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Beschreibung

Die Texte dieses Bandes setzen sich mit dem monumentalen Versuch von Jürgen Habermas in Auch eine Geschichte der Philosophie auseinander, in unkonventioneller Weise zweieinhalbtausend Jahre abendländischer Philosophie als Lernprozess zu rekonstruieren. Zentraler Diskussionspunkt ist dabei die Idee vernünftiger Freiheit, die als Leitfaden des Spätwerks entschlüsselt wird. Aus philosophischer, soziologischer, theologischer und rechtstheoretischer Perspektive wird diese Idee einer kritischen Prüfung unterzogen und das Anregungspotenzial von Habermas' Überlegungen für die weitere Forschung ausgelotet. Dieser bezieht in einer ausführlichen Replik Stellung zu den Beiträgen.

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Cover

Titel

3Vernünftige Freiheit

Beiträge zum Spätwerk von Jürgen Habermas

Herausgegeben von Stefan Müller-Doohm, Smail Rapic und Tilo Wesche Unter redaktioneller Mitarbeit von Niklas Angebauer

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2420.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77718-3

www.suhrkamp.de

Widmung

7Dem Andenken Georg Lohmanns (1948-2021)

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Stefan Müller-Doohm, Smail Rapic und Tilo Wesche

:

Vorwort

Thomas M. Schmidt

:

Religion und die Quellen der Normativität. Jürgen Habermas über den Sinn des Sakralen

Micha Brumlik

:

Habermas’ christliches Abendmahl – Glaube, Funktion und symbolische Wahrheit

Eva Buddeberg

:

Übersetzung religiöser Gehalte und komprehensive Vernunft

Matthias Bormuth

:

Ambivalenz der Freiheit. Eine Heidelberger Spurenlese zu

Auch eine Geschichte der Philosophie

Stefan Müller-Doohm

:

Adorno und Habermas. Zwei Spielarten nachmetaphysischen Denkens

Hauke Brunkhorst

:

Urgeschichte der Revolution – Zur Dialektik sozialer Integration

Tilo Wesche

:

Vernünftige Freiheit. Ein unvollendetes Projekt

Martin Seel

:

Begründende und vergegenwärtigende Kritik. Über den therapeutischen Sinn von

Auch eine Geschichte der Philosophie

Thomas Gutmann

:

Der Gebrauch unserer vernünftigen Freiheit. Die Lernprozesse des Rechts

Rainer Forst

:

Welten der Rechtfertigung: Die Diskursethik als kantischer Konstruktivismus

Georg Lohmann

:

Der egalitäre Universalismus der internationalen Menschenrechte als historisches Ereignis

Jan Assmann

:

Monotheismen und Achsenzeiten. Ein Dankesgruß an Jürgen Habermas

Regina Kreide

:

Dialektische Lernprozesse. Eine postmetaphysische Theorie moralischer Motivation in Jürgen Habermas’

Auch eine Geschichte der Philosophie

Smail Rapic

:

Habermas’ Konzeption philosophischer Selbstverständigung und ihre Anknüpfungspunkte im Historischen Materialismus, bei Husserl und Apel

Jürgen Habermas

:

Antworten

Über die Autorinnen und Autoren

Fußnoten

Informationen zum Buch

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9Stefan Müller-Doohm, Smail Rapic und Tilo Wesche

Vorwort

Im Herbst 2019, wenige Monate nach seinem 90.Geburtstag, erscheint ein gewichtiges zweibändiges Werk von Jürgen Habermas, an dem der Autor, wie er selbst bekennt, zehn Jahre geschrieben hat: ein weiterer Meilenstein in seinem Lebenswerk. Es ist im Ganzen gesehen ein »Durchgang durch die Geschichte der westlichen Philosophie«[1]  und eröffnet zugleich eine interkulturelle Perspektive durch die Anknüpfung an Karl Jaspers’ Begriff der »Achsenzeit«. Auf diese Weise soll eine »komprehensive« Vernunft freigelegt werden, die umfassend und nicht instrumentell verkürzt ist und so als Einheit einen Beitrag »zur rationalen Klärung des Selbst- und Weltverhältnisses der Menschen« zu leisten vermag. Diese emanzipatorisch wirksame Philosophie, die sich reflexiv auf das Weltwissen bezieht, sich gegenüber empirischen Erkenntnismöglichkeiten offenhält, muss zwar im nachmetaphysischen Zeitalter im fallibilistischen Bewusstsein betrieben werden. Aber philosophische Aufklärung geht nicht in Wissenschaft und Empirie auf. Diese von der nachmetaphysischen Philosophie in Anspruch genommene Vernunft ist weder bloß Methode wie schlussfolgerndes Denken noch etwas Sich-Letztbegründendes oder Substantielles in dem Sinne, dass wir ihrer etwa in Gestalt des objektiven Geistes gewiss sein könnten; vielmehr expliziert sie Habermas als etwas Performatives, das heißt als problemlösendes Verhalten durch die Praxis intersubjektiver Verständigung. Vernunft besteht im Gebrauch der Vernunft, im Geben und Fordern von Gründen.

Diese Geschichte der Philosophie ist mehr als Philosophiegeschichte, sie ist, wie stets bei Habermas, auch eine Gesellschaftstheorie, Theorie der Moderne, und als solche Zeitdiagnose.

Auch wenn man ein breiteres Interesse einer intellektuellen Leserschaft unterstellen darf, von Habermas etwas über die synthetische Kraft zeitgemäßer Philosophie durch die Rekonstruktion ihres Erbes zu erfahren, und auch wenn man die Weltgeltung dieses Autors in Rechnung stellt, war es bemerkenswert, dass unmittelbar 10nach dem Erscheinen von Auch eine Geschichte der Philosophie die zwei Bände des rund 1800 Seiten umfassenden Werks auf eine breite Resonanz stießen. Habermas selbst bemerkt, dass er sich über einen Mangel kritischer Leser nicht beklagen könne. Dies bezeugt nicht nur die Vielzahl der Würdigungen und Kritiken in den Feuilletons überregionaler Zeitungen, sondern auch die Summe der Artikel und Essays in Kultur- und Fachzeitschriften, schließlich die Debatten im Rahmen von Symposien und Tagungen im In- und Ausland. Bemerkenswert ist weiterhin, dass schon 2022, drei Jahre nach der Erstveröffentlichung, eine um ein Nachwort erweiterte Taschenbuchausgabe erschienen ist.[2] 

Der vorliegende Band ist selbst Teil dieses lebhaften, internationalen Rezeptionsprozesses, der keineswegs schon an sein Ende gekommen scheint. So aufschlussreich es zweifellos wäre, es ist hier nicht der Ort, jene Debatten, die das Spätwerk von Habermas ausgelöst hat und an denen er durch Entgegnungen selbst teilgenommen hat, rückblickend darzustellen. Dazu bedarf es einer eigenen Publikation; sie wird vermutlich nicht lange auf sich warten lassen.

Ziel des vorliegenden Bandes ist es vielmehr, ein Zeugnis davon zu geben, mit welcher Intensität und immanenten Bezugnahme sich die scientific communitiy mit dem Spätwerk von Habermas auseinandergesetzt hat. Die thematische Breite der hier versammelten, in vier Kapitel gegliederten Beiträge spiegeln das enorme Anregungspotential wider, das von dem Opus magnum ausgeht.

Der Anstoß zur Publikation dieses Bandes geht auf zwei Tagungen in München und Tutzing zurück. Sie fanden bewusst in der Nähe des Wohnortes von Jürgen Habermas statt. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass die Referenten und Teilnehmer Habermas persönlich aufgesucht haben, um mit ihm in einer ›lernbereiten dialogischen Einstellung‹ ins Gespräch zu kommen.[3]  Nicht zuletzt diesem Umstand ist es zu verdanken, dass es trotz der noch wirksamen Restriktionen der Corona-Pandemie möglich war, in der Anwesenheit des Autors in einem seminaristischen Rahmen über seine Begründung vernünftiger Freiheit zu diskutieren.

11Während der Fokus der Münchner Tagung der Carl Friedrich von Siemens Stiftung im Nymphenburger Schloss auf rationalitätstheoretischen und moral- sowie rechtsphilosophischen Fragen lag, standen auf dem Symposium an der Evangelischen Akademie in Tutzing eine große Spannbreite von Themen auf dem Programm – von der Theologie und ihrer Geschichte über den Prozess der Säkularisation als Emanzipation des Wissens vom Glauben und der als Lernprozess verstandenen Genealogie des nachmetaphysischen Konzepts von Philosophie bis hin zum Bedingungsverhältnis von Fortschritt und Regression.

Was den Teilnehmern der beiden Tagungen allergrößten Respekt abgenötigt hat, war die kontinuierliche Präsenz von Jürgen Habermas, der es sich nicht hat nehmen lassen, zu jedem einzelnen Vortrag Stellung zu nehmen. Diese umfassenden Entgegnungen hat er dann in seiner ausführlichen Replik zusammengefasst, die den Abschluss dieses Bandes darstellt.

Die Herausgeber danken Jürgen Habermas, dass er während der beiden Tagungen nicht müde wurde, die breit gefächerten Vorträge zu kommentieren und sich an den lebhaften Diskussionen zu beteiligen.

Der Dank gilt weiterhin den Verantwortlichen der Institutionen, in denen die Tagungen stattfanden: dem Leiter der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Heinrich Meier, sowie dem Akademiedirektor Udo Hahn und dem Studienleiter Jochen Wagner von der Evangelischen Akademie Tutzing.

Ohne die finanzielle Förderung durch das Karl-Jaspers-Haus Oldenburg, das Institut für Philosophie und die Universitätsgesellschaft (UGO) der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster wäre es nicht möglich gewesen, die Tagungen und die Publikation der Vorträge zu realisieren.

Die redaktionellen Aufgaben lagen während unterschiedlicher Phasen in den Händen von Niklas Angebauer, Yasar Damar, Helena Esther Grass und Patrick Weißler vom Institut für Philosophie der Universität Oldenburg sowie Stefanie Althaus, Tanja Walbersdorf und Dennis Klusendick vom Philosophischen Seminar der Universität Wuppertal. Die Herausgeber danken nachdrücklich für die zuverlässige Arbeit an den Manuskripten. Der Dank der Her12ausgeber gilt auch Gesa Steinbrink, die das Gesamtmanuskript mit großem Sachverstand für den Gegenstand lektoriert hat.

13Thomas M. Schmidt

Religion und die Quellen der Normativität. Jürgen Habermas über den Sinn des Sakralen

»Was konnte, nach der metaphysischen Entkoppelung des Wissens vom Glauben, an die Stelle der Autorität des göttlichen Willens und seiner Gesetze treten, um die Bindungskraft moralischer Normen zu begründen?«[1] 

I.

Eine der nichtintendierten, aber geschichtlich bedeutsamsten Nebenfolgen der reformatorischen Entkoppelung des Wissens vom Glauben besteht Jürgen Habermas zufolge in der »Beschleunigung der schon in der Achsenzeit einsetzenden Tendenz zur Entsakralisierung der Herrschaft«.[2]  Aber nicht nur die Legitimation politischer Herrschaft, sondern auch die Rechtfertigung moralischer Normen entkoppelt sich in der Neuzeit von ihrer traditionellen theologischen Grundlage. Unter den Bedingungen eines säkularen nachmetaphysischen Denkens ist die praktische Philosophie mit der Aufgabe konfrontiert, »ohne Anschluss an den Willen und das Rettungsversprechen Gottes […] die Gerechtigkeitsfragen von der Perspektive des zum Heil führenden richtigen Lebens trennen und moralische Gebote aus Vernunft allein begründen«[3]  zu müssen.

In der Bewältigung dieser Aufgabe verzweigen sich die philosophischen Lösungswege auf eine derart grundsätzliche Weise, dass Habermas hier von der entscheidenden »Wegscheide«[4]  spricht, auf die eine Genealogie des nachmetaphysischen Denkens zuläuft: Die Alternative zwischen Kant und Hume als konkurrierende Modelle 14einer nachreligiösen Erklärung der Bindungskraft moralischer Normen. Habermas zufolge muss die subjektive Vernunft entweder

um ein Vermögen der praktischen Vernunft ergänzt werden, das für die entwertete transzendente Gesetzgebung Gottes ein innerweltliches Äquivalent erzeugen kann; oder die normativen Gehalte der transzendierenden Begriffe des Gerechten, Guten und Schönen müssen […] via empirischer Erklärung auf beobachtbare Phänomene zurückgeführt werden.[5] 

Kant hat »mit der Konzeption der Autonomie der aus Vernunft allein begründeten Moral einen bis heute überzeugenden Weg«[6]  zu einer nichtreligiösen und nichtszientistischen Begründung der Bindungskraft moralischer Normen eröffnet. Allerdings stellen sich auf diesem Weg religionsphilosophische und gesellschaftstheoretische Probleme, die Kant selbst, nach Habermas’ Einschätzung, nicht vollständig lösen kann.

In religionsphilosophischer Hinsicht zeigt sich Kants Modell einer Ergänzung der autonomen Vernunftmoral durch eine reine Vernunftreligion als ein rein äußerliches Komplementaritätsverhältnis von Wissen und Glauben. Die »Befolgung einer überforderten Vernunftmoral« bedürfe bei Kant »der Ermutigung durch eine prekäre, jedenfalls unter Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens nicht mehr überzeugende Vernunftreligion«.[7]  Auf diese Weise soll nun aber gerade ein religiöser Glaube, dem Kant durch die Kritik der metaphysischen Gotteslehre selbst die Grundlage vernünftiger Geltung entzogen hatte, zur Bearbeitung von Folgeproblemen der autonomen Vernunftmoral herangezogen werden. Zudem verkenne Kants Abwertung aller nichtrationalen, das heißt nicht unmittelbar der Beförderung von Moralität dienenden Gehalte des religiösen Ritus als Afterdienst, genau den entscheidenden Aspekt, in dem nach Habermas das bleibende Anregungspotential der Religion für das nachmetaphysische Denken besteht. Das nachmetaphysische Denken berührt sich Habermas zufolge nämlich nur so lange mit dem religiösen Bewusstsein, wie »dieses in der liturgischen Praxis einer Gemeinde von Gläubigen verkörpert«[8]  werde. Nur durch eine lebendige liturgische »Praxis der Vergegen15wärtigung einer starken Transzendenz« bleibe religiöse Erfahrung »ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt«.[9] 

Die Tatsache, dass Kant kein Gespür für die Eigenständigkeit ritueller Praxis als einer möglichen »sakralen Quelle sozialer Integration«[10]  besitzt, ist Ausdruck seines mangelnden Bewusstseins für Fragen der gesellschaftlichen Reproduktion und Integration überhaupt. Nach Habermas hat Kant philosophisch auf die Phänomene der modernen Welt reagiert, ohne dass er »die Moderne als solche begriffen hätte«.[11]  Die »in Kultur und Gesellschaft symbolisch verkörperte Vernunft« bleibe für Kant »verschlossen«;[12]  dies zeige sich nicht zuletzt daran, dass er keinen rechten Sinn für »die methodische Eigenart der Geistes- und Sozialwissenschaften«[13]  besessen habe. Daher gebe es bei Kant auch nur eine ungenügende Antwort auf die gesellschaftstheoretische Frage nach der sozialen Bindungs- und Integrationskraft vernünftiger Normen unter Voraussetzungen säkularer Vernunft. Nach dem Wegfall einer theologischen Begründung von Normativität begegnet das nachmetaphysische Denken nämlich dem »Folgeproblem, wie sich Vernunftmoral und Vernunftrecht«, die jetzt nur noch auf Fragen der Gerechtigkeit und nicht mehr des gelingenden Lebens oder gar des Heils oder der Erlösung zugeschnitten seien,

zu den sozialintegrativen Energien des sittlichen Zusammenhalts einer fortschreitend säkularisierten Gesellschaft verh[alten]. Auf den ersten Blick ist kaum zu erwarten, dass die versiegenden oder partikularistisch aufgesplitterten rituellen Quellen der Sittlichkeit gesamtgesellschaftlich überhaupt aus einer philosophisch gehüteten Vernunft regeneriert werden.[14] 

Weder die innere psychische Erfahrung Humes noch Kants transzendentales Verständnis von Subjektivität können den Fliehkräften der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung Einhalt gebieten und sich ihnen gegenüber als Medium einer normativ gerechtfertigten 16sozialen Integration behaupten. Eine sozialintegrative Wirksamkeit kann Normativität nur im Sinne einer Verkörperung der praktischen Vernunft in der intersubjektiven Praxis kommunikativen Handelns entfalten. Zur Erläuterung dieses Grundmotives greift Habermas in seinen Arbeiten immer wieder auf einen performativen, nichtmetaphysischen Begriff des Sakralen zurück, sowohl in der Theorie des kommunikativen Handelns als auch in Auch eine Geschichte der Philosophie.

II.

Bereits in der Theorie des kommunikativen Handelns rekurriert Habermas auf Durkheims Begriff des Heiligen, um den »verpflichtende[n] Charakter gesellschaftlicher Normen«[15]  unter nachmetaphysischen Bedingungen zu erläutern. Im Anschluss an Durkheim soll der Nachweis der sozialen Wirksamkeit moralischer Normen erbracht werden, die ganz im Sinne Kants vom Prinzip der Autonomie bestimmt sind. Die soziale Wirksamkeit von Normen, ihre kollektive Bindungskraft und handlungskoordinierende Funktion, soll im Lichte der Prinzipien praktischer Vernunft erklärt und nicht reduktionistisch auf bloße Macht, anpassungsfähige Klugheit oder Zweckrationalität zurückgeführt werden.

Um den verpflichtenden Charakter gesellschaftlicher Normen zu erläutern, unterscheide Durkheim »technische Regeln, die instrumentellen Handlungen zugrunde liegen, von moralischen Regeln oder Normen«.[16]  Die kategoriale Differenz zwischen diesen beiden Arten von Regeln lässt sich am besten durch die unterschiedlichen Arten von negativen Handlungsfolgen erläutern, die aus den Verstößen gegen solche Regeln folgen. So besteht der entscheidende Unterschied zur moralischen Norm darin, dass im Fall der technischen Regelverletzung der Verstoß durch Misserfolg bestraft wird. Die negative Handlungsfolge ist mit der Überschreitung auf natürliche oder kausale Weise intern verknüpft. Beim Verstoß gegen eine moralische Norm treten negative Handlungsfolgen nicht zwangsläufig auf, sondern müssen in Gestalt von Sanktionen 17verhängt werden. Im Unterschied zur äußeren Sanktion, wie der in einem Rechtsakt verhängten Strafe, hat nun der Verstoß gegen die moralische Norm eine unmittelbare, innere Sanktion zur Folge. Moralische Normen sind solche, deren Verletzung mit dem Gefühl einer inneren Sanktion verbunden ist. Genau dieses Phänomen der inneren Sanktion gilt es zu erläutern, um die spezifische Geltung und Bindungskraft moralischer Normen zu verstehen. Mit der These, dass »die moralischen Regeln ihre bindende Kraft letztlich aus der Sphäre des Heiligen beziehen«, will Durkheim Habermas zufolge genau diesen Sachverhalt erklären, »daß die moralischen Gebote Gehorsam finden, ohne daß sie mit äußeren Sanktionen verknüpft sind«.[17] 

Folgt man der Analyse Durkheims, so besitzt die elementare moralische Regelverletzung den Charakter eines Sakrilegs, einer Handlung, deren Vollzug tabuisiert wird, und nicht einer Überzeugung, die abgelehnt und kritisiert wird. Die Verletzung einer Norm besitzt in archaischen Gesellschaften den Charakter einer Grenzüberschreitung, nicht die Form einer inhaltlichen Bestreitung der propositionalen Gültigkeit bestimmter Normen. Da die Identifikation mit dem Heiligen den Einzelnen unmittelbar mit dem Kollektivbewusstsein der Gemeinschaft verbindet, führt das Sakrileg zu einem unmittelbaren Ausschluss aus diesem Kollektiv.

Das Wesen moralischer Autorität lässt sich also an der Erfahrung des Heiligen studieren und erläutern, weil die »Haltung gegenüber dem Sakralen […], ähnlich wie die gegenüber der moralischen Autorität, durch Hingabe und Selbstentäußerung gekennzeichnet«[18]  ist. Das Heilige weckt »die gleiche ambivalente Einstellung wie die moralische Autorität; denn das Heilige ist mit einer Aura umgeben, die gleichzeitig abschreckt und anzieht, terrorisiert und bezaubert«.[19]  Das Moralische besitzt – wie das Heilige – einen auratischen Charakter, der durch die Ambivalenz des mysterium tremendum et fascinans gekennzeichnet ist.

In Habermas’ Interpretation schließt Durkheim aus der »strukturellen Analogie des Heiligen und des Moralischen […] auf eine sakrale Grundlage der Moral«.[20]  Diese sakrale Grundlage der Moral 18darf aber nicht inhaltlich verstanden oder gar verdinglicht werden, etwa im Sinne des Glaubens an eine transzendente, oberste, gesetzgebende und strafende Gewalt. Sie ist vielmehr prozedural zu verstehen, als soziale Funktion eines durch kollektive Rituale erzeugten und gesicherten grundlegenden normativen Konsenses. Nach Durkheims Auffassung von den sakralen Wurzeln moralischer Autorität wird soziale Integration also nicht primär durch die kognitive Einsicht in die Gültigkeit von Inhalten gestiftet, sondern durch eine kollektive Praxis, für die das religiöse Ritual paradigmatisch ist. Im religiösen Ritual wird durch den gemeinsamen Gebrauch von Symbolen eine kollektive Identität hergestellt und erneuert; diese Symbole besitzen jedoch eine strikt interne Bedeutung innerhalb einer selbstbezüglichen rituellen Praxis, sie teilen nichts mit und verweisen auch nicht auf eine Realität außerhalb des Rituals selbst. Habermas’ Interpretation zufolge unterscheidet sich bei Durkheim die kollektive Identität, die das religiöse Ritual durch die Verwendung von Symbolen stiftet, sowohl von der äußeren Natur oder objektiven Welt als auch von der inneren Natur. Das religiöse Ritual konstituiert eine soziale Welt durch die Verwendung von Symbolen. Diese Symbole repräsentieren keine natürliche Welt jenseits des kollektiven Rituals, weder eine Welt von Gegenständen, die wir als menschliche Lebewesen wahrnehmen und manipulieren, noch eine innere Natur von Bedürfnissen, Sinnesreizungen, Erlebnissen, die wir darstellen. Die Symbole des Rituals verweisen auf nichts anderes als auf die intersubjektive Ebene des kollektiven regelgeleiteten Handelns. Diese ursprüngliche Sozialität, nicht die äußere oder innere Natur des Menschen, ist die vorsprachliche Welt, auf die religiöse Symbole verweisen. Genau aus diesem Grund sind religiöse Symbole Prototypen von Normen, die nur in jener sozialen Welt gelten, die sie selbst hervorbringen und reproduzieren. Genau aus diesem Grund stellt die durch religiöse Symbole gestiftete kollektive Identität für Habermas, neben der kognitiven Beziehung zur äußeren und der expressiven Beziehung zur inneren Natur, eine der drei vorsprachlichen Wurzeln des kommunikativen Handelns dar. Daher zeigt eine an Durkheims Begriff des Heiligen anschließende Analyse des Gebrauchs religiöser Symbole im Ritual, wie kommunikatives Handeln generell in der Lage ist, kollektive Identität und gemeinsames Normbewusstsein durch den Aufbau einer sozialen Welt zu produzieren.

19Habermas sucht mithilfe der Bezugnahme auf Durkheims Religionssoziologie nicht nur die Genese moralischer Normen und ihrer kollektiven Bindungskraft zu erklären, sondern auch die Frage nach einer möglichen Entwicklungsrichtung ihrer Transformation zu beantworten. Unter welchen Bedingungen kann die Veränderung von Normen als moralischer Fortschritt verstanden werden? Normative Rationalisierung muss von kognitiv-instrumenteller Rationalisierung im Sinne sich steigernder Zweckrationalität und Naturbeherrschung unterschieden sein. Um dies erklären zu können, greift Habermas abermals auf Durkheims Religionstheorie zurück. Denn diese habe nicht nur durch die Theorie des religiösen Kollektivbewusstseins eine Erklärung des eigenständigen Charakters des normativ gestifteten gesellschaftlichen Konsenses geliefert, sondern zugleich eine These formuliert, die einen Ausgangspunkt für eine Theorie der zunehmenden Rationalisierung dieses normativen gesellschaftlichen Konsenses bietet. In der Theorie des kommunikativen Handelns lässt sich Habermas

von der Hypothese leiten, daß die sozialintegrativen und expressiven Funktionen, die zunächst von der rituellen Praxis erfüllt werden, auf das kommunikative Handeln übergehen, wobei die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird. Das bedeutet eine Freisetzung des kommunikativen Handelns von sakral geschützten normativen Kontexten.[21] 

Auf diese Weise können nun nicht nur Prozesse der Effizienzsteigerung als Rationalisierung interpretiert werden, sondern auch die soziale Evolution des normenregulierten Handelns. Auf der Grundlage der im Anschluss an Durkheim formulierten Annahme der zunehmenden Versprachlichung des Sakralen kann Habermas zufolge eine Entstehungsgeschichte moderner Gesellschaften entfaltet werden, die Rationalisierung nicht auf den Zuwachs von Herrschaft und Technik reduziert. Auch an den rituellen Praktiken lassen sich dann durchaus interne Lernfortschritte, also Formen einer bewahrenden Säkularisierung, von einer destruktiven, die Religion zerstörenden Säkularisierung unterscheiden.

Die Aufgabe, die Transformation ritueller Praktiken im Sinne einer gerichteten gesellschaftlichen Evolution zu begreifen, ohne 20von einem zwangsläufigen Bedeutungs- und Funktionsverlust als mögliche Quellen sozialer Integration ausgehen zu müssen, stellt sich umso drängender, wenn die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens am Leitfaden des Verhältnisses von Glauben und Wissen entwickelt wird und als Lernprozess verstanden werden soll.

III.

Mit dem Konzept einer Genealogie des nachmetaphysischen Denkens sucht Habermas, von einer verfallstheoretischen wie einer naiv-fortschrittsoptimistischen Geschichtsauffassung gleichen Abstand zu halten. Genealogie bedeutet, die Entstehungsgeschichte des nachmetaphysischen Denkens als einen Lernprozess zu verstehen. Die Rede von Lernprozessen macht darauf aufmerksam, dass es zu jeder intellektuellen Entwicklung gehört, sich für neue und noch nicht verarbeitete Anstöße und Herausforderungen offen zu halten. Solange Religion inmitten der säkularen Gesellschaft weiterlebt und Impulse gibt, muss sich das säkulare Denken ihr gegenüber offen und lernbereit halten. Nun ist Religion aber nicht die einzige gegenwärtige Gestalt des Geistes. Warum wird jener Lernprozess, aus dem Gesellschaft und Philosophie der Moderne hervorgegangen sind, dann in besonderer Weise auf Religion bezogen und am Leitfaden des Verhältnisses von Glauben und Wissen entwickelt? Die besondere Auszeichnung des religiösen Inhaltes folgt aus der allgemeinen Struktur des Lernprozesses. Anders gesagt, die Tatsache, dass Religion einen besonderen Inhalt für das philosophische Denken darstellt, erklärt sich aus der Form und der Funktion des gattungsgeschichtlichen Lernprozesses.

Lernen dient der Lösung von Problemen. Erfolgreiche Problembewältigung vollzieht sich durch gemeinsame und geteilte Arbeit. Systemische Integration bedeutet, dass die Handlungskoordination in der Gesellschaft zum Zweck der gemeinsamen Lösung von vorgegebenen Problemen erfolgt. Gesellschaftlicher Fortschritt nimmt dann die Form zunehmender Ausdifferenzierung und Spezialisierung problembearbeitender Systeme wie Technik, Wirtschaft und Bürokratie an. Aber auch andere Lebewesen, vor allem höhere Primaten, koordinieren ihre Handlungen, um gemeinsam Aufgaben zu bewältigen, und geben ihre Kenntnisse erfolgreicher Pro21blembewältigung an ihre Nachkommen weiter. Der entscheidende Unterschied zur menschlichen Gattung besteht darin, dass diese ihre Handlungen mittels Sprache koordiniert. Die Verwendung von Symbolen, die verstanden werden können, ist etwas anderes als der Gebrauch von Gesten, die gewünschte Effekte erzielen. Zu einem handlungskoordinierenden Gebrauch von Gesten sind auch höhere Primaten in der Lage. Aber im Unterschied zu dieser Art von Kommunikation mittels Gestik entsteht durch den Gebrauch von Symbolen ein gemeinsamer semantischer Raum, eine Sphäre geteilter Bedeutungen. Dies ist der spezifische, artbildende Unterschied von Homo sapiens: Die menschliche Gemeinschaft wird nicht nur durch zweckhafte Tätigkeit zusammengehalten, sondern auch durch kommunikatives, verständigungsorientiertes Handeln, durch symbolische Integration.

Mit der Umstellung auf diesen »umwälzend neuen Modus der Vergesellschaftung«[22]  durch Kommunikation ist zugleich ein spezifisches Risiko verbunden, das andere Lebewesen nicht kennen. Die Vergesellschaftung durch kommunikatives Handeln stiftet nämlich ein prekäres Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft. Menschliche Lebewesen werden nur in dem Maße zu selbstbewussten Individuen, in dem sie sich erfolgreich kommunikativ vergesellschaften, das heißt lernen, die Bedeutung sprachlicher Symbole zu verstehen und zu verinnerlichen. Zugleich kann sich eine kommunikativ strukturierte Gesellschaft nur erhalten, wenn ihre Mitglieder allgemeine Bedeutungen verstehen, teilen und weitergeben. Dies ist aber ein hochriskanter Prozess. Jede gesellschaftliche Krise zeigt, dass es misslingen kann, symbolische Bedeutungen zu reproduzieren, die für alle Mitglieder dieser Gesellschaft verständlich und akzeptabel erscheinen. Umgekehrt erlebt jedes Individuum in existentiellen Krisen und biographischen Wendepunkten den doppelläufigen Prozess von Individuierung und Sozialisierung als das Drama, sich entweder von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu fühlen oder von ihr verschlungen zu werden. Hier nun kommt Religion als Errungenschaft der sozialen Evolution ins Spiel. Um das Risiko aufzufangen, das der kommunikative Modus der Vergesellschaftung in sich birgt, entwickelt die menschliche Gattung das, was Habermas den »sakrale[n] Komplex«[23]  nennt. Dieser bildet 22einen anthropologisch tiefsitzenden Mechanismus, der im Falle von Krisen der kommunikativen Vergesellschaftung, die zu Zerfall und Anomie, Gewalt und Rebellion führen können, eine Art »Ausfallbürgschaft«[24]  übernehmen kann.

Im Kontext der im zweiten Kapitel von Auch eine Geschichte der Philosophie entwickelten Theorie des sakralen Komplexes knüpft Habermas wieder dezidiert an Durkheims Religionssoziologie an, die uns den Schlüssel zum Verständnis des Sinns des Ritus an die Hand gibt. Danach hat der Ritus zum einen die Aufgabe, »die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen [zu] spiegeln, zum anderen sollen sich die Angehörigen eines Kollektivs im Vollzug der rituellen Selbstdarstellung der Gesellschaft ihrer Identität vergewissern und dadurch den Formen des sozialen Zusammenlebens normative Kraft verleihen«.[25]  Vor dem Hintergrund der lerntheoretisch eingeführten Figur der Ausfallbürgschaft, die der sakrale Komplex für die Risiken einer kommunikativen Vergesellschaftung und Individuierung übernimmt, lässt sich im Anschluss an Durkheim der zentrale Aspekt erkennen, in dem der »archaische Sinn des Heiligen« besteht: »das Überschreiten der Risikoschwelle eines Identitätsverlustes und der glückliche Ausgang eines Kampfes um die Wiedergewinnung der eigenen Identität«.[26] 

Die in Auch eine Geschichte der Philosophie entwickelte Theorie des sakralen Komplexes stellt eine Fortführung und Weiterentwicklung der Durkheim’schen Konzeption des Heiligen im Lichte anthropologischer, auf Michael Tomasello zurückgehender Annahmen und der auf Karl Jaspers begründeten religionsgeschichtlichen Überlegungen zu den Kulturen der Achsenzeit dar. Der sakrale Komplex setzt sich zusammen aus Praktiken des Umgangs mit Mächten des Heils und des Unheils einerseits, aus mythischen Weltbildern andererseits. Mythen verkörpern den semantischen Aspekt des sakralen Komplexes, der sich auf die Darstellung der Welt durch Sprache bezieht, Rituale repräsentieren den performativen Aspekt der kommunikativen Krisenbewältigung. Mythos und Ritual verhalten sich zueinander wie framing und reenactment. Der Vollzug des Ritus ist mit einer Darstellung und Aufführung des Mythos intern verknüpft. Aber seine Überzeugungskraft gewinnt 23der Mythos nicht nur aus seiner sakralen Bindungskraft, aus seiner performativen Verbindung mit dem Ritual. Der Mythos besitzt auch eine eigenständige, rationale Überzeugungskraft, die seinen kognitiven und moralischen Erklärungen innewohnt. Denn während die soziale Bindungskraft des Rituals aus der Orientierung an exemplarischen Gestalten und Vollzügen erwächst, zehrt die »legitimierende und allgemein sozialintegrative Kraft der Weltbilder [...] davon, dass die Macht des Sakralen mit der Kraft guter Gründe kommuniziert«.[27]  Verglichen mit dem Mythos ist die durch Rituale erzeugte »Autorität, die sich im exemplarischen Anspruch von Traditionen und im Sollen normativer Verhaltenserwartungen ausdrückt«,[28]  stärker und robuster als die »schwache grammatische Normativität der Sprache«.[29]  Daher zerstört eine zunehmende Versprachlichung der bannenden Kraft mythologischer Vorstellungen und ihre rationalisierende Transformation in die bindende Kraft diskursiv einlösbarer Geltungsansprüche nicht zwangsläufig jene Form symbolisch erzeugter gesellschaftlicher Solidarität, die der Ritus hervorbringt. Als Ausfallbürgschaft für das Risiko kommunikativer Vergesellschaftung ermöglicht der sakrale Komplex also die Verstetigung und Institutionalisierung von Lernprozessen, die wir als Vorgänge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und Säkularisierung interpretieren. Zugleich ist der sakrale Komplex auch ein Gegenstand von Lernprozessen. Diese gestalten sich aber so, dass der sakrale Komplex unter Bedingungen anhaltender Säkularisierung rationalisiert werden kann, ohne durch diese Transformation notwendigerweise zerstört werden zu müssen. Unter den Bedingungen von Säkularität ist ein reflektierter und hypothetischer Abstand zu den eigenen Hintergrundüberzeugungen möglich, ohne deren praktische, durch redundantes rituelles Handeln hervorgebrachte Bindungskraft zu schwächen.[30]  »[D]ieser Ritus [ist] die eigentliche Quelle der Überzeugungskraft«[31]  der Religion.

24Das, was wir heute Religion nennen, ist bereits Resultat eines transformierenden, aber nicht destruktiven Rationalisierungsschubes der archaischen Mächte Mythos und Ritual. Diese Geschichte der Rationalisierung des sakralen Komplexes erläutert Habermas unter Bezugnahme auf den von Karl Jaspers geprägten Begriff der Achsenzeit.[32]  Das Gemeinsame an den unterschiedlichen Achsenkulturen besteht laut Shmuel Eisenstadt darin, dass in all diesen Kulturen eine systematische Reflexion stattgefunden habe, die in die ›Entdeckung‹ von Transzendenz mündete. Folgt man der Theorie der Achsenzeit, dann ist Transzendenz in der Geschichte der Religion kein Ursprungsphänomen. Die ursprünglich innerweltliche Grenze zwischen profanen und heiligen Bezirken wird erst auf einer späteren Entwicklungsstufe in Gestalt einer Trennung des Innerweltlichen im Ganzen von einer transmundanen Göttlichkeit gezogen. Die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz im Sinne einer Außengrenze zwischen Weltlichem und Göttlichem reagiert auf den Umstand, dass das profane Weltwissen im Zuge der sozialen und kulturellen Evolution immer umfassender und komplexer wird. Auf diese Weise werden die lokalen Deutungsmythen und konventionellen rituellen Praktiken, die Heil sichern und Unheil abwehren sollen, zunehmend entwertet. Das Ritual verliert seine Bedeutung, unmittelbar auf Heil und Unheil des Menschen Einfluss zu nehmen – diese Aufgabe übernehmen Medizin, Technik, soziale Wohlfahrt, der Staat. Zugleich büßt der Mythos seine Funktion ein, innerweltliche Vorgänge zu erklären und in einen deutenden Rahmen einzuordnen.

Angesichts des wachsenden Weltwissens koppelt sich die Erfahrung des Heiligen immer mehr von der Deutung und Bewältigung innerweltlicher Vorgänge ab. Habermas betrachtet diesen Vorgang vor allem als eine »Moralisierung des Heiligen«.[33]  An die Stelle moralisch neutraler instrumenteller Bewältigungsmuster von Heil und Unheil durch das stellvertretende Wirken vieler Gottheiten tritt die Frage nach der unbedingten Gerechtigkeit des einen Gottes. Sichtbar wird dies am Hiob-Problem. Mit steigendem Wissen über natürliche und soziale Ursachen von Unheil kann das persönliche Leid nämlich nicht mehr länger durch einen schlichten Tun-Er25gehen-Zusammenhang erklärt werden. Der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes kann vielmehr nur so bewahrt werden, dass diese für kognitiv unzugänglich erklärt wird. Gottes Güte wird zu einer transzendenten, die Welt übersteigenden, absoluten Gerechtigkeit erhoben. Gerade so behält sie innerweltliche erlösende Kraft für den Einzelnen. Der individuelle Weg zum Heil bemisst sich nicht mehr am innerweltlichen Wohl und Wehe, sondern am Vertrauen auf die unbedingte außerweltliche Gerechtigkeit Gottes.

Die Pointe des Habermas’schen Begriffs einer Moralisierung des Heiligen besteht darin, dass das Moralische gerade keinen religiösen Ursprung besitzt. Das Moralische gehört zu unserem praktischen Weltwissen, es entstammt den partikularen Sitten, Gewohnheiten und konventionellen Regeln. Mit der Etablierung der Vorstellung von Transzendenz reagiert der sakrale Komplex auf jenes Anwachsen des profanen Weltwissens, das lokale Mythen, Rituale und Sitten entwertet. Damit leistet die Religion aber den entscheidenden Beitrag zur Universalisierung des Moralischen. Statt des partikularen Guten, dem individuellen und parochialen Heil und Unheil, verkörpert das Heilige nun den universalen Gesichtspunkt absoluter Gerechtigkeit.

Mit der Moralisierung des Heiligen reagiert der sakrale Komplex also auf jene Herausforderungen, die »mit der Verarbeitung des jeweils akkumulierten Weltwissens einerseits und mit dem soziologisch erklärbaren Formwandel der Sozialintegration andererseits«[34]  entstehen. Die Art der Verarbeitung dieser Herausforderungen aus der religiösen Binnenperspektive kann zugleich nach außen Lernfortschritte für das nachmetaphysische Denken anregen und erleichtern. Mit Blick auf die Transformationsprozesse des sakralen Komplexes entscheidet sich nicht zuletzt, ob vor dem Hintergrund einer immer komplexer werdenden systemischen Integration der Gedanke der Universalität der Gerechtigkeit noch mit dem individuellen Weg zum Heil, säkular gesprochen: mit der Frage nach dem richtigen und gelungenen Leben verknüpft werden kann.

26IV.

Stellt Religion wirklich noch eine gegenwärtige Gestalt des Geistes dar, die als sakrale Quelle sozialer Integration ein Anregungspotential für die nachmetaphysische Vernunft und moderne Gesellschaft bereitstellt? Der sakrale Komplex gerät immer stärker unter den Druck einer atemberaubend schnell anwachsenden Komplexität unseres wissenschaftlichen und moralisch-praktischen Weltwissens. Religiöse Institutionen stehen in praktischer Hinsicht vor der zunehmend unlösbar erscheinenden Aufgabe, den Formwandel der Sozialintegration in Gestalt normativer Standards, wie individueller Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und demokratischer Partizipation, mit einem traditionellen Verständnis vom sakrosankten Charakter ihrer Ämter und Strukturen zu vermitteln. So isoliert etwa das Festhalten an einem hierarchischen Modell der Legitimation von Ämtern und einer naturrechtlichen Begründung von Macht und Geschlechterverhältnissen die katholische Kirche von der modernen Gesellschaft.[35]  Umgekehrt untergräbt eine mögliche innere Demokratisierung, etwa in Gestalt einer Umstellung von Weiheämtern auf Funktions- und Wahlämter, das identitätsbildende Merkmal einer sakramental verfassten Institution. Beide Entwicklungen marginalisieren tendenziell die gesellschaftliche Funktion der liturgischen Praxis der katholischen Kirche, als eine rituelle Quelle sozialer Integration dienen zu können.

In theoretisch-kognitiver Hinsicht wird der sakrale Komplex durch die ungeheure Vermehrung und Beschleunigung von Informationen herausgefordert, vor allem aber durch die radikal veränderte Art der Aneignung und Distribution dieses Wissens. Wenn sich durch Digitalisierung die Verbreitung und Verwendung von theoretischem Wissen zunehmend von verständigungsorientierten Prozessen abkoppelt, kann dann ein sakraler Komplex, dessen liturgische Formen immer noch um Texte und ihre analoge Rezeption zentriert sind, diese Form des Weltwissens noch produktiv verarbeiten und ihre Pathologien kompensieren? In Habermas’ eigenen Worten: »Die Frage, was die Umstellung auf digitale Kommunika27tionsmedien und die Ermächtigung weltweit vernetzter Leser zu Autoren für einen weiteren Formwandel des sakralen Komplexes oder das mögliche Versiegen dieser Quelle von Solidarität bedeuten könnte, ist einstweilen offen.«[36] 

Gerade die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens als Lernprozess im Sinne einer kognitiven Bearbeitung von Wissenszuwachs und sozialem Formwandel zeigt, dass Glauben und Wissen nicht in einem komplementären Außenverhältnis stehen, sondern in einem internen konstitutiven Bedingungszusammenhang. Religion ist nicht nur ein Pfahl im Fleisch der Moderne, die Moderne ist auch ein Pfahl im Fleisch der Religion. Diese Herausforderungen können für das religiöse Bewusstsein so schmerzhaft werden, dass es sich vor dieser modernen Kultur hermetisch abriegelt, auch wenn es in abgeschotteten esoterischen Zirkeln weiter existieren mag und sich durch rituelle Praxis weiterhin reproduziert. Die Funktion als eine sakramentale Quelle sozialer Integration, die über die Binnenpraxis der Gemeinde der Auserwählten hinausginge, hätte diese rituelle Praxis dann aber verloren.

Dieser Schwächung traditioneller Formen liturgischer Praxis durch den Formwandel der Sozialintegration steht aber die Möglichkeit der Entstehung neuer performativer und ritueller Quellen von Solidarität gegenüber. Gerade auf der Basis von Durkheims Begriff des Heiligen ist es vorstellbar, dass auch die moderne Gesellschaft rituelle Formen der Solidarität etablieren könnte, die nicht mehr die Gestalt einer expliziten Erlösungsreligion annehmen müssen. Die von Religionssoziologen wie Hans Joas konstatierte »Persistenz des Rituals in der Geschichte«[37]  ist nicht mit einer bestimmten institutionellen Ausprägung und dogmatischen Artikulation dieser menschlichen Erfahrungsdimension gleichzusetzen.

Gerade Habermas’ Begriff der postsäkularen Gesellschaft bietet gute soziologische Voraussetzungen, um den Aufschwung individualisierter und entinstitutionalisierter Religionsformen zu verstehen, die gegenwärtig häufig mit dem Begriff der Spiritualität bezeichnet werden. Die Vorstellung einer postsäkularen Gesellschaft geht von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus: einerseits von einer ungebremsten Dynamik der Säkularisierung von Wissenschaft, 28Recht, Alltagskultur, andererseits vom Fortbestehen von Religion unter sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen. Zu diesen Bedingungen gehören die Dynamik der zunehmenden Individualisierung und Entinstitutionalisierung der Gesellschaft, die subjektive Freiheit zum normativen Prinzip der Moderne erhebt. Freiheit wird durch die gesellschaftliche Dynamik der Ausdifferenzierung und Individualisierung zunehmend ermöglicht und erzwungen. Angesichts der

gesellschaftlichen Notwendigkeit, in einer immer weniger von tradierten Verhaltenserwartungen bestimmten Sozialwelt den eigenen Lebensentwurf zu finden, wird auch die Frage der religiösen Orientierung zunehmend zur Angelegenheit der Entscheidung des Einzelnen. Damit gerät die Lebensgeschichte mehr denn je zum Ort komplexer religiöser Suchbewegungen, Wandlungen und Entscheidungsfindungen.[38] 

Vor diesem Hintergrund erscheint der Begriff der Spiritualität in gesellschaftstheoretischer Hinsicht attraktiv, da er eine Gestalt von Religion bezeichnet, die jenen »Pluralisierungs-, Individualisierungs- und Ent-Institutionalisierungstendenz[en] moderner Gesellschaften«[39]  am besten entspricht. Spiritualität fungiert als Leitbegriff für neue Formen individualistischer und entinstitutionalisierter Religiosität. Spiritualität konstituiert und legitimiert neue Organisationsformen von Religion, die den offenen, flüchtigen, netzwerkartigen Formen moderner Vergesellschaftung entsprechen. Schon Ernst Troeltsch hatte davon gesprochen, dass sich in der modernen Gesellschaft neben Kirche und Sekte zunehmend die Mystik als Sozialform von Religion etablieren wird.

Diese Tendenzen zu Mystik und Spiritualität müssen nicht zwangsläufig zu einem Erlösungsnarzissmus des Individuums führen, der sich durch esoterische Praktiken an marktkompatible Optimierungsstrategien des unternehmerischen Selbst anschließt. Dies muss auch nicht in die politisch höchst bedenkliche Strategie der Sakralisierung des sozialen Kollektivs münden. Gerade mit Blick auf Durkheim lässt sich sagen, dass Erfahrungen der Selbsttranszendenz, die in der Begegnung mit dem Heiligen entstehen, 29als Transzendenzen des Sozialen zu verstehen sind. Es ist wichtig, die Differenz von Selbsttranszendenz und Selbstsakralisierung bei Durkheim zu beachten. Daher ist auch der Prozess einer kollektiven Sakralisierung von einer Sakralisierung des Kollektivs streng unterschieden. Die Erfahrung der Sakralität bezeichnet bei Durkheim eine Erfahrung der Unterbrechung des Alltags, sie markiert einen Riss in den Routinen, eine Kluft zwischen heiligen und profanen Bezirken. Aber diese Erfahrung bezeichnet weder »die intime Erfahrung des Gläubigen« noch die sakrale Erhabenheit eines Kollektivs, »sondern die dem gesellschaftlichen Leben innere Kluft«.[40]  Die intime innere Erfahrung, die der Einzelne als Selbsttranszendenz erlebt, stellt die »subjektive Nachwirkung«[41]  dieser kollektiven Erfahrung dar. Daher erscheint es mit Blick auf Durkheim unzutreffend, zwischen »Solidarität und Persönlichkeit zu unterscheiden«.[42]  »Für Durkheim ist die Person das Soziale in uns: Dadurch unterscheidet sie sich vom Individuum.«[43]  Wie Bruno Karsanti zu Recht betont hat, kommt diese Vorstellung Durkheims von der Erfahrung des Heiligen als Quelle von Selbsttranszendenz und Solidarität ohne eine »durchdringende theologische Hypothese aus«.[44]  In der Perspektive Durkheims sind Erfahrungen der Sakralität auch in der Moderne möglich, aber nicht mehr exklusiv und der Tendenz nach immer weniger in Gestalt einer theistischen Erlösungsreligion.

Eine prägnante und prominente Form der philosophischen und modernitätstheoretischen Reflexion haben diese Transformationsbewegungen im Feld religiöser Erfahrungen in John Deweys pragmatistischer Theorie der Religion gefunden. Dewey hat in »Ein allgemeiner Glaube« die These vertreten, dass es eine allgemeine religiöse Qualität menschlicher Erfahrung gebe, die nicht identisch sei mit einer ihrer bestimmten Artikulationsformen. Bei dieser religiösen Erfahrungsqualität handelt es sich nach Dewey um eine Totalitätserfahrung der Einheit von Individuum, Gesellschaft und Natur. Es ist die Konzeption der »unification of the self«, der höchs30ten Selbstverwirklichung, der Vollendung des Individuums, die für Dewey nur als Vollendung eines sich in Gemeinschaft vollziehenden Lebens gedacht werden kann. Der entscheidende Unterschied dieser religiösen Dimension menschlicher Erfahrung zur ästhetischen besteht Dewey zufolge darin, dass sie die Erfahrung von »Abhängigkeit und die sie begleitende Demut«[45]  einschließt. Ein solcher Sinn für Kräfte, »die jenseits menschlicher Kontrolle liegen«,[46]  gehört für Dewey notwendigerweise zur religiösen Dimension von Erfahrung. Entscheidend ist, dass diese Abhängigkeitserfahrung nicht zum Appell an eine externe Instanz verleiten darf, sondern gerade das innerweltliche Gefühl der Einheit und Solidarität mit anderen im Horizont menschlicher Erfahrung verstärken soll. Religiosität ist für Dewey eine Dimension inmitten säkularer Erfahrung der Lebenswelt.[47] 

So ist die gegenwärtige Depression der Religion Dewey zufolge eng damit verbunden, dass gerade die verfassten Religionen das Bestreben, die allgemeine religiöse Qualität menschlicher Erfahrung auch unter Bedingungen des modernen, durch Wissenschaft und Demokratie geprägten Bewusstseins zu artikulieren, erheblich erschweren. Die moderne Wissenschaftlichkeit führt nämlich zu einer radikalen Veränderung im »Sitz der intellektuellen Autorität«,[48]  auch und gerade der rechtfertigenden Instanzen von Alltagsorientierungen. Deshalb können solche Orientierungen nur noch im Vollzug einer kooperativen Wahrheitssuche beglaubigt werden. Diese Prinzipien der Demokratie und der wissenschaftlichen Forschung prägen das Verhalten und die Einstellungen des alltäglichen modernen Lebens. Eine religiöse Dimension der Erfahrung könne unter den bestehenden Bedingungen nur dann von Verzerrungen und Instrumentalisierungen befreit werden, wenn das gesamte Konzept »von besonderen Wahrheiten, die durch ihre eigene Natur religiös seien, samt der Idee eigentümlicher Zugangswege zu sol31chen Wahrheiten aufgegeben«[49]  werde. Die religiöse Qualität von Erfahrung ist dagegen inmitten säkularer Handlungen und Einstellungen möglich, die strikt immanent im Horizont rein menschlicher Erfahrung verbleiben. Das Religiöse als Ausdruck allgemeiner humaner Ideale zu begreifen, bietet nach Dewey die Möglichkeit einer »Emanzipation des Religiösen von der Religion«,[50]  im Zuge derer religiöse Erfahrungen nicht länger mit den Praktiken und Selbstinterpretationen religiöser Institutionen identifiziert werden und somit die religiöse Dimension menschlicher Erfahrung vom Selbstverständnis moderner Gesellschaften isoliert wird.

Deweys pragmatistische Religionsphilosophie bietet eine Möglichkeit, damit zu rechnen, dass der Schwächung traditioneller institutioneller Formen von Religion die Möglichkeit der Entstehung neuer performativer und ritueller Quellen von Solidarität gegenübersteht. Ansätze, die – wie Deweys pragmatistische Konzeption – eine allgemeine religiöse Dimension menschlicher Erfahrung von konkreten religiösen Institutionen unterscheiden, provozieren häufig den Vorwurf der Individualisierung und der Funktionalisierung von Religion. Dewey war sich jedoch der konstitutiven Bedeutung der intersubjektiven und rituellen Dimension des Religiösen sehr bewusst. In seinen Augen haben notwendigerweise »die meisten Religionen die Riten der Sühnung und Versöhnung um Riten der Kommunikation erweitert«.[51]  Auch der Vorwurf der Funktionalisierung von Religion greift nur, wenn der Inhalt religiöser Überzeugungen den rituellen Praktiken logisch vorgeordnet wird. Rituelle Praxis hätte dann den Sinn, dass »die Gemeinde der Gläubigen die Inhalte ihres Glaubens performativ bezeugt«.[52]  Es ist richtig, dass der Ritus für die »Beteiligten einen nachvollziehbaren intrinsischen Sinn« besitzen muss, der von der Funktion unabhängig ist, die ihm aus einer Beobachterperspektive zugeschrieben wird. Daraus folgt aber nicht, dass die Resistenz gegen eine funktionalistische Reduktion allein in dem Fürwahrhalten von Überzeugungen besteht. Möglicherweise hat es Religion nur so lange verdient, als »zeitgenössische Gestalt des Geistes ernst genommen zu werden«,[53] 32wie die Sinngebung, die die Gläubigen überzeugt, nicht in einer ihrer Funktionen aufgeht. Aber vielleicht ist ja gerade die ästhetische Logik des Ritus, das selbstvergessene Spiel, der eigentliche intrinsische Sinn, der die Gläubigen bindet, nicht der Wahrheitsgehalt von Überzeugungen. Wie Habermas im Anschluss an Martin Riesebrodt feststellt, ist es ja gerade die »Selbstbezüglichkeit ritueller Praktiken«, die für die »Eigenständigkeit einer religiösen Sphäre«[54]  spricht. Die Eigenständigkeit von Religion auf den Wahrheitsgehalt theologischer Aussagen zu gründen, brächte Religion am Ende doch wieder in eine epistemische Abhängigkeit von Metaphysik und den Ritus in die geltungslogische Abhängigkeit vom Mythos.

V.

Die von Dewey umschriebene Erfahrung der Unverfügbarkeit und Unbedingtheit, die dem Individuum erst die Möglichkeit gelungenen Selbstseinkönnens eröffnet, kann Habermas zufolge auch rein immanent, säkular, gedacht werden. Der Begriff des Selbstseinkönnens bildet nach Habermas das Scharnier zwischen einer existentialistischen Individualethik der Authentizität und der gattungsethischen Einbettung einer universalen Vernunftmoral egalitären Respekts. Selbstseinkönnen umfasst jene Merkmale, welche die spezifische Eigenschaft der menschlichen Gattung und ihrer Angehörigen definiert. Dazu gehören nach Habermas als fundamentale Bedingungen die Autorschaft über das eigene Leben und die prinzipiell symmetrische Beziehung zu allen anderen Angehörigen der Spezies. Eingelassen in unser Selbstverständnis als kommunikative Wesen, ist dies aber ein Selbstverständnis, das wir zugleich wählen müssen. »[N]ichts und niemand«, so Habermas, zwingt uns dazu, uns überhaupt »als autonom handelnde Subjekte zu verstehen«.[55]  Unser Selbstverständnis als autonome Subjekte ist gewissermaßen Ausdruck eines Vernunftglaubens. Es ist unsere Entscheidung, am Gedanken einer universalen Gerechtigkeit festhalten und ihn mit einem Leben in riskanter Selbstverantwortung verbinden zu wollen.

Habermas hat stets an jener Enthaltsamkeit festgehalten, »die sich das nachmetaphysische Denken im Hinblick auf verbindli33che Stellungnahmen zu substantiellen Fragen des guten oder nicht verfehlten Lebens auferlegt«.[56]  Er bekräftigt zugleich die zentrale Auffassung der Diskurstheorie, dass nur solchen Argumenten der Status zwingender moralischer Gründe zukommen kann, die säkularen Charakter besitzen und somit »in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft vernünftigerweise auf Akzeptanz rechnen dürfen«.[57]  Diese universale Vernunftmoral bleibt jedoch lebensweltlich in plurale ethische Kontexte eingebettet, wie sie durch die Religionen, »metaphysische Lehren und humanistische Überlieferungen«[58]  verkörpert werden. Diese Kontexte definieren unterschiedliche, kulturell variable Menschenbilder. Als partikulare Kontexte der Einbettung konstituieren sie aber nicht den Grund der universalen Geltung jener moralischen Rechte, die allen Personen qua Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung zukommen. Dieser universale Anspruch gründet vielmehr in einer Erfahrung, die über die konkreten ethischen Situationen hinausweist und kontexttranszendent von allen moralischen Personen geteilt werden kann. Sobald es nämlich um jene intuitiven Selbstbeschreibungen geht, unter denen wir uns überhaupt als Menschen identifizieren, reden wir von einer ethischen Einbettung ganz anderer Art, nämlich von einer über die Kulturen und Weltanschauungen hinausgreifenden ethischen Selbstdeutung der menschlichen Gattung im Ganzen.

Kierkegaard erscheint als geeigneter Ausgangspunkt einer solchen postmetaphysischen, enthaltsamen Gattungsethik. Er entfaltet als Erster einen formalen Begriff des guten Lebens, der dieses nicht an bestimmte Inhalte bindet, sondern an die Form authentischen, unverzerrten Selbstseinkönnens. Unter pluralistischen und säkularen Bedingungen, so hat Habermas bisher stets argumentiert, kann ein allgemeines, das Selbstverständnis der gesamten Gattung betreffendes ethisches Verständnis vom gelungenen Selbstseinkönnen nicht mehr verbindlich religiös fundiert werden. Allerdings kann Habermas zufolge die Unverfügbarkeit und Unbedingtheit, die dem Individuum erst die Möglichkeit gelungenen Selbstseinkönnens eröffnet, nach der linguistischen Wende auch rein weltim34manent gedacht werden. »Schon in den Kommunikationsformen, worin wir uns miteinander über etwas in der Welt verständigen, begegnet uns eine transzendierende Macht«.[59]  Transzendenz wird hier streng als immanente Transzendenz[60]  verstanden, im Sinne der subjektiven Unverfügbarkeit einer intersubjektiv geteilten Sprache und Lebensform. Unter dieser Voraussetzung, so scheint es, kann eine »schwache prozeduralistische Lesart«[61]  von Unbedingtheit diskurstheoretisch gerechtfertigt werden, die zugleich fallibilistisch und antiskeptisch ist. Daher ist auch das richtige gattungsethische Verständnis »weder offenbart noch in anderer Weise ›gegeben‹. Es kann nur in gemeinsamer Anstrengung gewonnen werden. Aus dieser Perspektive erscheint das, was unser Selbstsein möglich macht, eher als transsubjektive denn als absolute Macht.«[62] .

Zu diesen transsubjektiven Bedingungen des Selbstseins gehört offensichtlich genau jenes Selbstverständnis, Angehöriger einer Gattung freier und vernünftiger Wesen zu sein. Die Unverfügbarkeit dieser ethischen Einbettung der Moral erscheint dann als Grund des Verständnisses und der letzten Deutung jener unbedingten Geltung der Vernunftmoral. Erst unter dieser Bedingung erhält Habermas’ Neuvermessung der Kantischen Grenze zwischen Glauben und Wissen im Sinne einer aneignenden und lernbereiten Übersetzung durch eine Vernunft, die in der Religion einen möglichen Kontext ihrer reflexiv uneinholbaren Einbettung erblickt, ihre ganze Schärfe und Prägnanz.

Diese begriffliche Konstellation kann immer noch mit guten Gründen »nachmetaphysisch« genannt werden. Als prozedurale und fallible Rationalität verzichtet das Modell der offenen Lernbereitschaft und kooperativen Übersetzung auf den Gestus einer vollständigen und vollkommen transparenten Selbsteinholung der Vernunft nach dem Vorbild der Hegel’schen absoluten Reflexion und nimmt Kierkegaards radikale Zuspitzung der existentiellen Differenz zwischen Glauben und Wissen ernst. Es ist das gattungs35geschichtlich gewendete Paradox Kierkegaards, dass der Grund der universalen humanen Vernunft im ethischen Selbstverständnis der Menschheit liegt. Das Selbstverständnis einer Gattung, die Vernunft und Freiheit als ihre konstitutiven Merkmale ansehen muss, ist das Resultat einer radikalen, nicht mehr aus einer höheren Einsicht in einen metaphysischen Grund abgeleiteten Wahl: Diese Einsicht legt den unhintergehbaren Grund der Einbettung der universalen Vernunft offen.

Der Grund der Normativität wäre dann im Sinne eines formalisierten Kierkegaard’schen Sprunges ein Akt der Setzung eines normativ gehaltvollen Selbstverständnisses als Gattungswesen. Diese Setzung ist aber kein willkürlicher und voluntaristisch individueller Akt, sondern entspringt der kollektiven, symbolisch verarbeiteten Erfahrung unserer spezifischen Verletzbarkeit als menschliche Wesen. Diese spezifische Verletzbarkeit resultiert nicht einfach aus unserer organischen Konstitution als biologische Lebewesen, sondern aus der kommunikativen Verfasstheit des menschlichen Gattungslebens. Wir sind genötigt, uns ethisch als autonome, andere als gleichwertig achtende Wesen zu verstehen, weil der moralische Zwang zur diskursiven Rechtfertigung, der in die kommunikative Lebensform unserer Gattung eingebaut ist, diese Selbstdeutung nahelegt. Ob die im Horizont innerweltlicher Kommunikation begegnende transzendierende Macht auf religiöse Weise verstanden und symbolisiert wird und, wenn ja, in welcher institutionellen Form, entzieht sich einer allgemeinen philosophischen Begründung und soziologischen Prognose. Ob Religion auch in Zukunft noch zu den exemplarischen Gestalten des Lebens zählen wird, an denen wir – affirmativ oder kritisch – unser Selbstverständnis ausrichten können, kann das nachmetaphysische Denken weder vorhersehen noch beeinflussen. Es kann aber erläutern, warum die Begegnung mit einer transzendierenden Macht aus immanenten Gründen zur kommunikativen Verfasstheit der menschlichen Gattung beiträgt und die Quelle der intersubjektiv bindenden Normativität zum Ausdruck bringt.

36Micha Brumlik

Habermas’ christliches Abendmahl – Glaube, Funktion und symbolische Wahrheit

I. Vorbemerkung

Eines der entscheidenden Motive nachmetaphysischen Denkens besteht für Jürgen Habermas im systematischen Auseinandertreten von »Glauben« und »Wissen« – eine Entkoppelung, die seiner geschichtsphilosophischen Rekonstruktion gemäß ihren Ausdruck vor allem in der Reformation, namentlich dem Wirken und den Schriften Martin Luthers, die seiner Überzeugung nach sogar Kant den Boden bereiteten –, gefunden hat: »Der Witz der Transzendentalphilosophie«, so Habermas, »besteht darin, dass sich Kant der von Luther als intelligibel gedachten, von der Welt abgetrennten Sphäre als die des transzendentalen Bewusstseins bemächtigt.«[1] 

Indes: Nicht umsonst erörtert Habermas in einem doch eigentlich philosophischen Werk ausführlich und bestens informiert einen innertheologischen, mehr noch: einen innerreformatorischen Streit, nämlich die zwischen Calvin und Zwingli einerseits und Martin Luther andererseits geführte Debatte, den Streit um Inhalt und Funktion des zweiten, nach der Taufe von den Reformatoren übriggelassenen Sakraments, des Abendmahls. In aller Kürze und unzulässig simplifiziert, geht es dabei um die Frage, ob Leib und Blut Christi im Sakrament des Abendmahls nur symbolisch oder – wie immer das dann definiert sei – real zugegen sind. Doch zuvor ist noch zu vermerken, dass nach Habermas’ Rekonstruktion die bis zu Kant reichende Trennung von Glauben und Wissen eine Konsequenz der Rechtfertigungslehre ist – insofern das »Wie des Glaubensaktes« Vorrang vor dem »Glaubensinhalt« habe.[2]  Das aber heißt nichts anderes, als dass die Triftigkeit des Glaubens sich nicht auf der propositionalen Ebene einer behaupteten Aussage, sondern 37»auf der performativen Ebene der Anerkennung der Glaubwürdigkeit einer anderen Person«[3]  erweist.

II. Luther und Zwingli

Dann aber geht es im reformatorischen Verständnis des christlichen Glaubens um die Frage, wie die Einsetzungsworte Jesu zu deuten sind: Im redaktionsgeschichtlich ältesten Evangelium, dem des Markus, heißt es in 14,22-26 folgendermaßen:

Während des Mahls nahm er das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es ihnen und sagte: nehmt, das ist mein Leib. Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet, reichte ihn den Jüngern und sie tranken alle daraus. Und er sagte zu ihnen: Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.

Nun lehnten sowohl Luther als auch Zwingli die katholische Lehre von der Transsubstantiation ab, gemäß derer sich während der Eucharistie Brot und Wein tatsächlich in Jesu Leib und Brot verwandelten. Worin bestand aber dann die tiefgreifende Differenz zwischen Luther und Zwingli?

Für Luther galt, dass »wahrhaftig der Leib und Blut im Brot und Wein [...] mündlich gegessen und getrunken«[4]  werde, während für Zwingli das Abendmahl wesentlich eine Symbolhandlung darstellt, die die Erinnerung an die für den christlichen Glauben unverzichtbare Auferstehung Jesu bekräftigt. Jürgen Habermas deutet das Abendmahl – nicht ohne zu versichern, dass die protestantische Form dieses Ritus »einen weiteren Schub in der Überwindung magischen Denkens«[5]  darstellt – so:

Luther möchte nun den dialektischen Gehalt dieses Geschehens dadurch vor dem Rückfall in eine magische Praxis schützen, dass er die Einsetzungsworte Jesu als Worte ernst nimmt und den rituellen Akt der Verwandlung von Brot und Wein als die sprachliche Kommunikation versteht, als die sie beschrieben wird. Er sublimiert die Opferhandlung ins Medium der 38Sprache und begreift die Einsetzungsworte der Eucharistie als eine Aufforderung an die Gemeinde, zeichenhafte Handlungen zu reproduzieren, die den Beteiligten bewusst machen, dass Gott selbst in ihren liturgisch wiederholten Worten anwesend ist.[6] 

Die Deutung, die Habermas diesem Verständnis des Abendmahls gibt, läuft darauf hinaus, dass Luther das sakramentale Geschehen von Jesu letztem Mahl im Wortgeschehen – wohl im Hegel’schen Sinne – aufhebt. In Habermas’ Worten:

Denn für ihn [Luther, M.B.] zieht diese Deutung ihre Evidenz aus dem Umstand, dass sich in dieser Praxis, wie in den übrigen Sakramenten, nichts anderes ereignet als jene Dialektik von Sündenbekenntnis, Umkehr und Vertrauen auf die unverbrüchliche Zusage Gottes, die die Rechtfertigungslehre als den Kern jedes authentischen Glaubensaktes herausgearbeitet hat. Wenn aber das gemeindeöffentlich praktizierte Abendmahl wie jede fromme Kommunikation des Gläubigen mit Gott die allgemeine Struktur eines Austauschs von Sprechakten des Bekennens und die Zusage aufweist, ist die Gegenwart des Gegenübers eine triviale Unterstellung. Diese nimmt der Gläubige auch in jedem Gebet vor (nicht anders als jemand, der mit einer Person spricht, die – wie wir heute veranschaulichen können, wie im telefonischen oder digitalen Austausch – außer Sichtweite ist).[7] 

Mit anderen Worten, es besteht für Habermas keine grundlegende Differenz zwischen der bloßen Meinung, der Annahme, dass eine – in diesem Fall: göttliche – Person zugegen ist, hier sowie der intersubjektiv überprüfbaren Tatsache dort, dass eine Person wirklich existiert. An dieser Stelle mag gefragt sein, wie Habermas den Glauben an den vielfältigen polytheistischen Makrokosmos der Religion der Hindu beziehungsweise den auch hierzulande nicht ausrottbaren Glauben an Geister und Gespenster beurteilen würde. Existieren für Habermas Vishnu, Shiva und Brahma im selben Sinne wie der Gott Martin Luthers? Einfach deshalb, weil gläubige Hindus meinen, dass diese göttlichen Gegenüber auch wirklich existieren?

Tatsächlich ist Habermas der Überzeugung, dass in der sakramentalen Handlung des Abendmahls »auch noch der letzte Rest von Magie in Sprache und Kommunikation getilgt wird«, weshalb sich Luther der Frage stellen muss, »wodurch sich dann die Sakramente der Taufe und des Abendmahls überhaupt noch vor dem 39privaten Zwiegespräch des Betenden oder dem liturgischen Gottesdienst der Gemeinde auszeichnen«.[8]  Im Weiteren zitiert Habermas Luthers Überzeugung, dass die Taufe kein Spiel von Bedeutungen sei, sowie Luthers Unterscheidung von Testament und Sakrament mit Betonung darauf, dass nach Luther dem Wort größere Kraft innewohne als dem Zeichen und entsprechend dem Testament größere Kraft als dem Sakrament zukomme – wobei sich hier zum ersten Mal die Frage stellt, was Luther eigentlich gegen Zwinglis Deutung des Abendmahls als symbolische Erinnerungshandlung einzuwenden hat und – vor allem! – mit welchen Gründen Habermas in dieser Kontroverse Partei für Luther ergreift – biete doch Luther »eine symbolische Deutung an, die einerseits ein buchstäbliches Verständnis energisch abwehrt, andererseits an die sozialintegrative Funktion anknüpft, die rituelle Praktiken ursprünglich gehabt haben«.[9] 

Gleichwohl stellt sich Habermas auf die Seite Luthers gegen Zwingli, gehe doch das rituelle Element des Sakraments nicht ohne Rückstand in dem Sinn der symbolischen Handlung auf und habe doch in diesem Fall die Unterscheidung von »Zeichen« hier sowie »Bedeutung« dort keine konstitutive Relevanz für das Sakrament mehr. Habermas schwankt zwischen der Überzeugung, dass der inkarnierte Gott ›durch sein Wort‹ in der sakralen Handlung zugegen sei,[10]  sowie der Restüberzeugung, dass sich diese Anwesenheit eben nicht nur im Wort vollziehe. Auf jeden Fall scheint es Habermas um mehr zu gehen als lediglich – im Sinne Zwinglis – um eine symbolische Handlung, die eine Heilsversprechung in Erinnerung bringt. Im Folgenden wird er daher ausführlich erklären, aus welchen Gründen er sich so detailliert mit diesem innerreformatorischen Streit befasst hat – weil er sich nämlich fragt,

ob der weitere, seinerzeit von der reformierten Kirche und inzwischen von weiten Teilen des Protestantismus insgesamt nachvollzogene Schritt der Überführung sakramentaler Handlungen in eine irdische, von der Kirche veranstaltete feierliche Kommunikation unter den Gemeindemitgliedern nicht nur eine weitere Transformation, sondern die Aufhebung des sakralen Komplexes, das Versiegen der sakralen Quelle sozialer Integration einleitet, was einer menschheitsgeschichtlichen Zäsur gleichkä40me. Dies würde Luthers Beharren auf der Realpräsenz des Leibes Christi in ein anderes Licht rücken, denn es würde nicht ein weiteres Mal die Befangenheit des mittelalterlichen Mönches manifestieren, sondern das tiefe Zurückschrecken vor den Konsequenzen einer unumkehrbaren Entkoppelung des Wissens vom Glauben verraten. Der Preis, den Luther für die Erneuerung eines verinnerlichten, ins Subjekt vertieften Glaubens gezahlt hat, war eine fideistische Abkoppelung des Glaubens vom Wissen, die in den folgenden Jahrhunderten den religiösen Glaubensmodus als solchen umso eher in Frage stellen kann, je mehr der derart abgekapselte Glaube auch seine Verwurzelung in der rituellen Praxis der Gemeinde verliert.[11] 

Unter Verweis auf Schleiermacher und Kierkegaard, auf Kant sowie Hume postuliert Habermas im Folgenden »ein spiegelbildliches Problem« des säkularen nachmetaphysischen Denkens, das darin besteht, dass es im Rahmen der praktischen Philosophie Gerechtigkeitsfragen von der Perspektive eines zum Heil führenden richtigen Lebens trennen und moralische Gebote aus der Vernunft allein begründen muss.[12]  Als weiteres Folgeproblem stellt sich die Frage, ob eine allein auf Gerechtigkeitsfragen zugeschnittene Vernunftmoral etwas zu den sozialintegrativen Energien, mithin der Sittlichkeit einer fortschreitend säkularen Gesellschaft beitragen kann – eine Frage, die sichtlich auf Hegel zurück und auf John Rawls voraus weist. Auf jeden Fall wagt Habermas in diesem Zusammenhang eine sehr weitreichende These, nämlich dass das Sakrale mindestens eine Quelle sozialer Integration sei. Das Ende des Sakralen aber bedeute – so Habermas – eine menschheitsgeschichtliche Zäsur!

III. Was ist »sakral«?

Habermas’ Annahme wurde nicht zuletzt von dem US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons gestützt, denn tatsächlich sind die – mindestens westliche Gesellschaften prägenden – Religionen Judentum und Christentum sowie der Gedanke der Demokratie alle in der von dem Philosophen Karl Jaspers so genannten Achsenzeit entstanden, in diesem Fall zwischen dem achten vorchristlichen und dem dritten nachchristlichen Jahrhundert. Wie angedeutet, ist unsere, die europäische Kultur mit ihren Erzählungen 41und ihren Narrativen in jenen Regionen entstanden, die Parsons als Saatbeetgesellschaften der westlichen Lebensform bezeichnet hat: in den Städten, den Poleis, des antiken Griechenland, im antiken Judäa und in Babylon sowie im römischen Imperium; volkstümlich wird von den drei Hügeln gesprochen, auf denen Europa entstanden sei: die Akropolis, die sieben Hügel Roms und der Zion. Entsprechend bezeichnete Parsons das antike Judäa, das antike Griechenland sowie das Römische Reich als die »Saatbeetkulturen« des »Westens«.[13]  Tatsächlich werden ja auch noch gegenwärtig, im 21.Jahrhundert, die meisten ›westlichen‹ Gesellschaften mehr oder minder demokratisch regiert – was auch noch für das ansonsten keineswegs westliche Indien gilt –, während das für das ursprünglich auch buddhistische China sowie für Russland – obwohl eine christliche Gesellschaft – nicht zutrifft. In der Antike freilich entstand die ›Demokratie‹ ausschließlich in Griechenland, während der alttestamentliche Glaube Israels, das rabbinische Judentum sowie die christlichen Kirchen im engeren, politischen Sinne nicht demokratisch verfasst waren – sieht man einmal davon ab, dass rabbinische Versammlungen sowie kirchliche Konzile sich durchaus Formen mehrheitlicher Abstimmung bedienten. Aber was genau heißt eigentlich sakral? Eine in diesem Fall wirklich brauchbare Definition bei Wikipedia lautet so:

Als Sakralisierung (von »sakral«, lat. sacer, »heilig«