Verraten - Vanessa S. Kleinwächter - E-Book

Verraten E-Book

Vanessa S. Kleinwächter

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Beschreibung

"Freundschaft kann Wege finden, wo keine zu sein scheinen." Dieser Satz ihres besten Freundes Jake geht der jungen Magierin Nael einfach nicht mehr aus dem Kopf. Selbst dann nicht, als er auf die Eliteakademie wechselt und sie immer stärker vernachlässigt. Und nicht einmal, als er anfängt, die Positionen des Tyrannen Cabrysz zu übernehmen. Darfst du einen Menschen aufgeben, der dir einen Splitter seiner Seele anvertraut hat? Kannst du mit einem Menschen weiter befreundet sein, den du kaum noch wiedererkennst? Und vor allem: Wie erträgst du den Schmerz, wenn dir die Seele gebrochen wurde?

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Seitenzahl: 453

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Verraten

ImpressumWidmungContent NotesPrologEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzigZweiundfünfzigDreiundfünfzigVierundfünfzigFünfundfünfzigSechsundfünfzigSiebenundfünfzigAchtundfünfzigNeunundfünfzigSechzigEinundsechzigZweiundsechzigDreiundsechzigVierundsechzigDanksagung

Impressum

Texte: © Vanessa S. Kleinwächter Coverfoto: Paul Hermann via unsplash Verlag: Vanessa Kleinwächter, c/o AutorenServices.de, Birkenallee 24, 36037 Fulda [email protected] twitter.com/androgynouvelle Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Widmung

Für Tobias, ohne den Naels Welt ganz anders aussehen würde -und meine auch.

Content Notes

Schule Trauma/PTBS Tod Vernachlässigung/schlechtes Verhältnis zu den Eltern Waise-sein Mobbing Kapitalismus und Armut Depression und Burnout Cissexismus/Misgendering Verletzungen und Waffen Sekten Vermissen, Liebeskummer, Eifersucht (Reden über) Sex, nichtgrafische Erwähnung von Übergriffigkeit (nicht sexualisierte) Nacktheit ungesundes Essverhalten (Erwähnung von) Menstruation Alkohol

Prolog

„Es ist real.“ Beinahe traute ich mich gar nicht, diesen Satz zu denken oder auch noch zu glauben. Doch wann fragten Gedanken schon nach Erlaubnis, bevor sie sich im Kopf festsetzten? Eben. Und dieses Mal war es ein guter Gedanke, der da von mir Besitz ergriff. Er riss mir die Mundwinkel zu einem ungläubigen Grinsen nach oben und nahm mir eine Last, die ich lange mit mir herumgeschleppt hatte. Wieder und wieder ließ ich den Blick die goldenen Buchstaben entlang gleiten, die über dem Tor des steinernen Gebäudes angebracht waren. Als könnte ich sie mir eingebildet haben. Doch so oft ich die Wörter auch las: Sie verschwanden nicht. Sie veränderten sich auch nicht. Wäre ich mir dabei nicht albern vorgekommen, hätte ich sie wahrscheinlich sicherheitshalber laut ausgesprochen: „Kullë Guri - Internat von Siguri“. Erleichterung, Freude, Erschöpfung, Neugierde, Nervosität – ich war ein einziges Gefühlschaos in Menschengestalt. Und doch: Dieser menschliche Körper mit den etwas zu dunklen Ringen unter den etwas zu gelben Augen, mit den etwas zu kurz genagten Fingernägeln an den etwas zu rauen Händen, mit den etwas zu konfusen Gedanken hinter der etwas zu käsigen Stirn – dieser Körper stand am richtigen Fleck. Und es war meiner; auch wenn es sich anfühlte, als würde ich einem Theaterstück zuschauen und nur zufällig mitten im Kopf der Protagonistin sitzen. Im Hintergrund spielte kein Orchester, im Hintergrund wiederholte sich nur immer wieder dieser eine Satz: „Es ist real. Esistrealesistrealesistreal. Es. Ist. Real.“ Es war kein Theaterstück - es war mein Leben. Nun musste ich also nur noch den Mut finden, zu klingeln. Und dann Worte, die den Direktor überzeugten, mich bleiben zu lassen. Nichts schwieriger als das. Wieder einmal war ich davon fasziniert, wie unterschiedlich schwierig der beinahe selbe Handgriff in unterschiedlichen Situationen auszuführen sein konnte. Bei Leuten klingeln, die ich seit Ewigkeiten kannte? Passierte quasi von selbst. Am Tor der Schule klingeln, an der ich hoffte, nach all der Zeit endlich meine Magie-Kenntnisse ernsthaft ausbilden zu können? Haha, als ob. Es war, als würden meine Hände sich schlichtweg alle beide weigern, sich zu bewegen. Nicht, weil meine Muskeln es nicht konnten. Sondern weil meine Angst mich nicht ließ. So oft hatte ich davon geträumt, durch diese Tür zu gehen - doch nun, da ich nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, wünschte ich mir fast, sie würde sich niemals öffnen. Ich konnte auch einfach wieder abhauen! Kein Mensch musste wissen, dass ich jemals auch nur hier gewesen war. Einfach wieder gehen, mich bei Myranda verkriechen, warten bis zur Feier meines zweihundertzweiundzwanzigsten Vollmondes, nach der ich frei sein würde… Die Erinnerung an Myranda stach. Vielleicht wurde mir erst jetzt so richtig bewusst, wie weit entfernt ich von ihr war. So einfach war das mit dem Zurückkehren ja nicht, sonst stünde ich schließlich nicht hier. Vor diesem Tor. Endlich. Denn egal, wie sehr ich meine älteste Freundin vermisste: Warten hatte ich versucht – und letztendlich aufgegeben. Gewartet hatte ich schon viel zu lange und ich würde keinen Moment mehr länger warten. Vom Frust angetrieben ließ ich meine linke Hand nun doch endlich nach vorne schnellen. Kein Klingelgeräusch drang bis hier draußen, doch schon wenig später schwang die Tür auch schon auf und eine Stimme erklang: „Willkommen am Internat von Siguri. Bitte melden Sie sich im Sekretariat an, das das Sie im rechten Gebäudeteil im ersten Stock finden.“ Nun, da ich es bis hierher geschafft hatte, würde das das geringste Problem darstellen, hatte ich doch das Gefühl, schon tausendmal durch die Gänge dieser Schule gelaufen zu sein. Ich strich mir eine lange glatte Strähne von der Schulter – wenigstens meine dunkelblauen Haare mochte ich an mir wirklich gern! Dann trat ich durch das Tor. Und… fühlte mich komplett verloren. Schon nach den ersten Schritten musste ich feststellen, dass ich mich nicht halb so selbstbewusst orientieren konnte, wie ich es mir vorgestellt hatte. Eigentlich keine große Überraschung, denn diesmal war ja Annabelle Lumtur nicht an meiner Seite. Wie auch? Hatten unsere gemeinsamen Streifzüge doch nur in meinem Kopf stattgefunden. Immer und immer wieder, seit dem Tag, an dem ich zum ersten Mal das Buch aufgeschlagen hatte, das nun sicher zwischen den Kleidungsstücken meines Gepäcks verstaut war. Das Foyer hingegen, das ich soeben betreten hatte, war real und groß und menschenleer. Es hatte nichts von der einladenden Freundlichkeit, die ich erwartet hatte. Der Boden war nicht wie in meiner Vorstellung mit weichem Teppich ausgelegt, sondern bestand aus Marmor. Ausgerechnet. „Vielleicht bin ich hier ja doch falsch,“ schoss es mir durch den Kopf. Als hätte ich mich eben nicht tausendmal versichert, vor dem Kullë Guri zu stehen. Zaghaft wanderte mir mein Blick voraus, als ich stehen blieb, um den Anblick in mich aufzunehmen. Alles wirkte so… gerade. Die strahlend weißen Säulen, die aussahen, als wollten sie eine ganze Kuppel tragen und nicht bloß die ohnehin schon einschüchternd hohe und ebenso weiße Zimmerdecke. Die feinen goldenen Vorhänge vor den bodentiefen Fensterbögen auf der gegenüberliegenden Seite, die im blendenden Licht der einfallenden Sonne glänzten. Auf dem Boden war kein einziger Fußabdruck zu erkennen. Das alles wirkte eher wie ein edler Ballsaal als das Foyer einer Schule. Dazu beitragen, dass sich meine Ankunft hier wirklicher anfühlte, tat das nun gerade nicht. Doch dann auf einmal sah ich ihn: Durch eines der Fenster mir gegenüber war ein Turm zu erkennen, der nicht in stärkerem Kontrast zu den makellosen Säulen hier drinnen hätte stehen können. Seine grauen Steine waren moosbewachsen und verwittert, hier und dort fehlten einzelne. Und dennoch stand er unbeirrt noch immer da, wie zum Trotz. Der Steinerne Turm. Eine ganze Weile konnte ich den Blick nicht von ihm losreißen. Als würde er verschwinden, wenn ich wegsah. Dann fiel mir wieder ein, dass ich mich im Sekretariat zu melden hatte. Okay. Hoffentlich würde ich den Turm ja nun öfter zu Gesicht bekommen. Hoffentlich… Ich entdeckte einen Wegweiser zum Sekretariat und wandte mich nach rechts. Der Gang, der sich an das Foyer anschloss, war kaum weniger prunkvoll. Schmaler zwar, aber auch hier glänzte alles. Die Wände, die ich mir mit angenehmem Holz vertäfelt vorgestellt hatte, waren tiefgrün und mit goldenen Rankenmustern verziert. Auch hier war keine Spur davon zu erkennen, dass diese Burg schon hunderte von Monden stand. Oder dass das hier überhaupt eine Burg aus Stein war. Fenster gab es im Gang keine, wie ich beim Versuch, mich erneut nach dem Steinernen Turm umzudrehen, feststellte. Erhellt wurde der Korridor durch Bodenplatten, deren grellweißes Licht in alle Farben des Regenbogens zersprang, sobald ich die jeweilige Platte betrat. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind in einem Märchen, als sei dieser Gang der verwunschene Wald, durch den ich wandelte. Blieb nur zu hoffen, dass in seiner Mitte kein Monster darauf wartete, mich zu zerfetzen. Ernsthaft Sorgen machte ich mir wiederum nicht. Zwar hatte ich noch immer keine Ahnung, was ich dem Direktor dieses Ortes sagen sollte – aber das alles wirkte auch noch immer viel zu surreal, als dass ich das Gefühl gehabt hätte, mir könnte hier irgendwas angetan werden. Kurz ertappte ich mich dabei, von Platte zu Platte zu hüpfen und das Gefühl zu genießen, dass ich sie zur Veränderung animieren konnte. Dann rief ich mich selbst zur Ordnung. Was, wenn ich einem neuen Menschen begegnete und er mich so sah? Wie peinlich wäre das denn! Also lieber ordentlich weiterlaufen wie eine, die an eine höhere Schule der Magiekunst gehörte. Ich straffte die Schultern und begann, die Treppe zu erklimmen, die am Ende des Ganges links nach oben führte. Auch hier leuchtete jede Stufe und ihr Weiß zerfiel zu Regenbogenfarben, sobald ich den ersten Fuß auf sie setzte. Die glänzenden Ranken zogen sich ebenfalls weiter. Beinahe hätte ich angefangen, in den Verzweigungen nach Tieren zu suchen, die zwischen den Ästen hin und her hüpften. Vielleicht kleine Siebenstreifchen, die mit ihren buschigen Schwänzen durch die Lüfte balancierten? Doch dieser Vorstellung wurde ein Ende bereitet, als die Ranken plötzlich endeten. Einen Moment lang starrte ich irritiert ins Leere, dann wurde mir klar, dass ich das erste Stockwerk erreicht hatte und schlichtweg die gesamte Wand aufgehört hatte. Ziemlich genau das war auch der Moment, als mein Herz aus seiner Verträumtheit hochschreckte und nervös zu hämmern begann. Das hier war kein Wald mit Siebenstreifchen. Vor mir lag ein Gespräch, das meine Zukunft maßgeblich beeinflussen würde. Ich wandte mich dem Wegweiser folgend nach links – und vom einen Augenblick auf den anderen geschah dasselbe, was mir bereits vor der Klingel passiert war: Ich konnte mich einfach nicht dazu bringen, mich weiterzubewegen. Diese ganze Idee war doch völliger Unsinn gewesen. Was hatte ich mir bitte dabei gedacht?! Gar nichts hatte ich gedacht, meine Güte, warum war ich nur so unvernünftig?! Hilflos tastete ich nach dem goldenen Amulett meiner Großmutter. Ich hatte sie nie kennengelernt, und doch war dieses Schmuckstück die letzte Verbindung zu meiner leiblichen Familie, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Ich packte es so fest, dass es mir tief in die Handfläche drückte. Wäre ich doch wenigstens nicht alleine! Wäre Myranda an meiner Seite, oder Annabelle… aber da war nur dieser kurze Gang, der an einer Sackgasse endete. Ich war in eine Sackgasse gelaufen. Wortwörtlich. „Jetzt reiß dich mal zusammen“, fauchte Annabelle in meinem Kopf ungeduldig, „Bisschen melodramatisch sind wir heute, hm? Da ist ‘ne verdammte Tür, nicht das Ende der Welt! Und das hier ist nicht das Ende - es ist der Anfang.“ Ich dachte daran, wie selbstbewusst Annabelle durch diese Schule geschritten war. Die kleine, zierliche Annabelle, die an diesem Ort so viel Kraft gefunden hatte. Die am Ende ihrer Zeit hier ein ganz anderer Mensch gewesen war, ein glücklicher Mensch. Zugegeben, ihre Geschichte war etwas anders verlaufen. Sie hatte keinen Schulleiter zwischen sich und ihrem Traum gehabt. Aber von dem hätte sie sich auch nicht aufhalten lassen, das wusste ich. Und das bedeutete ja wohl, dass ich mich auch nicht aufhalten lassen musste - lassen durfte. „Danke, Annabelle“, gab ich im Stillen zurück und dachte noch, dass ich wohl aufhören musste, in Gedanken mit fiktiven Charakteren zu sprechen, wenn ich mich hier einfinden wollte. Und, dass ich das überhaupt nicht wollte. Durch zu viele schwere Situationen hatte mich Annabelle nun begleitet, da konnte ich sie nicht vom einen Moment auf den anderen verstoßen. Klar wusste ich, dass sie nicht real war, aber geholfen hatte sie mir dennoch oft. Und wenn ich mir ansah, wie unsicher ich noch immer war, würde sie das wohl auch noch eine ganze Weile lang tun müssen. Jetzt aber erstmal endlich ins Sekretariat. Ich atmete tief durch, ließ das Amulett los und lief langsam in den kurzen Gang vor mir hinein. Im Gegensatz zu den Wänden des Treppenhauses waren diese hier in schlichtem Weiß gehalten. Steril. Der Gang hatte drei ebenso weiße Türen; schmucklos, zweckmäßig. An der Tür zu meiner Linken stand in kleinen, schwarzen Buchstaben: „Sekretariat“. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, in meinem Kopf nickte Annabelle mir aufmunternd zu. Dann klopfte ich. „Herein“, erklang eine Stimme von drinnen und ich schob zögerlich die Tür auf. Das Zimmer dahinter war im Vergleich zur Eingangshalle unten überraschend klein und ebenso sparsam eingerichtet wie der Gang, der zu ihm führte: Bilder und Rankenmuster suchten meine Augen vergeblich. Links und rechts von mir bedeckten deckenhohe Regale die weißen Wände. Doch bevor ich ihren Inhalt näher in Augenschein nehmen konnte, erklang vor mir ein spöttisches: „Na, Sie haben sich ja reichlich Zeit gelassen. Dachte schon, Sie hätten sich verlaufen.“ Ich zuckte zusammen und wandte meinen Blick eilig der kurzhaarigen Person zu, die gesprochen hatte. Sie saß an einem kleinen schwarzen Schreibtisch, der wie der gesamte Raum ziemlich unspektakulär aussah im Vergleich zum Foyer des Kullë Guri – auf dem aber alles mindestens genauso gerade und ordentlich wirkte. Es war diese Art Schreibtisch, die meine Adoptiveltern sich immer von mir gewünscht und ich doch niemals gehabt hatte. Ein Gedanke, der mich schüttelte. Aber dies war nicht der Moment für ihn. Das hier war der Moment für mich. „Los, antworte!“, forderte mich Annabelle auf und ich räusperte mich. „Äh. ‘Tschuldigung.“ „Schon gut. Ich häng ja den ganzen Tag hier rum“, kam es von der Person schätzungsweise mittleren Alters, die hinter dem Schreibtisch saß. Vor ihr lagen Unterlagen, von denen sie mäßig interessiert aufgeschaut hatte, als ich hereingekommen war. Mein erster Gedanke war, dass sie ihren Satz sarkastisch meinte, mir einen Vorwurf machen wollte, doch dann kam mir eine andere Vermutung: Eigentlich klang die Person eher gelangweilt. Genau so sprach sie auch weiter: „Und was woll’n Sie jetzt eigentlich hier? Sollten Sie nicht im Unterricht sein?“ Sie musterte mich einen unangenehmen Augenblick lang und ich hatte den Eindruck, sie wolle fragen, was es mit meinem ganzen Gepäck auf sich hatte. Dann schien sie jedoch zu dem Schluss zu kommen, dass sie das nichts anging und genau genommen auch überhaupt nicht interessierte. Plötzlich keimte Hoffnung in mir auf: Ob dieser Mensch mich wohl einfach an diese Schule schmuggeln konnte, ohne dass ich das groß diskutieren musste?! „Ähm, also. Ja. Würde ich gerne. Nur…“ Eine fragend hochgezogene Augenbraue. Ich seufzte. Ich hatte keine gute Ausrede. Ich hatte nur die Wahrheit und die Kraft der Verzweiflung. „Na ja. Ich bin… noch gar nicht hier eingeschrieben.“ Erneut musste ich mich räuspern. „Und das fällt Ihnen jetzt ein? Zwei Wochen nach Beginn des Semesters?“ Da war er doch wieder, ein deutlicher Anflug von Spott. Ein nicht gerade kleiner Teil von mir wollte einfach nur wegrennen und sich heulend irgendwo verkriechen. Aber wohin hätte ich gehen sollen? Wenn ich das hier noch durchstand, konnte ich heute Abend vielleicht, ganz vielleicht, in einem Schlafzimmer des Internats schlafen gehen. Konnte aufhören wegzurennen und anfangen anzukommen. Ich musste einfach wissen, dass ich es zumindest versucht hatte. „Ja, ich weiß, tut mir leid. War nicht so einfach, hier herzukommen. Und ich war mir auch gar nicht sicher, wie ich das anstellen soll. Meine Eltern leben nicht mehr und meine Adoptiveltern hätten mich hier unter keinen Umständen angemeldet und ich wollte unbedingt… was lernen“, bremste ich meinen ungeplanten Redeschwall ab. Noch eine hochgezogene Augenbraue. Dann: „Nun. Das erklären Sie Doktor Haxxley am besten selbst.“ Der Blick der Sekretariatsperson wanderte bedeutungsschwer zu dem goldenen Amulett auf meiner Brust. „Wir sind hier zwar nicht die Jugendwohlfahrt. Aber“, - obwohl wir allein im Raum waren, wurde ihre Stimme plötzlich zu einem Flüstern -, „ich könnte mir vorstellen, Sie können ihn… überzeugen.“ ~~~ Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, und doch fühlte es sich an, als hätte ich Ewigkeiten im Büro des Rektors verbracht, als ich schließlich heraustrat und mich nur mit Müh und Not davon abhalten konnte, närrische Luftsprünge zu vollführen. Der Sekretariatsmensch hatte Recht behalten: Ich hatte es geschafft, Doktor Haxxley dazu zu bringen, mich an der Schule bleiben zu lassen!!!!! Aber auch mit dem Preis hatte er sich nicht verschätzt. Ich fühlte mich seltsam nackt ohne mein Amulett, das nun an einer Wand von Haxxleys Büro baumelte. Und die Erinnerung an dessen herablassende Art ließ mich nicht los. Dieser starre Blick aus turmalingrünen Augen, der deutlich machte, dass er von Träumen und Hoffnungen nur äußert wenig verstand. Dieses gönnerhafte Grinsen, als er mir letztendlich doch einen Platz an seiner Schule zugestanden hatte. Hoffentlich waren nicht alle Menschen hier so! Haxxley für seinen Teil hatte sich letztendlich verabschiedet, um Schwertkampf zu lehren. Da ich erst ab dem nächsten Tag am Unterricht teilnehmen sollte, wanderte ich nun etwas verloren über das Schulgelände. Aufs Zimmer wollte ich noch nicht gehen: Die wurden nämlich jeweils zu zweit geteilt und ich wollte meiner Mitbewohnerin ungern den Schrecken ihres Lebens einjagen, wenn ich einfach ohne Vorwarnung bei ihr im Schlafzimmer saß. Erstmal würde ich beim Abendessen die Gelegenheit nutzen, mich vorzustellen. Auch wenn mir davor schon jetzt graute. Ich hasste es, irgendwo neu zu sein. Ich hatte dann immer das Gefühl, irgendwer hätte mich auf eine Bühne gestoßen, grelle Lichter auf mich gerichtet, leider aber vergessen, mir zu verraten, welchen Text ich überhaupt aufsagen sollte. Aber irgendwie würde ich das schon hinter mich bringen. Jetzt, da ich es an die Schule meiner Träume geschafft hatte, schien alles möglich. Erschöpft, aber irgendwie doch zu neugierig, um mich einfach irgendwo hinzusetzen, lief ich weiter über den ausschweifenden grünen Innenhof des Internats. Irgendwo hier musste sich auch der Litar Shpëtimi aus dem nahe gelegenen Vetmia-Gebirge über das Schulgelände schlängeln, wie ich aus der Geschichte um Annabelle wusste. Nach einem langen, immer noch etwas ungläubigen Blick auf den Steinernen Turm ließ ich den hinter mir und kam schließlich an einem nicht weniger verwitterten Torbogen an. Und – direkt unter dem Torbogen, mit dem Rücken an die Steine gelehnt, saß schon ein anderer Mensch. Sein helles Gesicht war halb von glatten, schulterlangen Haaren verdeckt, die ebenso grün waren wie das Moos, das zwischen den Steinen wucherte. Ich war so nah, dass ich ihn vor sich hin murmeln hören konnte, doch er sah nicht auf. Sofort schossen mir tausend Fragen durch den Kopf: Was machte er ganz allein hier draußen, obwohl doch gerade Unterricht war? Warum ignorierte er mich so gänzlich? War er zu eitel, einer neuen Mitschülerin auch nur ein kurzes „Hallo“ zuteil werden zu lassen? War er am Ende gar aus dem Unterricht geschickt worden, weil er sich gemein verhalten hatte? Oder lag es schlicht und ergreifend an mir? Gab ich so einen abstoßenden Anblick ab, dass er sich lieber erst gar nicht mit mir abgab? Später sollte ich lernen, dass ich mit all diesen Sorgen daneben gelegen hatte. Ich sollte lernen, dass der Name dieses Menschen Jake war und er mich an diesem Tag überhaupt nicht bemerkt hatte. Viel zu vertieft war er gewesen in eine beeindruckend realitätsgetreue Zeichnung eines Käfers, der vor ihm auf dem Boden herumgekrabbelt war. Ich sollte lernen, dass Jake in meinen Jahrgang ging, den Schwertkampfunterricht aber nicht selten schwänzte. Ich sollte lernen, dass er einer der wundervollsten Menschen war, denen ich je begegnet war. Doch all das wusste ich in diesem Moment noch nicht. Und wie sehr er mir einmal wehtun würde, das ahnte ich auch nicht.

Eins

Ich hatte es kommen sehen, doch das machte es nicht im Geringsten besser zu ertragen. Lange waren sie nur ein düsterer Schatten am Rande meines Bewusstseins gewesen. Jetzt standen sie in Fleisch und Blut vor uns. Falls davon bei ihnen noch die Rede sein konnte. Ihr toter Blick hätte mich nicht besser zum Frösteln bringen können, hätten sie mich mit knochigen Fingern in einen Trog gefrorener Herzen gestoßen. Leer und tot und kalt starrten ihre Augen unter den stahlgrauen Kapuzen hervor. Jede Hoffnung, dass es sich um eine Verwechslung handeln könnte, wäre ein kläglicher Versuch des Selbstbetrugs gewesen. Die Scherben des Cabrysz, zwei von ihnen. Sie waren gekommen, um mir meinen besten Freund zu nehmen. Natürlich wollten sie Jake haben. Wer hätte das nicht gewollt? Schließlich war er Jahrgangsbester in so ungefähr jedem Fach. Außerdem konnte er verdammt gut zeichnen. Okay, letzteres war genau genommen nichts, was am Kullë Guri auf viel Begeisterung stieß. Zeichnen! So ein Firlefanz! Direktor Doktor Haxxley wäre es bedeutend lieber gewesen, Jake hätte endlich mal mehr Interesse am Schwertkampf gezeigt. Ein harter Kerl sein und so’n Quatsch. Aber Schwerter waren einfach überhaupt nicht Jakes Welt. Welten entstanden bei ihm auf dem Papier. Oder auf der Leinwand. Oder an den Wänden seines Zimmers. Aber nicht, indem er eine Klinge in die Hand nahm und andere Menschen damit bedrohte. Dieser ewige Wettstreit, diese aufgesetzte Härte und ständige Angeberei waren ihm total zuwider. Viele Typen an unserer Schule waren so. Konnten es gar nicht erwarten, dass wieder das wöchentliche Schwertkampf-Training anstand. Prügelten sich um die am stärksten glänzenden Waffen. Regelmäßig versuchte irgendwer, ein Schwert aus der Kampfhalle zu schmuggeln, um damit später anzugeben und Aufmerksamkeit zu erheischen. Regelmäßig scheiterte die Person dabei unter dem wachsamen Blick von Doktor Haxxley und Jake machte sich darüber lustig, wenn wir abends am Fluss saßen. Quasi jeden Abend saßen gemeinsam dort - und wenn nicht, dann saßen wir vermutlich gerade am Kleinen Torbogen, dort, wo wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Es ließe sich denken, ein Tag wie dieser käme mit Pauken und Trompeten daher. So ein Tag, der alles verändert. Doch das brauchten die beiden Scherben gar nicht. Sie hatten eine derartig dominante Präsenz, dass es unmöglich war, sie zu ignorieren. Auch wenn ich das liebend gern getan hätte. Die Augen schließen wie ein kleines Kind. Was ich nicht sehe, ist auch nicht da. Nur machte es das natürlich auch nicht besser. Sie hingegen schenkten meiner Anwesenheit keine allzu große Beachtung, stießen mich unsanft zur Seite. „Ey!”, wollte ich rufen, doch meine Stimme verkümmerte zu seinem unverständlichen Krächzen. Eine Entschuldigung schienen die beiden nicht nötig zu haben. Stattdessen wandten sie sich ohne zu stocken an Jake: „Schön, Sie hier anzutreffen.“ Fast synchron schauten wir beide uns irritiert um und rollten dann mit den Augen. Es war ein Nachmittag in der Schulzeit, wir befanden uns in einer Gasse des anliegenden Dorfes Siguri – das war nun wirklich nicht ungewöhnlich. Und dass es schön war, hier auf Anhänger des Cabrysz zu stoßen, konnten wir auch nicht gerade bestätigen. Uns einfach abwenden und weitergehen konnten wir aber auch nicht. Obwohl sie ja genau genommen auch nur Menschen waren, zogen die beiden uns regelrecht in ihren Bann, auch wenn es ein unangenehmer war. Vielleicht vielmehr eine Schockstarre. So sagte ich nichts, als sie Jake um ein Gespräch unter sechs Augen baten. Ein ungutes Gefühl hatte ich aber dennoch. Für einen Moment trafen mich die stahlgrauen Augen der einen Scherbe und mich durchzuckte die Angst, sie hätten nur einen Vorwand gesucht, ihn ungestört anzugreifen. Hektisch ließ ich den Blick die Straße hinauf und hinunter wandern in der Hoffnung, irgendeinen Menschen zu sehen, den ich kannte. Den ich um Hilfe bitten konnte - darum, ein wachsames Auge auf das Geschehen zu behalten. Uns zu unterstützen, falls es nötig wurde. Doch die Straße war wie leergefegt. Scheiße! Mein Herz begann, panisch zu hämmern. Für einen sehr langen Moment war ich überzeugt, hier und jetzt meinen besten Freund zu verlieren. Dann setzte mein Verstand wieder ein, und zwar in der Form von Annabelle: „Wenn sie Jake angreifen wollen würden, meinste nicht, sie hätten das einfach gleich aus dem Hinterhalt getan, statt sich extra einen Vorwand auszudenken, mit ihm reden?“, flüstere sie in meinem Kopf, und ich musste zugeben, dass sie recht hatte. Okay. Okay. Das machte die ganze Situation zwar nicht angenehmer, aber ein wenig weniger bedrohlich. „Danke, Annabelle. Ich frag jetzt einfach nicht, warum du dich so gut mit Angriffsstrategien auskennst, ja?“ Annabelle grinste viel- und nichtssagend. Ich meinerseits wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Realität zu. Jake neben mir schien noch immer nicht in der Lage, sich von den Scherben loszureißen. Widerwillig stimmte er dem Gespräch zu. Besorgt behielt ich die drei im Auge, als sie einige Schritte weiter-gingen, weg von mir – verstehen, was sie sagten, konnte ich allerdings nicht. Nach dem Gespräch war Jake seltsam drauf. Er wirkte aufgeregt, etwas nervös – aber nicht unbedingt auf negative Art und Weise. Das Gespräch hatte er unbeschadet überstanden, das war schonmal gut. Doch was bitte hatten die Scherben zu ihm gesagt?! Er schien nicht verängstigt oder frustriert. Ganz im Gegenteil: Es schien, als habe er völlig vergessen, mit wem er da gerade gesprochen hatte. Als hätte er eine gute Nachricht bekommen. Eine schöne Erfahrung mit den Scherben?! Davon hatte ich ja noch nie gehört. Und das passte auch überhaupt nicht dazu, wie ich die Situation wahrgenommen hatte - wie ich geglaubt hatte, dass Jake sie ebenfalls wahrgenommen hatte. Gerade er verachtete die Scherben doch zutiefst! So wie in seine Welt aus Kohlestift und Farben keine Schwertkämpfe passten, so passte es erst recht nicht zu ihm, mit einer grauen Kutte durch die Gegend zu laufen und Menschen einzuschüchtern. Denn nichts Anderes taten die Scherben schließlich: Sie zogen durch die Dörfer und terrorisierten die Leute. Und ab und zu versuchten sie eben, talentierte junge Magier anzuwerben. Das wussten wir beide. Auch, dass sie anscheinend zumindest einen Versuch gestartet hatten, Jake auf ihre Seite zu kriegen, wunderte mich nicht. Aber dass dieser so positiv darauf reagierte, machte mich stutzig. Was für ein Angebot hatten sie ihm unterbreitet, vor dem er nicht sofort schreiend weggelaufen war? Hatten sie ihn gar verhext?! Warum regte er sich jetzt nicht mit mir gemeinsam darüber auf, dass die Scherben inzwischen auch schon in Siguri ihr Unwesen trieben? Warum pflasterte er den Heimweg nicht mit Flüchen und Verwünschungen? Im Gegenteil hopste er herum, als hätte er ein besonders schönes Geschenk bekommen – etwas, das ihm gerade in der Öffentlichkeit so überhaupt nicht ähnlich sah. Er war so in seinem Freudentaumel gefangen, dass er gar keine Zeit fand, mir zu erzählen, was die beiden denn nun überhaupt gesagt hatten. Seufzend und kopfschüttelnd ging ich den Weg zurück zur Schule neben ihm her. Für gewöhnlich freute ich mich ja, wenn es Jake gutging und er sich für etwas begeisterte. Doch diese Sache mit den Scherben, die gefiel mir ganz und gar nicht. Was auch immer sie von ihm gewollt und ihm angeboten hatten – es konnte eine Zusammenarbeit mit ihnen im Grunde gar nicht wert sein. Selbst, wenn es etwas war, das Jake gerne haben wollte – mit Cabrysz zu tun haben konnte doch gar nicht gutgehen…

Zwei

Jake bekam es allen Ernstes hin, den gesamten Weg zur Schule über nicht ein einziges Wort darüber zu verlieren, was er soeben im Dorf erlebt hatte. Nicht einmal, wie es mir ging, nachdem die Scherben mich angerempelt hatten, fragte er mich! Und selbst, als wir längst an unserer Lieblingsstelle am Litar angekommen waren, war er noch immer viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch dass er richtig aufgekratzt war,  das war deutlich zu spüren. Er versuchte, Kieselsteine übers Wasser hüpfen zu lassen, was am Fluss natürlich nicht sonderlich gut funktionierte. Unter leisem Quieken flüchtete ein Schwarm Flusssterne aus seiner Reichweite. Die kleinen Tierchen mit flachem, sternförmigem Körper hatten ein kurzes hellbraunes Fell, das ziemlich flauschig aussah. Streicheln ließen sie sich jedoch nie. Mit ihrem kräftigen Schwanz bewegten sie sich flinker durchs Wasser, als ich ihnen im ersten Moment zugetraut hätte. Das machte es gar nicht so einfach, sie zu zählen - eben deshalb machten wir uns oft gerne einen Spaß daraus. Aber nicht heute. Heute waren wir beide mit den Gedanken ganz woanders. Mit einem lauten Platschen sank schließlich der letzte Stein in den Fluss und Jake ließ sich daraufhin neben mich auf den Kies fallen. Seine Augen leuchteten, wie ich es bisher erst ein einziges Mal bei ihm gesehen hatte. Das war gewesen, als er nach Tagen ein Bild seines Kaninchens fertiggestellt hatte. Am Kullë Guri waren Haustiere verboten, deshalb lebte es bei seinen Eltern und er sah es nur selten. Sein detailgetreues Gedächtnis war jedoch faszinierend. Immer und immer wieder hatte er Kleinigkeiten korrigiert: das Fell hier ein bisschen dunkler, die Pfoten dort ein wenig krummer. Am Ende hatte ich aufs Blatt  geschaut und das Gefühl gehabt, ein echtes Tier säße auf dem Tisch. Ich hatte Jakes Haustier nie  gesehen, aber er war so stolz auf das fertige Bild gewesen, dass ich nicht den geringsten Zweifel daran hegte, dass es exakt so aussah. Genau das lag jetzt wieder in seinem Blick. Unendlicher Stolz. „Cabrysz will mich auf seiner Akademie!“, platzte es nach einer kurzen Stille endlich aus ihm heraus. „Akademie“, so konntest du es natürlich auch nennen. Ich hätte ja eher Worte wie „Sekte“, „Männerbund“, „Räuberbande“ gewählt. Kein Mensch wusste, was genau wirklich in der Festung vor sich ging, in der Cabrysz mit seinen Schergen hauste. Wie konnte Jake auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, den Widerstand gegen ihn aufzugeben? In die Stählerne Burg zu gehen?! Die Antwort folgte auf den Fuß: „Die beiden Magier, die wir heute getroffen haben, haben gesagt, dass sie schon viel von mir gehört haben – stell dir das mal vor! Sie waren ganz begeistert von meinen Zeichenkünsten!“ Ich konnte die Augenbrauen gar nicht so weit nach oben ziehen, wie ich gewollt hätte: „Die beschatten dich?! Wie gruselig!“ „Ach Quatsch. Sowas spricht sich doch herum. Hast du das noch nie mitbekommen? Wie oft ich mir in Siguri schon anhören durfte, dass Zeichnen doch nichts für einen jungen Mann wie mich wäre!“ Er rollte theatralisch mit den Augen. Dann fuhr er fort: „Andererseits treffe ich manchmal Menschen, mit denen ich im Leben noch kein einziges Wort gewechselt habe, die von meinen Bildern schwärmen. Das ist dann immer etwas seltsam, aber unheimlich schön.“ Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und mir fiel wieder ein, dass wir im Dorf schon öfter einmal von fremden Personen aufgehalten worden waren. Im Gegensatz zu ihm war ich dann aber immer froh, wenn wir wieder weiterkamen. „Und weißt du, was das Beste ist?“, unterbrach Jake aufgeregt meine Erinnerungen. „Was?“ „Diese ganzen Versetzungsprüfungen, die wir hier am Kullë Guri ablegen müssen? Sowas haben die da überhaupt nicht! Ich laufe also nicht Gefahr, im Schwertkampf durchzufallen!“ Erleichterung lag in seiner Stimme. Der Schwertunterricht war schließlich nicht nur seine größte Abneigung, sondern gleichzeitig auch seine größte Sorge. „Außerdem haben sie mir versprochen, dass ich an der Akademie des Cabrysz etwas Großartiges aus meinem Zeichentalent machen kann! Sie sagten, meine Zeichnungen werden die Welt bewegen!“ Ich seufzte, tief und hilflos. „Jake…“, setzte ich an. Doch mir fehlten die Worte. Denn das Schlimme war: Wenn ich ganz ehrlich war, konnte ich ihn sogar verstehen. All die Zeit hatte er sich Anfeindungen und Spötteleien anhören müssen – für etwas, das ihm alles bedeutete. Hatte sich immer wieder sagen lassen müssen, dass er nicht in das Idealbild dieser Schule passte, egal, wie viel Energie er in die meisten Fächer steckte. Und jetzt war da jemand, der ihm vermittelte: Das, was du nicht kannst, brauchst du auch gar nicht. Das, was dir wirklich etwas bedeutet, wird wertgeschätzt. Ich habe schon von dir gehört. Natürlich war das schmeichelnd und verlockend. Selbst, wenn es Cabrysz war. ~~~ Am nächsten Morgen brachte Jake eine ungewöhnliche Hektik mit zum Frühstück. Sonst war er oft der Erste im Essenssaal, um ganz ausgiebig und in aller Ruhe frühstücken zu können. Manchmal, wenn noch wirklich wenige Menschen im Raum waren, nahm er sich sogar ein Glas Tee, setzte sich in eines der großen Fenster und beobachtete die Tiere, die draußen vorbeihuschten. Heute hingegen schlang er leidlich eine Scheibe Brot herunter und sprang dann sofort wieder auf. „Was ist denn mit dir los?“, fragte ich irritiert. „Ich muss vor dem Unterricht noch kurz nach Siguri“, antwortete Jake. „Hä?“ „Treffen mit den Akademie-Magiern von gestern“, gab er kurz angebunden zurück und murmelte seinem Teller etwas zu, woraufhin dieser sich samt des dazugehörigen Messers in die Luft erhob und leise klirrend auf dem Stapel gebrauchten Geschirrs auf einem Tisch am Rande des Saals landete. Während ich noch Geschirr und Besteck mit dem Blick folgte und mich wunderte, dass Jake heute in seiner Eile sogar gegen das Verbot der Transportmagie außerhalb des Unterrichts verstieß, war dieser schon fast durch die Tür. Ich ließ mein halb aufgegessenes Brot liegen und sprang nun ebenfalls auf, um ihn noch einzuholen. Er jedoch wartete nicht auf mich. Mit unverminderter Geschwindigkeit hastete er durch die Gänge, durchs Foyer, auf das Tor der Schule zu. Es dauerte etwas, bis ich ihn erreicht hatte – meine Güte, meine Ausdauer ließ echt zu wünschen übrig! „Was für ein Treffen ist denn das?“, fragte ich dann ein wenig außer Atem. „Na, ich werde ihnen sagen, dass sie mich an der Akademie erwarten können, sobald ich Doktor Haxxley davon in Kenntnis gesetzt habe.“ „WAS?!“ Jetzt war ich froh, dass ich noch nicht viel gegessen hatte, sonst hätte ich mich möglicherweise übergeben. „Was soll das heißen, sie können dich an der Akademie erwarten? Du hast doch nicht ernsthaft vor,…?!“ Ungeduldig unterbrach mich Jake: „Natürlich! Siehst du nicht, was das für eine Chance ist? Jake Breshkë, Absolvent der Akademie des Cabrysz - wie das allein schon klingt! Das bedeutet ja noch lange nicht, dass ich mich dauerhaft in seine Gefolgschaft begeben muss. Es geht hier um meine Zukunft, Ella! Er wird meine Zeichnungen groß rausbringen und ich muss mich nie wieder mit den Arschlöchern an dieser Schule herumschlagen!“ Gut, dass die Gemeinten alle noch schliefen oder im Speisesaal saßen. Er mochte zwar Recht haben, aber auf Streit hatte ich um diese Uhrzeit keine Lust. Nicht, dass ich zu irgendeiner anderen Zeit Lust darauf gehabt hätte. Mitten in diesem Gedanken rannte ich beinahe in Jake, der nun doch stehen geblieben war und sich zu mir umdrehte. Zum ersten Mal an diesem Tag schaute er mich wirklich an. Für gewöhnlich strahlten seine bernsteinfarbenen Augen Ruhe und Wärme aus – heute mischten sich in ihnen Entschlossenheit und Traurigkeit. „Du wirst mir fehlen, Ella“, sagte er leise, aber nachdrücklich. Ella – der Spitzname, den nur er für mich verwendete. So, wie keine andere Person an dieser Schule mir so nahestand wie er. Ich seufzte. „Du mir auch.“ Er umarmte mich und ich hätte ihn am liebsten festgehalten und einfach nicht gehen lassen. Eine ganze Weile standen wir so da. Doch dann stieß er mich von sich weg und rief: „Jetzt muss ich mich aber wirklich beeilen!“ Ohne sich noch ein zweites Mal umzudrehen, hastete er aus dem Schulgebäude, Siguri und den Scherben entgegen.

Drei

Es hatte ja so manches gegeben, an das ich mich nach meiner Ankunft am Kullë Guri erst hatte gewöhnen müssen. Eines davon war, dass hier die Schlaftrakte erstens nach Geschlechtern und zweitens nur nach den Geschlechtern „männlich“ und „weiblich“ aufgeteilt waren. Zunächst einmal ergab das nicht mal Sinn. In Kaluara - der Stadt, in der ich aufgewachsen war -, wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, ausgerechnet in der Schule ausgerechnet nach Geschlecht zu sortieren. Und dann auch noch so fehlerhaft! Einer der positiveren Eigenschaften dieser oft doch eher anstrengenden Großstadt. Auch in Büchern begleiteten mich schon seit meiner Kindheit Charaktere, die alle möglichen Geschlechter hatten - oft sogar mehrere oder gar keine. Wäre Annabelle wirklich hier gewesen, ihr erster Kommentar wäre vermutlich gewesen: „Können wir nicht nach was Sinnvollerem sortieren? Menschen, die schnarchen, zu Menschen, die das nicht stört? Oder zwei Menschen, die gerne über die selbe Zeitschrift quatschen wollen, in ein Zimmer?“ Dass das weite Spektrum der Geschlechter andernorts alles andere als selbstverständlich bekannt war, hatte ich so allerdings erst sehr spät gelernt und meist erfolgreich verdrängt. Im Mädchen-Schlaftrakt zu schlafen, fühlte sich auch gar nicht unbedingt falsch an. Auch wenn es sich definitiv falsch anfühlte, mit welcher Selbstverständlichkeit Haxxley mich diesem zugewiesen hatte. Er kannte mich doch gar nicht! Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass Menschen wie er Leute anhand ihres Körpers in Geschlechtsschubladen steckten. Dieser Logik zufolge qualifizierten mich anscheinend meine Brüste für ein Mädchen-Zimmer? Oder so? Ganz verstanden hatte ich es nicht. Vielleicht lag es in Wahrheit auch daran, dass sowieso nur im Mädchen-Trakt noch ein Bett frei gewesen war. Was ich erstmal irgendwie hingenommen hatte, hatte ich später angefangen, ziemlich schade zu finden: Dass Jake im Jungen-Trakt schlief und zudem auch bereits einen Mitbewohner hatte, bedeutete, dass wir kein Zimmer teilen konnten. Jetzt jedoch kam mir das doch ganz gelegen. Zu schmerzhaft wäre es gewesen, plötzlich ganz allein im Zimmer zu leben und bei jedem Betreten Jakes Weggang vor Augen geführt zu bekommen. Es war ja so schon schlimm genug: Kein gemeinsames Frühstück gab es mehr, keine gemeinsamen Schulstunden, keine gemeinsamen Abende mehr - wieder etwas zum dran gewöhnen, obwohl ich es im Grunde gar nicht wollte… So saß ich nun weder am Kleinen Torbogen, noch am Fluss, sondern auf meinem Bett. Drüben am Tisch saß meine Mitbewohnerin Zoé, das im Kontrast zu ihren kurzen knallorangenen Haare irgendwie stets blassweiß wirkende Gesicht in einen Kriminalroman vergraben. Auch wenn wir eher selten über wirklich Persönliches redeten, so fiel doch sogar ihr auf, dass irgendwas nicht stimmte. Am Ende des Kapitels sah sie auf: „Alles in Ordnung bei dir?“ Ich war mir gar nicht sicher, wie genau sie mitbekommen hatte, dass Jake und ich befreundet waren. Und um über seinen Weggang zu reden, hatte ich gerade ohnehin keine Energie. Also meinte ich ausweichend: „Schon okay. Ich bin nur etwas müde. Und etwas unsicher, ob ich das heute in Naturkunde alles richtig verstanden habe.“ Das war natürlich totaler Unsinn, und vermutlich wusste Zoé das auch. Naturkunde war mein bestes Fach und ich hatte darin noch nie etwas nicht auf Anhieb verstanden. Aber sie nahm meine Erklärung so hin und versprach, das aktuelle Thema am nächsten Tag noch einmal mit mir durchzugehen. „Danke“, murmelte ich und verkroch mich unterm Federbett. Zum Schlafen war es noch etwas zu früh, aber ich wusste auch sonst nicht so recht was mit mir anzufangen. Also starrte ich einfach vor mich hin, der Decke entgegen. Diese war in unserem Zimmer mit kleinen glitzernden Steinen besetzt. Im Halbdunklen sah es so aus, als lägen wir direkt unter dem offenen Sternenhimmel. Noch war ihr Leuchten nur schwach zu erkennen, aber es hob meine Laune trotzdem ein wenig. Egal, was der Tag an Strapazen mit sich gebracht hatte: Wenn ich hier lag und hinaufschaute, fühlte ich mich ruhig und glücklich. Lächelnd ließ ich meine Gedanken schweifen, weg von den Ereignissen der letzten Tage… Nach dem zweiten Zusammentreffen zwischen Jake und den Scherben war alles sehr schnell gegangen. Mit Doktor Haxxley hatte er noch am selben Abend gesprochen. Hatte ich mir von diesem irgendeine Art von Gegenwehr erhofft, so hatte ich gehörig daneben gelegen. Irgendwie vergaß ich immer, wie verbreitet das Bild der Elite-Akademie in den Bergen doch war. Haxxley schien nicht die geringsten Befürchtungen zu haben, dass Jake in der Stählernen Burg etwas zustoßen könnte. Ganz im Gegenteil: Auch er schien ganz begeistert von dem Gedanken, dass einer seiner Schüler es auf die Akademie des Cabrysz geschafft hatte. Vielleicht, so dachte ich insgeheim, war er gleichzeitig sogar ein wenig froh, den jungen Rebellen endlich los zu sein – auf eine Art, die dem Ansehen der Schule auch noch eher zuträglich denn schädlich war. Nach dem Gespräch mit dem Direktor hatte Jake seinen Eltern einen Brief geschrieben. Da er längst über zweihundertzweiundzwanzig Monde alt war, konnten sie seinen Plänen ohnehin nicht widersprechen; ganz egal, ob sie nun stolz oder besorgt waren. Am nächsten Nachmittag nach dem Unterricht hatten wir dann gemeinsam seine Sachen gepackt. Das war überraschend schnell gegangen - genau genommen schneller, als mir lieb gewesen war. Viel war es ja auch nicht, was Jake ans Kullë Guri mitgebracht hatte, dafür waren die Schlafzimmer zu klein. Als letztes hatte er die Flagge der Band Schaukelpferd von der Wand genommen. „Hier, behalt du die“, hatte er gesagt und sie mir in die Hand gedrückt. Und kichernd hinzugefügt: „Weißt du noch, wie wir mal nachts am Kleinen Torbogen gestanden, uns die Flagge als Umhang um die Schultern geworfen und so getan haben, als würden wir allein die ganze Welt retten?“ Unter dem  folgenden Lachanfall hatte ich die Flagge kaum entgegennehmen können. Ja, daran erinnerte ich mich nur zu gut. Schaukelpferd machten fabelhafte Musik, und wenn sie gerade nicht damit beschäftigt waren, zogen sie durch die Dörfer und bekämpften böse Magier*innen wie etwa Cabrysz‘ Scherben. Mit der Zeit waren sie zur Legende geworden – einer Legende, der auch wir manchmal gerne nachhingen. Ganz ohne Aufregung war es freilich nicht über die Bühne gegangen, dass Jake die Flagge beim Einzug über sein Bett gehängt hatte. Nicht lange und sein Zimmernachbar Tristan hatte sich bei Doktor Haxxley über die „politische Symbolik“ beschwert, die Jake an seiner Wand hängen hätte. Eine hitzige Diskussion später hatte der die Flagge zunächst abnehmen müssen, schließlich habe er sich in der Schule neutral zu verhalten – nur, um sie einfach wieder aufzuhängen, als sich der Sturm gelegt hatte. Sollte Haxxley doch sagen, was er wollte: das kleine bisschen Rebellion ließ Jake sich nicht nehmen. Schließlich war sein Schlafzimmer ja wohl sein privater Raum, wie er sagte. Das hatte zwar zu einem zweiten Zusammenstoß mit Tristan und unserem Schulleiter geführt - Jake von der Schule zu werfen, traute der sich jedoch auch wieder nicht. Immerhin war er trotz seiner Abneigung gegen das Schwertkämpfen einer seiner besten und angesehensten Schüler. Wer wollte den schon gehen sehen? So war stattdessen ein Zimmertausch veranlasst worden. Dadurch hatten wir näheren Kontakt zu Nathan gewonnen, mit dem Jake zuletzt sein Zimmer geteilt hatte. Nathan mochten wir beide bedeutend lieber als Tristan. Er konnte Schaukelpferd ebenfalls etwas abgewinnen, wenn es auch nicht seine Lieblingsmusik sein mochte. Manchmal hatte er sogar mit uns am Kleinen Torbogen oder am Ufer des Litar rumgehangen. Schaukelpferd spielten in jeder Erinnerung an solche Abende im Hintergrund. Jake besaß nämlich nicht nur ihre Flagge, sondern auch so ungefähr jede Kristallscheibe, die von ihnen verfügbar war. Auch hier mussten wir natürlich ein wenig darauf achtgeben, uns nicht von Doktor Haxxley erwischen zu lassen – aber bitte, was war die Schulzeit schon ohne ein klein wenig Eigensinn? Letzten Endes waren wir auch immer davongekommen. Ob ich mich trauen würde, die Flagge bei mir im Zimmer aufzuhängen, war ich mir nicht sicher. Drama konnte ich so überhaupt nicht brauchen. Aber ich nahm sie trotzdem gerne an: So blieb sie mir als Erinnerung. Als Zeichen, dass sich unsere Wege hier zwar vorerst trennten, wir uns aber dennoch gegenseitig erhalten bleiben würden.

Vier

„Wie krass! Die schneidern hier jedem von uns die Uniform per Hand direkt auf den Leib! Und diese Drachenschuppen, mit denen sie unsere Initialen auf die Brust nähen, wie die schillern! Ich glaube, ich habe noch nie im Leben ein so wunderschönes Kleidungsstück getragen, und dabei habe ich damals diesen unfassbar teuren Anzug zur Hochzeit meiner Tante bekommen! Wie geht‘s dir?“, erklang Jakes Stimme in meinem Kopf. Nun kam uns zugute, dass wir in den vergangenen Monden so eifrig die Kunst der Telepathie geübt hatten. Diese Technik begeisterte mich total: Endlich konnte ich es mal zu etwas Sinnvollem nutzen, dass ich so oft in meinem eigenen Kopf festhing! Hatten wir keine Lust, Briefe zu schreiben, uns etwas Dringenderes zu sagen oder wollten einfach mal wieder die Stimme voneinander hören, konnten wir unsere Gedanken bewusst verbinden und uns so unterhalten. Bonuspunkte dafür, dass das natürlich von außen weder zu hören noch zu sehen war. „Witzig, da hab ich noch nie drauf geachtet. Für mich sehen diese Scherben-Umhänge alle gleich aus und ausgesprochen gruselig noch dazu. Ansonsten: Die Ruhe vor dem Sturm eben. Sei froh, dass du diese Prüfungen nicht mitschreiben musst! Ich hab jetzt schon Angst davor.“ „Boarr ja, bin ich auch! Perfekter Zeitpunkt, um zu gehen“, gab Jake zurück und kicherte zufrieden, „Aber das schaffst du schon. Falls du Hilfe beim Lernen brauchst, sag bescheid. Dann treffen wir uns einfach in der Bücherei oder so.“ „Danke. Du, ich muss jetzt auch los. Ich bin mit Nathan am Kleinen Torbogen verabredet.“ „Ah, wie früher. Grüß ihn von mir!“ „Früher - das ist gerade mal vier Tage her!“ „Und du fehlst mir jetzt schon“, dachte ich, hoffte aber, dass das nicht bei ihm ankam. Da war ich mir bei telepathischen Gesprächen nie so richtig sicher. „Stimmt, aber es fühlt sich alles so weit weg an – die Akademie des Cabrysz ist echt eine komplett andere Welt! Ich muss dir das bei Gelegenheit unbedingt mal ausführlicher erzählen.“ „Gerne. Und ich richte Nathan deine Grüße aus. Bis bald!“ „Bis dann!“ Bis dann. Irgendwie fühlte sich das deutlich vager an als „bis bald“. „Du sollst dir doch nicht immer so viele Sorgen machen!“, ging Annabelle in meinem Kopf dazwischen. „Ist ja gut“, gab ich zurück und schob den Gedanken beiseite. ~~~ „Fühlt sich das für dich auch so seltsam an? Dass ausgerechnet Jake in die Stählerne Burg gegangen ist?“, fragte ich wenig später, als die Sonne langsam im Torbogen versank. „Ja…“, antwortete Nathan, die onyxschwarzen Augen nachdenklich in die Ferne gerichtet. So gut wie Jake kannte ich ihn zwar nicht, aber ganz gut reden konnte ich mit ihm auch. „Andererseits wundert es mich halt auch nicht. Hier interessiert sich doch kein Mensch für sein Zeichentalent!“, fuhr Nathan fort. „Genau das hab ich auch schon gedacht“, gab ich zurück und seufzte frustriert, „Ich hoffe mal, dass es sich für ihn wenigstens auch lohnt.“ Nathan nickte, sagte aber nichts weiter. „Wollen wir Flusssterne zählen gehen?“, durchbrach ich nach einer Weile das Schweigen. „Mhm“, brummte er wenig überzeugt, „das war ja eher so euer Ding.“ Damit hatte er recht, das war eher ein Zeitvertreib von Jake und mir gewesen. Erneut entwich mir ein Seufzer. Ohne Jake war es einfach nicht dasselbe. Zumal er alle seine Schaukelpferd-Kristallscheiben mit neutralen Hüllen versehen und sie samt seines Kristallscheibenspielers in die Stählerne Burg mitgenommen hatte. Wenn ich so drüber nachdachte, war es wirklich das allererste Mal seit Jake und ich uns kannten, dass ich hier draußen am Kleinen Torbogen saß und keine Musik lief. Stille: Die passende Hintergrundmusik zu der Lücke, die Jake am Kullë Guri hinterlassen hatte. ~~~ „Hallohallo! Ich hab was für dich!“, tönte es mir am nächsten Morgen entgegen, als ich durchs Foyer der Schule in Richtung Essenssaal tapste. Neugierig beugte ich mich zu dem Postzicklein herunter, um den Brief an der Schnur um seinen Hals entgegen zu nehmen. Zum Dank kraulte ich es eine Weile am Kinn. Wie weich sein Fell war! Es strahlte eine angenehme Ruhe aus. Für einen Moment vergaß ich geradezu meine Sorgen, während die kleine Ziege zufrieden meckerte. Wirklich schade, dass es am Kullë Guri keine Tiere gab! Genug Platz war auf dem Außengelände allemal. Doch schließlich verschwand auch das schwarze Postzicklein mit einem Hopser wieder ins Freie. Dafür hatte ich endlich Gelegenheit, den Brief zu begutachten. Die Handschrift kam mir sofort bekannt vor, doch ich brauchte in meiner morgendlichen Müdigkeit einen  Moment, bis mir klar wurde, von wem der Brief war: „Ella Ënderruës, 2. Semester, Kullë Guri, Siguri“ , stand in Jakes geschwungener Handschrift auf dem Umschlag. Die Freude schaffte es, die Müdigkeit etwas zurückzudrängen: Wieder einmal fühlte sich dieser Spitzname, den nur Jake benutzte, wie eine kleine Bestätigung an, dass wir etwas Besonderes hatten. Voller Vorfreude riss ich den Brief auf und hatte im nächsten Moment einen ganzen Stapel Zeichnungen in der Hand. Natürlich. Ich musste grinsen und nahm den Brief mit an den Esstisch, um ihn mir dort in Ruhe anschauen zu können. Wie gewohnt bewegte ich mich auf Nathan zu, der auch oft bei uns gesessen hatte, als Jake noch mit ihm ein Zimmer geteilt hatte. Dann konnte ich ihm auch gleich die Bilder zeigen, die der mir geschickt hatte! Doch beim Näherkommen stellte ich fest, dass Nathan selbst einen Brief in der Hand hielt, der mit einem schwungvollen „Jake“ unterschrieben war. Okay, klar, was hatte ich auch erwartet. Somit war ich dann ja wohl überflüssig. Suchend schaute ich mich nach Zoé und den Anderen aus unserer Lerngruppe um, denn die waren oft schon viel früher wach als ich und mussten dementsprechend schon hier sein. Doch dann sah ich Cara und Zeraphine lachend die Köpfe zusammen stecken, und stellte fest, dass ich gerade gar keine Lust auf ihre Gesellschaft hatte. Also setzte ich mich irgendwo in die Mitte zwischen meinen beiden anvisierten Plätzen. Das bedrückende Gefühl, mich selbst auszuschließen, beschlich mich, doch das konnte und wollte ich gerade nicht ändern. Als ich saß, blätterte ich durch die Zeichnungen: Der neue stahlgraue Umhang, auf dem vorne über der Brust ein „JB“ für „Jake Breshkë“ prangte, umrundet von einem großen „C“, das laut einer Anmerkung für „Cabrysz“ stand. Jakes Schlafsaal in der Stählernen Burg, den er mit fünf Anderen teilte – zum Ausgleich durfte er darin jedoch ein großes Himmelbett genießen, an das die Betten im Kullë Guri längst nicht heranreichten. Die Aussicht aus einem der Fenster, von dem aus sich ein großartiger Blick aufs Vetmia-Gebirge bot – so weit oben war ich noch nie gewesen, sodass ich diesen Teil des Gebirges gar nicht kannte, wurde mir bewusst. Jakes Kristallscheiben-Sammlung, fein säuberlich nach dem Prinzip „Was mir zuerst in die Finger kam“ in einem Regal aus dunklem Holz aufgereiht, auf dem in feiner Gravur ebenfalls das Emblem des Cabrysz prangte. Ich erkannte, dass die Bilder in Eile hingekritzelt worden sein mussten, doch dafür waren sie immer noch beeindruckend realitätsnah. Das war schön, denn dadurch, einen Einblick in sein neues Leben zu bekommen, fühlte ich mich Jake gleich wieder etwas näher.

Fünf

„Puh“, schnaufte Jake und ließ sich neben mich auf einen der behauenen Steinblöcke fallen, die am Marktplatz von Siguri als Sitzgelegenheit dienten. Kein Wunder, dass er außer Atem war, schließlich war er soeben von der Stählernen Burg aus bis hierher gelaufen, einmal quer durchs halbe Vetmia-Gebirge. Schnell wurde jedoch deutlich, dass er sich nicht nur darauf bezogen hatte. „Puh“, wiederholte er, „Krasse Zeit. Ganz schön desillusionierend.“ Seit seinem Wechsel in die Stählerne Burg war ein Dreiviertelmond vergangen. Nun trafen wir uns zum ersten Mal wieder - um die Ecke war die Stählerne Burg ja nun nicht gerade. Und dann waren wir ja auch beide vor Ort beschäftigt gewesen. In banger Erwartung der Versetzungsprüfungen hatten Zoé und ich tagelang mit unseren Mitschülerinnen Liz, Cara und Zeraphine in der Bibliothek gesessen und den Stoff der letzten Semester noch einmal wiederholt. Oder besser gesagt: gefühlt tausendmal. Gerade einmal kurze Telepathie-Gespräche hatten Jake und ich in unsere Tage quetschen können – das dafür zumindest täglich. Diese Regelmäßigkeit war beruhigend. Dazu hatte Jake immer wieder Briefe mit Zeichnungen geschickt. So waren wir trotz der Entfernung in Kontakt geblieben. Dennoch war es schön, mal wieder tatsächlich zusammen zu sitzen und ein wenig Zeit zu haben - erst zum Sonnenuntergang musste Jake wieder in der Stählernen Burg sein. „Wie leise es hier ist“, stellte er fest und ließ seinen Blick über den leeren Platz schweifen, „Gut, wieder hier zu sein.“ Eine Weile saßen wir einfach weiter da und lauschten der Stille. Schließlich brach Jake den Bann: „Vielleicht komme ich zurück.“ Ich starrte ihn überrascht an: „Ans Kullë Guri? Das wäre ja großartig!“ Vor Freude wäre ich ihm fast um den Hals gefallen, doch er wehrte ab. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht…“ Gedankenverloren schaute er ins Leere. „In der Stählernen Burg ist alles noch so viel größer. Groß und beeindruckend, aber irgendwie auch einschüchternd. Und ständig bin ich von Menschen umgeben, egal, wo ich hingehe. Nie bin ich in meinem Zimmer alleine, oder wenigstens nur zusammen mit Nathan, der auch mal die Klappe hält. In Ruhe am Fluss sitzen und einfach für mich zeichnen gibt es dort nicht. Und alles ist so… altmodisch! Diese verdammte Burg besteht sicher schon dreißigtausend Monde, und ich schwöre, in der Zeit hat sie sich nicht um einen einzigen Kronleuchter verändert. Gut, dass ich meinen Kristallscheibenspieler mitgenommen habe - sowas haben die da nämlich gar nicht!“ Er spuckte auf den Boden. „Und auch die Menschen… die sind einfach alle… und auch noch viel älter als ich!“ Er seufzte. „Aber hey – ich bin der Jüngste, der jemals an der Akademie des Cabrysz aufgenommen wurde!“ Und da war er auf einmal wieder: dieser Stolz in seinem Blick. Diese Freude über die Anerkennung, die ihm durch Cabrysz zuteil wurde. Und bei aller Verachtung für den Tyrannen: Das war schön, zu sehen. Dass Jake gerade endlich etwas bekam, was das Kullë Guri ihm nie gegeben hatte. Den größten Teil des Nachmittags verbrachten wir damit, ziellos durch Siguri zu streifen und die Leute zu beobachten. Seit wir uns kannten, war das eine unserer Lieblingsbeschäftigungen, und obwohl Siguri recht klein war und hier selten etwas Außergewöhnliches passierte, wurde es uns nie langweilig. Da war die alte Matilde, die unermüdlich ihre Spindel mit erhobenen Zeigefingern durch die Luft dirigierte. Eine Weile sah sie dabei zu, wie sich die Wollwolke zu ihren Füßen zu Garn sponn, dann beförderte sie es mit einem fröhlichen Singsang und einem Winken in den Farbeimer daneben, sodass es nur so spritzte und kleckste. Da war der Mensch, der sich um die Postziegen kümmerte. Da war die Person, die die Chronik von Siguri führte – Tag für Tag saß sie auf dem Dorfturm und schrieb in dicke, reich verzierte Bücher. Ab und zu trafen wir auch auf Kinder, die durch die kopfsteinernen Straßen wuselten und Fangen spielten. Besonders gerne schauten wir bei Sethaal vorbei. Egal, wann wir bei dem Alten auftauchten: irgendetwas hing immer gerade an den Leinen, die vor seinem Haus gespannt waren. Heute waren es Kräuter. Beinahe schon ehrfürchtig traten Jake und ich heran. Wie gut das roch! Nur Sethaals fröhliches „Hallo ihr beiden!“ hielt uns davon ab, einfach unsere Nasen tief in ein Büschel frisch gesammelten Grüns zu versenken. „Hallo, Sethaal!“, gab Jake erfreut zurück und ich fügte hinzu: „Du hast ja hier mal wieder das reinste Wunderland aufgebaut!“ Sethaal gluckste in seinen schneeweißen Bart und zwinkerte uns zu. „Das wird der beste Tee, den ihr in Siguri finden werdet! Wenn ihr wollt, bringe ich euch jetzt gleich eine Kanne.“ „Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel“, gab ich zurück, „Gerne!“ Jake nickte eifrig und wenig später saßen wir zu dritt im Garten und schauten zu, wie sich der Dampf aus unseren Teegläsern sanft den leichten Wolken entgegenkringelte. Nach den anstrengenden Prüfungsvorbereitungen der vergangenen Tage tat es gut, den ganzen Druck hinter mir zu lassen. Es gab nichts, wo wir unbedingt bald zu sein hatten, wir konnten also ganz in Ruhe unseren Tee schlürfen. Dabei unterhielten wir uns mit Sethaal: einer der wenigen Erwachsenen, bei dem ich mir dabei nicht schwer tat. Ganz wie ich selbst war Sethaal ein eher ruhiger Mensch; immer für einen Plausch zu haben,  gerne auch bei den Tee-Abenden mit Anderen aus der Schwarzen Gemeinschaft von Siguri, aber nie mitten im Trubel. Wenn er Kräuter oder Beeren sammeln ging, dann für gewöhnlich allein. So wie er ja auch allein in seiner Hütte lebte und noch nie darüber geklagt hatte, dass ihm etwas fehlen würde. ~~~ Als Jake und ich beide unser zweites Glas Tee ausgetrunken hatten, zogen wir langsam weiter - der Plan: keinen Plan machen. Uns einfach treiben lassen und schauen, wo es uns diesmal hintrug. Ich war froh, dass ich einen Menschen in meinem Leben hatte für Tage wie diesen. Zwar störte es mich nicht im Geringsten, auch mal alleine durch Siguri zu laufen und ganz für mich zu sein. Als ich neu am Kullë Guri gewesen war, hatte ich das oft getan. Ich liebte es, wenn mir der Wind durchs Haar fuhr, als wolle er mit ihm spielen. Manchmal träumte ich davon, er würde mich mit sich forttragen, damit ich die ganze Welt sehen konnte. Wie, wenn der Wind mich einfach mitnehmen würde, musste ich bei meinen Spaziergängen mit keinem Menschen absprechen, wo wir hingehen und was wir machen wollten. Stattdessen konnte ich mich ganz nach mir selbst richten. Das mochte ich. Doch auch mit Jake zusammen zu zweit unterwegs sein war sehr schön. Es hatte etwas von Alleinsein, aber eben ohne wirklich alleine zu sein. Raus aus den Strukturen der Schule, raus aus dem Alltag. Sprung in einen Wolkenberg aus Lachen und Leichtigkeit. Oder die Gelegenheit, über Dinge zu reden, die uns beschäftigten, die aber nicht unbedingt alle mitbekommen mussten. Laut denken und verstanden werden. Wenn es etwas gab, das Jake fast so gerne mochte wie seine Zeichenutensilien, so waren es Türme. Er stand gerne oben an der Brüstung und genoss den Blick ins Weite. Neben dem hohen Dorfturm hatte Siguri noch eine ganze Reihe anderer alter Türme, in deren Fenstern nachts magische Feuer entzündet wurden, um die Wege zu erleuchten. Von ihrer Spitze aus konnten wir fast über das ganze Dorf sehen, an dessen Rand sich vereinzelte Häuser in die bewaldeten Ausläufer des Vetmia-Gebirges einfügten. Als wir genug hatten von dem Treiben des Dorfes, zogen wir uns auf einen dieser Türme zurück. „Schau mal!“, rief Jake auf einmal aufgeregt, „Wenn du genau hinschaust, kannst du von hier aus die Akademie erahnen!“ Ich folgte mit dem Blick seiner ausgestreckten Hand, doch ich erkannte nichts. „Bist du dir sicher? Die ist doch ziemlich weit von hier“, fragte ich skeptisch. „Was für ein Gebäude sollte denn da noch sein? Sonst sind da doch nur Berge“, gab Jake zurück und ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Doch das Gebäude war einfach zu weit weg, als dass ich eine eindeutige Aussage dazu hätte treffen können. „Vielleicht hast du recht“, gab ich also schließlich zurück, „ich war ja noch nie da.“ „Ahh!“, rief Jake aus und schlug sich gegen die Stirn, „Natürlich, das hatte ich ganz vergessen! Es ist noch so ungewohnt, dass du gar nicht alles mitbekommst, was ich erlebe. Das war früher immer so selbstverständlich. Hat sich viel verändert…“ „Ja, das stimmt. Und dabei ist das doch genau genommen so eine kurze Zeit, die wir uns nicht gesehen haben. Wie schnell die manchmal vergeht!“ Jake nickte nachdenklich. Dann tat er, was er immer tat: Er holte Papier und Zeichenstift aus der Tasche. „Bleib mal da stehen“, wies er mich an und begann, zu kritzeln. Wenig später sah ich mich selbst auf dem Papier in seiner Hand, im Hintergrund die Hügel des Gebirges. „Mega gut!“, rief ich beeindruckt, als er mir das Bild in die Hand drückte. Überraschen tat mich sein Zeichentalent zwar nicht mehr, aber begeistern? Jedes Mal wieder. „Danke“, grinste er. Dann packte er den Stift beiseite und warf einen prüfenden Blick in den Himmel, um nach dem Stand der Sonne zu schauen. „Verdammter Hasenfuß!“, fluchte er. „Jetzt muss ich mich aber beeilen!“ Gemeinsam sprinteten wir die Treppe des Turms hinunter. An seinem Fuße angekommen umarmten wir uns zum Abschied, dann mussten wir in unterschiedliche Richtungen weiter. „Komm gut an“, flüsterte ich. Es fühlte sich noch immer seltsam an, dass wir jetzt nicht einfach zusammen zurück in die Schule gingen, sondern Jake noch eine viel längere Strecke vor sich hatte als ich. Doch die Aussicht auf den weiten Rückweg schien ihn nicht weiter zu stören: „Du auch. War schön, dich gesehen zu haben!“, erwiderte er fröhlich und machte sich auf den Weg.

Sechs

Kurz nach den Prüfungen hatten wir wenigstens etwas zu feiern – also, abgesehen davon, dass wir den ewigen Lern-Marathon hinter uns hatten: Ich wurde zweihundertzweiundzwanzig Monde alt! Endlich war ich offiziell unabhängig von meinen Adoptiveltern. Jetzt musste ich auch außerhalb meiner kleinen künstlichen Welt innerhalb der Schulmauern nichts mehr mit ihnen zu tun haben! Wirklich nicht! Niemals wieder! Ich hatte das Gefühl, ich sei aus einem Verließ ausgebrochen und nun war auch endlich der Suchbefehl nach mir aufgehoben worden.