markus zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht. Aber hier werden wir bald keine Nahrung mehr finden. Die Menschen haben die Einkaufszentren geplündert. Mehr und mehr plündern sie Wohnungen und Häuser. Sie werden aggressiv, hast du ja auch gesehen. Ich will gar nicht wissen, wie viele bereits ermordet worden sind, nur um an ein Mahl zu gelangen. Das darf uns nicht passieren.« Mit entschlossener Miene starrte er in die züngelnden Flammen.
»Was glaubst du? An anderen Orten wird es genauso sein. Was willst du? In die Stadt hinein? Oder hinaus aufs Land?« Sie sah ihren Bruder ungläubig an, doch noch ehe er antworten konnte, kam ihr eine Idee.
»Jonas.«
»Was ist mit Jonas?«, wollte Markus mit gerunzelter Stirn wissen. »Wir waren schon seit Ewigkeiten nicht mehr bei ihm. Warum kommst du jetzt auf ihn? Außerdem lebt er weit weg. Zumindest wenn wir laufen müssen.« Er spielte mit einem Zweig, schubste Blätter in Richtung Flammen.
»Markus, überleg doch mal. Jonas hat einen Landwirtschaftsbetrieb. Unser Onkel produziert Nahrungsmittel. Wir könnten uns auf den Weg zu ihm machen. Vielleicht ist er froh um unsere Hilfe. Sicherlich ist er dankbar über Hilfe. Wie sollte er allein ohne Strom und Maschinen den ganzen Betrieb schmeißen? Wir könnten dort arbeiten und er könnte uns dafür zu essen geben. Milch und Früchte und Mehl«, offenbarte Ashley voller Begeisterung. In ihrem Kopf bildete sich bereits ein Plan. Eine Idee einer möglichen Zukunft, solange, bis der Strom wieder fließen würde. Markus jedoch sah sie weniger begeistert an. »Weißt du, wie weit es ist, bis wir im Thurgau sind? Zu Fuß?«
»Zwei, drei Tage?« Markus sah sie ungläubig an. »Ich denke, sicher eine Woche. Und willst du das wirklich? Jonas war mir noch nie sympathisch. Der ganze Hof stinkt nach Kühen und Jonas ist immer mit dreckigen Klamotten herumgelaufen. Karohemden, Ashley!« Panisch warf er die Hände in die Höhe. Doch Ashley ließ nicht locker.
»Markus. Es ist normal, dass es auf einem Bauernhof stinkt. Und wenn du behauptest, Jonas war immer dreckig angezogen, tust du ihm unrecht. Es gab schon Tage, da war er ganz ordentlich gekleidet.«
»Ich mein ja nur! Er ist ein Bauer.« Markus rümpfte die Nase. Ashley verdrehte bei diesem Kommentar nur ihre Augen. Sie wusste genau, wie Markus empfand. Sie selbst teilte seine Abneigung. Aber die Aussichten auf eine mögliche Zukunft, auf eine Lösung, die ihnen vielleicht das Überleben sicherte, ließ ihre Abneigung verpuffen.
»Ja, das ist er. Und wahrscheinlich bald einer der mächtigsten Männer, wenn wir noch lange keinen Strom haben. Sag mir Bruder, wie füttert man eine Kuh, sodass sie Milch gibt? Wie pflanzt man Getreide an? Und sag jetzt nicht, dies sei nicht notwendig! Ich könnte mir vorstellen, dass dieses Wissen bald das Wichtigste sein wird, wenn wir überleben wollen.« Kleinlaut maulte Markus, wagte allerdings nicht zu widersprechen. »Stell dir mal all diese Studierten vor. Algorithmen können sie berechnen, aber einen Samen würden sie verkehrt in den Boden stecken. Oder diese Veganer. Klar leben sie gesund. Aber haben sie überhaupt eine Ahnung davon, wie sie gesunde Lebensmittel anbauen?« Ashleys Gedanken überschlugen sich. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, so wusste nicht einmal sie genau, wie sie was anbauen musste, damit etwas Essbares daraus wurde. Denn auch sie war nur eine kleine Angestellte in einem Großraumbüro, die nichts weiter tat, als Telefonate anzunehmen, Zahlen hin und her zu berechnen, Texte zu verfassen und über die anderen Angestellten zu tratschen.
Mit einem Mal wirkte ihr Leben leer und kläglich. Was hatte sie in dieser Welt vollbracht? Niemand interessierte sich jetzt noch für ihr Wissen. Es war nicht mehr länger notwendig, Menschen für Versicherungen zu gewinnen. Sie von einer neuen Versicherung zu überzeugen und Provisionen abzustauben. Sie war nutzlos in einer Welt ohne Strom. Zumindest wenn sie nur herumsaß und jammerte. »Und du denkst, dein Student wäre da anders? Was hat der schon wieder studiert?« Der abfällige Ton in Markus’ Stimme war Ash nicht entgangen, doch sie brachte keine Kraft auf, um einen weiteren Streit vorm Zaun zu brechen, weshalb sie nur müde antwortete: »Er studiert Betriebswirtschaft.« Ihre Gedanken wanderten zu Joshua, den sie vor wenigen Wochen erst kennenlernte. Zuvor, als sie Markus den Vorschlag machte, zu ihm zu wandern, war sie überzeugt gewesen, dass dieser sie ernähren konnte. Er war selbst immer ins Schwärmen gekommen von seinen angepflanzten Karotten.
»Ich dachte nur, er hätte Ahnung vom Pflanzen und so. In seiner Wohngemeinschaft haben sie einen großen Garten, in dem sie Karotten und Salate anpflanzen«, versuchte Ashley den jungen Betriebswirtschaftsstudenten in ein besseres Licht zu rücken. Doch Markus prustete nur los und lachte herzlich über den kläglichen Versuch.
»Willst du dich nur noch von Karotten und Salat ernähren? Wie ein Kaninchen!«, schallte seine Bemerkung durch den großen Garten des luxuriösen Anwesens.
Beschämt murmelte sie ein, »ist doch besser als gar nichts.« Doch diese Bemerkung ging bei Markus’ Lachen unter.
Er war im Recht. Sie mussten etwas unternehmen. Sie brauchten Essen, und wer wusste schon, wie lange sie noch verschont blieben von den Überfällen. Früher oder später würden hungrige Menschen versuchen, hier einzubrechen. Schließlich sah alles gut und luxuriös aus. Dass sie auch ohne Nahrung waren, konnten die verzweifelten Rebellen ja nicht wissen.
»Wir sollten aufbrechen. Da gebe ich dir recht. Und wir werden aus Zürich gehen, zu unserem Onkel«, brachte Ashley endlich eine in ihrem Kopf schlauwirkende Lösung zutage. Markus verschluckte sich an einem Lacher und sah sie dann bestürzt an, wollte bereits protestieren, doch Ash ließ es nicht zu.
»Fang gar nicht erst an, wenn du keine schlauere Idee hast. Wir werden jetzt ins Haus gehen, sämtliches Zeug packen, was brauchbar sein könnte und dann werden wir morgen das Haus verlassen. Hier werden wir nicht mehr lange ungestört bleiben können. Geschweige denn überleben.« Ihre Augen funkelten Markus über die Flammen hinweg unerbittlich an. Schließlich nach langem Hin und Her Überlegen nickte dieser leicht mit dem Kopf.
Es war schon früher meistens so gewesen, dass Ashley die Oberhand behielt. Markus prahlte und hatte eine riesengroße Klappe. Am Ende jedoch setzte sich Ashley durch. Eine Weile noch ergötzten sie sich an der Wärme des Feuers, ehe sie sich ins Haus aufmachten, um ihr Vorhaben umzusetzen. Ash packte einige Kerzen und ein paar Feuerzeuge ein. Alte Zeitungen, einen kleinen Notfallkasten mit Verbandszeug und Medikamenten und Toilettenpapier, so wie noch Platz war.
Markus packte ein Klappmesser ein, einige warme Klamotten für ihn und Ashley und Decken, die sie in den Nächten warm halten sollten. Als sie fertig waren mit packen, schlich Ash hoch in ihr Zimmer und hielt dann im Gang inne.
Dort an der Wand hingen zwei überkreuzte Katanas. Japanische Schwerter. Konnten sie die gebrauchen, oder war dies nur zusätzliches Gewicht?
»Markus! Sollen wir Vaters Schwerter mitnehmen?« Markus folgte ihrem Ruf und kam in den Gang hinaus. Einen Moment zögerte er, doch dann trat er an die Wand und hob den Halter, in dem die beiden Schwerter steckten, herunter. Vorsichtig nahmen sie die Schwerter und begutachteten diese.
»Dad, du alter Gauner!«, schrie Markus plötzlich verblüfft aus. »Diese Klingen sind sogar scharf. Ich wette, Dad hat nirgends einen Waffenschein für scharfe Klingen.« Ashley runzelte die Stirn und prüfte vorsichtig die Schneide.
»Ich wusste gar nicht, dass man einen Waffenschein benötigt für Schwerter.« Markus sah sie kurz an und zuckte dann mit der Schulter.
»Ich bin mir auch nicht sicher. Aber eins ist klar, die nehmen wir mit. Vielleicht retten die uns noch das Leben.«
Somit war es beschlossen und sie nahmen die beiden Schwerter mit hoch in ihre Zimmer, unwissend, dass sie die Waffen noch in derselben Nacht brauchen würden.
Ashley und Markus schliefen tief und fest, als die Eindringlinge den Zaun überwanden und auf das Haus zu schlichen. Sie waren maskiert, trugen schwarze Kleider und der eine oder andere führte ein grosses Messer bei sich, welche im Licht des Mondes gefährlich aufblitzten. Mit einem Stein schlugen sie die große Fensterfront zum Wohnzimmer ein und drangen von dort ins Haus, auf der Suche nach Essbarem oder Wertgegenstände, die sie tauschen konnten. Das Klirren der Glasscheibe holte Markus aus seinem Schlaf. Schlaftrunken rieb er sich die Augen und versuchte, sich einen Reim auf das Geräusch zu machen. Aufmerksam horchte er in die Stille. War Ashley etwa unten und geisterte herum? Genervt drehte er sich in seinem Bett herum und wollte sich bereits wieder hinlegen, als er die Tür des Kühlschrankes zuschlagen hörte. Warum sollte Ashley den Kühlschrank öffnen, sie wusste genausogut wie er, dass dieser leer war. Sicher, dass etwas nicht stimmte, stand Markus auf und schritt leise zur Tür, öffnete diese einen Spalt und lauschte in die Dunkelheit des Flures. Dabei fiel es ihm schwer, sein lautschlagendes Herz zu ignorieren, um andere Geräusche wahrzunehmen. Doch tatsächlich. Im unteren Stock waren Menschen. Mehrere.
Zumindest nahm Markus dies an, anhand der Kommentare, die sie einander zu zischten. Unvermeidlich begann sein Herz schneller zu schlagen. Er zog das Katana hinter seinem Rucksack hervor und ging durch das gemeinsame Badezimmer ins Zimmer seiner Schwester.
»Ash«, versuchte er sie, so leise wie möglich, zu wecken. Er kniete neben ihrem Bett und schüttelte sie sanft aber bestimmt. Abermals flüsterte er: »Ash. Steh auf. Wir haben Eindringlinge im Haus.« Stöhnend schlug sie seine Hand weg und wollte sich wieder in ihre Decke hüllen, doch Markus ließ dies nicht zu.
»Ash. Aufstehen.« In diesem Moment konnte Markus hören, wie einer die Treppe leise erklomm. Das Holz der Stufen jedoch verriet ihn.
»Komm schon«, hauchte er seiner Schwester ins Ohr. Und dieses Mal mit Erfolg. Mürrisch schlug sie seine Hand weg und öffnete die Augen.
»Was?«, wollte sie fragen, doch Markus hielt ihr den Mund zu, und deutete mit der anderen Hand an, sie soll leise sein.
»Eindringlinge«, hauchte er ihr entgegen. Dann stand er auf, nahm das Katana in beide Hände und starrte auf die Tür, die hinaus auf den Gang führte.
Ashley war sofort hellwach, kletterte aus dem Bett und schnappte sich ihrerseits das andere Schwert. Noch nie hatte sie solch ein Ding in den Händen gehalten und doch fühlte es sich gut an. Richtig.
Sie würde sich einfach an den Figuren aus den japanischen Filmen halten, dann würde sie sicher das Richtige tun. Aufmerksam lauschte sie und konnte nun auch die Schritte draußen auf dem Gang hören.