Verlorene Engel - Frank Goldammer - E-Book

Verlorene Engel E-Book

Frank Goldammer

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Krimi
  • Serie: Max Heller
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Wie ein Schatten in der Nacht An dunklen Herbstabenden 1956 werden in Dresden wiederholt Frauen brutal vergewaltigt. Als auch noch eine tote Frau an der Elbe gefunden wird, werden in der verunsicherten Bevölkerung die Rufe nach Selbstjustiz laut. Kommissar Max Heller und sein Team ermitteln unter Hochdruck. Mithilfe eines weiblichen Lockvogels gelingt es ihnen, einen Verdächtigen festzunehmen. Der von Narben entstellte Mann gesteht zwar die Vergewaltigungen, leugnet aber den Mord. Sind vielleicht doch die von allen gefürchteten, desertierten russischen Soldaten die Täter? Die Lage eskaliert, als Hellers Familie in den Fall hineingezogen wird.

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Frank Goldammer

Verlorene Engel

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dresden, 25. Oktober 1956, Nacht

Max Heller fröstelte und zog sich den Mantel vor der Brust straff. Schon seit zwei Stunden saßen sie im Wagen, ihrem hellgrauen IFA F9, der inzwischen schon fünf Jahre alt war. Allein Oldenbuschs hingebungsvoller Pflege war es zu verdanken, dass der Wagen immer einsatzbereit war. Unzählige Male schon hatte der Wagen repariert werden müssen, und immer war es ein Kampf gewesen, an Ersatzteile zu kommen.

Nur mit Mühe gelang es Heller, ein Gähnen zu unterdrücken. Er versuchte sich zu strecken, drehte seinen rechten Fuß ein wenig, dehnte ihn. Noch wagte er es nicht, ihn richtig zu belasten. Die Operation vor drei Monaten war gut verlaufen. Wahrscheinlich hätten die Chirurgen schon viel früher diesen Eingriff vornehmen können. Sie hatten vernarbtes Gewebe entfernt, zwei miteinander verwachsene Knochen getrennt. Keine besonders schwere Operation. Aber Heller fühlte sich danach wie ein neuer Mensch. Seit Wochen lebte er ohne Schmerzen, vermisste sie fast und fürchtete gleichzeitig, sie könnten durch eine unbedachte Bewegung sofort wiederkommen.

Wenn er darüber nachdachte, wie viel Leid ihm erspart geblieben wäre, wenn er sich früher hätte operieren lassen, dann wurde er fast wütend.

Er sah kurz nach links zu Oldenbusch. Der starrte durch eines der Nachtferngläser, die sie nach langem Hin und Her aus den Altbeständen der Marine erhalten hatten. Oldenbusch bewegte es langsam nach rechts und dann nach links. Mit leisem Klicken stieß das überlange Gehäuse gegen das Seitenfenster. Vor ihnen lag der Alaunplatz in völliger Dunkelheit.

»Willst du dich nicht mal kurz ausruhen und die Augen schließen?«, fragte Oldenbusch leise.

»Ach, was«, flüsterte Heller, fühlte sich aber ertappt.

»Bestimmt ahnt er längst, dass nach ihm gefahndet wird.«

»Das wird er nach dem ersten Mal auch schon gewusst haben, doch hat es ihn leider nicht abgeschreckt.«

»Ich glaube nicht, dass der hier auftaucht. Bisher hat er sich doch drüben in der Altstadt herumgetrieben«, murmelte Oldenbusch.

Heller ging nicht auf die Mutmaßungen seines langjährigen Kollegen ein. Er wusste, dass Werner gern mit sich selbst sprach. Heller griff in seine Manteltasche, holte eine kleine Blechdose heraus, entnahm ihr eine Salmiakpastille und steckte sie sich in den Mund. Seit Kurzem war er auf den Geschmack gekommen. Er mochte die bittere scharfe Note, auch wenn sie ihm manchmal fast zu stark war. Jetzt half es ihm, wach zu bleiben.

»Was meinst du, wie lang wird diese Maßnahme andauern? Ich meine, es ist ja nicht unsere Abteilung. Man wünschte sich ja fast …« Oldenbusch verstummte.

»Was? Dass ein Mord geschieht?« Heller schnaubte belustigt durch die Nase. Er kannte Werner Oldenbusch schon eine halbe Ewigkeit und wusste genau, wie er so eine Bemerkung zu interpretieren hatte. Er warf einen raschen amüsierten Blick auf seinen gutmütigen Kollegen, der wie eh und je mit seinem Gewicht kämpfte und sich gerade mal wieder einen Bart hatte wachsen lassen.

»Du weißt schon, was ich meine, Max. Wir sind schließlich keine zwanzig mehr. In unserem Alter sollte man schlafen um diese Uhrzeit!«

Doch Heller hatte keine Gelegenheit, zu antworten. Er hatte in der Dunkelheit eine schwache Bewegung registriert.

»Werner, dort!«, zischte er und zeigte auf den Hang hinter der Garnisonkirche.

Oldenbusch suchte mit dem Nachtglas den Hang ab.

»Ich sehe nichts!«, flüsterte er.

»Jetzt sehe ich auch nichts mehr, aber ich bin sicher, da hat sich was bewegt«, sagte Heller.

»Wollen wir nachsehen?«

»Nein, warte noch!«

Oldenbusch nickte und hielt sich das Fernglas unverwandt vor die Augen. Unvermittelt schlug er Heller sacht mit dem Handrücken an die Schulter, ohne die Augen von den Okularen abzuwenden. »Kommt genau auf uns zu«, zischte er. »Nein, jetzt biegt er ab. Max, der schleicht hier herum!«

»Dann komm!« Heller nahm die Taschenlampe, öffnete vorsichtig die Autotür und schob sich aus dem Wagen. Oldenbusch folgte ihm, und beide ließen die Türen offen. Der Verdächtige sollte nicht auf sie aufmerksam werden.

Heller deutete Oldenbusch an, der Person links den Weg abzuschneiden. Heller entschied sich dafür, nach rechts zu laufen, und zog dabei seine Pistole. Er vernahm ein kaum hörbares Zischen und sah zu Oldenbusch hinüber, der ihm zu verstehen gab, dass der Verdächtige die Richtung wieder gewechselt hatte. Heller duckte sich hinter einem Gebüsch und sah den Mann, der nun beinahe direkt auf ihn zusteuerte. Offenbar hatte er in dem Moment Oldenbusch entdeckt, denn er ging jetzt ebenfalls in Deckung, kaum zehn Meter von Heller entfernt. Blitzschnell traf Heller eine Entscheidung und ging aus der Deckung.

»Stehen bleiben! Polizei! Sie sind umstellt!«, rief er, richtete seine Waffe auf den Mann, um ihm gleichzeitig mit der Taschenlampe ins Gesicht zu leuchten.

»Oh Gott, ich hab doch nichts gemacht!«, keuchte der Fremde und richtete sich auf. Er war etwa dreißig, schlecht rasiert und seine Kleidung machte einen verschlissenen Eindruck.

Oldenbusch kam angerannt. »Was haben Sie da? Fallen lassen!«

Der Mann ließ das Bündel fallen, das er unter dem Arm trug, und hob die Hände. »Nichts, das gehört mir. Wirklich, ich hab es nur zurückgeholt!«

»Ich hab ihn!«, gab Oldenbusch zu verstehen. Als Heller das leise Klirren der Knebelketten vernahm, steckte er seine Waffe weg.

»Was ist das?«, fragte Heller und deutete auf den in ein Tuch eingewickelten Gegenstand auf dem Boden. Für eine Pistole war das Bündel eigentlich zu groß, schätzte Heller.

»Das ist nur ein Kofferradio. Es gehört mir, wirklich! Jemand hat es mir geklaut, ich habe es mir nur zurückgeholt«, rief der Mann.

Heller kauerte sich hin und schlug das Tuch auf. Es war tatsächlich ein altes Kofferradio. Er richtete sich wieder auf und spürte, wie die Anspannung in ihm nachließ.

»Können Sie sich ausweisen? Wir müssen Sie mit aufs Revier nehmen.«

»Aber warum?«, fragte der Mann ungläubig.

»Das erkläre ich Ihnen im Auto.«

 

»Ob es nicht sinnvoller ist, eine offizielle Meldung zu machen?«, fragte Oldenbusch, nachdem sie den Mann zum nächsten Revier gebracht hatten und wieder im Wagen saßen.

»Du weißt doch, Werner, so was wird nicht gern verbreitet«, seufzte Heller.

»Aber es ist doch eine Gefahr, und es spricht sich sowieso herum. Cornelia hat mich auch schon gefragt, ob etwas dran sei an der Geschichte, dabei hatte ich ihr noch nichts davon erzählt.«

»Werner, warum fragst du mich das immer? Meine Meinung kennst du. Natürlich müsste man die Bevölkerung warnen.«

Immerhin hatten sie es mit einem Mann zu tun, der schon drei Frauen vergewaltigt hatte. Genosse Helfrich von der Kriminalabteilung 5 und Leiter der Sitte hatte sogar angedeutet, dass es noch mehr sein könnten. Die Beschreibungen der betroffenen Frauen deuteten auf einen Einzeltäter hin, der seine Opfer willkürlich, ohne ein besonderes Schema auswählte. Er war jedes Mal im Besitz einer Waffe gewesen, eingewickelt in ein Tuch, die er aber bisher nur zur Drohung verwendet hatte. Es war gar nicht sicher, ob es sich wirklich um eine Pistole handelte. Auf Drängen Helfrichs hatte man in den letzten Tagen alle verfügbaren Kräfte gebündelt, um den Sexualstraftäter zu stellen. Das bedeutete auch für Heller und seine Leute Nachtschicht.

Heller unterdrückte ein Gähnen, was aber kaum gelang. Oldenbusch ließ den Motor an.

»Hast du eigentlich auch gehört, dass in Ungarn irgendwas los sein soll? Eine Kollegin von Cornelia kann doch Russisch, und gestern waren zwei Offiziere der Sowjets im Laden, die sich darüber unterhielten.«

Heller schwieg einen Moment. Sein Vorgesetzter hatte ihm vertraulich berichtet, dass in Ungarn die alte Regierung gestürzt und aus mehreren Parteien eine neue gebildet worden war. Hunderttausende waren angeblich auf den Straßen gewesen. Niesbach wusste auch, dass es Tote gegeben hatte. Offensichtlich war das Militär schnell auf die Seite der Aufständischen gewechselt. Angeblich hätte man die Sowjetunion aufgefordert, ihre Truppen aus Ungarn abzuziehen. Das konnte nicht gut gehen, fürchtete Heller. Nicht, nachdem vor drei Jahren erst der Aufstand in der DDR niedergeschlagen worden war.

»Mehr weiß ich auch nicht«, flunkerte Heller und vermied es, Oldenbusch anzusehen. Er hatte Niesbach versprochen, mit niemandem darüber zu reden. »Wie lang haben wir noch?«

Er hätte nur auf seine Armbanduhr sehen brauchen, doch er war zu müde, selbst für diese kleine Bewegung.

»Zwei Stunden noch«, schniefte Oldenbusch.

»Dann gehen wir noch einmal auf Position.«

»Jetzt passiert doch eh nichts mehr.«

»Werner, Dienst ist Dienst!«

Dresden, 26. Oktober 1956, Abend

Karin öffnete ihren Mantel und warf noch einen kurzen, beinahe fragenden Blick auf Anni, die zwischen ihr und Heller stand. Das Mädchen schwieg und sah zu Boden. Dann hob Karin die Hand und klopfte an die Tür.

»Kommen Sie nur herein!«, rief es von drinnen.

Karin öffnete die Tür und schob Anni, die leichten Widerstand zu leisten schien, vor sich her in das Vorbereitungszimmer. Heller folgte den beiden. Frau Spittel, Annis Klassenlehrerin, hatte sich schon erhoben.

»Möchten Sie ablegen?«, fragte sie und reichte Karin und Max Heller die Hand.

»Willst du nicht Guten Tag sagen?«, ermahnte Karin das Mädchen streng.

»Wir haben uns doch heute schon gesehen«, beschwichtigte die Lehrerin und lächelte Anni an. Sie war eine freundliche junge Frau. Hellers kannten sie seit fast vier Jahren.

Karin ließ das unkommentiert. Heller half ihr aus dem Mantel und war froh, selbst auch seinen Mantel ablegen zu können. Es war unerträglich warm im Schulgebäude. Frau Spittel wies sie an, am Tisch Platz zu nehmen.

Anni hatte ihren Mantel angelassen, vielleicht in der vagen Hoffnung, die Sache so ein wenig beschleunigen zu können. Heller hoffte dagegen, Karin würde ihn noch einmal ansehen. Er hätte ihr gern zu verstehen gegeben, dass sie die Sache nicht so verbissen sehen sollten. Wenigstens mit einem Blick, einem Zwinkern.

»Es freut mich sehr, dass Sie beide Zeit gefunden haben, dieses Gespräch wahrzunehmen«, begann Frau Spittel. Heller sah ihr an, dass sie sich große Mühe gab. Bestimmt war es für eine junge Frau nicht immer leicht, den oft älteren Eltern ihre Anliegen zu vermitteln. In diesem Falle waren sie ja sogar noch älter als der Durchschnitt.

»Ich hoffe, Sie haben sich nicht allzu große Sorgen gemacht. Anni hat nichts ausgefressen. Sie ist sogar ganz lieb. Mir ist nur in letzter Zeit aufgefallen, dass sie sehr viel ruhiger ist als bisher. Und ihre Zensuren lassen ein wenig nach. Das ist nicht schlimm, aber doch auffällig. Sie verdirbt sich die guten Noten oft mit Schusselfehlern. Stimmt’s? Du bist eine Schusselliese in letzter Zeit.« Frau Spittel stupste Anni an, die daraufhin sogar ihren Mund zu einem Lächeln verzog.

»Seit Beginn des neuen Schuljahres kommt es in der Klasse immer mal zu Reibereien, an denen auch Anni beteiligt ist. So wie alle anderen Kinder auch. Das ist ganz normal, die Kinder werden eben älter und entdecken ihre Persönlichkeit. Einmal kam ich jedoch dazu, als sie als Schlüsselkind gehänselt wurde. Hat sie vielleicht daheim darüber gesprochen?«

»Nein!« Karin griff sacht nach Annis Handgelenk. Anni sah sie kurz an und zuckte dann mit den Achseln.

Sie war auch zu Hause stiller geworden, überlegte Heller. Nicht auffallend, doch wenn er jetzt darüber nachdachte, war es nicht von der Hand zu weisen.

Frau Spittel nahm einen Zettel und legte ihn Karin vor. »Ich denke, Anni müsste den Mut haben und uns erzählen, wenn ihr etwas auf dem Herzen liegt. Doch sie verschließt sich, sobald ich oder eine meiner Kolleginnen sie fragen. Das hier sind ihre Zensuren«, sagte sie und deutete auf den Zettel, »Sie müssten sie kennen, aber ich habe sie Ihnen noch einmal aufgeschrieben. Wie gesagt, es sind ja keine schlechten Noten, alles Zweien, aber schade ist es doch. Sie gehörte immer zu den Besten. Vielleicht können Sie auf Anni ein wenig eingehen?«

»Gut, das machen wir«, sagte Karin und wirkte erleichtert. Vermutlich hatte sie sich auf schlimmere Nachrichten eingestellt.

»Einen Punkt habe ich aber noch. Letzten Freitag sagte sie, sie hätte kein Milchgeld mitbekommen. Deshalb hatte sie diese Woche keine Milch. Gestern gab es dann einen Streit um eine Milchflasche, die übrig geblieben war, und Jürgen behauptet, sie hätte sie ihm vor die Füße geworfen, weil er melden wollte, dass Anni sie genommen hatte.«

»Das stimmt gar nicht!«, entfuhr es Anni. Für einen Moment stand ihr der Zorn ins Gesicht geschrieben, dann aber kniff sie den Mund fest zusammen, während sich Tränen in ihren Augen sammelten.

»Ist etwas passiert? Hat sie den Jungen verletzt?«, fragte Heller.

»Nein, es musste nur gewischt werden.«

»Das Milchgeld haben wir wohl tatsächlich vergessen, das ist sehr ärgerlich. Du hättest auch daran denken können«, wandte sich Heller an Anni.

Sie sah ihn verblüfft an.

 

»Was hast du mit dem Geld gemacht?«, fragte Heller, als sie zu dritt nebeneinander nach Hause liefen. Es wurde schon dunkel, kaum dass es später Nachmittag geworden war.

Anni murmelte eine Antwort.

»Bitte lauter, Anni!«

»Ich habe mir und Vera Schokolade gekauft.«

»Anni, das sollst du doch nicht tun. Auch nicht für Vera. Ihr geht es gut!«

»Aber das Baby schreit immerzu.«

»Das stimmt schon, aber das ist noch lange kein Grund, ihr Schokolade zu kaufen. Das Geld ist für die Milch, für deine Schulmilch, und die ist wichtig, für die Knochen«, schimpfte Karin, aber ohne Nachdruck. »Ärgern sie dich, weil du ein Schlüsselkind bist?«

»Die sind nur neidisch«, sagte Anni ausweichend.

»Also ärgern sie dich?«

»Nur ein bisschen.«

»Aber warum sagst du uns das nicht?«, fragte Karin und bekam nur ein Schulterzucken zur Antwort.

Heller sah Karin über Anni hinweg an und schlug die Augen nieder. Er wusste, dieses Schulterzucken mochte seine Frau nicht. Karin nickte, verzog aber die Mundwinkel.

»Das Milchgeld muss ich dir vom Taschengeld wegnehmen.« Heller hielt Anni die Hand hin. Sie nahm sie und akzeptierte die Strafe ohne Widerspruch. »Und ich will, dass deine Zensuren wieder besser werden. Und wenn dich jemand ärgert, gibst du uns Bescheid.«

 

»Ob sie geärgert wird, weil ich Polizist bin?«, fragte Heller abends, nachdem Anni ins Bett gegangen war. Bald würde er zur Nachtschicht aufbrechen müssen. Das Abendbrot war seit einer Woche die einzige Mahlzeit, bei der sie zu dritt am Tisch saßen. Karin hatte den Tisch abgeräumt und setzte sich nun wieder zu ihm.

»Ach was, dafür wurde sie doch immer bewundert.«

Heller schnaubte leise. Einmal war er vor ihrer Schulklasse aufgetreten, und die erste Frage, die ihm ein Junge stellte, war, ob er schon mal jemanden erschossen habe. Er hatte gelogen, als er die Frage verneinte.

»Aber glaubst du denn, es liegt daran, dass sie allein nach Hause geht und wir nicht da sind?«

Auch das wollte Karin nicht glauben. »Das machen doch andere Kinder auch. Wer weiß. Mich ärgert nur, dass sie nichts sagt. Sie hat sich mir doch sonst immer anvertraut.«

»Sie entwickelt eben ihre Persönlichkeit«, antwortete Heller und stellte im gleichen Moment fest, dass er nur die Worte der Lehrerin übernommen hatte. Er sah Karin die Sorgen an. Dabei war noch gar nichts geschehen. Die Lehrerin hatte vielleicht nur Angst, eine ihrer besten Schülerinnen zu verlieren.

»Weißt du, woran ich oft denke?«, fragte Karin.

Heller hatte eine Ahnung, wollte das aber nicht aussprechen. Er wählte den leichteren Weg, indem er den Kopf schüttelte.

»Ich frage mich, ob nicht da draußen irgendwo jemand herumläuft, der Anni sucht, der sich fragt, was aus ihr geworden ist. Der sich Vorwürfe macht, sie noch nicht gefunden zu haben«, flüsterte Karin ganz leise. Anni sollte nichts davon hören.

Heller hatte richtiggelegen mit seiner Ahnung, und es war ein seltsam gutes Gefühl, zu wissen, wie ähnlich Karin und er dachten.

»Wir können nichts daran ändern. Wir sorgen gut für sie.«

»Ich weiß das alles, Max«, hauchte Karin, »aber du weißt, wie ich es meine?«

»Ich weiß es.«

Sie sah ihn eine Weile stumm an, dann wechselte sie abrupt das Thema.

»Was habt ihr denn vor mit diesem schrecklichen Menschen? Kann man ihn nicht festsetzen? Es hat sich bereits herumgesprochen. Frau Eigner fragte mich schon, ob ich was wüsste, ob es stimmt, dass da einer herumläuft und Frauen vergewaltigt. Fahren die Sowjets deshalb seit Tagen mit ihren Geländewagen durch die Gegend?«

»Mit den Sowjets hat das nichts zu tun, soviel ich weiß. Wir stehen auf Posten an allen Plätzen. Uniformiert und zivil. Was soll man sonst tun? Es gibt kaum Anhaltspunkte. Die Frauen meinten, er sei stark, sein Gesicht ist maskiert, er spricht kaum. Er hat angeblich eine Pistole, aber richtig sicher war sich keine. Er schlägt überall zu. Er war in Reick, in Gruna, in Löbtau, einmal sogar in Kaditz. Das haben wir erst kürzlich erfahren, weil sich die Frau erst Wochen später bei der Polizei gemeldet hat, so peinlich war ihr das. Wir müssen ihn schnappen.«

Es war nicht Hellers Fall. Die Sitte war dafür zuständig. Er half nur aus. Der Verdächtige, den er erwischt hatte, war ein Einbrecher gewesen. Der Vergewaltiger aber schien es nicht zu sein.

Karin zuckte mit den Schultern. »Kann sich nicht eine als Lockvogel ausgeben?«

»Karin, überleg doch mal, wie gefährlich das ist. Und wer soll sich denn bereit erklären?«

»Aber wenn man nichts tut, dann nimmt er sich bald die Nächste. Dann soll sich doch ein Mann als Frau verkleiden!«

Darüber hatten sie tatsächlich schon nachgedacht. Es gab auch schon Freiwillige, nur waren die allesamt zu groß und zu kräftig, um ein potenzielles Opfer darzustellen. Alle Verkleidungsversuche waren in einer Groteske geendet.

»Denkst du daran, dass Klaus und Erika am Sonntag zum Kaffee kommen.«

»Ob das eine gute Idee ist?«, fragte Heller.

»Du meinst wegen des Ungarnaufstandes?«

»Er wird uns erklären wollen, warum er niedergeschlagen werden muss.«

»Das macht er so oder so. Ich werde versuchen, das Thema zu umgehen, es hat eh keinen Zweck.« Karin winkte resigniert ab. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Sag mal, Max, stimmt das? Du bekommst eine Auszeichnung?«

Heller sah erstaunt auf. »Woher weißt du das?«

Karin lächelte.

»Ach, ich weiß schon, von Werners Frau«, schlussfolgerte Heller. Karin und Cornelia hatten sich kürzlich bei einer Feier kennengelernt und hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Hin und wieder verabredeten sie sich oder Karin machte einen Umweg zu dem Konsum, in dem Cornelia Oldenbusch arbeitete. Karin nahm sich schon seit Längerem mehr Zeit, um unter Leute zu kommen. Heller hatte nichts dagegen, wusste er doch, dass sie einen Weg suchte, die Enttäuschung über die kurzfristig geplante und dann doch verpasste Flucht in den Westen zu verarbeiten. Auffallend oft erklärte sie ihm, wie gut und richtig es gewesen war, nicht zu gehen. Für Heller klang es eher so, als müsste sie es sich selbst immer wieder einreden.

»Jetzt sag schon, wird es eine Feier geben? Gibt es etwas dazu? Eine Prämie? Urlaub vielleicht?« Sie sah ihn auffordernd an.

Heller hob halb verlegen die Schulter. »Du weißt doch, das ist nur …«

»Sag es gar nicht erst!«, unterbrach Karin ihn lachend. »Die haben längst aufgegeben, dich zu agitieren. Die wissen, dass du ein sturer Kopf bist. Wenn du jetzt sagen würdest, du willst SEDler werden, würden die das für einen guten Witz halten.« Dann wurde sie ernster. »Max, vielleicht wollen sie dich einfach belobigen für deine Arbeit. Es wäre wirklich an der Zeit, das wissen doch alle. Du hast genug beigetragen zum Aufbau des Sozialismus. Aber weißt du, wer eigentlich einen Orden bekommen müsste?« Karin sah ihn mit großen Augen an.

»Du, Karin, Held der Arbeit!«, sagte Heller und lächelte.

»Held des Aushaltens!«

Im nächsten Moment begann das Telefon zu läuten.

»Siehst du, gleich geht es wieder los!«

»Bin ich zu spät?«, fragte Heller, verglich die Uhrzeit auf seiner Armbanduhr mit der auf der Küchenuhr. Eigentlich war noch Zeit. Eilig ging er in den Flur zu dem neuen grünen Telefonapparat, den man ihm eingerichtet hatte.

»Heller«, meldete er sich und lauschte in den Hörer. Schlagartig erlosch sein Lächeln. »Ich bin auf dem Weg!«

 

»Wurde sie bewegt?«, fragte Heller, duckte sich unter dem niedrigen Bogen der Fußgängerbrücke über den Prießnitz-Bach, einem drei Meter breiten Wasserlauf, der hundert Meter weiter in die Elbe mündete. Es war windig und kalt geworden. Schwere Wolken waren über dem Elbtal aufgezogen. Ein paar Tage zuvor hatte der Oktober noch ein wenig Sommer vorgegaukelt, nun kam schlagartig Herbst auf.

Genosse Helfrich war sich nicht sicher. »Von den Leuten, die sie fanden, hat wohl einer ihr Handgelenk angefasst. Aber ich denke, wirklich bewegt wurde sie nicht.«

Heller ging in die Hocke und leuchtete ins Gesicht der Toten. Es war eine junge Frau. Die Farbe ihrer Haare war nicht eindeutig, vielleicht aschblond, doch die herbstliche Feuchte hatte es dunkel werden lassen. Nun langte Heller selbst nach ihrem Handgelenk. Es fühlte sich kalt an. Sie musste schon länger tot sein. Mit der Lampe leuchtete er an dem Körper entlang. Die Frau trug einen Mantel, der aufgeknöpft war, darunter einen Pullover. Er war samt dem Unterhemd hochgeschoben worden, doch nur so weit, dass der Bauchnabel zu sehen war. Ihr Rock war lang und sah aus, als hätte sie ihn sich zwischen die Beine geklemmt. Vielleicht hatte sie das auch, um ihre Blutung zu stillen. Im Schritt war der Stoff blutdurchtränkt, schwarz geronnen.

Helfrich kauerte sich jetzt neben Heller. »Sie ist verblutet, nehme ich an.« Dann sah er sich um und richtete sich auf. »Die Techniker kommen.«

Heller erhob sich mit knackenden Knien und machte Platz. Zwei Polizisten bauten Scheinwerfer auf, ein anderer öffnete einen ledernen Koffer.

»Warten Sie mal!« Heller war im grellen Scheinwerferlicht etwas aufgefallen. Noch einmal nahm er das Handgelenk der Toten. Kaum merkliche Druckstellen, wie sie ihm bei Karin gelegentlich auffielen, deren Damenuhr ein Metallarmband hatte.

»Die Uhr fehlt, notieren Sie das. Schauen Sie, ob sie hier zu finden ist. Wenn nicht, hat vielleicht der Täter die Uhr. Der Gerichtsmediziner soll sie übernehmen, sobald Sie hier fertig sind. Mir entfällt immer sein Name … Doktor Schneller …?«

»Schellbach«, half einer der Techniker aus.

»Danke.« Heller hatte Mühe, sich diesen Namen einzuprägen. »Ich nehme an, er wurde schon informiert?«

Schellbach hatte vor zwei Monaten die neu gegründete Abteilung für Gerichtsmedizin übernommen, nachdem Doktor Kassner überraschend abgelehnt hatte. Die Leitung des Pathologischen Instituts, die ihm gleichzeitig angeboten worden war, versprach ihm mehr Renommee. Schellbach kam aus Rostock, sprach aber kein ausgeprägtes Norddeutsch. Ihm wurde, trotz seiner Jugend, große Kompetenz nachgesagt. Heller zweifelte insgeheim daran, wollte aber nicht vorschnell urteilen.

»Er ist auf dem Weg.«

Heller hörte schwere Schritte.

Oldenbusch kam von der Befragung der Zeugen zurück. »Keine neuen Erkenntnisse. Der eine hat seinen Hund Gassi geführt und hat ihn von der Leine gelassen. Der ist wohl sofort hier hinuntergerannt und hat Laut gegeben. Der Hundehalter ist ihm nachgelaufen und hat die Frau gefunden. Dann hat er ein paar Spaziergänger informiert. Die sind in die Diakonie gelaufen, um die Polizei zu rufen. Daraufhin haben sich hier bald zwanzig Leute eingefunden.

»Das war es dann wohl mit der Geheimhaltung«, kommentierte Helfrich.

Oldenbusch winkte ab. »Was gibt es denn noch geheim zu halten? Die ganze Stadt spricht schon darüber. Und nun ist geschehen, was sowieso schon alle befürchtet hatten.«

»Unk mal nicht, Werner, noch wissen wir gar nichts«, ermahnte Heller ihn und wusste doch nur zu genau, dass man von der Bevölkerung kaum so viel Geduld erwarten konnte.

Dresden, 26. Oktober 1956, später Abend

Niesbach wartete, bis sich alle gesetzt hatten und Ruhe im Beratungszimmer eingekehrt war. Der Mann war inzwischen kahlköpfig geworden, aber immer noch hager in seiner Gestalt. Sein Magen ließ ihm seit Jahren keine Ruhe. Die Beschwerden fesselten ihn regelmäßig mit schweren Krämpfen für einige Tage ans Bett. Heller, als Leiter der Kriminalabteilung 1, war am Tisch links, neben dem Kripochef, ein Platz zugewiesen worden. Rechts neben Niesbach war ein Platz freigehalten worden. Ihnen gegenüber saßen etwa zwanzig Kollegen aus verschiedenen Abteilungen, die man eilig zusammengerufen hatte. Auch einige Männer vom Ministerium für Staatssicherheit waren dabei. Seinen Sohn Klaus konnte Heller unter ihnen nicht entdecken.

»Genossen«, begann Niesbach, »die neuesten Entwicklungen stellen uns vor eine wichtige und sehr dringliche Aufgabe. Unser Versprechen zum Schutze der Bürger unseres Landes wird eingefordert. Wie Sie alle schon informiert worden sind, kam es in den letzten Monaten zu sechs Fällen schwerer sexueller Nötigung, über die gesicherte Kenntnisse vorliegen. Der Täter ging dabei willkürlich vor, weder was die Orte seiner Taten angeht noch die Auswahl seiner Opfer, lässt sich ein bestimmtes Schema ausmachen. Heute gab es einen Leichenfund an der Prießnitz-Mündung. Eine Frau. Sie ist inzwischen nach ihren Papieren als Marie Pressler identifiziert. Die Frau war einundzwanzig, von Beruf Näherin. Sie war schon gestern nicht zur Arbeit erschienen. Wir warten noch auf die Ergebnisse der Untersuchung, doch liegt die Vermutung nahe, dass sie dem Täter gestern zum Opfer gefallen ist. Oberkommissar Heller, bitte!«

Max Heller hatte schon auf seinen Einsatz gewartet. »Es ist nicht sicher, ob der Fundort der Leiche auch der Tatort ist. Es ist möglich, dass der Täter die Frau dorthin brachte, um sie zu verstecken. Wir können auch nicht wissen, ob sie zu dem Zeitpunkt noch lebte. Möglich wäre es. Vielleicht wollte der Täter die Frau vor dem Krankenhaus der Diakonie ablegen, wurde dann aber gestört oder fürchtete, entdeckt zu werden. Wir gehen also nicht von einem Mord, sondern von einer gefährlichen Körperverletzung mit Todesfolge aus. Am Fundort der Leiche wurde ein halber Schuhabdruck im Schlamm gefunden, der auf eine große Schuhgröße hindeutet. Das Opfer war nur eins fünfundfünfzig groß und hatte ein Gewicht von zweiundfünfzig Kilogramm. Ein Mann ist vermutlich ohne Weiteres in der Lage, die Frau allein zu tragen. Wir lassen die Umgebung derzeit überwachen. Vielleicht kehrt der Täter zurück, um die Tote besser zu verstecken, sollte sich der Fund der Leiche nicht schon herumgesprochen haben.«

»Danke, Herr Oberkommissar«, übernahm Niesbach wieder. »Genau aus letztgenanntem Grund hat die Polizeidirektion in Absprache mit der Kreisparteileitung beschlossen, mit dem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen. Entsprechende Mitteilungen sind an die Redaktionen der bekannten Zeitungen übermittelt worden.« Niesbach zögerte kurz, sah auf die Uhr und dann zur Tür. Doch wen auch immer er erwartete, es war niemand da.

»Nach Angaben der betroffenen Frauen, die bisher zu einer Aussage bereit waren, schlich sich der Täter von hinten an seine Opfer an, immer waren es dunkle Gassen oder dunkle Abschnitte in Parks. Er legte ihnen den linken Arm um den Hals, bedrohte sie mit einem pistolenähnlichen Gegenstand. Er zwang sie, sich bäuchlings auf den Boden zu legen, dann legte er sich auf sie, presste ihnen die Waffe in die Rippen oder an die Schläfe und verging sich an ihnen. Danach verschwand er. Der Täter trug eine Maske oder ein helles Tuch über dem Kopf, in das er Augenlöcher hineingeschnitten hat. Dies ist unser einziger Anhaltspunkt. Die Anzahl der Männer wird aufgestockt, an allen Plätzen dieser Stadt, auch im Großen Garten, müssen an strategischen Punkten Posten stehen. Jeder, der verdächtig erscheint, muss kontrolliert werden. Er muss diese Maske bei sich haben und womöglich eine Waffe. Auf Anfragen aus der Bevölkerung soll geantwortet werden, wir sind ihm auf der Spur. Wir müssen Geduld beweisen. Der Täter wird sich denken können, dass wir verstärkt kontrollieren. Vielleicht zieht er sich zurück. Dagegen spricht die Meinung von Professor Doktor Meusel, den wir zur Beratung hinzugezogen haben. Meusel ist Leiter des Psychologischen Instituts. Er geht von einem triebhaften Verhalten aus. Die ersten Vergewaltigungen waren noch im Abstand von einigen Wochen erfolgt, jetzt verkürzt sich der zeitliche Abstand, so dass zwischen den letzten beiden Taten nur noch eine Nacht lag, was darauf hinweist, dass der Täter inzwischen seine Hemmungen gänzlich verloren haben muss. Bitte!« Niesbach gab einem Kollegen das Wort, der sich gemeldet hatte.

»Es kam doch schon die Idee auf, dem Täter mit einem Lockvogel eine Falle zu stellen. Wollen wir das nicht in Angriff nehmen?«

Niesbach verzog das Gesicht. Er war genauso wenig dafür wie Heller, das hatten sie schon besprochen. »Da der Täter im gesamten Stadtgebiet agiert und buchstäblich überall auftauchen kann, würde ein Lockvogel wohl gar nicht genügen. Außerdem kann ich es nicht verantworten. Wir wissen nicht, ob der Täter tatsächlich eine Waffe bei sich trägt und in der Not Gebrauch von ihr macht.«

Gemurmel wurde laut, welches Niesbach mit einer Handbewegung unterband. Bittend sah er zu Heller.

»Kollegen«, bat Heller um Gehör. »Ich bin beauftragt, eine Kommission, bestehend aus zehn Männern unterschiedlicher Abteilungen, zu gründen. Deren Aufgabe wird es sein, das Umfeld aller Opfer zu erforschen.«

»Warum denn das?«, rief Oberkommissar Helfrich dazwischen. Heller hatte damit gerechnet.

»Es mag sein, dass der Täter doch nicht so zufällig zuschlägt, sondern die Opfer eine Zeitlang beobachtete oder sie sogar kannte.«

»Aber die Opfer kannten sich nicht untereinander. Das haben wir längst überprüft!« Helfrich musste glauben, Heller zweifele seine Arbeitsmethoden an.

»Das heißt nicht, dass der Täter sie nicht kannte«, brummte Oldenbusch leise, doch seine tiefe Stimme war deutlich zu vernehmen. Heller schüttelte knapp den Kopf und hoffte, Werner würde das sehen. Er wollte keinen Streit mit seinen Kollegen.

Niesbach unterband jede weitere Diskussion. »Dass Oberkommissar Heller mit der Gründung der Kommission beauftragt wurde, hat die Direktion bestimmt. Er verfügt über genügend Erfahrung, um zu wissen, was zu tun ist. Und die Lage ist zu ernst, als dass wir uns über Kleinigkeiten in die Haare geraten.«

Heller ließ das unkommentiert. Er bemerkte seit einiger Zeit, dass man im Umgang mit ihm eine andere Taktik eingeschlagen hatte. Anstatt ihn dauerhaft zu agitieren, in die Partei einzutreten, schlug man ihn nun zur Belobigung vor, übertrug ihm neue Kompetenzen und beförderte ihn jetzt sogar. Es war, als wollte man nach außen zeigen, schaut wie offen wir sind, auch jemand wie Heller, bürgerlich, parteilos, gehört zu uns.

Da war ihm seine vorherige Rolle lieber gewesen.

Eine Tür klappte und ein junger Uniformierter eilte in den Raum, zögerte kurz, doch Niesbach winkte ihn heran. Der Polizist reichte Niesbach eine Mappe.

Niesbach setzte seine Lesebrille auf und überflog den Inhalt der Mappe.

»Also«, begann er, »Doktor Schellbach bestätigt, das jüngste Opfer starb an inneren Blutungen als Folge des gewaltsamen Eindringens in die Scheide. Vermutlich hätte man ihr helfen können, wäre sie zu einem Arzt gebracht worden. Vielleicht war es kein Mord, aber der Täter nahm ihren Tod zumindest billigend in Kauf.«

»Oder er wusste nichts von ihren Verletzungen, weil er gleich nach der Tat flüchtete«, fügte Heller hinzu.

 

»Das macht die Sache nicht besser«, sagte Niesbach.

Die Sitzung war vorüber, und sie saßen zusammen in Niesbachs Büro. Heller wusste, was gemeint war.

»Es ist ein juristischer Unterschied. Sexuelle Nötigung, Totschlag, Verletzung mit Todesfolge, Todesfolge billigend in Kauf genommen, Mord.«

Niesbach nickte ungeduldig. »Heller, ich muss es Ihnen bestimmt nicht sagen, aber die Ansage von oben ist eindeutig. Dieser Mann muss geschnappt werden. So etwas darf es hier bei uns nicht geben. Und ehrlich gesagt, die Idee mit dem Lockvogel scheint mir bei genauerer Betrachtung immer besser. Wir müssen agieren, anstatt zu reagieren. Wir müssen Ort und Zeit vorgeben. Es kann nicht jede Person überprüft werden.«

Heller entfuhr ein leises Schnauben. Es gab ein ganzes Ministerium, das sich genau damit beschäftigte, dachte er bei sich. Aber er hielt sich zurück. Er zeigte auf den Stuhl neben sich.

»Genosse Niesbach, für wen war der freie Stuhl gedacht? Hatte sich noch jemand angekündigt?«

Niesbach hob die Schultern. Heller kannte diese Geste. Sein Chef durfte ihm nichts erzählen.

»Heller, die Angehörigen des Opfers sind noch nicht informiert. Übernehmen Sie das, bitte!« Das war eine Aufforderung.

»Ich wollte mich sowieso da umsehen«, sagte Heller und sah Niesbach offen in die Augen. »Die Herren vom MfS haben noch nicht zufällig einen Zusammenhang zwischen den Opfern entdeckt?«

»Wir wüssten es«, erwiderte Niesbach schnell. »Zumindest in diesem Fall«, fügte er hinzu.

»Gut.« Heller erhob sich. »Wurde die Frau von jemandem als vermisst gemeldet?«

»Soviel ich weiß, nicht.«

Heller dachte kurz nach. »Es ist nach Mitternacht. Ich werde die Angehörigen morgen aufsuchen, was meinen Sie?«

»Vielleicht ist es besser.« Niesbach sah zum Fenster, durch dessen Ritzen der Wind fauchte. »Ich mag den Herbst nicht. Eine unangenehme Jahreszeit.«

Niesbach schwieg ein paar Sekunden, bevor er seinen Blick vom pechschwarzen Fenster löste. »Heller, ich werde demnächst aus dem Dienst scheiden. Aus gesundheitlichen Gründen. Mein Magen.« Fast entschuldigend hob er die Schultern. »Ende des Jahres. Ich hoffe, wir können diese Sache bis dahin abschließen.«

Heller hob leicht das Kinn. Er hatte damit schon gerechnet. Niesbach war in seinem Alter, und seine dauerhaften Magenbeschwerden ließen vermuten, dass es sich vielleicht doch nicht nur um harmlose Magengeschwüre handelte. Doch was immer es war, Niesbach trug es mit Fassung, und dafür zollte Heller ihm noch mehr Anerkennung.

»Und falls Sie sich fragen, wer meine Nachfolge antreten wird: Die Direktion hat zwei Kandidaten dafür ins Auge gefasst.«

»Appelt?«, fragte Heller. Der hatte Niesbach in den letzten Jahren immer mal vertreten. Ein korrekter Mann, soweit es seine Linientreue zuließ.

Niesbach nickte. »Ja, Appelt kommt infrage. Und Sie, lieber Heller!«

Dresden, 26. Oktober 1956, Nacht

»Dich wollen sie?«, fragte Karin. Sie war wach geworden, schon als sie ihn unten ins Haus hatte kommen hören. Heller nickte und legte sich neben Karin ins Bett.

»Appelt oder mich.«

»Und?« Karin setzte sich auf. »Wirst du das machen?« Sie überlegte. »Du müsstest nicht mehr durch die Kälte laufen.«

Das war es, woran sie als Erstes dachte, stellte Heller amüsiert fest. Dabei war das noch der schönste Teil seines Berufes, wenn er gelegentlich draußen sein konnte.

»Und wenn ich auch Magenbeschwerden bekomme?«, versuchte er es scherzhaft.

»Wenn du bisher noch keine bekommen hast, dann wirst du auch auf dem Posten keine kriegen«, sagte Karin trocken.

»Aber ich komme mir schon jetzt vor wie ein vorgeführtes Zirkuspferd. Warum wollen die ausgerechnet mich haben? Ob Klaus da seine Finger im Spiel hat?«

»Das ist ja ausgemachter Unsinn! Vielleicht könntest du dir endlich mal vorstellen, dass ihnen klar geworden ist, dass du ein guter Mann bist?« Karin sah ihn empört an.

Natürlich hatte er darüber nachgedacht. Und er fühlte sich sogar geschmeichelt. Doch wirklich überzeugt war er nicht. Er hielt an dem Gedanken fest, dass sie es jetzt mit dem Zuckerbrot probierten, nachdem die Peitsche nichts genutzt hatte.

»Irgendwas an dem Gespräch mit Niesbach war seltsam. Ich weiß es nicht genau, aber Niesbach hat wohl noch jemanden erwartet. Ich bin mir sicher, er hat mir gegenüber nicht alles gesagt.«

»Bezüglich des Vergewaltigers?«

Heller nickte und löschte das Licht. Über die Straße hinweg hörte man wie fast jeden Abend das Schreien des Babys von Eigners. Der Kleine schien an schweren Koliken zu leiden und brüllte sich manchmal stundenlang die Seele aus dem Leib.

Karin seufzte. Auch ihr war noch keine Idee gekommen, wie sie Frau Eigner mit dem Kind hätten helfen können.

»Ist denen vielleicht einer aus dem Zuchthaus ausgerissen, und sie wollten es nicht zugeben?«

»Möglich wäre das«, gab Heller zu. Er musste jetzt schlafen. Morgen stand ihm eine schwere Aufgabe bevor.

Dresden, 27. Oktober 1956, Morgen

Es hatte sich in der Nacht schon angekündigt, nun hatte das Wetter komplett umgeschlagen. Es regnete kalt, der Wind hatte noch zugenommen. Das Laub klebte auf dem Straßenpflaster.

»Du müsstest damit leben, dass sie Peter zu deinem Vorgesetzten machen, wenn er von seinem Studium zurück ist«, setzte Heller sein Gespräch mit Oldenbusch fort, während sie auf der Gambrinusstraße aus dem Auto stiegen. Er trat unnötig vorsichtig auf, wie er es seit Jahren gewohnt war. Er merkte, wie er automatisch auf den Schmerz in seinem rechten Fußknöchel wartete. Er blieb aus.

Die Luft roch nach Schnee und Schornsteinrauch.

»Das soll mir recht sein«, gab Oldenbusch unumwunden zu.

So kannte ihn Heller. Es war ihm klar, dass es auch Menschen geben musste, die nicht nach Höherem strebten, die nicht im Vordergrund stehen mussten. Und wenn er ehrlich mit sich war, hatte auch er keine großen Ambitionen, Chef der Dresdner Kriminalpolizei zu werden. Insgeheim hoffte er fast darauf, dass sie ihn nicht fragen würden. Appelt würde den Posten bekommen, und er könnte sich die letzten Jahre seines Berufslebens an ihm aufreiben und sich in dieser Rolle sogar gut gefallen.

»Da drüben ist die Nummer neun. Dort wohnte sie.« Oldenbusch deutete auf den nächsten Hauseingang. In der Friedrichstadt gab es noch einen Bestand alter Wohnhäuser, Mietskasernen aus der Vorkriegszeit, die von den Bombardements verschont worden waren, obwohl es Innenstadtgebiet war. Wie bei fast allen Altbauten war schon seit Jahren nichts zum Erhalt der Bausubstanz beigetragen worden.

Heller und Oldenbusch betraten das Haus, warfen einen Blick auf die Namensschilder auf der Haustafel und fanden den Namen Pressler. Heller sah auf die Uhr. Er hatte noch fünf Minuten Zeit bis zum ausgemachten Termin. Doch schon näherten sich eilige Schritte und ein uniformierter Polizist betrat den Hausflur.

»Stegmann, Abschnittsbevollmächtigter!«, stellte er sich vor und salutierte. »Fräulein Pressler wohnte allein in einer kleinen Wohnung ganz oben, ich kann Sie reinlassen, wenn Sie möchten!«

»Später. Wir sind zuerst daran interessiert, die Eltern ausfindig zu machen. Oder andere Verwandte.«

Der Mann verzog das Gesicht. »Offenbar hat sie keine Eltern mehr, sie sind jedenfalls nicht ausfindig zu machen. Ich habe auf der Meldestelle nachgefragt. Verwandte gibt es wohl auch keine hier. Fräulein Pressler kommt ursprünglich aus Cottbus und ist im Herbst fünfundvierzig nach Dresden übergesiedelt. Ich weiß aber, dass sie eine Freundin hat, Sabine Koch, die wohnt im Nachbarhaus. Und sie ist auch daheim.«

»Weiß sie, dass Fräulein Pressler tot ist?«, fragte Heller.

»Ich denke nicht.«

 

»Fräulein Koch, Stegmann hier, der ABV. Hier sind zwei Herren von der Kriminalpolizei, die möchten mit Ihnen sprechen!« Der Polizist klopfte energisch gegen die Tür. Dann lauschte er.

»Müsste da sein«, wandte er sich an Heller.

Heller schob ihn mit dem Handrücken beiseite.

»Oberkommissar Heller hier, Kriminalpolizei«, sagte er laut. »Ich muss mit Ihnen über Fräulein Pressler sprechen. Es ist dringend.«

Eine Nachbartür öffnete sich. »Die ist nicht da!«, nuschelte eine ältere Frau durch den Türspalt.

»Frau Krämer?«, las Heller vom Türschild ab. »Wann ist sie gegangen?«

»Gerade vorhin erst.«

»Und wissen Sie, wohin?«, fragte Heller.

»Wir reden nicht!«, erwiderte die Frau und schloss die Tür.

»Fräulein Koch ist nicht beliebt hier«, erklärte der ABV. »Normalerweise geht sie so früh nicht aus dem Haus.«

»Woher wissen Sie das so genau?«, fragte Heller.

Der ABV zuckte mit den Achseln. »Das gehört doch zu meinen Aufgaben. Außerdem wohne ich ja nur zwei Häuser weiter, da bekommt man viel mit.«

»Wieso ist Fräulein Koch denn nicht beliebt?«, mischte sich jetzt Oldenbusch ein.

Auch darüber wusste Stegmann Bescheid. »Wegen ihres Lebenswandels. Sie ist ledig und hat wohl immer mal Herrenbesuch.«

Heller quittierte das mit stoischem Blick. Er hatte gelernt, dass es weit wichtigere Dinge gab, über die man sich den Kopf zerbrechen sollte, als über das private Leben anderer.

»Lassen Sie uns noch einmal zur Wohnung von Fräulein Pressler gehen. Ich möchte einen Blick hineinwerfen!«, befahl er.

»Gibt es denn einen Grund dafür, wenn ich fragen darf?«

Heller zögerte kurz, nickte dann Oldenbusch zu, dass er den Mann in Kenntnis setzen sollte, und ging schon mal vor.

Einmal mehr fiel ihm auf, was das für ein gutes Gefühl war, schmerzfrei gehen zu können. Geradezu eine Befreiung, und er nahm sich fest vor, dies nicht so bald im Alltag untergehen lassen. Nun war er schneller denn je die Treppen hoch und wieder runter, und der korpulente, immer etwas kurzatmige Oldenbusch hatte Mühe, ihm zu folgen.

Heller wartete unten auf der Straße und zog die Schultern hoch und die Schiebermütze weiter in die Stirn. Es wehte ein kühler Wind. Aus dem Nachbareingang kam eine junge Frau. Heller nickte ihr grüßend zu, weil sie ihn eine Sekunde zu lang angesehen hatte. Vermutlich wäre sie ihm gar nicht aufgefallen, wäre sie nicht erschrocken zurückgezuckt. Heller reagierte schnell.

»Fräulein Koch?«, fragte er.

»Ja?«, erwiderte sie unsicher und sah sich um, als suchte sie nach einem Fluchtweg.

»Heller, Kriminalpolizei«, stellte er sich vor. »Kann ich Sie kurz sprechen?«

Die Frau nickte, sah dann aber sofort besorgt nach oben, als rechnete sie damit, den Kopf des einen oder anderen Nachbarn am Fenster zu sehen.

»Waren Sie gerade bei Fräulein Pressler?«

»Ja, aber sie ist nicht da«, stieß die junge Frau hervor. Sie trug einen modischen Mantel mit groß kariertem Muster und einen modernen Hut. Über der Schulter hatte sie eine große Tasche hängen.

»Wo könnte sie sein, wissen Sie das?« Heller trat ein Stück näher. Er wollte wissen, warum ihm die Frau so einen gehetzten Eindruck machte.

»Nun, sie sollte da sein. Ich weiß nicht …«

»Lassen Sie uns ins Haus gehen, ich muss Ihnen etwas sagen.« Heller nahm die Frau beim Oberarm und dirigierte sie sanft ins Haus zurück.

»Ist ihr etwas geschehen?« Die Frau hob sich die Hand vor den Mund.

»Sie wurde heute Nacht gefunden«, erklärte Heller leise. »Leider konnte man ihr nicht mehr helfen, sie ist verblutet. Anscheinend fiel sie einem Sexualstraftäter zum Opfer.«

»Was?«, schrie die Frau entsetzt auf. »Was?«

»Sie war Ihre Freundin? Eine gute Freundin?«

Frau Koch nickte unter Tränen, begann am ganzen Leib zu zittern.

Jetzt betraten Oldenbusch und Stegmann das Treppenhaus.

Stegmanns Miene hellte sich sofort auf. »Genosse Heller, das ist …«

»Ich weiß, gehen Sie schon hoch!«, bestimmte Heller schnell.

»Fräulein Koch«, sagte er, als die beiden Männer außer Hörweite waren. »Gibt es einen Grund, warum sich Fräulein Pressler auf der anderen Elbseite aufgehalten haben könnte? In der Neustadt.«

Die junge Frau brachte kein Wort heraus und schüttelte nur den Kopf.

»Sie haben keine Idee?« Heller sah die Frau unverwandt an. Sie schlug die Augen nieder und schüttelte wieder den Kopf.

»Wissen Sie vielleicht, ob es jemanden gab, der Ihrer Freundin nachstellte? Einen Mann, der sie verfolgte? Der vielleicht versucht hat, Kontakt zu ihr aufzunehmen? Sie ansprach oder anschrieb?«

»Nein«, presste die Frau hervor.

»Hat Sie Ihnen nichts davon gesagt? Hätte sie es Ihnen denn erzählt?«

»Ganz bestimmt«, schluchzte Frau Koch auf. »Sie hat mir alles erzählt.«

»Wann haben Sie Ihre Freundin das letzte Mal gesehen?«

»Gestern Abend, nein, vorgestern. Vorgestern!«

»Hatte sie da etwas vor?«

»Ich weiß nicht, nein, wie saßen zum Kaffee zusammen. Ich ging heim, und das war das letzte Mal …« Sie konnte nicht weitersprechen.

»Schon gut. Wollen Sie in Ihre Wohnung gehen? Trinken Sie etwas, beruhigen Sie sich. Ich komme dann noch einmal zu Ihnen, ja?«

Frau Koch nickte, nahm sich ein Taschentuch aus der Manteltasche, presste es sich vor Mund und Nase.

»Sprechen Sie mit niemandem darüber. Ich klingle nachher noch einmal bei Ihnen!« Heller nickte ihr ermutigend zu.

Frau Koch nickte und ging zur Haustür. Heller wartete, bis sie aus dem Haus war, dann beeilte er sich, nach oben zu kommen.

Oldenbusch und Stegmann hatten die Wohnung schon betreten. Viel gab es nicht zu durchsuchen. Es gab einen engen Flur, zwei kleine Zimmer, das eine ein Wohnzimmer mit Schlafcouch, das andere eine Küche mit Waschgelegenheit. Vor dem Gaubenfenster war an Haken rechts und links eine Wäscheleine aufgespannt, an der Unterwäsche hing, was das sowieso schon kleine Fenster noch mehr verdunkelte. Eine Toilette gab es nicht, das Klo befand sich auf der halben Treppe. Die Frau hatte sich die Wände mit Bildern aus Magazinen verschönert. Meist waren es Modefotografien. Im Wohnzimmer stand eine Nähmaschine, und auf einem Tisch lagen Schnittmuster unsortiert übereinander. Diverse Schneiderstücke hingen über Stuhllehnen oder lagen auf einer Kommode. Heller erkannte den Stoff, aus dem auch der Mantel von Frau Koch genäht worden war. »Ob sie hier schwarz gearbeitet hat?«, fragte Heller den Abschnittsbevollmächtigten.

»Ich meine, sie hat nur ihre Freunde damit versorgt«, antwortete dieser vage. Heller glaubte das nicht. Vielleicht wollte der sonst so gut informierte ABV nur nicht zugeben, dass er ein Auge zugedrückt hatte.

»Die Wohnung war verschlossen?«, fragte Heller.

»Nur zugeworfen, aber es gibt keine Klinke außen, nur einen festen Knauf«, antwortete Oldenbusch.

Heller sah sich nachdenklich um. Die Stoffe, die Nähmaschine, das waren richtige Werte, und bestimmt war noch Geld irgendwo versteckt. Warf man die Tür nur zu, wenn man die Wohnung für längere Zeit verließ? Trotz Klaus’ Verheißungen vom sozialistischen Menschen, der keine Straftat beging, hatten sie oft genug mit Einbruchs- und Diebstahldelikten zu tun. Heller trat noch einmal in die Küche, betrachtete den unaufgeräumten Tisch, die Spüle mit ihren dunklen Rückständen. Irgendwie kam es ihm vor, als müsste ihm etwas ins Auge springen. Schließlich war es der Anblick der Wäscheleine, der ihm ein Licht aufgehen ließ. Zwei Damenunterhosen hingen noch auf der Leine, eine war zu Boden gefallen.

»Mensch, Werner, sie war gerade noch in der Wohnung!«, rief Heller. Schon war er im Flur und aus der Tür hinaus ins Treppenhaus gelaufen.

»Wer denn?«, rief Oldenbusch.

»Fräulein Koch! Die war hier in der Wohnung!«, rief Heller und war schon eine halbe Treppe tiefer. Er lief schnell, schneller als all die Jahre zuvor, doch die Angst, noch mal etwas kaputt zu machen an seinem Knöchel, ließ ihn trotzdem vorsichtig auftreten. Der ABV überholte ihn auf der nächsten halben Treppe.

»Laufen Sie nach links, wenn sie nicht mehr zu sehen ist. Ich nach rechts«, rief Heller ihm hinterher. »Werner, du gehst ins Nachbarhaus, zur Wohnung von der Koch!«, rief er Oldenbusch zu.

Auf der Straße sah Heller sich noch einmal um, entdeckte weder den ABV noch die Frau, lief nach rechts auf die nächste Kreuzung zu. Dort blieb er stehen. Von der Frau war nichts zu sehen, sie konnte schon längst an der nächsten Kreuzung abgebogen und auf der Löbtauer Straße in eine Straßenbahn gesprungen sein. Oder aber sie versteckte sich irgendwo. Er glaubte jedenfalls nicht, dass sie in ihre Wohnung gegangen war. Langsam kehrte er zum Hauseingang zurück. Auch der ABV kam wieder.

»Man hat sie in diese Richtung laufen sehen«, keuchte er, »aber ich habe sie nicht mehr gesehen. Einer sagte, ein Mann hätte auf sie gewartet.«

»Holen Sie Verstärkung. Beide Wohnungen müssen gesichert werden.« Heller lief zum Nachbarhaus. »Werner!«, rief er in das Treppenhaus hinein.

»Hier«, antwortete Oldenbusch zögerlich aus der oberen Etage. Er ahnte wohl schon, dass er auch diesen Gang umsonst gemacht hatte.

»Sie ist weg. Treffen wir uns wieder in der Wohnung von Fräulein Pressler!«

»Herrgott«, stöhnte Oldenbusch.

 

»Was könnte sie mitgenommen haben?«, überlegte Heller und schaute sich in der Wohnung der Toten um.

»Unterwäsche?« Oldenbusch deutete auf die Wäscheleine. »Geld vielleicht? Vielleicht auch nur ein Kleidungsstück, das Fräulein Pressler für sie genäht hatte.«

»Aber überleg doch mal, Werner, dass sie hier war, bedeutet doch, dass sie vom Tod ihrer Freundin wusste. Sie hat sich korrigiert, als ich sie fragte, wann sie sich das letzte Mal gesehen haben. Erst sagte sie gestern, dann vorgestern. Und jemand hat behauptet, sie sei mit einem Mann weggegangen.«

Oldenbusch sah Heller irritiert an. »Sie wird sie ja nicht umgebracht haben.«

»Das sage ich doch nicht, aber vielleicht hatte Fräulein Pressler vorher Bekanntschaft mit ihrem Vergewaltiger gemacht, und Fräulein Koch ahnte vielleicht etwas. Vielleicht war es dieser Mann.« Heller schwieg und überlegte. Logisch hörte sich das nicht an. Sein nächster Gedanke ergab mehr Sinn.

»Ich nehme an, sie hat davon gehört, dass eine Tote gefunden worden war. Vielleicht wusste sie schon, dass Fräulein Pressler nicht daheim gewesen war, und vermutete nun das Schlimmste. Bestimmt hat sie sich nur Gewissheit verschaffen wollen und hat gar nichts mitgenommen.«

»Aber sollte sie uns bei der Aufklärung des Verbrechens nicht helfen wollen?«, wunderte sich Oldenbusch.

»Sie war einfach zu schockiert. Vielleicht kommt sie zurück, wenn sie sich beruhigt hat.«

Heller rief sich selbst zur Ordnung. Schluss mit den Spekulationen. Sie sollten endlich mit dem anfangen, was sie tun konnten. »Werner, bleib du hier, ich werde umgehend Durchsuchungsbescheide veranlassen. Außerdem müssen wir überlegen, wo wir die Männer in den kommenden Nächten postieren wollen. Und ich wollte noch einmal unbedingt mit den anderen Opfern sprechen. Das werden wir wohl auf nächste Woche verschieben. Ich nehme den Wagen und komme später wieder hierher.«

Dresden, 27. Oktober 1956, Vormittag

Ein weiteres und durchaus etwas heikles Vorhaben hatte Heller seinem Kollegen unterschlagen. Oldenbusch, der immer um Konsens bemüht war, sollte sich nicht unnötig aufregen.

Heikel war sein Vorhaben insofern, als dass er Doktor Schellbach aufsuchen und ihn mit den Ergebnissen seiner Arbeit konfrontieren wollte. Das hatte er bei Kassner nie tun müssen, doch dem jungen Arzt wollte er genauer auf den Zahn fühlen. Er hatte seinen Besuch vom Apparat des ABV schon telefonisch angekündigt, damit er sicher sein konnte, dass Schellbach vor Ort war.

Heller klopfte an die Tür von Schellbachs Büro.

»Kommen Sie nur herein!«, rief Schellbach mit offensichtlich um Autorität bemühter Stimme. Als Heller den Raum betrat, stand er hektisch auf. Dabei kratzten die Stuhlbeine unnötig laut über den Fußboden.

»Herr Oberkommissar«, begrüßte er Heller und beugte sich weit über den Tisch, um Heller die Hand zu reichen. Dann deutete er auf den Stuhl vor dem Tisch.

Schellbach wirkte trotz seines weißen Kittels außerordentlich jung, er konnte kaum mit dem Studium fertig sein. Er war ein großer, sehr schlanker Mann mit dunklem, sauber gescheiteltem Haar.

»Ihnen sind Zweifel gekommen bezüglich meiner Untersuchungen an der Toten?« Schellbach ging ohne Umschweife in die Offensive.

»Keine Zweifel.« Heller hatte sich seine Worte schon zurechtgelegt. »Es hat kurzfristig eine unerwartete Entwicklung gegeben, und dem will ich nur gründlich nachgehen.«

»Was möchten Sie denn wissen?«

»Ist es wirklich ganz auszuschließen, dass die Frau durch andere Verletzungen als die von Ihnen beschriebenen ums Leben kam? Sie fanden keine Hämatome, keine Würgemale, Einstiche oder dergleichen, stimmt das? Wurde eine toxikologische Untersuchung vorgenommen?«

»Eine andere Todesursache ist völlig ausgeschlossen«, antwortete der Mediziner kategorisch. »Der Befund ist eindeutig.«

»Haben Sie die Untersuchung am Fundort der Leiche vorgenommen?«

»Dort und gründlicher noch in den Räumlichkeiten der Pathologie. Es gibt keinen Zweifel, dass die Frau an ihren inneren Verletzungen verblutete. Durch massiv gewaltsames Eindringen in die Scheide kam es zu Einrissen im Gewebe und starken Blutungen, die nur mit schneller ärztlicher Hilfe hätten gestillt werden können.« Das Gesicht des jungen Mannes wurde rot.

»Haben Sie Samenflüssigkeit finden können?«

»Nein, aber das steht im Bericht. Es ist anzunehmen, dass der Täter nicht zum Erguss kam oder das Ejakulat durch die starken Blutungen ausgespült wurde.« Schellbach hatte sehr schnell gesprochen, es klang wie auswendig gelernt.

»Schon gut, ich wollte nur ganz sichergehen. Betrachten Sie das bitte nicht als Affront gegen Sie.« Heller erhob sich schon wieder. Auch wenn sein Besuch momentan keine weiteren Erkenntnisse gebracht hatte, so würde sich der junge Arzt vielleicht doch noch einmal zu einer genaueren Untersuchung entschließen können.

Heller stand auf, reichte ihm zum Abschied die Hand. Schellbach erhob sich hastig und schüttelte sie kurz. Ihm war seine Empörung anzusehen, aber er wusste offensichtlich nicht, wie er damit umzugehen hatte.

 

»Genosse Heller!«, rief jemand über den Hof, als Heller beinahe wieder bei seinem Dienstfahrzeug angelangt war. Heller sah sich um und wartete dann auf den jungen Polizisten, der ihm entgegeneilte und salutierte.

»Genosse Niesbach wünscht Sie zu sprechen.«

Heller nickte und kehrte ins Haus zurück. Hatte Schellbach sich etwa schon beschwert, fragte er sich amüsiert. Er hatte sich nichts vorzuwerfen.

Frau Schindler in Niesbachs Vorzimmer nickte ihm freundlich zu und winkte ihn in Niesbachs Büro durch. Dabei erhob sie sich und nahm ihre Jacke und die Tasche von der Garderobe.

»Schönes Wochenende wünsche ich«, verabschiedete sie sich.

Erst jetzt bemerkte Heller die zwei Mäntel, die noch an der Garderobe hingen. Er klopfte an und betrat Niesbachs Büro. Er ahnte, dass Niesbach sowjetischen Besuch hatte. Doch dann war er durchaus erstaunt, dass es Alexej Saizev war, der mit Niesbach am Tisch saß und sich mit ihm auf Russisch unterhielt. Die Männer unterbrachen ihr Gespräch.

»Genosse Saizev kennen Sie ja, Max«, begrüßte Niesbach Heller.

Saizev erhob sich und zog die Uniform straff. Heller nickte und reichte dem Russen lächelnd die Hand. Auch wenn sie sich selten und eher zufällig trafen, verband sie doch mehr als eine normale Bekanntschaft. Soweit Heller wusste, war der Russe inzwischen verheiratet und ein Kind. Alexej hatte etwas zugenommen und spürbar an Elan eingebüßt, obwohl er erst um die dreißig war. Heller vermutete, dass das an Saizevs jetziger Tätigkeit beim Geheimdienst lag, die vermutlich hauptsächlich aus Papierkram bestand. Oder war das die Folge der vielen bitteren Enttäuschungen, die der Russe erlebt hatte?

»Kann es sein, dass wir immer nur zusammenkommen, wenn es schlechte Nachrichten gibt?«, sagte Saizev. »Nur ist es diesmal kein Psychopath, weder ein männlicher noch weiblicher, der mich zu Ihnen bringt.«

Heller wusste, worauf Saizev anspielte. Diese Sache damals war wohl der größte Tiefschlag in Saizevs Leben gewesen, auch wenn er es mit Lässigkeit zu überspielen versuchte. »Es war wohl Ihr Platz, der bei unserer letzten Sitzung frei geblieben war?«, half ihm Heller.

Saizev setzte sich wieder und Heller nahm sich einen freien Stuhl.

»Man ist sich in höheren Kreisen noch nicht einig, wie man mit der Angelegenheit verfahren soll«, begann Saizev. »Ich will es auch kurz machen. Mit Bekanntwerden der konterrevolutionären Aufstände in Ungarn und interner Gerüchte, Teile der hier ansässigen Erste-Garde-Panzerarmee würden nach Ungarn verlegt, kam es vor einigen Tagen zu einer Fahnenflucht. Zwei Soldaten desertierten. Wir suchen nach ihnen, vermuten, dass sie noch nicht weit gekommen sind. Sie verstecken sich hier irgendwo, im Wald. Vielleicht sind sie auch ins Elbsandsteingebirge geflohen. Nahrungsmittel und Kleidung haben sie vermutlich gestohlen. Beide können kein Deutsch und gelten als gefährlich. Sie wurden wegen wiederholten Schlägereien, Diebstahl und Erpressung zu einigen Monaten Haft verurteilt. Genau genommen gelang ihnen also die Flucht aus einem unserer Militärgefängnisse.«

»Und damit kommen Sie zu uns?«, fragte Heller, weil er nicht aussprechen wollte, was er wirklich vermutete.

Aber Saizev durchschaute ihn sofort. Er hob beinahe tadelnd die Augenbrauen. »Heller, Sie wissen, worauf ich hinaus will. Es ist den beiden durchaus zuzutrauen, dass sie sich an den Frauen vergangen haben.«

»Meinen Sie nicht, die haben gerade andere Sorgen?«

Saizev hatte jetzt die Arme verschränkt. »Aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sind schon schlimmere Dinge geschehen. Die beiden wissen, dass es so gut wie unmöglich ist, aus der DDR zu flüchten. Und sie wissen, welche Strafe ihnen droht. Ich wollte Sie nur informiert wissen. Demnächst werden Sie unterrichtet, wie Sie offiziell damit umgehen sollen. Man will natürlich vermeiden, dass schlechtes Licht auf die glorreiche Rote Armee fällt.«

Saizev hatte das vollkommen ernst gesagt und Heller konnte nicht heraushören, ob Saizev es ironisch meinte oder nicht. Die ersten Vergewaltigungen waren vor Wochen geschehen, wusste Heller, wenn die beiden Soldaten kürzlich erst geflüchtet waren, konnten sie damit nichts zu tun haben.

»Warum genau saßen sie denn im Gefängnis?«

Saizev hob wieder die Augenbrauen, antwortete jedoch nicht.

»War es ihnen vor ihrer Inhaftierung erlaubt, die Kaserne zu verlassen?«, fragte Heller weiter, auch wenn Niesbach neben ihm tief durchatmete.

Saizev zwinkerte ihn nur traurig an.

»Welchen Grund hatten die beiden denn, zu desertieren, wenn ihre Chancen so gering sind?«

Niesbach stöhnte leise auf. Heller wusste warum, mit seiner Frage hatte er gerade ein Tabu gebrochen. Es hieß, die Zustände in den Kasernen der Sowjets seien furchtbar.

Unvermittelt lächelte Saizev nun doch, wenn auch nur kurz. »Sie waren eingesperrt. Das genügt manchem schon zur Flucht. Sie haben sich durch eine Wand gegraben. Nun müssen wir dickere Wände mauern. Und mehr Zement benutzen.«

Dresden, 27. Oktober 1956, Mittag

»Max?«, fragte Oldenbusch und blickte aus der Wohnungstür von Fräulein Pressler.

Heller stieg die letzten Stufen hinauf und nickte dem vor der Tür stationierten Polizisten zu.

»Schau mal, Max«, begann Oldenbusch ansatzlos. »Ich habe mir die Spüle angesehen. Diese Ränder hier, das könnten Blutrückstände sein.«

»Oder einfach nur Verfärbungen aufgrund der Abnutzung?«

»Könnte auch sein. Ich versuche, das herauszufinden. Ich habe jedenfalls begonnen, Fingerabdrücke zu nehmen. Man müsste außerdem wissen, ob sie den ganzen Stoff legal erworben hat. Das sind schon sehr viele Ballen, und Quittungen habe ich bisher keine gefunden.«

»Ich hoffe, all das können wir irgendwann Fräulein Koch fragen«, seufzte Heller.

»Was hat dich denn eigentlich so lang aufgehalten?«, fragte Oldenbusch, nicht ganz ohne Vorwurf.

»Ich musste zu Niesbach. Der hatte Besuch von Saizev. Zwei Soldaten sind fahnenflüchtig, und sie vermuten sie hier in der Umgebung. Sie trauen ihnen alles Mögliche zu.«

Dresden, 28. Oktober 1956, Nachmittag