Verräterisches Schweigen - Astrid Pfister - E-Book

Verräterisches Schweigen E-Book

Astrid Pfister

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Der schwerste Fall für Verhörspezialist Leonard Lehmann Hauptkommissar Leonard Lehmann hat schon viele Kriminelle hinter Gitter gebracht. Sein Job ist sein Leben und er vergisst auf der Jagd nach Verbrechern oft alles um sich herum. Deshalb ist er geschieden und sieht seine Tochter Joy nur an den Wochenenden. Wenn überhaupt. Als er gemeinsam mit Joy die Cranger Kirmes besucht, erreicht ihn ein Anruf vom Revier. Bei einer Geiselnahme in einer Herner Bank ist ein Mann erschossen worden. Leonhard wird als Verhörspezialist des Ruhrgebiets dringend gebraucht. Denn irgendetwas stimmt nicht mit dem Geiselnehmer. Leonard übernimmt die Ermittlungen, bei denen seine Loyalität der Polizei gegenüber auf eine harte Probe gestellt wird …

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Die Autorin

Astrid Pfister, geboren 1980 in Westholt, lebt die Liebe zum Schreiben. Vor über 15 Jahren verfasste sie ihre erste Kurzgeschichte und nahm damit an einem Wettbewerb teil. Inzwischen hat sie eine Vielzahl von Kurzgeschichten, Romanen und einen Gedichtband in verschiedenen Verlagen veröffentlicht, unter anderem bei Bastei Lübbe. Die Autorin lebt und schreibt in Herne.

Das Buch

Der schwerste Fall für Verhörspezialist Leonard Lehmann

Hauptkommissar Leonard Lehmann hat schon viele Kriminelle hinter Gitter gebracht. Sein Job ist sein Leben und er vergisst auf der Jagd nach Verbrechern oft alles um sich herum. Deshalb ist er geschieden und sieht seine Tochter Joy nur an den Wochenenden. Wenn überhaupt. Als er gemeinsam mit Joy die Cranger Kirmes besucht, erreicht ihn ein Anruf vom Revier. Bei einer Geiselnahme in einer Herner Bank ist ein Mann erschossen worden. Leonhard wird als Verhörspezialist des Ruhrgebiets dringend gebraucht. Denn irgendetwas stimmt nicht mit dem Geiselnehmer. Leonard übernimmt die Ermittlungen, bei denen seine Loyalität der Polizei gegenüber auf eine harte Probe gestellt wird …

Astrid Pfister

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAugust 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95819-206-5

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Leseprobe: Der Tote vom Odenwald

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Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 1

Die blutüberströmte Leiche des Rentners lag grotesk verdreht zwischen den Aktenschränken des Abteilungsleiters. Es hatte eines Ausweises bedurft, um ihn als Helmut Weißenberger identifizieren zu können, denn vom Gesicht des Opfers war nicht mehr viel zu erkennen. Nur die in Panik und Todesangst weit aufgerissenen Augen blickten ins Leere. Als der Rentner sich heute Morgen entschieden hatte, die beschauliche Herner Sparkasse zu betreten, hatte er bestimmt nicht im Traum daran gedacht, sie nicht mehr lebend zu verlassen.

Der Polizist warf einen Blick in den Hauptraum der Sparkasse, wo sich gerade der Geiselnehmer widerstandslos Handfesseln anlegen ließ. Wieso tat ein Mensch so etwas? Eine Bank zu überfallen, war das eine … Geiseln zu nehmen schon extremer, aber einen harmlosen alten Mann kaltblütig zu erschießen?

Vor allem war dieser Mord absolut sinnlos gewesen. Die Polizisten hatten die Sparkasse noch nicht gestürmt, das SEK war noch gar nicht eingetroffen, und keiner hatte dem Geiselnehmer gedroht. Er selbst hatte noch nicht einmal Forderungen gestellt gehabt, zu deren Untermauerung er Geiseln hätte umbringen müssen. Das Ganze ergab überhaupt keinen Sinn. Was wiederum bedeutete, dass sie es hier höchstwahrscheinlich mit einem Geisteskranken zu tun hatten, was die ganze Sache noch schwieriger machen würde.

Das einzig Positive an diesem schrecklichen Vormittag war, dass sie den Mann hatten stoppen können, bevor er noch mehr Unschuldige umbrachte.

Er wusste, als Polizist sollte er so etwas gewohnt sein, aber er lebte schließlich nicht in New York oder Berlin, sondern in einer kleinen Stadt, die keinerlei Erfahrungen mit Geiselnahme und brutalem Mord hatte. Bis auf den Fall Marcel Heße, der deutschlandweit für Aufsehen gesorgt und die Stadt vor einiger Zeit in einen Ausnahmezustand versetzt hatte.

Er war so wütend, dass er lieber hier in diesem stickigen Büro mit der Leiche blieb, als den Hauptraum der Sparkasse zu betreten. Er befürchtete, dass er sonst den Geiselnehmer mehr als nur grob anfassen würde. Er konnte nicht mit ansehen, wie kaltschnäuzig und cool sich dieser gab. Der Täter wirkte, als wartete er auf den Bus, und nicht, als hätte er gerade einem wehrlosen alten Mann einfach mal so in den Kopf geschossen.

Kapitel 2

Leonard Lehmann seufzte, als er den Verdächtigen durch den Einwegspiegel des Vernehmungszimmers beobachtete. Eigentlich war heute sein freier Tag gewesen, und zwar der erste seit einer gefühlten Ewigkeit, da immer wieder etwas dazwischenkam, wenn er seine zu einem Berg angewachsenen Überstunden in freie Tage umwandeln wollte. Es klang immer toll, wenn Kollegen oder sogar diverse Bürgermeister ihn als DEN führenden Verhörspezialisten von NRW anpriesen, aber die Kehrseite der Medaille war eine gescheiterte Ehe und ein Kind, das er von Herzen liebte, aber nur alle vierzehn Tage am Wochenende sah. Und das er heute wieder einmal hatte enttäuschen müssen. Er sah noch immer den anklagenden und traurigen Blick seiner Tochter vor sich.

Dadurch, dass er gefühlt nonstop arbeitete, blieb ihm auch keine Zeit, mal in eine Bar zu gehen, um eine neue Frau kennenzulernen. Heute Abend hatte er eigentlich ein Date mit einer alten Schulfreundin, die er zufällig bei Facebook wiedergefunden hatte. Und was tat er, anstatt mit ihr gemütlich in seiner Lieblingspizzeria zu sitzen oder den Tag mit seiner Tochter zu verbringen? Er trank literweise scheußlichen Kaffee und verbrachte den Tag und den Abend mit einem weiteren Monster der Gesellschaft.

Manchmal fragte sich Leonard, warum er jemals bei der Polizei angefangen hatte und nicht stattdessen Lehrer oder Supermarktkassierer geworden war. Ein ruhiger Job mit geregelten Arbeitszeiten und einer Familie, zu der er jeden Tag pünktlich zum Essen heimkehren konnte, hätte es doch auch getan.

Aber wenn er ehrlich war, liebte er seinen Beruf trotz all der negativen Aspekte, die damit verbunden waren. Denn das, was er tat, hatte eine Bedeutung. Er half mit seiner Arbeit, die Welt ein Stückchen sicherer, ein Stückchen besser zu machen. Und von welchem dieser »ruhigen und einfachen« Jobs konnte man das schon behaupten? Er hatte im Laufe seiner Karriere den einen oder anderen Verbrecher hinter Gitter gebracht, und auch dieses Mal würde es nicht anders laufen. Sein Ruf eilte ihm voraus, und er wurde mittlerweile nicht nur in ganz NRW angefordert, sondern auch bei kniffligen Fällen im Rheinland hinzugezogen. Die ständige Reiserei hatte seiner Ehe natürlich nicht gutgetan.

Es war eigentlich eine Erholung, zu einem Fall in seiner Heimatstadt hinzugezogen zu werden, in der seine Karriere begonnen hatte. Wobei er nicht so ganz verstand, was er hier zu suchen hatte, denn der Mann im Verhörraum war so offensichtlich schuldig, dass selbst ein Anfänger ihn überführen könnte.

Leonard gab zu, dass das Äußere des Täters nicht vermuten ließ, dass er zu so einer Tat fähig war. Der Mann wirkte geradezu liebenswürdig. Wenn er ihn auf der Straße gesehen hätte, hätte er ihn wahrscheinlich für einen typischen Beamten mittleren Alters gehalten. Schütter werdendes braunes Haar, das an den Schläfen schon graue Strähnen zeigte, und treue blaue Augen hinter einer dicken Brille. Er trug eine braune Stoffhose, ein weißes Hemd und darüber einen brauen Wollpullover.

Nichts von alledem deutete darauf hin, dass dieser Mann heute Morgen die städtische Sparkasse überfallen, alle Leute, die sich darin befunden hatten, als Geiseln genommen und nach einigen Stunden einen älteren Herrn kaltblütig erschossen hatte.

Aber so war es oft. Man sagte ja nicht umsonst: Stille Wasser sind tief. Wie viele Serienmörder in der Geschichte waren gerade deshalb so erfolgreich gewesen, weil sie so harmlos und manchmal sogar attraktiv ausgesehen hatten. Wenn man so jemandem begegnete, sandte der Körper leider keinerlei Alarmsignale aus. Oft waren es gerade die Harmlosen oder die Außenseiter, die eines Tages durchdrehten und ein Blutbad anrichteten. Genau wie in diesem Fall.

Als der Mann die Bank betreten hatte, hatte ihm wahrscheinlich keiner der dort Anwesenden auch nur einen Blick geschenkt. Und wenn die Polizei ihn nicht rechtzeitig überwältigt hätte, wären sie jetzt vielleicht alle tot.

Obwohl dieser Fall von äußerster Brutalität und Skrupellosigkeit zeugte, sah Leonard nicht, warum gerade sein Verhörtalent hier vonnöten war. Schließlich war der Mann mitten in der Sparkasse überwältigt worden, im selben Raum mit dem Mann, den er erschossen hatte, und alle Geiseln hatten bezeugt, dass er die Sparkasse am Morgen überfallen hatte. Wie bitte schön sollte er sich aus dieser Nummer wieder herausreden? Selbst der teuerste Anwalt würde keine mildernden Umstände erreichen können, geschweige denn einen Freispruch.

Leonard seufzte noch einmal tief, während er an sein verpasstes Date dachte und daran, wie der Abend vielleicht hätte ausklingen können. Dann trat er in den angrenzenden Verhörraum. »Hallo, mein Name ist Kriminalhauptkommissar Leonard Lehmann. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Wie mir die Kollegen sagten, verzichten Sie auf einen Anwalt. Ich informiere Sie hiermit aber noch einmal darüber, dass Sie das Recht haben, das Gespräch jederzeit zu unterbrechen und einen Anwalt anzurufen. Können Sie sich keinen eigenen Anwalt leisten, wird Ihnen vom Gericht einer gestellt. In Ordnung?«

Mark Jankowitz bejahte leise.

»Ich dachte, Sie hätten vielleicht Durst, deshalb habe ich Ihnen einen Kaffee mitgebracht«, sagte Leonard. Im Laufe seiner Karriere hatte er seine Verhörmethode perfektioniert und war inzwischen Experte. Zuallererst beobachtete er die Person eine ganze Weile, um sich einen Eindruck von ihr zu verschaffen, erst dann entschied er, wie er vorgehen würde. Und in diesem speziellen Fall hatte er beschlossen, die Masche des verständnisvollen und freundlichen Polizeibeamten durchzuziehen, um so das Vertrauen des Mannes zu gewinnen. Dieser sollte das Gefühl haben, dass Leonard durchaus nachvollziehen konnte, warum er die Tat begangen hatte, und dass der Mann ihm ohne Probleme alles darüber erzählen konnte. Sollte diese Technik nicht funktionieren, hatte Leonard noch unzählige andere in petto.

Der Mann blickte Leonard mit ernstem Gesicht an, und dieser registrierte die zusammengesunkene Körperhaltung, die hängenden Schultern und die blutunterlaufenen Augen. Dieser Mann war am Ende seiner Kräfte, was dem Kriminalhauptkommissar nur recht war. Vielleicht hatte er ja Glück, und der Mann gestand innerhalb kürzester Zeit, sodass Leonard sein Rendezvous doch noch angehen konnte.

Er setzte sich dem Täter gegenüber, nahm einen Schluck des ekelhaften Gebräus, das die Dienststelle Kaffee nannte, und schlug dann seine Unterlagen auf.

Auch sein Gegenüber griff nach dem mitgebrachten Kaffeebecher und trank einen Schluck, verzog aber sofort angewidert das Gesicht. Aus den Augenwinkeln nahm Leonard wahr, dass der Mann so sehr zitterte, dass er kaum fähig war zu trinken.

Auch das war nichts Untypisches. Wenn es sich nicht gerade um einen passionierten Serienkiller handelte, konnte ein Verbrecher während seiner Tat noch so abgebrüht sein; wenn er erst einmal ein paar Stunden in einem Verhörzimmer saß, verwandelte er sich schnell in ein zitterndes Häufchen Elend.

»Vielen Dank für den Kaffee«, flüsterte der Mann kaum wahrnehmbar.

»Kein Problem«, entgegnete Leonard. »Laut der Notizen meines Kollegen heißen sie Mark Jankowitz, sind fünfundvierzig Jahre alt und wohnen hier in Herne. Ist das korrekt?«

Sein Gegenüber nickte mit gesenktem Blick.

Leonard sah ihn intensiv an und sagte dann: »Und stimmt es, dass Sie heute Morgen um neun Uhr dreißig, genau zur Öffnungszeit, die Sparkasse in der Herner Innenstadt betreten haben?«

Abermals nickte der Mann.

»Sie müssen meine Fragen bitte laut und deutlich beantworten, damit sie richtig aufgezeichnet werden können.«

»Ja, das habe ich«, antwortete Mark Jankowitz mit zittriger Stimme.

»Und stimmt es, dass Sie alle anwesenden Personen als Geiseln genommen haben?«

Der Mann zögerte einen Augenblick. »Jein.«

»Jein?«, wiederholte Leonard verwirrt. »Was soll das denn heißen, Jein?«

»Ich wollte sie nicht als Geiseln nehmen, ich wollte doch nur das Geld!«, entgegnete Mark Jankowitz.

»Und Sie dachten, Sie spazieren einfach in die Sparkasse hinein, nehmen das Geld an sich und gehen dann in aller Seelenruhe nach Hause?«, fragte der Kriminalhauptkommissar zynisch. Als der Mann keine Antwort gab, sprach Leonard weiter: »Und weil Sie nur so harmlose Absichten hatten und eigentlich noch nicht einmal Geiseln nehmen wollten, dachten Sie, wenn Sie schon einmal dabei sind, könnten Sie auch gleich eine der Geiseln erschießen?«

Mark Jankowitz hielt den Blick weiterhin auf seine Hände gesenkt, die nervös mit dem Pappbecher spielten, und schüttelte abermals den Kopf.

Langsam war Leonard mit seiner Geduld am Ende. Würde er dem Mann ab jetzt jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen müssen? Dann würden sie ja noch ewig hier sitzen.

»Wie gerade schon gesagt, ein Rekorder nimmt unser gesamtes Gespräch auf, deshalb reicht es nicht aus, nur zu nicken. Sie müssen Ihre Antworten klar und deutlich aussprechen.«

»Nein«, stieß der Geiselnehmer hervor.

Leonard runzelte die Stirn. »Was nein?«

»Nein, ich habe so etwas nicht im Traum gedacht, und nein, ich habe keine Geisel erschossen!«

Leonard verlor jetzt seine aufgesetzte Ruhe und schlug mit der Faust auf den Tisch. Genau diesen Schwachsinn hatte Jankowitz auch schon den anderen Polizisten aufgetischt. »Sie wollen mir also weismachen, Sie hätten keine Geisel erschossen?«

Der Mann nickte, erinnerte sich dann aber offenbar an die Ermahnung des Kriminalhauptkommissars und sagte deutlich: »Nein, ich habe keine Geisel erschossen!«

»Dann muss ich mir die blutüberströmte Leiche von Helmut Weißenberger, die wir in einem der Büros gefunden haben, wohl eingebildet haben … zusammen mit den acht Geiseln, die allesamt gehört haben, wie Sie geschossen haben!« Leonard schäumte innerlich vor Wut. Er hatte unzählige Jahre Erfahrung in seinem Job, und er war wirklich gut. Er kannte all die psychologischen Tricks der Verbrecher und konnte sich auf jeden davon mühelos einstellen. Er analysierte sein Gegenüber, fand dessen Schwachstelle und machte sie sich anschließend zunutze. Er wusste immer genau, bei welchem Angeklagten es ratsam war, ruhig und freundlich zu reagieren, und bei wem er den knallharten Polizisten rauskehren musste, der notfalls auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. Bei manchen half es auch, sich als Verbündeter darzustellen, der nur zu gut verstehen konnte, warum der Täter getan hatte, was er getan hatte.

Aber diese Art von Täter hatte ihn schon immer zur Weißglut getrieben. Diese nach außen hin so harmlosen Männer, die den Anschein erweckten, keiner Fliege etwas zuleide tun zu können, aber die in Wirklichkeit die abscheulichsten Monster von allen waren. Und dann dachten sie auch noch, dass sie einen für dumm verkaufen konnten.

Aber nicht mit ihm! Er saß schließlich am längeren Hebel, und er würde Jankowitz jetzt erst einmal schmoren lassen. Mal schauen, ob er nach ein paar Stunden immer noch bei Laune war, ihn anzulügen.

Und dabei hat der Tag so gut begonnen, dachte Leonard, als er zur Kaffeemaschine ging, um sich einen neuen Becher von der Säure einzuschenken.

Kapitel 3

Fünf Stunden zuvor

»Papa ist da! Papa ist da!«, schallte es ihm schon entgegen, bevor überhaupt die Tür geöffnet wurde. Er ging auf die Knie hinunter und schloss das Mädchen mit den wippenden Haarzöpfen in die Arme, das ihm sofort entgegensprang.

»Hallo, meine Süße! Da freut sich aber jemand, mich zu sehen.« Er hob seine Tochter Joy hoch und trug sie ins Wohnzimmer, während er mit dem Fuß die Wohnungstür zustieß. Mit Erstaunen stellte er fest, dass sie schon wieder ein Stück gewachsen zu sein schien, in den vier Wochen, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Manchmal fragte er sich, wo die Zeit geblieben war. Sie war nun schon sieben Jahre alt, und es kam ihm wie gestern vor, als er sie nach ihrer Geburt im Krankenhaus im Arm gehalten hatte.

»Hier ist ihr Rucksack, da ist alles drin, was sie braucht. Und denk daran, sie mit Sonnencreme einzureiben, du weißt, wie schnell sie einen Sonnenbrand bekommt«, sagte seine Ex-Frau Laura und drückte ihm den quietschrosa Prinzessin-Lillifee-Rucksack in die Hand. Kein »Hallo!« oder »Wie geht es dir?«. Das hatte sie sich schon lange abgewöhnt. Sie betrieb nur noch die nötigste Konversation mit ihm und war gerade so freundlich, dass Joy nichts von den Spannungen mitbekam.

Einerseits konnte er ihr Verhalten verstehen, er war weiß Gott kein guter Ehemann oder auch Vater gewesen. Er war ein außergewöhnlich guter Kriminalhauptkommissar, und im Laufe der Jahre hatte er festgestellt, dass der Spruch »Man kann nicht alles im Leben haben« leider wirklich stimmte. Ein guter Ehemann und Vater und gleichzeitig ein toller Polizist zu sein, ging einfach nicht. Eines von beiden hatte er zwangsläufig vernachlässigen müssen. Es war nicht so, dass er sich bewusst gegen seine Ehe und für seine Karriere entschieden hatte … es war einfach passiert. Immer wieder hatte er Überstunden machen müssen oder war zu Notfällen gerufen worden. Und er hatte einfach nicht anders gekonnt, als seine Arbeit manchmal mit nach Hause zu nehmen. Er war auch nur ein Mensch, und manches, was er im Laufe der Jahre gesehen hatte, war so schrecklich gewesen, dass er es nach Feierabend nicht einfach hinter sich hatte lassen können.

Und das wiederum hatte seine Frau umso mehr geärgert. Er war so selten zu Hause gewesen, reiste ständig in ganz NRW herum, und wenn er dann einmal physisch anwesend war, war er doch nicht ganz da gewesen. Seine Gedanken drehten sich ständig um seine Fälle, und ohne dass er es hätte verhindern können, blitzten während gemeinsamer Abendessen oder Spielstunden grausame Tatortszenen vor seinen Augen auf.

Er hatte seine Frau wirklich geliebt, und es gab für ihn nichts Kostbareres auf der Welt als seine Tochter, aber das war anscheinend nicht genug gewesen.

Es hatte eine Zeit gegeben, als ein Schicksalsschlag sein Leben von einem Tag auf den anderen verändert hatte. Die Angst um das Leben seiner Tochter, der bloße Gedanke daran, dass sie sterben könnte, hatte Leonards Prioritäten komplett verändert. Auf einmal hatte es nicht Wichtigeres gegeben, als Zeit mit seiner Familie und mit seinem Kind zu verbringen. Er hatte stets pünktlich Feierabend gemacht, keine nächtlichen Notfallverhöre mehr durchgeführt, und während er seiner Arbeit nachgegangen war, hatte er das Gesicht seiner Kleinen vor sich gesehen. Sich gefragt, wie es ihr gerade ging und was in Gottes Namen er bloß tun sollte, wenn sie nicht überlebte.

Er hatte Nächte an ihrem Krankenbett gewacht und ihr stundenlang aus ihrem Lieblingsbuch vorgelesen. Nichts war wichtiger gewesen als sie.

In der Zeit hatten sich Leonard und seine Frau Laura einander so nahe gefühlt wie schon seit Langem nicht mehr. Die Krise hatte sie zusammengeschweißt und ihnen bewusst gemacht, was wirklich wichtig war im Leben. Weil er seiner Frau und seiner Tochter mehr Zeit schenkte, war Laura förmlich aufgeblüht. Sie war trotz der dramatischen Umstände wieder zu der Frau geworden, in die er sich einst verliebt hatte. Nicht mehr die nörgelnde, mürrische und ständig vorwurfsvolle Person, mit der er schon so lange Zeit zusammenlebte.

Aber dann war seine Tochter wieder gesund geworden, und der Alltag war zurückgekehrt. Unmerklich hatten sich die Prioritäten wieder mehr und mehr verschoben. Erst waren es nur ein paar Überstunden gewesen, die er hatte einlegen müssen, weil so viel liegen geblieben war. Dann waren es dringende Verhöre nach Feierabend in Essen, Köln und noch weiter weg gewesen. Eines Tages kam er um zwei Uhr morgens nach einem zermürbenden Verhör nach Hause und starrte auf seine Koffer, die direkt im Flur neben der Haustür standen.

Er hatte gewusst, dass es um seine Ehe nicht zum Besten stand und dass das Verständnis seiner Frau schon vor Jahren aufgebraucht gewesen war. Aber er hatte nie ernsthaft damit gerechnet, dass sie tatsächlich die Scheidung wollen würde.

Natürlich verstand er Laura, und er konnte auch nachvollziehen, warum sie so unglücklich in ihrer Ehe war. Er war kein guter Ehemann und Vater gewesen, das gab er zu, aber er machte schließlich nicht zum Vergnügen Überstunden. Es war sein Job. Damit verdiente er seinen Lebensunterhalt. Außerdem machte er mit jeder Festnahme und jedem Erfolg im Verhör die Welt ein Stückchen sicherer. Er machte auch Herne und die Umgebung sicherer, damit Laura ohne Angst mit ihrer kleinen Tochter spazieren gehen konnte. Und das war doch ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger als ein gemeinsames Abendessen.

Aber das verstand Laura nicht, und so hatten sie sich unentwegt gestritten. Die Quote der Scheidungen bei Polizeibeamten war schwindelerregend hoch, und durch ihn war sie noch ein bisschen gestiegen.

Manchmal war er einsam und sehnte sich nach einer Familie und einem gemütlichen Heim, wenn er am Feierabend nach Hause kam, besonders wenn er wieder mehrere Tage in einem Hotelzimmer zugebracht hatte.

Aber wenn er ehrlich zu sich war, war ein Leben, so wie er es jetzt führte, das einzig mögliche für ihn. Er schaffte es oft nicht einmal, die Besuche seiner Tochter alle vierzehn Tage einzuhalten und das, obwohl er sie von Herzen liebte und auch vermisste.

»Papa, Papa, was machen wir denn heute?«, riss ihn Joy wieder in die Gegenwart zurück.

»Wir zwei gehen heute auf die Kirmes!«, verkündete er und strich ihr liebevoll über den Kopf. Dann nahm er den Rucksack entgegen und hängte ihn über eine Schulter, während ihm bewusst wurde, wie lächerlich er mit dem Teil aussah.

Seine Ex-Frau schaute ihn kritisch an und sagte: »Aber pass auf, dass du sie richtig im Kindersitz anschnallst und dass sie mittags auch etwas Anständiges isst.«

Er wollte schon zu einer patzigen Antwort ansetzen, in der er seine Frau darüber aufklärte, dass er schon genauso lange ein Kind hatte wie sie und deshalb wusste, dass man Kinder anschnallte und sie nicht verhungern ließ. Aber dann besann er sich. Er wollte nicht, dass Joy die Spannungen zwischen ihnen mitbekam und traurig wurde, deshalb biss er sich auf die Lippen und schluckte seinen Ärger hinunter.

Er fragte sich, ob es irgendwann einmal eine Zeit geben würde, in der sie wieder normal miteinander umgehen konnten. Sie hatten sich so sehr geliebt und so viel miteinander gelacht, dass sie noch am nächsten Tag Muskelkater davon gehabt hatten. Jetzt schafften sie es nicht einmal mehr, fünf Minuten im selben Raum zu verbringen, ohne sich gegenseitig anzufahren. Er hatte langsam das Gefühl, dass dieses Wir sind zwar geschieden, aber mittlerweile sind wir die besten Freunde nichts als eine moderne Legende war.

Und sie waren beide schuld. Egal was Laura Patziges sagte, er war sofort auf hundertachtzig und reagierte entsprechend darauf.

Aber nicht heute. Er hatte Joy aus beruflichen Gründen jetzt schon mehrere Wochenenden nicht gesehen, und er würde nicht zulassen, dass die Streitereien ihr den Ausflug verdarben. Also biss er sich auf die Zunge und ging wortlos zu Tür. Erst als er sie zuzog, rief er ein kurzes Tschüss. Am Auto angekommen, schnallte er Joy in aller Seelenruhe an; wohl wissend, dass seine Ex-Frau garantiert am Fenster stand und ihn genauestens beobachtete. Danach stieg er ebenfalls ein und fuhr in Richtung Wanne-Eickel, wo gerade die Cranger Kirmes stattfand, die drittgrößte Kirmes in ganz Deutschland.

Er selbst war überhaupt kein Kirmesfan, denn er hatte Höhenangst und fuhr nie freiwillig mit irgendwelchen Fahrgeschäften. Wenn er auf die Kirmes ging, dann nur zum Essen. Aber Joy liebte die Kirmes so wie wahrscheinlich jedes Kind. Seine schönsten Familienerinnerungen verband er mit der Cranger Kirmes, deshalb hatte er beschlossen, mit Joy hierher zu fahren.

Er stellte sein Auto auf einem der total überteuerten Kirmesparkplätze ab und schob sich dann mit Joy durch die Besuchermassen bis zum Eingang.

»Papa, guck mal, das Riesenrad ist schon aufgewacht«, rief seine Tochter aufgeregt. Und tatsächlich, das Bellevue, so lautete der Name des Riesenrads, drehte sich bereits und ließ seine bunten Lichter über der Kirmes erstrahlen.

Er lächelte seine Tochter an und fragte: »Und was möchtest du machen, mein Schatz?«

Sie überlegte einen kurzen Moment und sprudelte dann hervor: »Zuerst will ich mit dir aufs Riesenrad und dann eine Zuckerwatte und ein Kirmeseis. Und wir müssen unbedingt Bälle werfen und Entenangeln. Ach ja, und aufs Kettenkarussell.« Sie blickte sich aufgeregt um, bevor sie weiterplapperte: »Und ein blaues Slush Eis und eine Waffeltüte für zu Hause. Und ein Lebkuchenherz, das darf auch nicht fehlen.«

Leonard musste sich ein Grinsen verkneifen. Das war bestimmt genau die gesunde Art der Ernährung, die Laura vorgeschwebt hatte. In Kombination mit den ganzen Fahrgeschäften würde das bestimmt zu einem interessanten Abend führen, dachte er ein wenig schadenfroh.

Allerdings sah er seine Tochter so selten, dass er sie glücklich machen wollte. Und dafür würde es nun einmal auch Süßigkeiten geben und all die Dinge, die seine Ex-Frau als zu ungesund vom Speiseplan gestrichen hatte.

Er fuhr seiner Tochter über das feine blonde Haar und war glücklich, als er ihr vor Aufregung gerötetes Gesicht betrachtete.

»Also, ich würde vorschlagen, wir gehen als Erstes aufs Riesenrad, dann essen wir etwas zu Mittag – so was total Gesundes wie einen Hotdog –, und danach schauen wir mal, wie wir alles andere unterbringen. Na wie klingt das?«, fragte Leonard grinsend.