Verschwundene Seelen - Annika Meyer - E-Book

Verschwundene Seelen E-Book

Annika Meyer

3,8

Beschreibung

Alina und weitere sechs Jugendliche gehören zum engeren Kreis der Auserwählten. Sie sollen das Buch des Lebens, das »Zauberbuch«, vor der Vernichtung durch die Schattenmenschen retten. Dazu sind die Auserwählten mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet. Im Kampf um das Gute haben sie es jedoch mit einem übermächtigen und verschlagenen Feind zu tun, der mit aller Brutalität vorgeht. Werden die sieben diese Schlacht letztendlich für sich entscheiden und die Schattenmenschen zurückdrängen können? Der Preis ist hoch, den die Auserwählten für ihre Berufung zu zahlen haben: Solange sie sich in ihrer Parallelwelt bewegen, verlieren Freunde, Verwandte und Kameraden in der »normalen« Welt jegliche Erinnerung an sie. Die Auserwählten sind dann die »verschwundenen Seelen«.

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Annika Meyer

Verschwundene Seelen

Die Vergessenen der Wirklichkeit

Fantasy-Jugendroman

Fabulus-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.© 2016 by Annika MeyerAlle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darfin irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oderein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigungdes Verlages reproduziert oder unter Verwendungelektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigtoder verbreitet werden.Lektorat: Elmar Klupsch, StuttgartUmschlaggestaltung:Gestaltungsbüro Röger & Röttenbacher GbR, LeonbergHerstellung: Fabulus-Verlag, FellbachSatz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, LemfördeISBN 978-3-944788-24-1Besuchen Sie uns im Internet unter:www.fabulus-verlag.de

Inhalt

CoverTitelImpressumWidmung1. KAPITEL2. KAPITEL3. KAPITEL4. KAPITEL5. KAPITEL6. KAPITEL7. KAPITEL8. KAPITEL9. KAPITEL10. KAPITEL11. KAPITEL12. KAPITEL13. KAPITEL14. KAPITEL15. KAPITEL16. KAPITEL17. KAPITEL18. KAPITEL19. KAPITEL20. KAPITEL21. KAPITEL22. KAPITEL23. KAPITEL24. KAPITEL25. KAPITEL26. KAPITEL27. KAPITEL28. KAPITEL29. KAPITEL30. KAPITEL

IGewidmet ist dieses Buch allen Menschen, die ihre Hoffnungen auf ein perfektes Leben schon aufgegeben haben. Kopf hoch, das Leben geht weiter, und Hoffnungen sind unendlich.IIIm Unsichtbaren liegt die Liebe der Erwählten.

1. KAPITEL

»Okay, also nachher bei dir?«, sagte Alina ins Telefon.

»Jap«, antwortete Mario.

»Okay, ich muss jetzt aufhören, sonst bau ich noch einen Unfall.« Alina saß auf ihrem verrosteten gelben Fahrrad, eine Hand am Lenker, eine mit dem Telefon am Ohr. Sie versuchte, den Straßenschäden auszuweichen und zudem das Gleichgewicht zu halten. Außerdem hing der Gurt ihrer Schultasche gefährlich nah am Reifen und kam diesem in jeder Kurve ein Stück näher.

»Oh, oh, da hör ich mal lieber auf, bevor wir uns nachher im Krankenhaus wiedersehen.« Alina spürte, wie Mario bei diesem Satz grinste, und auch sie musste lächeln. Sie legte auf und steckte das Handy in die Jackentasche.

Das Radfahren ging sofort viel besser, und sie konnte sich auf ihre Umgebung konzentrieren. Am Ende der Straße lag der Wald. Dort war das Haus, in dem sie mit ihrem Vater und Bruder wohnte. Ihre Mutter hatte die Familie verlassen, und Alina konnte sich an sie nicht mehr erinnern. Ihr Vater hatte gemeint, zwei Kinder seien ihr einfach zu viel gewesen.

Als sie am Ende der Straße angekommen war, ging sie durch das Holztor in den Garten. Rechts und links vom Weg zur Haustür wuchsen rote Rosen. Sie stellte ihr Fahrrad ab, schloss die Haustür auf und ging hinein. Im Esszimmer saßen ihr Bruder und ihr Vater schon am Tisch und aßen gemütlich Nudeln.

»Ich ess nachher bei Mario, okay?«, sagte Alina im Vorbeigehen und blieb auf der ersten Treppenstufe stehen, um auf die Antwort zu warten.

»Klar. Du kannst ihn aber auch fragen, ob er bei uns essen will«, sagte ihr Vater und schob sich genüsslich einen Löffel voll Nudeln mit roter Soße in den Mund.

»Ja, ja, mach ich.«

Sie ging mit ihrer Schultasche nach oben in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Es war 17.27 Uhr. Sie hatte sich mit Mario auf sechs verabredet. Was sollte sie in der halben Stunde machen? Wie jedes Mal beschloss sie, in den Wald zu gehen.

Ihr Ziel war ihr Lieblingsplatz: eine Lichtung ziemlich abseits vom Weg mit zwei Bäumen, zwischen die man eine Hängematte spannen konnte. Der Boden war bedeckt mit bunten Wildblumen.

Alina stellte sich mitten in die Blumenwiese, reckte den Kopf empor, schloss die Augen und ließ sich die Strahlen der Sonne ins Gesicht scheinen. Sie spürte den leichten, lauwarmen Wind, der ihre Wangen und Hände streifte. Und sie fing an, sich im Kreis zu drehen. Immer schneller und schneller. Bis sie sich schließlich in die weichen Blumen fallen ließ. Sie waren wie eine Decke, auf der sie lag. Sie liebte dieses Gefühl.

Der Wind strich ihr über Nase und Lippen, über Bauch und Füße. Sie lauschte. Es klang wundervoll, wie der Wind die Blätter hoch in den Bäumen zum Rascheln brachte. Sie sah, wie sich ein Vogel in die Lüfte schwang, und hörte seinen Flügelschlag. Das Laub auf dem Boden ließ sich vom Wind wiegen. Sie spürte, wie die Sonne jede einzelne Pore ihres Körpers aufwärmte und ihr Energie gab.

Das Gefühl, dort zu liegen, war überwältigend. Doch jeder noch so schöne Moment wird bekanntlich irgendwann unterbrochen. Ihr Handy vibrierte und riss Alina aus ihren Träumen. Langsam kehrte sie aus der gerade noch so schönen Welt in die richtige zurück. Sie schaute, wer sie unterbrochen hatte. Es war Mario.

Hallo?! Ich dachte, du wolltest noch kommen?! Oder hast du jetzt doch einen Unfall gebaut, und ich muss dich im Krankenhaus besuchen?, schrieb er.

Sie schaute auf die Uhr. Es war 18.30 Uhr.

Uuuuuuuuups. Sorry, ich komm gleich. Hab die Zeit vergessen, schrieb sie zurück.

Sie stand auf, rannte aus dem Wald zurück nach Hause, schnappte sich ihr Fahrrad und radelte los. Mario wohnte nur zwei Straßen entfernt. Alina radelte wie ein Weltmeister und war ganz außer Atem, als sie ankam.

»Na, hast du Hunger?«, fragte eine Stimme von der Haustür aus, vor der Alina angehalten hatte.

»Und wie!«, antwortete Alina. Sie strahlte Mario an, und er grinste zurück. Seine umwerfend himmelblauen Augen funkelten in der gerade untergehenden Sonne. Alina ging auf ihn zu und umarmte ihn zur Begrüßung. Dabei spürte sie seine riesigen Hände auf dem Rücken. Sie drückte ihren Kopf in seinen blauen Pulli und atmete seinen unwiderstehlich guten Geruch ein. Sie konnte nicht genau sagen, wonach er roch, doch er roch nach Sicherheit.

Alina hörte, wie er ihr ein »Hi« ins Ohr flüsterte, und als sie ihn losließ, vermisste sie sofort seine starke Hand im Rücken. Nachdem sie die Eingangstür hinter sich geschlossen hatte, stürmte Marie, Marios kleine Schwester, Alina entgegen. Sie umklammerte mit ihren Ärmchen Alinas Hals und ließ sie nicht mehr los. Sie war drei Jahre alt, und für Marie war Alina wie eine große Schwester.

»Hallo, meine Kleine«, sagte Alina und versuchte vergeblich, sich aus Maries Klammergriff zu befreien. Nach einer Weile gab sie es schließlich auf, nahm Marie etwas bequemer auf den Arm und ging hinter Mario in die Küche.

»Hallo, Alina. Wir haben uns schon Sorgen gemacht, wo du bleibst«, sagte eine etwas rundlichere, kleine Frau vom Waschbecken aus. Sie drehte sich zu Alina um und strich die Hände an ihrer verdreckten Küchenschürze ab.

»Tut mir leid, aber ich hab die Zeit vergessen«, sagte Alina zu Marios Mutter. Diese nickte nur, deutete auf die Teller und machte sie so darauf aufmerksam, dass der Tisch noch gedeckt werden musste.

Bei Marios Familie fühlte Alina sich wie zu Hause. Alinas Vater und Marios Eltern kannten sich schon ewig und unternahmen viel zusammen. Marios Mutter behandelte Alina wie eine eigene Tochter. Sie war immer zum Reden da und half ihr beim Lernen. Sie ging mit ihr shoppen und feierte mit ihr Geburtstag. Alina war sehr froh, sie zu haben.

Alina nahm die bereitgestellten Teller und ging mit der kleinen Marie auf dem Arm ins Esszimmer. Dort stellte sie die Teller auf den Tisch, während Marie sie über ihre neue Puppe informierte. Sie tat so, als hörte sie Marie zu, doch sie bekam nur ein paar Stichworte mit. Als der Tisch fertig gedeckt war, konnte Alina sich endlich von Marie befreien und setzte sie auf den Stuhl neben sich.

»Und ihr lernt nachher zusammen?«, fragte Marios siebenjährige Schwester Sophie, die gegenüber von Alina und Mario saß. Sie war ziemlich neugierig, was mitunter echt nervend sein konnte.

»Ja, so ist es«, sagte Mario und versuchte, Sophies forschenden Blick nachzumachen. Dabei konnte sich Alina ein Grinsen nicht verkneifen. Mario sah das und grinste zurück. Sophie bekam natürlich alles mit und streckte ihnen die Zunge raus. »Bäääääh, Blödis!«

Mario öffnete lachend die Deckel der Töpfe, die seine Mutter gerade auf den Tisch gestellt hatte. Alinas Magen knurrte vor Hunger hörbar. Als sie den Reis und die vielen Soßen sah, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Gerade als sie sich gegenseitig Essen aufschöpften, gesellte sich Marios Vater zu ihnen. Er war ein großer, breitschultriger Mann, dem Mario ziemlich ähnelte.

»Na, Alina, du auch schon wieder hier?«

Das war so ziemlich immer die erste Frage, die er ihr stellte, und beide machten sich schon einen kleinen Spaß daraus.

»Ja, stell dir vor.« Sie lächelte ihn an, und er hielt mit einem Strahlen seiner perfekt weißen Zähne dagegen. Dann erzählte er von seinem Tag in der Arbeit, und Alina schaufelte sich tellerweise Essen in den Mund. Der Rest der Mahlzeit verlief sehr lustig, wie fast immer. Marios Vater war sehr unterhaltsam, und wenn auch noch Sophie und Marie, die zu allem immer ihren Senf dazugeben mussten, dabei waren, war ein Abend mit viel Grinsen und Lachen vorprogrammiert.

Nachdem Alina und Mario noch beim Abdecken des Tischs und beim Abspülen geholfen hatten, gingen sie hoch in Marios Zimmer. Kaum waren sie dort, zog Mario auch schon sein Mathebuch heraus.

»Ich hasse Mathe«, sagte Alina und ließ sich auf Marios blau bezogenes Bett sinken. »Wieso müssen Lehrer uns das antun? Sie meinen, Klassenarbeiten sind nicht genug, und deshalb brummen sie uns noch Tests auf. Das ist doch wohl das letzte.« Sie ließ sich gegen die Wand sinken, und Mario setzte sich neben sie. Das Buch legte er ihr auf die Beine.

»Erstens kennst du unseren Lehrer, und zweitens ist Wahrscheinlichkeitsrechnung doch nicht so schlimm. Es hat sogar einen Sinn …«

»… und trotzdem verstehe ich sie nicht.«

Mario lachte wieder, und Alina tat extra beleidigt. Nach einer Weile versuchte sie sich auf die Zahlen im Buch zu konzentrieren. Mario war in Mathe wirklich ein Ass. Alina wusste zwar nicht, wie er es machte, doch er verstand in Mathe einfach alles. Kein Wunder, dass das sein Lieblingsfach war.

Als Alina nach ungefähr drei Stunden fast alles verstanden hatte, waren beide so erschöpft, dass ihnen die Augen vom Lesen wehtaten und sie beide Kopfschmerzen hatten. Alina hätte bei Mario übernachten können, doch sie ging heute lieber nach Hause. Dort schleppte sie sich die Treppe hinauf und ließ sich in ihrem Zimmer wie ein nasser Sack aufs Bett fallen. Sie kämpfte sich noch aus den Schuhen und schlief kurz darauf angezogen ein.

Sie sah sich auf einer Wiese wieder, die ihrer Lieblingswiese im Wald zum Verwechseln ähnlich war. Genau in der Mitte saß eine wunderschöne Frau auf dem Boden, die sehr langes braunes Haar hatte und ein langes Kleid trug, das alle zwei Sekunden die Farbe wechselte. Als Alina einen Blick in ihre Augen erhaschte, sah sie, dass ihre Augen wie das Kleid in kurzen Zeitintervallen die Farben änderte. Es waren drei Farben: erdiges Braun, dunkles Blau und ein sehr grelles Orange, das in den Augen wehtat. Alina bemerkte jedoch auch, dass die Augen zwei Sekunden farblos waren.

Sie schaute auf die Hände der Frau, die ganz zart – wie der Wind im Wald – über eine Stelle am Boden strichen. Als die Frau ihre Hände wegnahm, sah Alina, was sie gestreichelt hatte. Es war eine Blume mit vielen großen Blütenblättern, die sich nach innen schlossen.

Alina mochte diese Blume, sie war etwas Besonderes. Sie hatte den Drang, diese Blume zu berühren und in die Hand zu nehmen. Beim Näherkommen bemerkte sie aber, dass die Blume keinen Stiel hatte. Es war nur eine Blüte, die in der Luft schwebte und deren Spitzen brannten. Genau in dem grellen Orange, das auch die wunderschöne Frau in ihren Augen hatte. Die Blütenblätter standen in Wasser, und man konnte fast schon den Ozean plätschern hören.

Dazwischen war die Blüte eine ganz normale pinkfarbene Blüte. Diese faszinierte Alina so sehr, dass sie einfach nicht den Blick von ihr abwenden konnte. Der Wunsch, sie zu berühren, war stark bei ihr.

Doch da merkte sie, dass sie auf der Wiese nicht mehr allein war, sondern noch andere Menschen dort waren. Jeder von ihnen stand bei einer wunderschönen Frau. Insgesamt sieben Frauen und sieben Menschen. Alina ließ ihren Blick umherschweifen, bis er schließlich wieder bei der Frau landete, die vor ihr saß. Sie deutete auf die Blüte.

»Nimm sie«, sagte die Frau mit samtweicher Stimme, die von einer anderen Welt zu kommen schien. Alina wollte die Blüte nehmen, wusste aber nicht wie. Die Blüte sah sehr zerbrechlich aus, und Alina wollte sie nicht zerstören. Sie ging in die Hocke, und ihre Hand glitt unter die Blüte, wo der Stiel hätte sein sollen. Dann drückte Alina sie nach oben und stand auf. Sie konnte es kaum glauben, die Blüte schwebte über ihrer Hand. Die Frau neben ihr lächelte ihr freundlich und stolz zu.

»Gut gemacht. Jetzt noch einen Schritt«, meinte sie. Alina hatte keine Ahnung, was die Frau damit meinte. Sie war so gebannt von der Blüte, dass sie der Frau kaum zuhörte. Sie wollte die Blüte auf jeden Fall anfassen. Doch was passierte, wenn Alina die Blüte vom Wasser her berührte? Würde sie auslaufen wie eine geplatzte Wasserbombe? Sie wollte die Blüte aber auch nicht oben beim Feuer berühren, da sie Angst hatte, sich zu verbrennen. Instinktiv wusste sie aber auch, dass sie sich dabei nicht verletzen würde.

Schließlich entschied sie sich für den pinkfarbenen Teil der Blüte. Als sie diesen berührte, spürte sie ein angenehmes Kribbeln durch ihren Finger laufen. Von dort aus in die Hand, den Arm hoch, bis zum Herzen. Am liebsten wollte Alina die Blüte nie mehr loslassen. Sie sah, wie das Pink der Blüte sich auf dem Blütenblatt immer mehr verteilte und schließlich das Feuer und das Wasser verschluckte.

Die wunderschöne Frau neben ihr lächelte sie an und deutete auf den Boden. Damit wollte sie ihr wahrscheinlich sagen, die Blüte auf den Boden zu setzen, was Alina auch tat. Als die Blüte den Boden berührte, schrumpfte sie augenblicklich auf die Größe eines Gänseblümchens zusammen. Alina war perplex und schaute die kleine Blume an. Sie stach immer noch aufgrund ihrer leuchtenden Farbe aus der Blumenwiese hervor.

Als Alina den Blick endlich von ihr abwandte, war sie allein auf der Wiese. Sie drehte sich um und wollte noch einmal die Frau sehen. Da kam ein starker Wind auf, der ihr die Haare zerzauste und an den Kleidern zerrte. Alina kniete sich nieder, um nicht umzufallen, und stützte sich auf ihre Hände. Doch ein kräftiger Windstoß wirbelte sie herum, bis sie auf dem Rücken lag. Dann sah Alina die Frau noch einmal, dieses Mal am Himmel.

Bevor sie aufwachte, hörte sie die Frau noch flüstern: »Suche sie, finde sie, und du wirst alles erfahren …«

2. KAPITEL

Alina wachte voll Energie auf. Sie wusste noch in allen Einzelheiten, was passiert war, so, als hätte sie den Traum wirklich erlebt. Sie schaute auf die Uhr. Kurz vor sechs. Es hatte keinen Sinn, noch einmal einzuschlafen, da heute Schule war. Sie stand auf und ging ins Badezimmer. Als sie in den Spiegel schaute, erstarrte sie. Ihre braunen Haare, die ihr etwa zehn Zentimeter über die Schultern hingen und gewellt waren, waren perfekt frisiert und gekämmt. Die vorderen Strähnen waren nach hinten geflochten und mit einem Haargummi zusammengebunden.

Normalerweise waren ihre Haare morgens nach dem Aufwachen voll strubbelig. Doch jetzt lagen sie akkurat an, und die Wellen waren wie mit dem Lockenstab perfekt drapiert. Außerdem bemerkte Alina, dass ihre hellgrünen Augen geschminkt waren. Schlicht, aber dennoch herausstechend. Ihr Mund war mit einer Schicht Lipgloss überzogen. Sie trug kein Make-up, das spürte sie sofort. Doch ihre Haut war samtweich und hatte keinen einzigen Pickel. Alina sah nicht nur großartig aus, sondern sie roch auch unglaublich gut. Nach Blumen.

Nachdem sie den Blick endlich von sich selbst hatte abwenden können, putzte sie sich die Zähne, holte ihre Schultasche und ging die Treppe hinunter. Leon, ihr Bruder, stand schon in der Küche und machte sich Frühstück. Als er sie sah, ließ er den Teller in seiner Hand beinahe fallen. Fassungslos und mit offenem Mund starrte er seine Schwester an.

»Hab ich irgendetwas verpasst?«, fragte er benommen.

»Nö, wie kommst du da drauf?«, meinte Alina. Sie konnte ihn echt nicht verstehen, aber das konnte sie fast nie.

»Äh, hast du dich heute schon mal im Spiegel angeschaut, oder hast du das Bad nicht gefunden, aber es trotzdem hinbekommen, dich fertig zu machen und dann gar nicht bemerkt …«

»Was laberst du?« Sie schaute ihn verdutzt an.

»Du siehst einfach fantastisch aus!«, sagte er begeistert.

Alina schaute an sich herunter. Sie trug ein Kleid, da es draußen schon heiß war. Es war schlicht und schwarz, lag oben am Körper an und fiel lockerer nach unten. Es reichte bis kurz über die Knie. Dazu hatte sie eine ihrer Lieblingsketten angezogen. Sie war lang mit einer großen, goldenen Feder.

»Ich hab doch gar nix Spezielles an«, sagte sie zu ihrem Bruder.

»Äh, dann schau dir mal ins Gesicht. Also wenn ich nicht dein Bruder wär, würde ich dich glatt zur Freundin nehmen.«

»Ja, ja, klar.« Alina nahm sich eine Schüssel mit Müsli, gab noch etwas Milch dazu und setzte sich auf ihren Platz am Tisch.

Sie aß gemütlich vor sich hin, verließ um halb acht das Haus und fuhr mit ihrem Fahrrad los. Unterwegs genoss sie den Wind, der sie etwas abkühlte. Als sie an der Schule ankam, die direkt am Meer lag, saß ihre Frisur nach wie vor perfekt. Auf der Treppe und im Gang zum Klassenzimmer starrten sie alle an. Die Jungen, weil sie begeistert, und die Mädchen, weil sie neidisch waren. Alina mochte es nicht, so angestarrt zu werden. Deshalb flüchtete sie schnell zu ihrem Schließfach. Dort stand schon ihre beste Freundin Yvonne. Diese starrte sie nicht so an wie all die anderen, was Alina sehr erleichterte. Doch einen Kommentar konnte sich auch Yvonne nicht verkneifen.

»Aha, wirst du jetzt zum Super-Model, oder was?«

»Oh, bitte hör auf. Mein Bruder hat mich schon damit genervt, und alle glotzen mich an, als wär ich Angelina Jolie. Ich bin so schon aufgewacht, klar? Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«

Yvonne hob abwehrend die Hände und gab sich geschlagen. Doch ein Grinsen konnte sie nicht unterdrücken. Alina war es egal. Sie war es schon gewohnt, dass Yvonne immer blöde Kommentare von sich gab und sie ständig volllaberte.

»Also, ich habe echt keinen Bock auf Mathe. Wieso muss die einen Test schreiben und kann nicht einfach normal sein wie jeder andere Lehrer, der keine Tests schreiben lässt?«, plapperte sie vor sich hin.

Alina erstarrte. Der Mathetest. Den hatte sie ganz vergessen, und der Traum hatte sie so sehr beschäftigt, dass sie fast gar nichts mehr von dem hart erarbeiteten Lernstoff wusste.

»SCHEISSE! Mist, Mist, Mist«, sagte sie verzweifelt. Sie hatte echt alles vergessen.

»Na, hat da jemand nicht gelernt?«, fragte Yvonne mit einem Grinsen im Gesicht.

»Doch, aber ich denke nicht, dass davon noch irgendetwas hängen geblieben ist.« Alina zerrte an ihrer Tasche, bis sie schließlich aufging, holte ihr Mathebuch heraus und blätterte hektisch darin herum. Auf dem Weg zur Mathestunde las sie alles noch einmal durch, was sie gestern nicht verstanden hatte. Doch jetzt kapierte sie alles. Sie war froh, dass ihr Lernen gestern nicht umsonst gewesen war, und schlug das Mathebuch erleichtert zu. Es klingelte, und sie witschten kurz vor dem Lehrer ins Klassenzimmer.

Der Test war ganz leicht, und auch der Vormittag verlief gut. Als es endlich zur Mittagspause klingelte, war Alina heilfroh und stürmte aus dem völlig überhitzten Zimmer. Nun hatte sie eine Stunde frei fürs Mittagessen.

Mit Yvonne ging sie in den Speisesaal und stellte sich an der Essensausgabe an. Sie redete mit ihr gerade über den Test in Mathe, als sie jemand von hinten anrempelte. Alina drehte sich um. Es war Jonas.

Er war in der Parallelklasse und ein Jahr älter als sie. Früher waren sie zusammen auf der Grundschule in einer Klasse gewesen. Als sich ihre Blicke streiften und sie sich kurz in die Augen sahen, kam es Alina so vor, als wären es Stunden. Sie war völlig schockiert. Seine Augen wechselten die Farbe wie bei den Frauen im Traum. Es waren aber nur zwei Farben. Zunächst in dieses dunkle Blau, dann in das grelle Orange. Jonas hielt ebenfalls mitten in der Bewegung inne und starrte sie an. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten, doch schließlich wandte er den Kopf ab. Alina schüttelte den Kopf und wandte sich Yvonne wieder zu.

»Ist was?«, fragte Yvonne.

»Äh … nee … warum?«, stotterte Alina, immer noch völlig geschockt.

»Du bist plötzlich so bleich geworden, und da dachte ich, irgendetwas sei passiert«, meinte Yvonne mit prüfendem Blick.

»Nein, mir fehlt nichts.« Alina versuchte, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen, doch Yvonne schaute sie immer noch an, so, als sei sie nicht ganz überzeugt. Alina hatte das Bild mit Jonas’ Augen immer noch vor sich und zerbrach sich über die wechselnden Farben den Kopf. War sie durch den Mathetest eventuell so verwirrt, dass sie sich das alles einbildete? Alina schaute zu Yvonne und sah deren zweifelnde Blicke. Was sollte sie tun?

»Dreh dich bitte mal ganz unauffällig um und schau Jonas an«, flüsterte sie schließlich.

»Ähm, okay.« Yvonne drehte ihren Kopf langsam um und schaute Jonas an. »Ist dir auch schon aufgefallen, dass er heute unwiderstehlich gut aussieht? Fast so wie du. Ihr beide seid heute wie aus dem Ei gepellt.«

Alina ließ sich davon nicht beirren: »Schau ihm in die Augen.«

Yvonne lächelte. »Ach komm schon, Alina. Willst du mir weismachen, dass du erst jetzt bemerkst, dass Jonas die umwerfendsten Augen in der ganzen Schule hat? Hast du die letzten Jahre verschlafen, oder was?«

»Augenfarbe?«

»Ach, nein, du hast die letzten Jahre echt verschlafen!«

»Ja, und?«

»Grün. Ein so umwerfendes Grün habe ich sonst noch nie gesehen.« Yvonne schmunzelte.

Alina spürte ihre Füße nicht mehr, konnte sich aber noch rechtzeitig fangen, bevor sie auf dem Boden landete. Bildete sie es sich nur ein, oder konnte sie als einzige sehen, dass Jonas’ Augenfarbe sich die ganze Zeit änderte?

Sie mied dieses Thema, da Yvonne sie nur auslachte, wenn Alina darauf zu sprechen kam. Trotzdem nahm sie sich fest vor, Jonas später noch einmal unter vier Augen zu sprechen, um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht verrückt geworden war.

Um sich nichts anmerken zu lassen, nahm sie sich wie gewöhnlich einen Wrap mit Hackfleisch, Salat und Tomaten, ferner ein Wasser und einen Schokoriegel. Sie folgte Yvonne zu einem runden Tisch am Ende der Kantine und setzte sich, noch immer in Gedanken an Jonas, direkt neben sie.

Wie konnte es sein, dass seine Augen die Farben wechselten? Sie bildete sich sogar ein, ihn im Traum bei der Frau neben ihr stehen gesehen zu haben. Sie konnte sich auf all das echt keinen Reim machen. Während sie das dachte, aß sie den Wrap ganz auf und nuckelte schließlich an der Wasserflasche.

»Alina?!«

»Was?« Alina schaute zu Yvonne, die mit vollem Mund genervt neben ihr saß.

»Ich hab dich jetzt schon zum fünften Mal etwas gefragt.«

»Ähm, was hast du mich denn gefragt?« Sie schaute schnell auf den Tisch, dessen weiße Oberfläche plötzlich ganz interessant geworden war.

»Ob du zu meiner Party kommst.«

»Ach, ja stimmt. Diesen Freitag, oder? Natürlich komm ich. Ich lass doch keine Party meiner besten Freundin aus«, sagte Alina. Sie schaute auf und blickte direkt in Yvonnes knallblaue Augen. Aus ihren blond gelockten Haaren, die ihr Gesicht umspielten, löste sich eine Strähne und bedeckte das linke Augen. Ihr Blick war ein wenig misstrauisch und suchend.

»Ähm … genau.«

»Ich geh mir mal was Neues zu trinken holen.« Alina schwenkte die leere Flasche vor Yvonnes Augen hin und her und lächelte sie entschuldigend an. Sie wusste, dass Yvonne sie bestimmt noch auf ihre abwesende Art ansprechen würde. Denn Alina war sonst nie so abwesend und in Gedanken versunken wie heute. Sie durfte Yvonnes Party einfach nicht vergessen. Wenn sie dort pünktlich aufkreuzte, würde Yvonne die Vorkommnisse von heute sicher schnell abhaken. In zwei Tagen stieg die Party.

Alina schob ihren Stuhl zurück, stand auf und machte sich auf den Weg zur Essensausgabe. Sie nahm die nächstbeste Wasserflasche, bezahlte und schraubte sie auf. Sie hatte tierischen Durst. Als sie die Flasche gerade ansetzte, wurde sie von hinten angerempelt, und der halbe Inhalt ergoss sich auf ihr Kleid. Sie drehte sich um, um einen dummen Kommentar zu machen, als sie bemerkte, dass es Jonas war. Seine dunkelbraunen Haare waren stylisch nach oben gegelt, und er sah einfach umwerfend aus. Nur seine Augen zerstörten dieses Bild der Vollkommenheit.

Alina schaute schnell wieder weg. Jonas murmelte eine Entschuldigung, und Alina drückte sich an ihm vorbei auf den Gang. Ziemlich verwirrt ging sie in die Umkleide des Leichtathletikfelds, da sie in der nächsten Stunde Sport hatten. Alina war sich sicher, Yvonne würde ihr Tablett mit abräumen, doch sie brauchte eine gute Ausrede für ihr schnelles Verschwinden. Sie holte schon mal ihre Sportsachen heraus und zog sich um.

Die Gedanken an Jonas ließen sie nicht mehr los, bis schließlich die gesamte Umkleide mit plappernden Mädchen voll war. Alina war schon komplett umgezogen, als die Sportlehrerin, Frau Müller, den Kopf durch die Tür streckte und alle, die bereits fertig umgezogen seien, aufforderte, sich einzulaufen. So blieb Alina eine Begegnung mit Yvonne erspart, die später kam.

Das Einlaufen tat Alina wie immer gut, weil sie dann den Kopf frei bekam. Deshalb ging sie in ihrer Freizeit häufig joggen oder legte sich in den Wald. Doch heute war alles anders, die Gedanken an Jonas wollten ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Sie konnte Yvonne nicht sagen, was sie gesehen hatte, weil diese sie dann bestimmt für verrückt erklären würde. Außerdem war es ja nur ein Traum gewesen, und sie hätte sich alles auch nur einbilden können.

Alina lief die verbleibenden fünf Runden um das Leichtathletikfeld und setzte sich dann mit knallrotem Kopf und ihrer Wasserflasche auf eine Bank. Nachdem sie ein paar Schlucke genommen hatte, schloss sie die Augen und genoss die Strahlen der Sonne sowie den sanften Wind, der ihr ums Gesicht streichelte.

So hätte sie vergessen können, dass Jonas’ Augen ihre Farbe wechselten, wäre in diesem Augenblick nicht ein Fußball direkt neben ihr auf der Bank gelandet. Sie schreckte hoch und sah sich nach dem Übeltäter um. Ein paar Jungen standen auf dem Leichtathletikfeld und schauten in ihre Richtung. Alina nahm den Ball in die Hand und lief zu den Jungen.

»Gehört dieser Ball ganz zufällig euch?«, fragte sie genervt.

»Ja, ’tschuldigung, wenn wir dich gestört haben.« Die Jungs konnten sich das Grinsen kaum verkneifen. »Du kannst uns den Ball gern wieder geben.« Jonas trat aus der Gruppe heraus und grinste Alina frech an.

»Aber klar, macht ja nix …« Alina schaute zu Boden und wollte Jonas den Ball so überreichen, ohne ihm noch einmal in die Augen schauen zu müssen. Gleichzeitig wollte sie sich vergewissern, ob sie sich geirrt hatte oder nicht. Als Jonas den Ball entgegennahm und sich ihre Hände kurz berührten, sah Alina auf und schaute in die großen, farbwechselnden Augen von Jonas, die sie neugierig betrachteten. Kaum merklich zog er eine Augenbraue hoch, bedankte sich und lief wieder zurück aufs Fußballfeld.

Alina ging zur Bank und hielt dabei ihre Flasche fest umklammert. Sie hatte sich garantiert nicht geirrt, sondern Jonas’ Augen wechselten tatsächlich von Blau zu Orange.

Im Sportunterricht übten sie Hochsprung. Alina ging Yvonne weiterhin aus dem Weg, da sie keine Lust auf deren Geplapper hatte. Stattdessen beschloss sie, nach dem Unterricht vor der Umkleide der Jungs auf Jonas zu warten.

Nach Unterrichtsende ging Alina völlig verschwitzt in die Umkleide, duschte sich schnell ab, zog sich um und rannte anschließend zum Umkleideraum der Jungs. Dort setzte sie sich auf den Steinboden, der schön kalt war, und trank ihre vierte Wasserflasche an diesem Tag leer. Alina musste nicht lange warten, als nach ein paar Minuten die Tür zum Umkleideraum aufging und Jonas herauskam, umgeben von ein paar Kumpels. Alina stand zögernd auf, als Jonas sie auch schon entdeckte.

»Ähm …«, stotterte sie, ohne einen weiteren Ton herauszubekommen. Was hatte sie sich gedacht? Dass Jonas einen kurzen Small Talk mit ihr hielt und dabei ganz zufällig auf seine Augen zu sprechen käme? Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Doch Jonas erkannte die Situation, ging auf sie zu und sagte seinen Jungs, er würde nachkommen. Dann zog er Alina den Gang mit sich hinunter.

»Ich hatte gehofft, dich heute noch einmal zu sehen«, fing er an. »Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber deine Augen … Du wirst wahrscheinlich denken, ich sei verrückt, aber … ich hatte heute Nacht einen Traum … und da … deine Augen …« Er machte eine Pause und schaute verlegen an die Decke. »Ach, egal, du wirst mir sowieso nicht glauben … war ’ne Scheißidee.«

Den letzten Satz sagte er eher zu sich selbst. Alina bekam keinen Ton heraus, sondern starrte ihn einfach nur an. Seine Augen waren überwältigend. Er schaute sie kurz noch einmal an, nahm seine Tasche, die auf dem Boden lag, und marschierte davon.

Alina löste sich aus ihrer Starre. Was mache ich hier?, fragte sie sich. Sie konnte ihn doch nicht einfach so davongehen lassen … Er hatte gerade versucht, ihr zu erklären, dass etwas mit ihren Augen war. Sie machte einen Schritt in seine Richtung.

»Warte!«, rief sie Jonas hinterher. Er drehte sich um und schaute sie an. »War in deinem Traum auch eine wunderschöne Frau, die dir eine Blume gegeben hat? Stand sie auf einer Lichtung mitten im Wald? Hat ihr Kleid alle zwei Sekunde die Farbe gewechselt? Und ebenso ihre Augen?«

Jonas schaute sie irritiert und verwirrt an.

»Ähm … ja«, meinte er lakonisch.

»Ich weiß zwar nicht, was das zu bedeuten hat, aber ich glaube, wir müssen uns mal treffen.«

»Okay …«

»Ich hol dich heute gegen 16 Uhr ab, dann können wir an einen Ort gehen, an dem uns niemand stört. Einverstanden?«

Alina wartete seine Antwort nicht ab, sondern ging einfach weiter. Sie hatte nicht bemerkt, dass ihre Hände vor Aufregung zitterten. Das durfte nicht wahr sein, dass Jonas und sie letzte Nacht genau dasselbe geträumt hatten. Seine Augen wechselten die Farbe genauso wie die Frauen im Traum

Nach der Schule ging Alina Yvonne immer noch aus dem Weg und radelte sofort nach Hause. Kaum war sie dort, machte sie sich auch schon auf den Weg zu Jonas. Aus der Grundschule wusste sie noch genau, wo er wohnte. Zu Fuß brauchte sie höchstens ein paar Minuten zu ihm.

Die Sonne schien ihr schön warm ins Gesicht, und der Wind ließ ihre Haare tanzen. Alina schlenderte die Straße entlang und machte sich keine Gedanken darüber, was ab jetzt passieren könnte. Zum ersten Mal an diesem Tag war ihr Kopf vollständig frei von irgendwelchen drängenden Gedanken.

Als sie in Jonas’ Straße einbog, sah sie ihn schon von Weitem vor dem Eingang des riesengroßen weißen Elternhauses stehen. Obwohl er nichts Auffälliges trug, stach er ihr sofort ins Auge. Er hatte ein weißes T-Shirt und eine schwarze Hose an, was seine gebräunte Haut vorteilhaft zur Geltung brachte. Als er Alina bemerkte, ging er auf sie zu.

»Hi!«, sagte er.

»Hi!«

Jonas stand verlegen da. So hatte Alina ihn noch nie erlebt. Mit Ausnahme des Gesprächs am Vormittag.

»Also, wohin gehen wir jetzt?«

Alina hatte sich vorgenommen, mit ihm auf die Lichtung zu gehen, die der im Traum glich. Dort hatten sie ihre Ruhe. »Komm mit! Ich zeig dir einen Ort, der dir gefallen und dir wahrscheinlich bekannt vorkommen wird.«

Jonas zuckte ratlos die Schultern und ging hinter Alina her. Auf dem Weg zur Lichtung fiel kein Wort zwischen beiden. Jeder war in Gedanken vertieft. Als sie schließlich am Waldrand ankamen, schaute Jonas Alina fragend an.

»Vertrau mir einfach.«

Sie gab ihm einen Wink, und er folgte ihr durch Dornen und Gebüsch. Irgendwann erreichten sie die Lichtung.

»Was?« Jonas schaute sich überrascht um. »Ist das etwa die Lichtung aus dem Traum?«

»Wahrscheinlich, ich weiß es nicht genau. Sie sieht aber genauso aus, oder?«

»Ja, absolut identisch.« Jonas blieb unbeholfen mitten auf der Lichtung stehen, und eine unheimliche Stille umgab sie, als sie regungslos dort standen.

Alina schaute ihn an. Seine Augen strahlten. Die zwei Farben waren so präsent, dass es fast schon unheimlich war.

»Was hat es mit unseren Augen auf sich?«

Er zuckte mit den Schultern. Anscheinend war er gar nicht so gesprächig, wie Alina immer gedacht hatte. Doch die Situation an sich war sehr seltsam. Auch Alina wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Welche Farbe haben eigentlich meine Augen?«

Alina versuchte, Jonas nicht in die Augen zu schauen, als sie sagte: »Blau und Orange. Und meine?«

»Sie haben das gleiche Braun wie die Augen der Frauen in meinem Traum. Aber sie haben auch diese unheimliche, durchsichtige Farbe. Wenn man das überhaupt Farbe nennen kann.«

Alina konnte sich noch genau an diese durchsichtige Farbe erinnern. Sie war unheimlich. Der Versuch, sich mit dieser Augenfarbe vorzustellen, klappte nicht.

»Was soll das alles nur?« Jonas steckte seine Hände in die Hosentaschen. »Zunächst dieser Traum. Dann mein Aussehen nach dem Aufwachen, schließlich deine wechselnde Augenfarbe. Und nun treffen wir uns hier ganz allein wegen all dem im Wald.«

Er lächelte vage. Nach einer Pause sagte er: »Ich geh jetzt nach Hause. Das hat sowieso alles keinen Sinn und kann auch purer Zufall sein.«

»Das ist alles viel zu komisch, das ist nie und nimmer Zufall!«

Jonas schaute sie verwundert an. »Im Leben ist so einiges komisch, Alina.«

Sie zuckte unmerklich zusammen, denn sie hätte nicht gedacht, dass Jonas ihren Namen noch wusste.

»Ich meine, manchmal träumt man gleiche Sachen. Und das mit unseren Augen … ach, egal. Vergessen wir es einfach. In diese Richtung geht es zurück, oder?« Er deutete mit dem Arm in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Alina nickte kaum merklich. Das war alles höchst merkwürdig. Normalerweise glaubte sie an Zufälle. Doch das Zusammentreffen von Traum und Augen müsste schon ein riesengroßer, verrückter und komischer Zufall sein.

Alina wollte noch irgendetwas zu Jonas sagen, der schon am Rand der Lichtung war. Doch dazu kam sie nicht mehr. Plötzlich fing der Boden direkt vor seinen Füßen Feuer. Es breitete sich aus, und es entstand um die Lichtung herum ein Feuerkreis, in dem Alina und Jonas nun standen. Jonas fuhr herum.

»Was ist das?« Er klang panisch. Als Alina dazu etwas sagen wollte, brach der Boden zwischen ihnen auf.

3. KAPITEL

Es war höllisch laut. Alina wich zurück, stolperte und fiel auf den Hintern. Der Boden vor ihnen bröckelte, und je größer das Loch wurde, desto mehr konnte man sehen, was dort zum Vorschein kam: eine riesige pinkfarbene Blüte. Die Spitzen der Blütenblätter waren weiß und verliefen nach unten ins Pinke. Die Blüte hatte die Form einer geschlossenen Tulpe. Sie wuchs immer schneller in die Höhe und in die Breite. Sie war wunderschön, aber auch Angst einflößend.

Alina war schockiert und fasziniert zugleich. Nur schwerlich konnte sie den Blick von der Blüte abwenden und Jonas anschauen. Der stand wie angewurzelt da und starrte die Blüte an. Als diese beinahe so groß war wie Jonas, öffnete sie sich langsam. Ein Mädchen von ungefähr dreizehn Jahren kam zum Vorschein. Sie hatte goldblondes Haar, helle Haut und war mit einem weißen Kleid bekleidet. Ihre Augen waren pinkfarben. Sie wirkte fröhlich und zog einen magisch an.

»Hallo, Jonas, Alina.« Sie schaute zuerst Jonas, dann Alina an. »Ich bin Lovelyn. Ich werde ab jetzt immer auf eurer Seite stehen und euch helfen«, sagte sie lächelnd. »Ich bin stolz auf euch. Ihr habt euch gefunden. Das ist ein großer Schritt. Bestimmt habt ihr noch viele Fragen.«

Nachdem Jonas seine Schockstarre endlich überwunden hatte, schaute er Alina fragend an. Diese zuckte nur die Schultern, schaute unsicher zurück und stand langsam auf.

»Also, erzählt mir, was ihr zu all den Ereignissen dieses Tages denkt!« Lovelyn war so begeistert wie ein kleines Mädchen, das gerade seine Geschenke aufmachte. Sie schaute Jonas und Alina abwechselnd an. Als diese kein Wort herausbrachten, sondern das Mädchen nur fragend musterten, sagte Lovelyn: »Ach, kommt schon! Habt ihr euch nicht eine schöne kleine Geschichte zu dem hier ausgedacht?« Sie fuchtelte mit der Hand in der Luft herum. »Nein? Ach, ihr seid langweilig.« Sie schaute vorwurfsvoll drein.

Alina wusste nicht weiter. Also fragte sie das, was ihr als Erstes in den Sinn kam: »Was, bitte, läuft hier genau?«

Lovelyn schaute sie neugierig an. »Also, hier LÄUFT gar nichts! Ich kann euch noch nicht alles sagen, da ihr euch noch nicht vollständig gefunden habt, aber … Lass es mich so erklären: Ihr seid etwas Besonderes und deshalb ausgewählt worden. Daran dürft ihr nie zweifeln.«

Und an Jonas gerichtet: »Ihr dürft NIE daran zweifeln, und ihr müsst euch kennenlernen, lernen, euch zu verteidigen, lernen, auf euch und auf andere aufzupassen. Lernt, eure Fähigkeiten in den Griff zu bekommen und sie anzuwenden. Ihr müsst …«

»M… M… Moment mal … Was für Fähigkeiten?« Jonas schaute Lovelyn neugierig an.

»Hm, eure Fähigkeiten hätten sich schon zeigen sollen. Wahrscheinlich findet ihr sie in den nächsten zwei Tagen. Sie zeigen sich, wenn man den anderen gefunden hat und auf dieser Lichtung war. Eure Augenfarbe zeigt nicht nur an, welche Fähigkeiten ihr besitzt, sondern durch eure Augen könnt ihr euch auch finden. Nur untereinander können wir sehen, dass eure Augen die Farbe wechseln.«

»Aha. Aber was genau heißt das?« Jonas ging so weit wie möglich zum Rand der Lichtung, bis das Feuer ihn stoppte.

Lovelyns Augen hingen eine Weile an ihm. Schließlich sagte sie: »Deine Fähigkeiten sind ab sofort ein Teil deines Lebens. Sie werden dich begleiten, beschützen und beglücken. Auskunft über die Fähigkeiten geben eure Augen. In deinen Augen wechseln sich zum Beispiel Orange und Farblos ab. Das bedeutet, dein Herz ist berufen für Feuer und Wasser. Alles, was mit diesen Elementen zu tun hat, kannst du beherrschen.«

Dann wandte sie sich Alina zu. »Bei dir ist es ähnlich, du kannst Luft und Erde beherrschen. Wie ihr das macht, ist bei jedem anders. Ihr müsst eure Fähigkeiten erforschen, euch mit ihnen vertraut machen und lernen, mit ihnen zu leben. So bekommt ihr letztendlich heraus, wie eure Fähigkeiten funktionieren. Zusätzlich habt ihr noch einen Schutzschild, der ähnlich wie die Fähigkeiten funktioniert. Dazu werde ich euch später noch mehr erzählen. Denn zuerst …«

»… müssen wir unsere Fähigkeiten erforschen«, stellte Jonas fest. Er sagte es eher zu sich selbst. Lovelyn nickte trotzdem zustimmend.

»Okay, dann habt ihr erst einmal genug zu tun. Mich braucht ihr vorläufig nicht«, sagte sie.

»Warte, eine Frage noch.« Lovelyn schaute Alina neugierig an. »Was verbindet Jonas und mich, dass wir auserwählt wurden?«

Lovelyn überlegte kurz. »Nichts. Wieso und wofür ihr ausgewählt wurdet, sage ich euch ein andermal. Ach ja, an eurer Stelle würde ich niemandem davon erzählen. Sonst denkt man noch, ihr seid verrückt. Okay? Lieber mal die Klappe halten, das ist besser für alle.«

Sie nickte beiden aufmunternd zu. Als die Blüte sich schon wieder schloss, zwinkerte Lovelyn Alina und Jonas kaum merklich mit den Augen zu – und ließ sie allein zurück.

Lovelyn schrumpfte mit der Blüte, und diese versank wieder im Boden. Die Erde schloss sich leise, und der Kreis aus Feuer erlosch. Alles war wieder genauso wie zuvor. Alina und Jonas schauten sich an.

»Da das nun geklärt ist …«, sagte er mit einem Lächeln um die Lippen.

»Ja«, pflichtete Alina ihm grinsend bei. Dann kehrte wieder diese unheimliche Stille ein, und keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte. Nachdem sie einige Minuten so verharrt hatten, tauschten sie ihre Handynummern aus und schworen sich, sofort anzurufen oder zu treffen, wenn irgendetwas Komisches oder Auffälliges passierte. Anschließend gingen beide in entgegengesetzte Richtung nach Hause.

Zu Hause ging Alina in ihr Zimmer. Ihr Handy vibrierte auf dem Schreibtisch: fünfzehn neue Nachrichten und sechs verpasste Anrufe. Sie schaute, wer sie angerufen hatte. Yvonne. Alina hatte sie ganz vergessen. Vierzehn Nachrichten waren allein von ihr.

Hallo, gibt’s dich noch?

Was war heute mit dir los?

Das mit der Party klappt doch, oder?

Die letzte Nachricht war von Mario. Er fragte, ob sie Zeit habe, zu ihm zu kommen. Alina schaute auf die Uhr. Schon 20.20 Uhr! Sie schrieb ihm schnell zurück, dass sie nicht könne, und machte sich an die Hausaufgaben. Um neun Uhr war sie damit fertig und ging nach unten. Nachdem sie etwas Müsli gegessen hatte, putzte sie sich die Zähne, zog sich um und ging zu Bett.

4. KAPITEL

Alina wurde von Donnergrollen wach und schlug die Augen auf. Es war stockdunkel, und der Regen prasselte aufs Dach. Während sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, tastete sie mit der Hand vorsichtig auf dem Boden herum, bis sie die Wasserflasche fand. Sie schraubte sie auf und wollte einen Schluck nehmen, da war noch einmal ein Donnergrollen zu hören. Alina stand auf und ging zum Fenster mit den verschlossenen Klappläden. Als sie diese einen Spalt weit öffnete, schlug der Wind sie völlig auf.

Draußen stürmte und regnete es wie aus Eimern, und der Wind wehte Alina direkt ins Gesicht. In kurzen Abständen durchzuckte ein Blitz den Himmel, gefolgt von einem Donnerschlag. Die Blumenkästen auf dem Rasen und das Brennholz für den Winter lagen verstreut herum. Alina schlug die Klappläden mit voller Wucht zu und schloss das Fenster. Sie schaute auf den Wecker auf dem Nachttisch, es war 5.13 Uhr, und beschloss, nach unten zu gehen, wo Leon und ihr Vater herumwirbelten. Sie schlossen alle Fenster und verriegelten die Klappläden.

»Alina, Gott sei Dank bist du auch wach. Der Strom ist ausgefallen. Kannst du im Keller mal nach Kerzen suchen?« Ihr Vater sah sie fragend an.

»Klar.« Noch etwas benommen vom Schlaf nahm sie eine Tasche und stieg die Kellertreppe hinunter. Ihrer Erinnerung nach bewahrten sie in einem riesengroßen Schrank haufenweise Kerzen, Kerzenständer und Streichhölzer auf. Alina tastete sich die Treppe hinunter, öffnete den Schrank und füllte die Tasche. Dann machte sie für sich eine Kerze an und stiefelte die Treppe wieder nach oben.

In der Zwischenzeit inspizierten ihr Vater und Leon das Dach, um zu festzustellen, ob etwas beschädigt war. Alina nahm einen Kerzenständer und bestückte ihn mit Kerzen. Sie zündete diese an, bis das Streichholz bis zum Finger niedergebrannt war. Sie pustete es aus. Plötzlich kam ein Wind auf und riss ihr das Streichholz aus der Hand. Die Kerzen verlöschten, und der Kerzenständer fiel um.

»Mein Gott«, flüsterte sie. Sie starrte das Streichholz an, das ganz verkohlt war. Was war das gewesen? War irgendwo ein Fenster offen? Sie drehte sich einmal im Kreis, doch alle Fenster waren geschlossen. Sie tastete mit dem Finger zum Mund. Nichts Auffälliges. Da fiel es ihr plötzlich ein: Lovelyn hatte gesagt, sie habe durchsichtige, farblose Augen und sei für Luft berufen. Dann musste sie Wind erzeugen können.

Ein Lächeln huschte über Alinas Gesicht. Sie stellte den Kerzenständer auf und steckte die Kerzen wieder hinein. Das Streichholz ging dieses Mal sofort an. Als alle Kerzen brannten, pustete sie wieder, nur etwas sachter. Doch das Feuer aller Kerzen ging abermals aus. Sie strahlte, denn sie hatte ihre erste Fähigkeit gefunden: Luft.

Nachdem sie die restlichen Kerzen angezündet und im Raum verteilt hatte, pustete Alina das Streichholz ganz sachte aus. Dabei überlegte sie, was sie mit ihrer Fähigkeit noch machen und ob sie ihre Fähigkeit nur mit dem Mund oder auch mit den Händen benutzen konnte. Was ließ sich mit ihrer zweiten Fähigkeit machen?

Sie dachte an Jonas. Was machte er gerade, und hatte er seine Fähigkeit auch schon entdeckt? Ihn anzurufen oder ihm eine SMS zu schreiben, ging nicht, da sie kein Netz hatte.

Lovelyn kam ihr in den Sinn. Ein merkwürdiges Mädchen. Auf den ersten Blick wirkte sie wie ein kleines Kind, kam dann aber wie eine Erwachsene rüber, die über alles Bescheid weiß. Alina fragte sich, was mit ihr passiert war und woher sie kam. Lovelyn sah aus wie ein Engel, sie hatte etwas Verletzliches an sich. Sie konnte aber auch ziemlich böse gucken. Schaute sie einen neugierig an, hatte man das Gefühl, sie durchbohre einen mit ihrem Blick. Ihre Augen hingegen wirkten anziehend und mitfühlend – mit einer Spur von Trauer darin. Sie lächelte ziemlich oft und bestand aus Gegensätzen, die Alina Angst machten.

Alina war so in Gedanken versunken, dass sie aufschreckte, als Leon die Treppe herunterkam.

»Na, Schwesterchen, an wen hast du gerade gedacht?«, fragte er mit einem frechen Grinsen im Gesicht.

»Tja, wüsstest du wohl gern.«

Leon lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich soll dir von Papa ausrichten, du sollst bitte die Tiefkühltruhe ausräumen, weil sich darin sonst Wasser sammelt.«

»Okay, mach ich. Weiß er schon, wann wir wieder Strom und Netz haben?«

»Ja. Er vermutet, in spätestens zwei Stunden wird alles wieder funktionieren. Wir gehen nachher zur Feuerwehr, um zu sehen, ob wir helfen können. Es sind viele Bäume umgestürzt, und sie benötigen zu deren Beseitigung jede Hilfe. Du kannst ja auch kommen, wenn du magst.« Er schaute sie fragend an.

»Mal schaun … Was ist mit der Schule?«

»Findet nicht statt. Wie immer halt.« Leon zuckte die Schultern und stürmte die Treppe hinauf. Alina nickte innerlich. Ein paar Mal im Jahr kam es vor, dass ein großer Sturm über die Stadt fegte. Dann fand meist keine Schule statt, da alle damit beschäftigt waren, die Straßen von umgestürzten Bäumen zu befreien.

Alina öffnete die Kühltruhe. Das Wasser stand schon ungefähr zwei Zentimeter in den Schubladen, und die Wände trieften vor Nässe. Vorsichtig zog sie die Schubladen heraus, ging ins Bad und legte die Schubladen samt Inhalt in die Badewanne.

Nachdem sie alle Schubladen entfernt hatte, legte Alina die Kühltruhe mit Handtüchern aus. Danach schaute sie nach dem Inhalt der Schubladen: geschmolzene Eiswürfel, geschmolzenes bzw. abgelaufenes Eis, Pizzas und Pommes, die noch ein wenig gefroren waren. Alina brachte alles zum Kühlen in den Keller.

Das schummerige Licht der Kerzen machte Alina ganz schläfrig. Im Wohnzimmer setzte sie sich auf die Couch. Das Prasseln des Regens draußen wurde immer gleichmäßiger, und Alina fühlte, wie sich ihr Herzschlag verlangsamte. Langsam döste sie ein.

Ihr Handy in der Hosentasche brummte und riss sie aus dem Schlaf. Alina öffnete schlagartig die Augen, und das grelle Licht der Deckenlampe blendete sie. Sie brauchte einige Minuten, bis ihr dämmerte, dass sie wieder Strom und Netz hatten. Sie sprang auf und zog das Handy aus der Tasche. Bevor sie Jonas’ Nachricht las, schaute sie auf die Uhr. Es war 13.42 Uhr. Sie hatte ganz schön lang geschlafen. Draußen war es immer noch so dunkel wie in der Nacht …

Alina rieb sich die Augen: Komm zur Lichtung! Ich muss dir etwas zeigen!

Sofort beschleunigte sich Alinas Herz von null auf hundert. Hatte Jonas ebenfalls seine Fähigkeit entdeckt? Was würde er wohl können? Oder war etwas passiert?

Sie rannte zur Tür und durch den Garten in den Wald. Leider bemerkte sie zu spät, dass sie keine Jacke und keine Schuhe anhatte, denn es regnete immer noch. Doch ihr Körper war voll Adrenalin, und es war ohnehin schon zu spät. Sie war bereits durchnässt, und ihre Haare klebten ihr im Gesicht.

Am Waldrand verlangsamte Alina schließlich ihre Schritte, da im Wald überall Äste und abgebrochene Zweige herumlagen. Der Regen prasselte in Strömen auf sie nieder und nahm ihr die Sicht. Außerdem war es überall sehr rutschig. Alina balancierte gerade barfuß über einen umgestürzten Baum, als sie direkt über sich ein lautes Krachen hörte. Sie schaute nach oben. Ein großer Zweig hing in fünf Meter Höhe über ihr. Er brach in dem Augenblick ab, als Alina hochschaute. Instinktiv riss sie die Arme über den Kopf, um diesen zu schützen, und versuchte gleichzeitig, das Gleichgewicht auf dem Baum zu halten. Sie wartete auf den Aufprall. Doch nichts geschah.

Langsam öffnete Alina die Augen und spähte vorsichtig in die Luft. Der Ast schwebte über ihr. Langsam nahm sie einen Arm herunter, und der Ast kippte auf die Seite, wo ihre gesenkte Hand hinzeigte. Alina erschrak und riss ihre Hand automatisch wieder nach oben, und der Ast schwebte gerade in der Luft. Sie starrte ihn völlig perplex an.

Alina senkte die andere Hand, und der Ast kippte auf dieser Seite herunter. Schnell hob Alina sie wieder. Ihre Hände kribbelten. Sie streckte beide Hände nach vorn, und der Ast folgte. Sie verstand. Langsam richtete sie die Hände Richtung Boden. Wie eine Feder schwebte der Ast zu Boden und blieb dort liegen. Alina war wie in Trance, doch dann durchdrangen ihre Gedanken den Schleier. Adrenalin schoss erneut durch ihre Adern.

Jonas!

Sie rannte weiter, wich Bäumen, Büschen und Ästen aus und war in Rekordzeit auf der Lichtung. Alina sah Jonas schon von Weitem. Die nassen Haare klebten ihm am Kopf, und das T-Shirt war komplett durchnässt, sodass man seine Muskeln darunter sehen konnte. Er sah unheimlich gut aus, wie er dort im Regen stand.

Doch er war nicht allein, sondern neben ihm stand ein kleines, ungefähr zehnjähriges Mädchen. Sie hatte helles Haar, das ihr in langen Zöpfen vorn über die Schulter hing, und trug eine lange schwarze Hose. Dazu einen knallgelben Regenmantel und knallgelbe Gummistiefel. Ihr Gesicht war rundlich, obwohl sie ziemlich dünn war. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Und ihre Augen – wechselten die Farbe! Als Erstes ins Braun und dann ins grelle Orange!

Alina blieb ruckartig stehen und starrte das kleine Mädchen an.

»Hi, Alina! Darf ich vorstellen, das ist Mia.« Jonas strahlte.

Alina war immer noch geschockt. »War es das, was du mir zeigen wolltest?«

»Ja, sie ist die dritte in unserem Bund. Ich habe ihr alles schon erklärt, und sie hat es besser aufgenommen als wir … Ich habe Mia auf dem Weg zur freiwilligen Feuerwehr getroffen.«

»Aha.« Alina hatte gehofft, Jonas hätte ebenfalls seine Fähigkeiten entdeckt. Irgendwie war sie enttäuscht. Sie schaute das Mädchen trotzdem neugierig an.

»Hi!«, sagte Mia. Ihre Stimme klang fröhlich und entschlossen.

»Hi!«, antwortete Alina und versuchte zu lächeln. Doch sie brachte nur ein kurzes Zucken der Mundwinkel zustande.

»Natürlich wollte ich dir auch noch etwas anderes zeigen.« Jonas machte es wirklich spannend. »Laut Lovelyn sollten sich heute oder morgen unsere Fähigkeiten zeigen. Und na ja … tada … ich hab sie. Aber leider erst eine. Ich zeige sie dir mal.«

Alina hüpfte aufgeregt zu ihm hin. Er hatte auch seine Fähigkeit entdeckt. Doch Jonas stand nur unbeweglich da.

»Jetzt schieß schon los!«

Jonas nickte und streckte seine Hand aus. Der Regen tropfte prasselnd darauf. Plötzlich formte sich inmitten der kleinen Regentropfen ein riesengroßer Tropfen, der immer größer wurde. Er wuchs beständig, und man sah das Wasser darin. Alina sah Jonas an. Sein Gesichtsausdruck war locker, aber man sah ihm an, dass er sich konzentrieren musste. Jonas blickte auf und schaute Alina an. Die Wasserkugel stand auch weiter in der Luft. Jonas strahlte immer mehr, und von ihm ging Wärme aus.

»Wahnsinn, oder?«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

»Ja, irgendwie wunderschön«, flüsterte Alina.

Jonas schaute abermals auf die Kugel, betrachtete sie kurz und senkte dann die Hände. Die Kugel fiel klatschend zu Boden. Mia, Jonas und Alina wurden noch nässer. Traurig betrachtete Jonas die entstandene Pfütze.

»Jonas?« Alina traute sich nicht, laut zu sprechen.

»Mmh?« Er nahm den Blick, in dem immer noch Traurigkeit lag, von der Pfütze.

»Ich habe meine Fähigkeit entdeckt.« Nun war Jonas wieder ganz präsent.

»Na, dann schieß mal los!«

Alina bereute es inzwischen, ihre Fähigkeit nicht ausprobiert zu haben. Sie wusste nicht einmal, wie sie sie anwenden sollte oder ob es jetzt klappte. Die letzten Male waren Zufälle gewesen. Als sie auf die Lichtung gekommen war, hätte sie ein Ast um ein Haar erschlagen. Doch mit den Händen hatte sie den Ast mitten im Sturz aufgehalten bzw. schweben lassen. Und dann war da noch das Kribbeln in ihren Händen gewesen.

Alina holte tief Luft und spürte, wie ihr Brustkorb sich hob und senkte. Sie sah Jonas an. Er nickte ihr auffordernd zu, und seine großen, farbwechselnden Augen schauten sie neugierig an. Alina richtete ihre Hand auf einen kleinen Zweig, der auf der Lichtung lag. Wieder spürte sie das Kribbeln. Es war in ihrem Herzen, nahm zu und breitete sich aus. Es wanderte in ihre Arme und von dort aus bis in die Fingerspitzen.