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Sonia Rocchi trauert. Ihr Ehemann Enzo erlag plötzlich seinem vernachlässigten Herzleiden. Auf der Suche nach dem Trost der Berge fährt Sonia mit ihrer Tochter Natalia in die gemeinsame Tessiner Ferienwohnung. Dort, im verschlafenen Dorf Corvesco, führt der ehemalige Privatdetektiv Elia Contini neuerdings ein gemächliches Leben als Lokalreporter, denn er hat seinen früheren Abenteuern als Ermittler den Rücken gekehrt. Contini ist also bequem geworden, doch Sonia stößt in Enzos Nachlass auf Recherchen über verdeckte Machenschaften im ruhigen Bergdorf. Welchem Verbrechen war Enzo auf der Spur, und warum scheinen alle Spuren zur Dorfbar »Tukan« zu führen? Die unangenehmen Fragen, die Sonia Rocchi stellt, treten eine Lawine an Ereignissen los. Auch Contini kann sich nicht länger heraushalten, als er eines Abends im Wald auf die komplett verstörte Natalia trifft.
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Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2025
Andrea Fazioli
Ein Fall für Elia Contini
Kriminalroman
Dörlemann
Motto
Erster Teil Suche
1 Du musst jetzt stark sein
2 Der Geruch von Gras
3 Kleine Chronik
4 Schlechte Nachrichten
5 Eine Nacht im Tukan
6 Warum sagst du nichts?
7 Wie ein Kind
8 1. August
9 Des Mondes Missgestalt
Zweiter Teil Flucht
1 Das Mädchen im Wald
2 Der Mörder
3 Eine Wildnis
4 Hunger
5 Wo kommst du denn her?
6 Die Familie Canova
7 Angehörige
8 Allein auf der Welt
9 Ein Mädchen aus der Stadt
Dritter Teil Schweigen
1 Eine Wand aus Eis
2 Das erste Wort
3 Die Katze ist ein Tier
4 Rosalba Savi
5 Unschuld
6 Eine öde Sitzung
7 Natalia schreibt
8 Frau Mankell
9 Kates Zweifel
10 Das Versteck
11 Das Gelb des Postautos
12 Ein altes Chanson
13 Der Sinn des Verzugs
14 Realitäten Vernehmungsprotokoll
15 Gesundheitszeugnis
16 Der erste Schultag
17 Die beste Kur
18 Während Natalia schlief
Vierter Teil Reden
1 Brief an niemanden
2 Um das Foto
3 Natalia schreibt weiter
4 Das Atmen des Felsens
5 Profis
6 Der Mann, der nicht da war
7 Der Kreis wird enger
8 Das richtige Wort
9 Eine kleine Erwachsene
Fünfter Teil Rätsel
1 Ich habe Polizist gespielt
2 Die Toten reden
3 Kates Glück
4 Eurosport
5 Unterschiedliche Typen
6 Ein schlaues Füchslein
7 Der verwirrte Detektiv
8 Einen Ruf zu wahren
9 Ich war hier
10 War das notwendig?
11 Geduld braucht es
12 Valnedo
13 Der schwer gefasste Entschluss
14 Zu spät
15 Ein anderes Leben
16 Es ist doch noch Sommer
17 Geschäftsessen
19 Locarno, gegen Abend
Über Andrea Fazioli
»Stille bedeutet nicht nur Abwesenheit des Redens, sie ist selber etwas: Sie ist eine innere Nähe, eine Tiefe und Fülle, Stille ist ein ruhiges Strömen verborgenen Lebens.«
Romano Guardini
Enzo starb vor dem Frühstück, beim Binden des Krawattenknotens. Der Kaffee war fertig, Sonia rief ihn zwei Mal, aber er gab keine Antwort. Sie fand ihn zusammengesackt vor dem Spiegel, in der Hand eine blaue Krawatte mit dünnen weißen Streifen. Normalerweise trank Enzo, sobald er angezogen war, stehend in der Küchentür einen Kaffee und verließ dann gleich das Haus.
Sonia rief sofort den Notarzt und versuchte ihren Mann zu retten. Enzo war nicht bei Bewusstsein, er atmete nicht, hatte keinen Puls. Einen Defibrillator hatten sie nicht im Haus, aber Sonia war Krankenschwester und beherrschte die Technik der Reanimation. Bei Herzstillstand hängt alles von den ersten Minuten ab: stay and play, wie die Amerikaner sagen, jede verlorene Sekunde kann verhängnisvoll sein. Zwar ist die Statistik ermutigend, aber die Experten auf diesem Gebiet wissen, dass jeder Fall anders ist. Tatsächlich war Enzo schon tot, als der Notarzt kam.
Später, als ein erster Verdacht in ihr keimte, fragte sich Sonia, ob Enzo wohl gespürt hatte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er war schließlich Arzt und konnte sich kaum etwas vormachen. Aber seinen Körper vernachlässigte er sträflich – tat, als gäbe es die Bypässe nicht, nahm seine Tabletten nur widerwillig, arbeitete viel zu viel. Außerdem war da etwas, das ihm, wie Sonia bald herausfand, schwer auf dem Herzen lag.
Das Schlimmste war der Anruf bei Natalia.
»Was ist denn, Mama?«
Eine leichte Ungeduld schwang in ihrem Tonfall mit. Wir haben doch erst gestern Abend telefoniert – wieso rufst du schon wieder an?
Sonia brachte es nicht über sich, mit der Tür ins Haus zu fallen. »Bist du in Genf oder …«
»Ich bin in Barbaras Wohnung. Warum?«
Natalia war für eine Woche in die französische Schweiz gefahren, um sich die Universitäten von Genf und Lausanne anzusehen. Zwar hatte sie noch ein ganzes Schuljahr vor sich und genügend Zeit, um zu entscheiden, wie es nach der Matura weitergehen sollte, doch war sie ein vorausplanender Charakter und ließ die Dinge nicht gern einfach auf sich zukommen. Sonia zögerte.
»Also weißt du, ich rufe an, weil … Es geht um Papa.«
»Ist was mit ihm?«
Natalias Ton hatte sich verändert. Sonia seufzte tief.
»Er ist … Papa ist …«
»Ist er verletzt? Tot?«
Sonia nickte. Erst währenddessen wurde ihr klar, dass Natalia sie ja nicht sehen konnte. Sie schluckte trocken und sagte: »Du musst jetzt stark sein.«
Warum flüchtet man sich in solche Gemeinplätze? Angesichts des Todes benimmt sich jeder wie ein Nebendarsteller in einem alten Melodram; das fiel ihr schon in den ersten Stunden auf. Karge Worte, in einem eindringlichen Tonfall gesprochen, als hätten sie eine tiefere Bedeutung. Gedrückte Hände, gesenkte Augen, unvollendete Sätze. Auch Sonia kam unwillkürlich den Erwartungen entgegen. Sie bedankte sich, versicherte, dass sie notfalls Hilfe annehmen werde, versprach Anrufe, die sie nicht machen würde.
Du musst jetzt stark sein. Sie hatte mit solchen Floskeln angefangen. Wie kam sie nur auf die Idee? In den ersten Stunden war der Schmerz keine heranrollende Welle, sondern eine Reihe von Erschütterungen. Minutenlang ging sie gedankenlos irgendeiner Tätigkeit nach und erstarrte jäh mitten in der Bewegung, wie unter einem Schlag: Enzo ist tot. Enzo ist tot, und ich muss ein Bestattungsunternehmen anrufen. Eigentlich hätte ich allmählich Hunger, aber Enzo ist tot. Muss ich seine Verwandten anrufen? Enzo ist tot.
Fünfundzwanzig Jahre waren sie verheiratet gewesen. Ein einziges Kind, eine Tochter, Natalia, im Dezember siebzehn geworden. Enzo Rocchi hatte mit seinem Kollegen Peter Mankell eine Gemeinschaftspraxis in Lugano. Sonia hatte als Krankenschwester gearbeitet, jetzt unterrichtete sie halbtags an der Schwesternschule. Viele Verwandte waren es nicht, die verständigt werden mussten: zwei Vettern in Bern und Enzos neunundachtzigjähriger Vater, der im Altersheim lebte. Sonia rief ihn nicht an, sondern fuhr hin, um ihm, in Anwesenheit eines Arztes, die Nachricht schonend beizubringen. Augusto Rocchi war geistig nicht mehr auf der Höhe, aber er begriff, was geschehen war. Er nahm es mit Würde auf, fast ohne ein Wort. Nur eine leichte Besorgnis schwang in seiner Stimme mit, als er Sonia fragte: »Und du? Und Natalia? Wie geht es euch?«
Die Familie Rocchi wohnte am Hang, oberhalb von Lugano, am Ende der Via Al Roccolo in Massagno. Ein paar Stunden nach Enzos Tod wollte Sonia nur allein sein, keine Kollegen sehen, keine Freundin. Das leere Haus war wie eine Zuflucht. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihr nie der Gedanke gekommen, wie wichtig Gegenstände sein können. Sie betrachtete die Sandalen ihres Mannes, seine Serviette, den Rasierschaum, einen Roman von Connelly, in dem auf Seite 46 ein Lesezeichen steckte. Jeder Gegenstand war wie ein Punkt, und wenn man sie alle miteinander verband – wie bei einem dieser Punktebilder aus der Rätselwoche –, kam Enzos Gestalt heraus, seine Gegenwart. Der Umriss seines Körpers im Sessel. Sein Mobiltelefon war noch ausgeschaltet: Niemand würde es je wieder einschalten, denn Sonia wusste die PIN nicht. Rufe ins Leere.
Jetzt reicht es aber, ermahnte sie sich, nicht pathetisch werden. Sie zwang sich zur Aktivität. Sie trat auf den Balkon hinaus und erledigte die anstehenden Telefonate, eines nach dem anderen, ohne sich eine Pause zu gönnen.
Es war ein schöner Junitag. Vom Balkon aus sah man bis hinunter zum See die Dächer von Lugano leuchten. Am Himmel zogen ein paar eilige Wolken herbei und wurden vom Wind gleich wieder vertrieben. Auf dem Wasser kreuzten sich die Bahnen der Motor- und Segelboote. Vor ein paar Jahren hatte sich Enzo zu einem Segelkurs eingeschrieben. Und ihn dann doch nicht angetreten, weil ihm die Zeit fehlte. Kurz darauf hatten die ersten Herzbeschwerden angefangen.
Peter Mankell, Enzos Kollege, wollte Einzelheiten wissen. Mit der nackten Tatsache gibt ein Arzt sich nie zufrieden. Sein Herz hat zu schlagen aufgehört, dachte Sonia. Welche Rolle spielen da das Abendessen vom Vortag und die körperliche Aktivität und die eingenommenen Medikamente?
»Seine Gesundheit war nie ein Thema für ihn.«
»Ja, das ist wahr.« Sonia registrierte die Vergangenheitsform. Es braucht nicht viel, um einen Tod zu bestätigen. »Enzo war ein bisschen stur. Weißt du ja.«
»Sag, soll ich vorbeikommen? Hättest du gern ein Beruhigungsmittel?«
»Nein danke. Aber ihr, was macht ihr – wie geht es denn mit der Praxis weiter? Kann ich was helfen?«
Peter lehnte dankend ab. Es sei jetzt nicht der richtige Augenblick, um an die Praxis zu denken. Sonia musste ihm beipflichten – sie wusste selbst nicht, weshalb sie überhaupt gefragt hatte. Vielleicht um irgendwas zu sagen oder um keine Verben in der Vergangenheitsform mehr benutzen zu müssen. Sie wollte sich nicht in der Vergangenheit verstecken, die imaginäre Linie, die ihr die von Enzo zurückgelassenen Gegenstände vorgaben, konnte sie nicht zeichnen. Die Zukunft verlangte zumindest konkrete Gesten. Bei Natalia sein, sich anziehen, essen, sich um die Beerdigung kümmern, allen danken, die halfen. Praktisches erledigen.
Sie rief ihren Rechtsanwalt an, Advokat Bossi.
»Sonia, ich bin wirklich … erschüttert. Wir haben uns gestern noch gesehen. Unvorstellbar.«
Sonia sagte nichts.
»Brauchst du was? Soll ich zu dir kommen?«
»Danke, vielleicht später.«
»Wir wollten in den nächsten Tagen mittags miteinander essen. Er hatte was zu besprechen, wollte meinen anwaltlichen Rat.«
Jetzt gibt es nichts mehr zu besprechen, dachte Sonia in dem Moment. Die Worte des Advokaten beeindruckten sie wenig.
»Bist du sicher, dass du allein sein willst? Natalia ist nicht da?«
»Alles in Ordnung. Aber du könntest mir vielleicht wirklich helfen.«
Sonia wusste nicht recht, was zu tun war. Ihre Eltern stammten aus der französischen Schweiz; als sie gestorben waren, hatte sich eine Großtante um alles Nötige gekümmert. Jetzt stand sie allein da. Wie verhält man sich, wenn jemand stirbt? Man muss es doch bekannt machen, oder? Ein Inserat aufgeben?
»Mach dir jetzt darum keine Gedanken, Sonia.«
Worüber soll ich mir denn sonst Gedanken machen?
»Also wenn du mir dabei helfen könntest, Corrado, wäre ich …«
»Aber selbstverständlich!«, rief Rechtsanwalt Bossi aus. »Gar keine Frage!«
In den folgenden Tagen stellte Sonia fest, dass alles fast wie von selbst lief, wie eine effiziente Maschine. Die Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens kamen ihr vor wie die Butler aus englischen Romanen. Sie wussten genau, wann es etwas zu sagen gab und wann sie besser schwiegen, nie unterlief ihnen eine unangebrachte Geste oder ein unpassendes Husten. Sonia befasste sich mit den schmerzlicheren Details: der Aufbahrung der Leiche, den Kleidungsstücken, dem Sarg. Sie wählte den Blumenschmuck für den Trauergottesdienst in der Kirche, die Musik für die Zeremonie in der Aussegnungshalle. Bob Dylan, »Knockin’ on Heaven’s Door«. Dann dachte sie darüber nach, was sie selbst tragen würde. Und Natalia. An die Anzeige in den drei Tessiner Tageszeitungen. Unser lieber Enzo. Die Ehefrau Sonia. Die Tochter Natalia.
Es waren aufreibende Tage. Der Schmerz überfiel sie unversehens, bei den alltäglichsten Verrichtungen. Oft ertappte sie sich dabei, wie sie Enzo etwas erzählen, einen Gedanken mit ihm teilen wollte. Sie wollte es sich nicht verbieten. Es war, als weigerte sich irgendetwas in ihr, sich dem Absurden zu fügen. Denn der Tod ist doch etwas Absurdes – das wurde ihr immer deutlicher bewusst, je näher die Beerdigung rückte.
Hin und wieder flüchtete sie sich in Objekte. Es war eine gefährliche Verlockung: Wenn sie Enzos Sachen berührte, konnte sie sich minutenlang vorgaukeln, er sei noch da. Aber sie konnte nicht anders – sie musste seinen Kleiderschrank öffnen, sich an seinen Schreibtisch setzen. Die alten Fotos ansehen. Sie fand Postkarten, Briefe, die sie einander vor vielen Jahren geschrieben hatten. Und sie fand, in einer Ärztezeitschrift steckend, eine Notiz von seiner Hand, bei der ihr Corrado Bossis Bemerkung wieder einfiel. Es waren nur drei Zeilen, hastig hingeworfen.
DRINGEND – aber wie dringend? Mit Corrado reden?
Sonia erzählen? Bestätigung abwarten!
Unbedingt morgen früh anrufen (mobil).
Wen anrufen, fragte sich Sonia und legte den Zettel vor sich auf den Schreibtisch. Am Telefon hatte Corrado ja schon angedeutet, dass es um irgendeine juristische Angelegenheit ging. Was hatte Enzo auf dem Herzen gehabt? Sonia hob den Blick zu dem Foto, das gerahmt über dem Schreibtisch an der Wand hing. Skiferien im Engadin. Enzo mit Rucksack neben dem Gipfelkreuz des Monte Basso, oberhalb von Corvesco. Wozu an unerledigte Angelegenheiten denken? Warum saß sie noch hier? Enzo war tot, und sie musste sich um Natalia kümmern. Um das Haus. Jetzt war nicht die Zeit für Liegengebliebenes.
Natalia hatte das Bedürfnis zu laufen. Sie marschierte die Promenade des Bastions auf und ab. Alles war in Bewegung – das Laub der Kastanien und Eichen, das Gras der Wiesen, die Kinder auf den Schachplätzen mit den riesigen Spielfiguren. Genf schien im Urlaub; es war, als blinzelte die Stadt träge in die Sommersonne. Natalia hingegen lief mit weit aufgerissenen Augen, sie lief und blieb dabei doch wie erstarrt. Am Abend hatte sie es eilig gehabt und nicht mit ihrem Vater telefonieren wollen. Jetzt war ihr Vater nicht mehr da. Erstarrt auch er.
Es ging ein leichter Wind. Wolkenfetzen zerfaserten am Himmel. Natalia bemühte sich, nicht zu lang in ihren Empfindungen, ihrem Gemütszustand zu verweilen. Wie wenn man die Hand einer Kerzenflamme nähert und sie ganz schnell zurückzieht, bevor sie die Haut ansengt. Aber die Flamme brennt, und wenn man es öfter probiert, zuckt die Hand irgendwann mal nicht schnell genug zurück.
Vor der Mauer des Bollwerks setzte sie sich in die Wiese.
Ringsum lagerten junge Leute im Gras, saßen im Schneidersitz oder hatten den Kopf an den Rucksack gelehnt. Manche lasen Zeitung, andere spielten Karten, wieder andere hörten über ihren iPod Musik. Am Ende der Grasfläche ragten, in die Mauer gemeißelt, vier Steinfiguren auf. Natalia musterte sie mit Abscheu. Vier mächtige steinerne Gestalten, von den Vögeln verunstaltet und ansonsten von niemandem beachtet. Sie waren wirklich erstarrt, diese Figuren, sie waren der Inbegriff der Erstarrung bis in alle Ewigkeit. Kein Blick für die bunten Klamotten, die Sonnenbrillen, die Schals.
Aber auch Natalia hatte keinen Blick dafür. Eine Zeit lang versuchte sie es mit Musik, bekam aber rasch genug davon; sie kontrollierte die Zeit auf ihrem Mobiltelefon. Sie beschloss, einen späteren Zug zu nehmen. Sie war einfach noch nicht so weit. Sie musste nachdenken, bevor sie ihre Mutter wiedersah, ihr Zimmer, die Straßen von Lugano. Bevor sie nach Hause zurückkehrte. Immer näher kamen ihre Gedanken der Kerzenflamme – und sie spürte den sengenden Schmerz in dem Moment, als sie glaubte, sie habe die Hand noch rechtzeitig zurückgezogen. Sie kehrte den vier steinernen Männern den Rücken und verließ den Parc des Bastions.
Barbara und Jenny hatten sich für halb zwölf auf der Place du Bourg-de-Four verabredet, und nachdem es nicht weit war, wollte sie zu ihnen stoßen. Vielleicht konnten die beiden sie überreden, nach Hause zu fahren.
Natalia war vor ihnen da. Sie setzte sich an einen Tisch im Freien und bestellte ein Frappé. Ringsum herrschte noch immer diese Ferienstimmung. Alles war leichter als sonst. Am Ende der abfallenden Straße sah sie die Wasserfontäne aus dem See schießen. Sie schien seltsam reglos, wie aus Glas. Um die Säule des Brunnens zu ihrer Linken wanden sich leuchtend bunte Blumenarrangements. Wie bei einem Dorffest.
Barbara und Jenny staunten nicht schlecht, sie zu sehen.
»Natalia! Bist du doch nicht gefahren?«
»Ich hab noch nicht gepackt.«
Barbara starrte sie sekundenlang an.
»Willst du nicht heim?«
Natalia hob die Schultern. »Ich weiß nicht.«
»Du musst aber heim, das weißt du.« Sie setzten sich zu ihr. »Deine Mutter braucht dich jetzt.«
Natalia nickte.
»Natalia.« Jenny legte ihr die Hand auf den Arm. »Barbara hat’s mir erzählt. Von deinem Vater.«
Natalia nickte wieder. Was erwarteten sie von ihr?
»Ist denn klar …«, begann Jenny und unterbrach sich. »Ich meine, wisst ihr schon, was passiert ist?«
»Herzstillstand«, erklärte Natalia. »Sein Herz war nicht gesund.«
»Ach.«
»Aber so schlimm war es nicht, ich meine, wir hätten nie gedacht …« Natalia brach ab. Sie wechselte das Thema. »Aber ihr, was habt ihr denn heute vor?«
»Oh, nichts, ich muss lernen«, sagte Jenny. »Ich habe noch eine letzte Prüfung vor mir, und das verdränge ich gelegentlich.«
»Morgen schleppe ich dich in die Bibliothek«, sagte Barbara.
Natalia lächelte, und die beiden Mädchen fühlten sich ermutigt, sie mit allerlei Geplauder abzulenken. Natalia ging bereitwillig darauf ein und zögerte den nächsten Blick auf die Uhr hinaus.
»Trinken wir noch ein Frappé?«
Rechts vor ihnen stand der Justizpalast. Über dem Portal wehte die Schweizer Fahne, und auf einem Schild stand Police. Aber es wirkte seltsam unecht, fast spielerisch: Vor dem Eingang standen zwei winzige Autos, Smarts mit bunten Seitentüren und der gleichen Aufschrift Police, und sahen aus, als wären sie zur Zierde hier aufgestellt.
»Jedenfalls hätte er’s doch gemerkt, wenn sich Camilla einen Schubs gegeben hätte.«
»Tja, die andere war eben schneller.«
»Ja, gut für sie, denn wenn sie gewartet hätte, bis Paolo einen Finger rührt …«
Ich muss nach Hause, dachte Natalia. Die Ferien sind vorbei. An den Häusern standen die Fenster weit offen, in der Ferne rauschte die Fontäne, und zwischen den Cafétischchen eilten die Kellner hin und her. Es war alles in Bewegung. Natalia konnte nicht länger warten. Sie musste nach Hause, zu ihrer Mutter, die Lampen im leeren Haus einschalten.
Die Hand an die Kerze halten.
Sie hatte noch immer einen starken Bewegungsdrang. Sie verschwieg ihrer Mutter die Ankunftszeit des Zugs und ging vom Bahnhof aus zu Fuß, durch die Via San Gottardo, von der sie rechts in die Via Praccio einbog. Als sie zum Vorort Massagno hinaufstieg, leuchteten ihr aus den Gärten blau die Swimmingpools entgegen, und auf den Terrassen standen aufgespannte Sonnenschirme.
Die Abendsonne warf längere Schatten über die Wiesen. Natalia schwitzte. Auf die Anstrengung konzentriert, zerrte sie ihren Koffer hinter sich her und heftete den Blick auf die nächste Straßenbiegung.
Zwei oder drei Kurven vor ihrem Elternhaus lag ein unbebautes, von einer Hecke eingefasstes Grundstück. Natalia blieb davor stehen und begrüßte den Gärtner, der, wie sie aus seinem Lieferwagen, dem Rasenmäher daneben, dem frischen Grashaufen in einer Ecke des Grundstücks schloss, die Wiese gemäht hatte. Der Gärtner holte Säcke von der Ladefläche seines Wagens. Natalia roch das frisch gemähte Gras. Es war ein Sommergeruch, der tief in die Nase eindrang und verschwommene Erinnerungen weckte.
Mein Vater wird nie mehr frisch gemähtes Gras riechen, schoss es Natalia durch den Kopf.
Es war eine blitzartige Erkenntnis. In Sekundenschnelle fiel der Schmerz sie an und verließ sie nicht mehr. In den folgenden Stunden nahm er verschiedene Gestalten an, trat in unterschiedlicher Schärfe auf. Manchmal brach sie aus heiterem Himmel in Tränen aus, oder sie verschanzte sich hinter eisernem Schweigen. Aber sie war nicht mehr konfus, sie hatte keine Angst mehr vor ihren Gefühlen. Tags darauf, während der Vorbereitungen für die Beerdigung, war sie der Situation gewachsen.
Ihre Mutter, das spürte sie, beobachtete sie. Aber sie sagte nichts, sie suchte nicht die Einsamkeit. Im Gegenteil, sie redete ihrer Mutter zu, ins Restaurant essen zu gehen, die Verwandten in Bern anzurufen, Papas Kollegen zu empfangen, die sie besuchen wollten.
Das Händeschütteln erledigte Natalia ohne ein Zögern. Und sie fand gleich den richtigen Ton, um die Kondolenzen am offenen Grab entgegenzunehmen. Es waren immer die gleichen Formeln, manchmal gefolgt von einer Umarmung, einem Kuss auf die Wange. Viele weinten. Natalia schluckte ihre Tränen hinunter, mehrmals; jetzt war nicht der Moment, um zusammenzubrechen. Ein paar Mal musste sie unwillkürlich sogar lächeln. Zum Beispiel, als in der Aussegnungshalle nicht gleich die richtige Musik kam und statt »Knockin’ on Heaven’s Door« die ersten Takte von »Forever Young« einsetzten. Oder als der Großvater zu ihr sagte: »Diese ganzen Leute möchte ich auch auf meiner Beerdigung.«
Es bestand kein Anlass zur Heiterkeit, aber Natalia war sicher, dass ihr Vater der Erste gewesen wäre, der die humoristische Seite an einer Trauerfeier gesucht und gefunden hätte. Er hatte eine Schwäche für schwarzen Humor; in einträchtiger Begeisterung hatten er und Natalia sämtliche Filme von Quentin Tarantino gesehen. Auch die Leidenschaft für die klassische Musik hatte sie von ihrem Vater. Einmal waren sie miteinander nach Mailand gefahren und hatten an der Scala laTraviata gehört, sie im langen Kleid und er im dunklen Anzug. Natalia dachte an Violetta und deren Schmerz, der ihr übertrieben schien, sentimental. In der Oper wird geweint, man zerreißt sich die Kleider vor Gram, und im wahren Leben kommt es sogar vor, dass man lächelt. Aber es tut darum nicht weniger weh.
Während der nächsten Tage bemühte sich Natalia, nicht gegen die Ferien zu kämpfen. Es war schließlich Sommer, sie konnte nicht den ganzen Tag im Zimmer sitzen. Aber sie hatte auch keine Lust, zum See hinunterzugehen oder ihre Freundinnen zu treffen. Bis eines Abends ihre Mutter mit einem überraschenden Vorschlag kam.
»Wie wär’s, wenn wir übers Wochenende in die Berge fahren?«
Früher war Papa derjenige gewesen, den es in die Berge zog; immer wieder hatte er sie beide in das Ferienhaus in Corvesco verschleppt. Die Mama hatte eigentlich gar nichts übrig für enge Horizonte, sie liebte das Meer.
»Ist das dein Ernst?«
»Der Garten ist bestimmt ganz verwildert, und im Haus müsste mal wieder aufgeräumt werden.«
Natalia sah sie verblüfft an. Sie war nicht sicher, ob es die beste Lösung war, in die Berge zu fliehen und Unkraut zu jäten, aber sie hatte auch keine Alternative.
»Na gut … hier hab ich sowieso nichts zu tun.«
Sonia fragte sich, ob Natalia einen Verdacht hatte. Aber ihre Tochter schien sehr mit sich beschäftigt. An diesem Abend las sie, schon im Bett, noch einmal den Brief, den sie zwischen Enzos Papieren gefunden hatte.
Lieber Doktor,
ich weiß nicht, ob es richtig ist, was ich tue, aber du hast schon recht, wenn du sagst, dass Schweigen alles immer nur schlimmer macht. Ich habe Fotos von Vicky gemacht, bevor man sie fortgeschickt hat. Und ich habe auch meine Papiere, die echten – nicht den falschen Ausweis, den ich bei meiner Ankunft in der Schweiz bekam. Und ich habe die Adressen der Mädchen, die gleichzeitig mit Vicky hier waren. Ich traue weder dem Mobiltelefon noch dem Mail und schreibe dir deshalb – hoffentlich ist es die richtige Adresse.
Kate
Auf dem Umschlag stand eine handschriftliche Notiz von Enzo: Namen der Mädchen nachprüfen. Sonia hatte keine Ahnung, was sich dahinter verbarg, aber sie war beunruhigt. Was hatte Enzo ihr verheimlicht? War er illegalen Machenschaften auf die Spur gekommen? Aber was war es, worum ging es?
Nachdem sie hier keine weiteren Anhaltspunkte gefunden hatte, war ihr die Idee mit dem Ferienhaus in Corvesco gekommen: Vielleicht fand sich ja dort ein Hinweis.
Und wenn nicht, verbrachte sie zumindest ein paar ruhige Tage mit Natalia. Fernab vom Chaos der Stadt, von den Beileidsbesuchen der Freunde und Kollegen, den endlos langen Junitagen in Lugano. Vielleicht wäre ihr dort in den Bergen die Stille ausnahmsweise willkommen. Vielleicht fände sie heraus, womit sich Enzo beschäftigt hatte, bevor er gestorben war.
»Der Jahrgang 1949 trifft sich, wie jeden Sommer, zum gemeinsamen Abendessen.« Gut, dachte Elia Contini, aber ein paar Details braucht es schon. »Treffpunkt auf dem Parkplatz gegenüber der Schule für Handwerk und Gewerbe von Bellinzona, und es wird gebeten, die nötige Ausrüstung für eine kurze Wanderung mitzubringen.«
Contini nickte zustimmend, übertrug die Angaben und stand auf. Er trat ans Fenster und blickte auf die Piazza Indipendenza hinaus. Wie das letzte Relikt einer untergegangenen Zivilisation ragte der Obelisk aus der Mitte des Platzes. Es war elf Uhr abends und die Stadt menschenleer – die Jugend von Bellinzona hängt nicht auf den großen Plätzen ab, sondern verzieht sich in die versteckten Innenhöfe oder die Bars der Via Codeborgo. Contini war allein in der Redaktion und hatte nicht viel anderes zu tun, als die Stellung zu halten und die Mitteilungen für die »Kleine Chronik« zu verfassen.
Seit ein paar Monaten war er jetzt bei der Zeitung. Eingestellt worden war er als Fotograf, dann war er in die Schlussredaktion gewechselt. Mit der Zeit hatte man ihm den einen oder anderen Artikel für den Lokalteil, die Todesanzeigen, die Redaktion der Service-Nachrichten anvertraut. Als junger Mann hatte Contini zwei Ausbildungen begonnen – erst zum Fotografen, dann zum Polizisten – und nicht abgeschlossen und danach bei etlichen Zeitungen gearbeitet. Eine Zeit lang hatte er sich als Privatdetektiv versucht und auch einigermaßen damit durchgeschlagen, aber als er auf die vierzig zuging, war er die Sache leid geworden.
Und so war er jetzt hier gelandet und füllte die Spalte »Tipps und Veranstaltungshinweise« mit einer Anzeige der Philatelisten-Vereinigung von Giubiasco, die Zeit und Ort der Vorstandssitzung bekannt machte, mit den Gewinnzahlen einer Lotteria Pro Restauri in Riviera, der Ankündigung eines Country-Grillabends im Bleniotal, mit Hinweisen auf Flohmärkte, Konferenzen, Dorffeste und bestens für Ansturm gerüstete Bars. Eine Arbeit, die ihm im Großen und Ganzen nicht missfiel. Sie ließ ihm viel freie Zeit, für sich, für Spaziergänge im Wald, Unternehmungen mit Francesca.
Ja, Francesca.
Ein wunder Punkt. Sie waren jetzt schon etliche Jahre zusammen, und sie wurde allmählich ungeduldig. Aber was erwartete sie von ihm – wollte sie zu ihm nach Corvesco ziehen? Gemeinsam auswandern? Heiraten womöglich? Contini wagte nicht zu fragen. Er hatte immer allein gelebt, in seinen Bergen; schon der Gedanke an Veränderung war ihm zuwider. Aber Francesca war zunehmend unruhig, und Contini wiederum mied das Thema wie der Teufel das Weihwasser.
Er zündete sich die letzte Zigarette des Tages an.
Er genoss diese einsamen Abende, wenn er mit der Spätschicht an der Reihe war. Der Verlagsort der Zeitung war Lugano; er saß in der Redaktion Bellinzona und Valli, und mit der Chefetage verkehrte er, wenn überhaupt, telefonisch. Spätabends war meist nicht viel zu tun, es sei denn, es war ein Unfall passiert, oder der Gemeinderat tagte. An diesem Abend schwieg das Telefon zum Glück, und Contini rauchte seine Zigarette unbehelligt.
Die Redaktion befand sich im Flügel eines mächtigen alten Wohnhauses, und der Raum, in dem er saß, wuchs unter den Schichten von Papieren, die sich in der Tiefe der Jahre verloren, nach und nach zu. Aus dem Archiv, dessen Fassungsvermögen begrenzt war, quollen Pressemitteilungen, lokale Publikationen, nicht abgelegte Korrespondenz, ausgeschnittene Artikel, alte Ausgaben der Zeitung – das Papier nahm die Schreibtische, den Fußboden, den Kühlschrank, sogar das Klo in Besitz. Contini fühlte sich in dem Durcheinander wohl, während sein Ressortleiter regelmäßige Anläufe zur Eindämmung des Chaos unternahm. Es war ein Kampf gegen Windmühlen.
Um elf Uhr abends jedoch war der Chef schon seit drei Stunden zu Hause. Contini ging zum Kühlschrank, holte sich eine Flasche Bier und kehrte an den Schreibtisch zurück. Das Bier in der Hand, legte er die Füße auf ein Regalbrett und nahm sich den Stoß Korrekturbögen vor, der auf ihn wartete. Er begann zu lesen.
Die Todesanzeigen waren bemerkenswert frei von Druckfehlern. Gute Arbeit. Sauber, präzise, jedes Wort, wo es hingehörte. Er las die Danksagung von Sonia und Natalia Rocchi an alle Trauergäste, die so zahlreich zur Beerdigung ihres lieben Enzo erschienen waren. Contini stutzte. Der Name kam ihm bekannt vor.
Er fuhr den Computer noch einmal hoch, ging ins Internet und öffnete seinen Posteingang – seinen privaten, nicht den der Redaktion. Nachdem er E-Mails so gut wie nie löschte, hatte er bald gefunden, wonach er suchte:
Sehr geehrter Herr Contini,
vielleicht erinnern Sie sich an mich: Wir sind uns in Corvesco schon mal über den Weg gelaufen, wo ich ein Haus besitze. Heute wende ich mich allerdings in einer geschäftlichen Angelegenheit an Sie, denn ich muss die Dienste eines Privatermittlers in Anspruch nehmen, und dabei dachte ich an Sie. Es handelt sich um eine recht delikate Angelegenheit. Wäre es möglich, dass wir uns treffen und die Sache unter vier Augen besprechen?
Mit bestem Dank und herzlichen Grüßen,
Enzo Rocchi
Contini sah nach, was er geantwortet hatte: Es war seine Standardabsage, die er in allen solchen Fällen erteilte. Vorbei ist vorbei.
Sehr geehrter Herr Rocchi,
leider kann ich nichts für Sie tun. Ich habe die Detektivarbeit an den Nagel gehängt und arbeite jetzt bei einer Zeitung.
Mit herzlichem Gruß,
Elia Contini
Und nun war Enzo Rocchi tot. Contini ließ den Blick durch den Raum schweifen und fragte sich, ob diese Anfrage in irgendeinem Zusammenhang mit seinem Tod stand. Wahrscheinlich nicht. Menschen sterben aus den unterschiedlichsten Anlässen, aber praktisch nie aus mysteriösen Gründen. Und vor allem sind Privatdetektive weit entfernt von mysteriösen Fällen. Sicher hatte Rocchi jemanden gesucht, der seine Frau beschattete, und sich an ihn gewandt, weil er ihn aus Corvesco kannte. Contini hatte jedoch Arbeit und Privatleben immer streng voneinander getrennt. Sein Detektivbüro war in Paradiso gewesen, direkt am Ufer des Luganer Sees und im Getümmel der Stadt. Corvesco war kein Ort für Anrüchiges.
Contini schätzte die Ruhe, die er an seinem neuen Arbeitsplatz hatte. An diesem Juliabend aber erwachte der Anflug einer Neugier in ihm, und er fragte sich, welche Geschichte sich wohl hinter diesen Allerweltsnamen zwischen Allerweltsanzeigen verbarg. Er schob seine Korrekturbögen von sich, schaltete die Lampe aus und saß eine Weile reglos am Schreibtisch, auf den der Lichtschein einer Straßenlaterne fiel.
Im matten Licht konnte er gerade noch die fett gedruckten Titel entziffern – der kleine gedruckte Textteil, die Bildunterschriften waren nicht mehr zu lesen. Er dachte an die kleinen Unglücksfälle, Einweihungen, entlaufenen Tiere, verirrten Touristen … vielleicht waren diese Meldungen gar nicht so harmlos, wie sie schienen. Vielleicht hatte jede eine eigene Geschichte zu erzählen – der arme Enzo Rocchi, der seine Frau hatte beschatten lassen wollen, ebenso wie der Buchclub von Faido, dessen Mitglieder sich an jedem ersten Dienstag im Monat trafen.
Alles könnte eine Geschichte sein. Hinter allem könnte sich ein Geheimnis verbergen.
Hätte können.
Denn Elia Contini ging das nichts mehr an. Er knipste die Lampe an, leerte sein Bier. Dann zog er den Ausdruck wieder zu sich her. Die Leserbriefe waren noch nicht Korrektur gelesen.
Peter Mankell wunderte sich über nichts mehr, einem Arzt ist nichts Menschliches fremd. Auf den Tod reagiert jeder anders und meistens nicht so, wie die Mitmenschen es erwarten. Sonia Rocchi hatte offenbar das dringende Bedürfnis, alles, was ihrem Mann gehört hatte, zu sehen und anzufassen, jeden einzelnen Gegenstand. Auf Mankell machte sie einen leicht zwanghaften Eindruck, als er sie wie besessen in Enzos Sachen wühlen sah.
»Ich fürchte, du irrst dich«, sagte er. »Enzo hätte doch nie geheime Unterlagen hier aufbewahrt. Hier wird gearbeitet.«
»Ja, vielleicht hast du recht.«
Mankell war klein und blond, trug die Haare zurückgekämmt und eine randlose Brille. Wie er so neben Sonia stand, die sich über Enzos Schreibtisch beugte, wirkte er wie ein halbwüchsiges Kind, das einem Erwachsenen über die Schulter späht.
»Also, Sonia, ich will mich ja nicht einmischen …«
»Du findest, ich spinne, oder?«
»Nein, ich …«
»Enzo hatte irgendwas auf dem Herzen. Irgendein Problem, das an ihm genagt hat.«
»Hat er das gesagt?«
Sonia gab keine Antwort, und Mankell schloss daraus, dass sie im Trüben fischte. Sie hatte wohl Briefe und Zettel gefunden, aber offenbar hatte sich Enzo niemandem anvertraut. Sicher hatte er es vorgehabt … Oder handelte es sich nur um eine von der Phantasie ins Gigantische aufgeblähte Lappalie? Mankell meinte Sonias Gedanken lesen zu können.
»Ich fürchte, ich vergeude deine Zeit«, sagte sie.
»Aber nein. Es ist nur …«
»Was ist das denn?«
Mankell betrachtete den Stoß Papiere, den sie ihm hinhielt.
»Briefe von Patienten. Enzo hat sie alle aufgehoben, er druckte sogar die Mails aus.«
»Beschwerdebriefe?«
»Nein, nein … Alles Mögliche. Anfragen, auch Dankesbezeugungen.«
»Kann ich sie mitnehmen?«
»Natürlich. Allerdings …«
»Danke. Hast du einen Umschlag?«
Mankell reichte ihr einen. Dann wandte er sich ab und trat ans Fenster. Die Gemeinschaftspraxis, die er sich mit Enzo geteilt hatte, bestand aus sechs Räumen in der vierten Etage eines Hauses im Zentrum von Lugano. Vom Büro aus sah man den Verkehr auf dem Corso Elvezia. Im Juli war wenig los, dennoch bildeten sich an den Ampeln kleine Schlangen. Mankell wartete die nächste Grünphase ab, ehe er sich wieder umdrehte. Er wollte nicht insistieren – Sonia hätte sich nur umso fester in ihre fixe Idee verbissen.
»Wie geht’s Natalia?«
»Sie hat natürlich ziemliche Stimmungsschwankungen. Manchmal sperrt sie sich in ihr Zimmer ein und ist untröstlich, und Stunden später ist sie mit Freunden unterwegs.«
»Ist doch gut, dass sie ihr Leben lebt. Wart ihr in den Bergen?«
»Ja. Am Wochenende fahren wir noch mal hin. Da hab ich Zeit, diese ganzen Sachen hier zu lesen.«
»Sicher.« Mankell seufzte. »Sicher. Hast du mit Natalia darüber gesprochen?«
»Ich möchte sie lieber raushalten …«
Raushalten?, dachte Mankell, aus was denn raushalten? Sonia weiß nicht, was sie sagt. Er betrachtete sie, wie sie vor Enzos Schreibtisch kniete. Mit ihren Locken, die das schmale Gesicht mit den weichen Zügen umrahmten, wirkte sie jünger, als sie war. Ihre grauen Augen hatten etwas Resolutes.
»Möchtest du vielleicht einen Kaffee?«, fragte er.
Sie war so vertieft in Enzos Korrespondenz, dass sie ihn nicht hörte. Mankell räusperte sich. Er nahm seine Brille ab, putzte mit einem Hemdzipfel die Gläser und wiederholte die Frage.
Luciano Savi genoss den Augenblick der Ruhe, bevor der abendliche Rummel anfing. Um vier Uhr nachmittags hatte er die Räume des Tukan ganz für sich. Vor ein paar Stunden war er aufgestanden, hatte geduscht und ein Panino verspeist. Jetzt stand er mit nacktem Oberkörper oben auf der kleinen Treppe, die seine Privaträume vom Lokal trennte, und blickte auf sein Reich, das ihm zu Füßen lag. Aus dem Halbdunkel funkelte das stählerne Gestänge der Barhocker.
Er stieg die Stufen hinunter und umrundete die Theke mit schwerem Schritt. Er fühlte eine gewisse Müdigkeit auf sich lasten. Vielleicht hatte er wirklich ein paar Kilo zu viel auf den Rippen. Er nahm eine Flasche Talisker herunter und schenkte sich eine ordentliche Portion ein. Normalerweise trank er ja nicht vor fünf, weil er Alkohol am Nachmittag nicht gut vertrug. Aber die schlechten Nachrichten, die ihn an diesem Tag ereilt hatten, ertränkte er lieber gleich.
Sie hatten schon versucht, ihm das Tukan wegzunehmen, sein Lokal. Mehrfach sogar. Aber Savi ließ sich nicht unterkriegen, von niemandem. Natürlich hatte er Kompromisse machen und sich mit den richtigen Leuten anfreunden müssen, um es dahin zu bringen, wo er jetzt stand. Unterwegs hatte er sich den einen oder anderen Feind gemacht, das ließ sich nicht vermeiden, und wenn dieser Doktor Rocchi mit den falschen Leuten geredet hätte …
Lieber gar nicht dran denken.
Was für eine Erleichterung, als Rocchi den Löffel abgegeben hatte. Aber jetzt war tatsächlich die Ehefrau in seine Fußstapfen getreten und hatte angefangen, im Kehricht zu wühlen. Warum hatten es alle auf ihn abgesehen? Weil er den Leuten auf die Nerven ging, darum. Weil er einer war, der aus der Reihe tanzte, einer, der sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hatte.
Er leerte sein Glas auf einen Zug und wischte sich die schweißnasse Stirn. Heiß war es. Er schaltete die Klimaanlage ein. Dann ging er ins Bad und trimmte seinen Bart, der den großen Stilwillen seines Besitzers verriet: Zu einem üppigen Schnurrbart gesellte sich ein dünnes, schmales Kinnbärtchen, und das Ensemble ergänzten die Koteletten, die seine Wangen diagonal durchschnitten.
Er zog sich ein T-Shirt mit dem Tukan, dem Logo des Lokals, über den Kopf, öffnete weit die Eingangstür und blinzelte in die grelle Sonne. Über kurz oder lang würde er sich auch der Frau des Doktors annehmen müssen, und zwar eigenhändig. Alle reißen nur immer das Maul auf, aber wenn es wirklich drauf ankommt, muss man die Sache selbst in die Hand nehmen. Wie damals, als sich die Gemeinde Arbedo-Castione über das Tukan beschwert hatte. Es war nur ein lästiges Gemunkel hinter seinem Rücken, natürlich – keine schweren Geschütze. Und es gab Proteste wegen der Frauen, wegen Drogen, wegen der Schlägereien. Dabei war Savi der Erste, der bei Raufereien eingriff, der Erste, der die Ruhe wiederherstellte!
Seine Überlegungen wurden von einem der Mädchen unterbrochen, das drüben im ersten Stock auf den Balkon trat. Savi, die Augen mit einer Hand beschirmt, blickte zu ihr hinauf. Das Mädchen gähnte.
»Was ist?«, fragte er.
»Nichts«, sagte sie überrumpelt. »Ich … Guten Morgen, wie geht’s Ihnen?«
»Hör mal …«, begann Savi, überlegte es sich aber anders. »Na, mach schon, zieh dich an.«
Er wollte ihr sagen, dass sie nicht in aller Öffentlichkeit wie ein Seehund gähnen sollte.
Aber wozu? Es hätte sie nicht interessiert. Gutes Benehmen ist heutzutage ja ein Fremdwort.
Savi kehrte ins heimelige Halbdunkel des Tukan zurück und schloss die Tür hinter sich.
Der Monte Ceneri ist gerade mal 554 Meter hoch. Für das Tessin aber ist er ein bedeutender Gebirgspass: Er teilt den Kanton in den nördlichen Teil Sopraceneri und das südliche Sottoceneri, zwei geographische Einheiten »ober-« und »unterhalb des Ceneri«, zwar nur halboffizielle Bezeichnungen, im Bewusstsein der Menschen aber sehr präsent. In Corvesco zum Beispiel, einem kleinen Dorf oberhalb des Ceneri, werden die Sommerfrischler aus Lugano bestenfalls toleriert, aber sicher nicht mit offenen Armen empfangen.
Die Rocchis waren da eine Ausnahme. Enzos Vater hatte eine Zeit lang hier gearbeitet, und im Lauf der Zeit hatten sich die Einheimischen an die Familie gewöhnt. Die Rocchis hatten ihr Haus an der Straße, die vom Tal herauf bis in den Dorfkern führt, ein modernes Gebäude mit riesigen Fenstern, Wänden aus Holz und einer granitgepflasterten Terrasse. Natürlich besaß es nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Berghütte. Linker Hand führte die Straße vorbei, rechts war ein Wald aus Buchen und Haselsträuchern.
Natalia verbrachte die Tage im Liegestuhl in der Sonne. Auf dem Dachboden hatte sie eine Kiste mit alten Krimis entdeckt, die meisten aus den siebziger Jahren, und verschlang einen nach dem anderen. Es war wie ein zeitweiliger Stromausfall, der das Gewaber ihrer Gedanken vorübergehend stoppte. Wenn sie ins Lesen vertieft war, dachte sie nicht an ihren Vater, stellte sich weder Vergangenheit noch Zukunft vor. In diesen Krimis war selbst der Tod ein mondänes Gesellschaftsspiel.
»Natalia, darf ich kurz stören?«
Sie blickte auf. Ihre Mutter stand vor ihr und trug zu weißen Shorts ein kariertes Hemd, das Papa gehört hatte. Sie wirkte ein wenig angespannt. In der Hand hielt sie einen Stoß Papiere, und sie setzte sich ans untere Ende des Liegestuhls.
»Weißt du, ich finde, wir sollten über diese Sache mit den Mädchen reden.«
Natalia verdrehte die Augen und stöhnte.
»Ja, ich weiß, du findest das nicht, aber Papa hätte gewollt, dass …«
»Woher willst du wissen, was er gewollt hätte?«
»Hör dir an, was er auf die Rückseite eines Fotos von diesem Savi geschrieben hat. Seiner Meinung nach …«
»Ich will’s nicht wissen.«
» … handelt es sich um ein schmutziges Geschäft, Frauenhandel womöglich. Hier steht: ›Wie viele Mädchen sind eingetroffen? Wo sind die Fotos?‹ Er suchte nach Beweisen, verstehst du?«
»Lass es.«
»Natürlich interessiert er sich für den medizinischen Aspekt: ›Wie viele Untersuchungen im letzten Jahr?‹ Und hier: ›Umfang der Verletzungen (überprüfen).‹ Anscheinend ist eines der Mädchen zu ihm in die Praxis gekommen. Oder …«
»Mama, hörst du mir überhaupt zu?«
»Was? Wenn er erfahren hatte …«
»Mama!«
»Ja, entschuldige.«
Natalia starrte ihre Mutter an. »Du willst Papa auf die eine Art in Erinnerung behalten und ich auf eine andere«, sagte sie. »Verstehst du das? Ich schaff es einfach nicht, in seinen Sachen zu wühlen, nach Hinweisen zu suchen, um rauszufinden, womit er sich beschäftigt hat, seine … seine Hemden anzuziehen!«
Sonia senkte den Blick und hob ihn wieder, als sei ihr das Hemd erst jetzt zu Bewusstsein gekommen. Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung und schloss ihn wieder. Natalia hatte recht. Sie war erst siebzehn, man konnte sie nicht wie eine Erwachsene behandeln.
»Weißt du, ich bin gern hier in den Bergen«, sagte Natalia jetzt. »Und ich denke auch oft an Papa. Warum fragst du mich nicht, ob wir spazieren gehen oder zu Pepito etwas trinken? Du willst immer nur in Papas Sachen graben …«
»Okay.«
»Wie lang soll das noch so gehen?«
Sonia stand auf. Es war nicht Natalias Schuld. Sie konnte es nicht verstehen.
»Du hast recht. Ich kläre noch kurz was, und dann kümmere ich mich um dich.«
»Kümmern musst du dich ganz bestimmt nicht!«
»Ich meine, dann unternehmen wir was zusammen. Aber zuerst will ich diesen Savi treffen. Weißt du, Corrado hat vielleicht recht. Ich habe ihm keine Einzelheiten genannt, nur die Sache als solche erwähnt, und er meint, ich soll die Finger davon lassen. Er ist Anwalt, er weiß, wovon er spricht, aber aus den Unterlagen geht hervor …«
»Mama …«
»Schon gut, schon gut. Jedenfalls mache ich nur noch einen Termin mit Savi, und danach …«
Sonia, die ein angriffslustiges Funkeln im Blick ihrer Tochter wahrgenommen hatte, verstummte. Mit einem Klaps auf Natalias Bein wandte sie sich ab und ging auf das Haus zu. Unter der Tür drehte sie sich noch einmal zu Natalia um. Eine braun gebrannte, magere Gestalt mit schwarzer Lockenmähne um den Kopf. Lange Beine. Sie wird einmal eine schöne Frau, dachte sie. Das leicht eckige Gesicht und die blauen Augen hatte sie von Enzo. Sie hatte den gleichen Dickkopf wie er und den gleichen angespannten Ausdruck, wenn sie sich konzentrierte oder wenn sie sich ärgerte. Lassen wir sie erwachsen werden, dachte sie, an die Fenstertür gelehnt.
Drinnen war es kühler. Sonia hatte die Briefe, Notizen und Dokumente, die sie bei ihrem Mann gefunden hatte, auf dem Küchentisch ausgebreitet. Wie es aussah, besaß Enzo zwar noch nicht genügend Beweise, um Anzeige zu erstatten, doch was er gesammelt hatte, reichte aus, um ordentlich Staub aufzuwirbeln.
Schweizerische Eidgenossenschaft
Confédération Suisse
Confederazione Svizzera
Confederaziun svizra
A 7 Aufenthaltsgesuch für ausländische Artisten, Tänzerinnen und Discjockeys
(im Rahmen des den Begrenzungsmaßnahmen nicht unterstellten Aufenthaltes, gemäß Erläuterungen auf der Rückseite)
Der Arbeitgeber bestätigt, dass ein von ihm unterzubringender Künstler einen gesunden, heizbaren Schlafraum mit Tageslicht erhält und die hygienischen und sanitären Einrichtungen den zeitgemäßen Anforderungen genügen (fließendes Kalt- und Warmwasser, Bade- oder Duschgelegenheit). Er verpflichtet sich, diese Ansprüche dem Künstler vertraglich zuzusichern.
Familienname, Vorname(n) des Künstlers: VALINSKIVIKTORIA
Unterschrift des Arbeitgebers: Luciano Savi
Auf der Rückseite des amtlichen Formulars stand eine Anmerkung von Enzo:
Die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung hinsichtlich der Identität und der Eignung für Nachtarbeit müssen für wenigstens fünf Jahre aufbewahrt werden.
Corrado fragen!!
Gesetz? → Art. 73 Abs. 1 lit. i und Abs. 2OLL1 // Praxis?
Überweisungen auf Savis Konto nachprüfen – unmöglich –Erpressung? – Hilferuf?
Im selben Bündel fand sich ein weiteres Dokument:
Sektion Bewilligungen und Einbürgerungen, Bellinzona
Gesuch Niederlassungsbewilligung (C) oder Gesuch Aufenthaltsbewilligung ohne Erwerbstätigkeit, Kurzaufenthalt zum Zweck einer Heilbehandlung, eines Studiums, bis zur Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit, Unterbringung bei ........., Pflegschaft/Adoption etc. für die nachfolgend genannten Bewilligungen vom Typ (B) (Ci) (F) (L) (N)
Ausländer/in (Personalien)
Familienname, Vorname: VALINSKIVIKTORIA
Grund und Zweck des Aufenthaltes: KURZFRISTIGERAUFENTHALT/STUDIUM
Es bedurfte keines besonderen Spürsinns, um zu erkennen, dass hier etwas faul war. Diese Viktoria Valinski wurde erst als »Künstlerin« engagiert und beantragte dann eine dreimonatige Aufenthaltsbewilligung »zu Studienzwecken«. In einer Plastikmappe fand Sonia ein aus einem Schulheft herausgerissenes Blatt mit einer Namensliste und beigelegt unscharfe Fotos von einem übel zugerichteten Mädchen und einem schummrig beleuchteten Zimmer.
Ferner fand sie auf verschiedene Namen ausgestellte Ausweispapiere, auf denen von einem »Sprachaufenthalt« die Rede war und die Ausweisinhaberin sich verpflichtete, »ihre Ankunft in der Schweiz innert acht Tagen nach der Einreise dem Kanton zu melden, in dem sie sich niederlässt«. Mit Büroklammern waren diverse Bescheinigungen – über Sprachkenntnisse, Angehörige beziehungsweise Vormunde, den Gesundheitszustand – angeheftet. In einem Umschlag steckten zwei Anträge auf »Erteilung einer zeitweiligen Arbeitserlaubnis«.
Wie das alles zusammenhing, war Sonia noch nicht ganz klar, aber fest stand jedenfalls, dass mit Luciano Savis Lokal etwas nicht stimmte. Mädchenhandel? Gesundheitsgefährdung? Ausbeutung Minderjähriger? Zuhälterei? Sonia zügelte ihre galoppierende Phantasie. Vielleicht war Enzo einfach ein verwaltungsrechtlicher Verfahrensfehler aufgefallen – schließlich stand nirgendwo ein anklagendes Wort. Sicher war allerdings, dass Enzo die Absicht gehabt hatte, die Betroffenen zur Rede zu stellen.
Aber er konnte es nicht mehr, dachte Sonia. Also muss ich es machen.
Viele der Namen, die in diesen Unterlagen auftauchten, waren ihr bekannt. Der eine oder andere war eine Überraschung: Das waren Personen, denen sie den Verkehr in Nachtklubs nie zugetraut hätte. Sie musste sehr vorsichtig sein, damit sie nicht völlig Unbeteiligte in den Schmutz zog.
Sie ging zum Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Eistee ein. Dann nahm sie sich, bewaffnet mit einem Notizblock, noch einmal die gesamte Dokumentation vor, die ihr Mann zusammengetragen hatte. Wenn sie die Fakten übersichtlich aufschrieb, zeigte sich ja vielleicht, was da im Tukan vor sich ging und vor allem wer wirklich involviert war.
In einer Ecke stand eine Jukebox.
Natürlich funktionierte sie nicht. Aber sie war ein Original, ein Sammlerstück, eine Wurlitzer Modell 800 Bubble Lite, die Savi von einem alten Kunden übernommen hatte. Noch vor dem Umzug nach Castione. Früher befand sich das Tukan in Melano, im Sottoceneri, aber nach einem Streit mit der Firma, die ihm Grundstück und Gebäude vermietete, hatte sich Savi nach einem neuen Geschäftslokal umsehen müssen.
Die Jukebox war mit umgezogen, und jetzt war sie eine von unten beleuchtete chromblitzende Zierde seines Ladens. Die Mitte des Lokals bildete eine runde Tanzfläche, auf der einige Paare zugange waren. Neben dem Tresen befand sich eine kleine Bühne mit geschlossenem Vorhang, und ringsum scharten sich, mit Geländern abgetrennt, kleine erhöhte Inseln mit Tischchen und Stühlen. Die höchste war die »VIP-Zone« direkt neben Savis Privatbereich.
»Gestatten?«
Ein dunkelhäutiges Mädchen hatte den Vorhang vor Savis Separee beiseitegeschoben und spähte herein. Savi blickte mit gerunzelter Stirn auf.
»Kate«, sagte er. »Setz dich. Ich muss mit dir reden.«
Das Mädchen steckte in einem hautengen Body, der ihren Busen wider die Schwerkraft emporquetschte, und trug schwindelerregende Bleistiftabsätze und ein Handtäschchen, das gerade groß genug für einen Lippenstift und ein Mobiltelefon war. Unter schweren Lidern blitzten zwei schwarze wachsame Augen hervor. Das Mädchen bewegte sich träge, neigte den Kopf nie mehr als nötig.
»Ist irgendwas?«
Savis Daumen flog tippend über die Tasten seines Mobiltelefons, und er sprach mit ihr, ohne aufzublicken. »Setz dich«, forderte er sie auf. »Ist dir ein gewisser Enzo Rocchi bekannt?«
»Enzo wie?«
»Seit wann kennst du ihn?«
»Ich …«
»Kate.«
»Mann, ich treffe hier jede Menge Leute! Wie soll ich noch wissen, wer …«
»Kate, du hast diesen Arzt, diesen Rocchi, getroffen. Was weiß ich, was du dir dabei gedacht hast. Was hast du ihm erzählt?«
»Aber es ist wahr, Signor Savi, ich schwöre dir, dass ich mich nicht erinnere! Wie sieht er aus, der Mann?«
Savi schob sein Telefon von sich und stand auf. Er legte Kate beide Hände auf die Schultern und zwang sie, den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Hinter dem Vorhang seines Separees wogte die Geräuschkulisse des Tukan – Ambient-Musik aus den Boxen, Gläserklirren, hier und dort Gelächter.
»Jemand hat dich auf merkwürdige Ideen gebracht, und ich weiß nicht, wer und wozu. Habe ich dich etwa nicht immer gut behandelt?«
»Ich weiß nicht, was …«
»Antworte! Habe ich dich gut behandelt oder nicht?«
»Doch, ja.«
»Aber jetzt sind die fetten Jahre vorbei. Jetzt gehst du nach Hause zurück.«
»Wie bitte? Wieso denn? Was habe ich …«
»Pst.«
Savi beugte sich vor, bis sein Mund Kates Lippen streifte, wich dann aus und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Pst«, wiederholte er. »Kein Wort zu irgendwem. Darum kümmere ich mich alleine.«
Mit der Hand an ihrem Ellenbogen nötigte er sie zum Aufstehen und führte sie ins Lokal hinaus. Von den farbigen Scheinwerfern abwechselnd ausgeleuchtet und ausgeblendet, durchquerte Kate den Saal. Sie wirkte leicht desorientiert. Sie stieg die Stufen zur Bühne hinauf und verschwand hinter dem Vorhang.
Savi betrachtete eine Weile sein Lokal.
Das Tukan by night. Ein Ort, an dem das Amüsement noch einen gewissen Stil hatte. Selbstverständlich wurde nicht jeder eingelassen. Hunde und Schweine hatten keinen Zutritt – schließlich galt es einen Ruf zu wahren. Für eine Nacht im Tukan musste man ein ganzer Kerl sein, einer, der das Beste will und sich’s was kosten lässt. Das Tukan by night. Ein Mordsspaß.
Aber es gab Neider. Kleingeister, die Savi anschwärzten, weil er hart gearbeitet und seine Träume verwirklicht hatte. Savi zog sich in sein Separee zurück und schenkte sich ein Glas Champagner ein. Vor Weibergetratsche musste er sich nicht fürchten.
Morgen würde er diese Rocchi aufsuchen und ihr klarmachen, wohin sie sich das angebliche Belastungsmaterial ihrer Nervensäge von Ehemann stecken konnte. Wenn nicht im Guten, dann im Bösen. Diese Arztgattin hatte ihn tatsächlich um einen Termin gebeten, wollte mit ihm reden: nicht nur, um ihn anzuschmieren, sondern um ihn womöglich noch zur Schnecke zu machen und sich nachher mit ihren Freundinnen im Tennisklub das Maul zu zerreißen. So etwas war mit Savi natürlich nicht zu machen. Savi war der Chef des Tukan.
Das Tukan by night. Kein Ort für Memmen.
Huhn. Wurst. Knoblauch und Zwiebeln, ein bisschen Safran. Garnelen. Beim ersten Mal hatten sie die Zutaten auf gut Glück zusammengestellt – in den Topf kam, was die Speisekammer hergab. Dann war eine Tradition daraus geworden. Jetzt war die »Notfallpaella« ein Indikator für die Etappen ihrer Beziehung. Und gegebenenfalls auch der Seismograph ihrer Krisen.
»Arbeitest du morgen?«, fragte Francesca.
»Ja.«
»Obwohl erster August ist?«
»Dafür habe ich übermorgen frei.«
Continis Haus war ein solider Bau mit dicken, weiß verputzten Mauern und grünen Fensterläden. Es stand ein Stück oberhalb des Dorfes und hatte eine Veranda, von der aus man auf die Lichter von Corvesco blickte.
»Und du«, fragte Contini, »was machst du morgen Abend?«
»Ach, weiß noch nicht. Ich glaube, ich bleibe in Locarno.«
Ab und zu zerriss ein Knall die Stille. Es war der Abend vor dem Nationalfeiertag, und anscheinend war jemand jetzt schon so aufgeregt, dass er es nicht mehr erwarten konnte. Am nächsten Tag sollte auf einer Wiese knapp außerhalb des Dorfs ein riesiger Scheiterhaufen brennen.
»Morgen gibt’s ein Feuerwerk«, sagte Contini. »Hoffentlich verschrecken sie mir nicht die Füchse.«
»Hoffentlich.«
»Neulich ist es mir tatsächlich gelungen, eine Füchsin beim Baden zu fotografieren. Hast du gewusst, dass diese alte Geschichte von den Flöhen stimmt?«
»Was für eine Geschichte?«
»Ja, ich wollte schon lang wissen, was es damit auf sich hat. Die Legende besagt nämlich, dass der Fuchs seine Flöhe loswird, indem er mit einem Stück Moos oder einem Zweig oder ein paar dürren Grashalmen im Maul ins Wasser steigt …«
Contini pflegte seit seiner Kindheit die Füchse in den Wäldern rings ums Haus zu beobachten. Er fotografierte sie, und die besten Bilder klebte er in Alben mit festem Einband und dem Aufkleber Fuchsfotos. »Also«, erklärte er Francesca, »der Fuchs nimmt ein Stückchen Moos ins Maul und geht ins Wasser, ganz langsam, sodass die Flöhe in seinem Pelz Zeit haben, sich auf seinen Kopf zu flüchten. Dann lässt er das Moos los und taucht unter, die Flöhe springen auf das schwimmende Moos – und der Fuchs schwimmt unter Wasser davon. Die Flöhe bleiben auf ihrem Floß zurück. – Das hab ich jetzt mit eigenen Augen gesehen, stell dir vor. Zum ersten Mal in Jahrzehnten.«
Francesca schenkte sich einen Schluck Wein nach.
»Willst du die Fotos sehen?«
»Vielleicht später.«
Francesca trank ihren Wein. Sie aßen schweigend.
Contini war kein brillanter Unterhalter, aber das war nie ein Problem zwischen ihnen gewesen. Francesca war um einiges jünger, sie hatte Literaturwissenschaften studiert und unterrichtete jetzt als Vertretungslehrerin an einem Gymnasium. Sie liebte Bücher, Ausstellungen, Reisen. Aber sie war auch gern in Corvesco, trank gern ein Bier auf der Veranda.
»Ein schöner Abend heute, oder?«
»Hm.«
Sie schwiegen.
Bald blieb Contini nichts anderes übrig, als zu fragen: »Ist irgendwas?«
»Was glaubst du?«
Mit ihren langen dunklen Haaren, den braunen Augen und der sonnengebräunten Haut war Francesca im Halbdunkel der Veranda kaum zu erkennen. Sie hatten ein paar Kerzen angezündet, im Haus brannte kein Licht. Contini suchte ihren Blick, sagte aber nichts.
»Warum sagst du nichts?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ist irgendwas?«
»Du wiederholst dich.«
»Ich weiß.«
Sie schwiegen.
»Ich finde, es kann so nicht weitergehen. Das ist.«
»Wie weitergehen?«
»Früher warst du Detektiv. Na gut, und ich hab studiert und in Mailand gewohnt. Schon das war eine irgendwie absurde Situation. Aber jetzt hast du eine feste Stelle, ich mache meine Vertretungen, wir leben beide im Tessin. Sollen wir uns weiter nur so ab und zu in der Freizeit treffen? Hast du nicht Lust auf was anderes … ich weiß nicht, auf was Ernsteres? Ein Projekt?«
»Ich mag keine Projekte.«
»Du magst keine Projekte?«
Ein Seufzen war zu hören. Ein gelbes Feuerband zog einen Bogen über den Himmel und explodierte in einem Funkenschauer. Contini schüttelte den Kopf.
»Warum vergeuden sie sie schon einen Tag früher …?«
»Willst du das Thema wechseln?«
»Nein, ich find’s nur absurd.«
»Was?«
»Der erste August ist morgen. Wenn man sich schon eine Rakete kauft, warum wartet man dann nicht auf …«
Contini sah Francescas Gesichtsausdruck und verstummte.
»Ich meine es ernst«, sagte sie. »Ich will wissen, ob du irgendeine Vorstellung von uns hast und was du denkst, wie es mit uns weitergehen soll und wie wir überhaupt unsere Beziehung angehen sollen.«
Contini sagte nichts.
»Und?«
»Eine Beziehung geht man doch nicht an.«
»Was soll das heißen?«
»Geht’s uns nicht gut so? Wir sitzen hier zusammen, essen unsere Paella und trinken einen Merlot. Was vermisst du?«
Francesca stand auf.
»Ist das dein Ernst?«
Contini zuckte die Achseln.
»Gut.« Francesca legte ihre Serviette auf den Tisch. »Dann lass ich dich jetzt nachdenken.«
»Wo willst du hin?«
»Heim. Wenn du irgendwann genauere Vorstellungen hast, kannst du mich ja anrufen.«
»Aber hör mal, wir haben doch noch gar nicht fertig …«
»Also ciao.«
» … gegessen. Wieso willst du schon weg?«
»Hab ich dir grad erklärt.«
Francesca drehte sich um, stieg die Verandastufen hinunter und ging auf den Parkplatz zu, auf dem sie, fünfzig Meter weiter, ihr Auto abgestellt hatte. Wortlos, vor seinem Teller »Notfallpaella« sitzend, sah er sie davongehen.
Lange blieb er still sitzen. Irgendwann zündete er sich eine Zigarette an. Trank seinen Wein aus. Unten im Dorf explodierte hin und wieder ein Knallfrosch. Der graue Kater sauste den Weg herauf und suchte Zuflucht unter dem Tisch. Was ist, Kater, bist du ein Nationalfeiertagsfeind? Der Kater zuckte mit dem Schwanz. Ich weiß nicht, Contini, mich nervt der Krach, ich will in erster Linie meine Ruhe haben. Und du?
Ich? Tja. Was suche ich, dachte Contini, was will ich?
Zu komplizierte Frage für den Moment. Außerdem schätzen Katzen keine Fragen. Contini beugte sich zu dem Kater hinunter und strich ihm über den Kopf, dann stand er auf und ging ins Haus. Minuten später kam er mit dunkler Kleidung und seiner Kamera wieder heraus und steuerte auf den Wald zu.
Nach ein paar Metern zwischen Büschen und Haselnusssträuchern gelangte er auf den Pfad, folgte ihm eine Weile und bog dann erneut ab, um eine Böschung hinaufzuklettern. Er durchquerte ein Buchengehölz und stieg zum Tresalti ab. Jenseits des Wildbachs, das wusste er, gab es ein ausgedehntes Brombeer- und Himbeergestrüpp, und es kam häufig vor, dass sich ein Fuchs bis dorthin wagte, um Beeren zu fressen. Für die Brombeeren war es noch ein bisschen früh, aber die Himbeeren waren schön dick und reif.
Er suchte sich ein Versteck am Ufer des Tresalti, setzte sich bequem hin und schaltete seine Digitalkamera ein. Im Mondlicht bildete der Wald einen schwarzen Hintergrund, vor dem ein windbewegtes Geschnörkel aus Zweigen und Blättern hin und her wogte. Contini, an die Dunkelheit gewöhnt, machte sich auf längeres Warten gefasst.
Warum ist die Schweiz eine Nation?