Versöhnungstheater - Max Czollek - E-Book

Versöhnungstheater E-Book

Max Czollek

0,0

Beschreibung

Eine kritische Analyse der deutschen Erinnerungskultur: Klug und polemisch seziert Bestsellerautor Max Czollek den Wandel im deutschen Selbstverständnis.

Max Czolleks legendäre Bücher „Desintegriert euch!“ und „Gegenwartsbewältigung“ streuten lustvoll Zweifel an den deutschen Narrativen von Integration bis Leitkultur. Scharf, gewitzt und an jeder Stelle überraschend, schließt Versöhnungstheater diesen Kreis, wenn es nach der aktuellen Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit fragt. Seit weltweit bewunderten Gesten der deutschen Selbstvergewisserung vom Warschauer Kniefall bis zum Holocaust-Mahnmal hat sich in letzter Zeit einiges verändert: Das Berliner Stadtschloss feiert Preußens Könige, mit dem neuen Militärhaushalt wird eine Zeitenwende beschworen und der Bundespräsident bedankt sich auf Israelreise ungefragt für die „Versöhnung“. Deutschland ist wieder wer, auch weil es sich so mustergültig an den Holocaust erinnert. Herzlich willkommen zum Versöhnungstheater!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 169

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das ist das Cover des Buches »Versöhnungstheater« von Max Czollek

Über das Buch

Eine kritische Analyse der deutschen Erinnerungskultur: Klug und polemisch seziert Bestsellerautor Max Czollek den Wandel im deutschen Selbstverständnis.Max Czolleks legendäre Bücher »Desintegriert euch!« und »Gegenwartsbewältigung« streuten lustvoll Zweifel an den deutschen Narrativen von Integration bis Leitkultur. Scharf, gewitzt und an jeder Stelle überraschend, schließt Versöhnungstheater diesen Kreis, wenn es nach der aktuellen Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit fragt. Seit weltweit bewunderten Gesten der deutschen Selbstvergewisserung vom Warschauer Kniefall bis zum Holocaust-Mahnmal hat sich in letzter Zeit einiges verändert: Das Berliner Stadtschloss feiert Preußens Könige, mit dem neuen Militärhaushalt wird eine Zeitenwende beschworen und der Bundespräsident bedankt sich auf Israelreise ungefragt für die »Versöhnung«. Deutschland ist wieder wer, auch weil es sich so mustergültig an den Holocaust erinnert. Herzlich willkommen zum Versöhnungstheater!

Max Czollek

Versöhnungstheater

Hanser

Zwischen Gestern und Morgen

Steht der Cherub

Mahlt mit seinen Flügeln die Blitze der Trauer

Seine Hände aber halten die Felsen auseinander

Von Gestern und Morgen

Wie die Ränder einer Wunde

Die offenbleiben soll

Die noch nicht heilen darf.

Nelly Sachs, Chor der Tröster

Einleitung: Nach knapp achtzig Jahren der Zurückhaltung

Derzeit ereignen sich Krisen in atemberaubender Geschwindigkeit. Keine Blaupause, die in der Schublade liegt, keine Thinktanks, die Zeit hatten, über Jahre Strategien zu entwickeln. Das gilt auch für den Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Unempfänglich für die Warnungen osteuropäischer Staaten, hatte sich Deutschland zu abhängig gemacht von russischen Rohstoffen und stand nun vor dem Scherbenhaufen einer verfehlten Außen- und Energiepolitik. Ob aus Gier, falschem Kalkül, Mangel an projektiven Fähigkeiten: plötzlich war der Bundestag mit einer weiteren Krise konfrontiert, auf die dringend eine Antwort gefunden werden musste. Bundeskanzler Olaf Scholz schüttelte diese Antwort wenige Tage darauf als »Zeitenwende« aus den hochgekrempelten Ärmeln.1 Zentrales Anliegen seiner Regierungserklärung vom 27. Februar war die Verkündung eines Paradigmenwechsels im Verhältnis zur Bundeswehr und ihrer internationalen sicherheitspolitischen Rolle. Keine Kleinigkeit für das postnationalsozialistische Deutschland.2

Nun wäre es eine Sache gewesen zu sagen, die Aggression Russlands zwingt uns dazu, mehr Geld in die Bundeswehr zu investieren. Etwas völlig anderes ist es, das alles als Paradigmenwechsel zu bezeichnen, zu dem sich fast alle im Bundestag vertretenen Fraktionen begeistert zu Standing Ovations erheben. Tatsächlich hat dieser Umschwung einen langen Vorlauf, der eng mit der Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur zusammenhängt. Wobei »deutsch« in diesem Zusammenhang eine Selbstbezeichnung ist, die eine ganze Reihe an Fantasien transportiert, wer »wir« sind und was »wir« richtig gemacht haben. Einen Hinweis darauf lieferte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, als er drei Monate nach Scholz’ Rede beim SPD-Parteitag am 21. Juni verkündete, »nach knapp achtzig Jahren der Zurückhaltung« sei es wieder an der Zeit, dass Deutschland international seinen Führungsanspruch einlöse.3 Dass Klingbeil dabei mit der Zeitangabe unzweideutig auf das Ende der Nazizeit verwies, ist kein Zufall, sondern Ausdruck des schiefen Geschichtsverständnisses, an dem die deutsche Erinnerungskultur maßgeblich mitgearbeitet hat. Und Scholz’ Zeitenwende-Rede markierte einen weiteren Höhepunkt einer neuen Phase der Erinnerungskultur, die ich als Versöhnungstheater bezeichnen möchte.

Als das besiegte Deutschland sich Ende der 1940er Jahre anschickte, zwei neue deutsche Staaten zu gründen, waren sich die Regierenden einig, dass man damit auch eine Wiederholung der Katastrophe verhindern wollte, die der Nationalsozialismus für Deutschland, Europa und die Welt bedeutet hatte. Während sich die DDR zum antifaschistischen Staat erklärte und Nationalsozialist*innen zumindest in den ersten Jahren aus allen sichtbaren Positionen entfernte, schlug der erste Bundeskanzler der BRD Konrad Adenauer einen anderen Weg ein, der sich zwischen symbolischer internationaler Wiedergutmachungspolitik und nationalen Amnestiegesetzen bewegte, auf deren Grundlage eine Strafverfolgung oder auch nur gesellschaftliche Debatten weitgehend ausblieben. Das war die erste Phase der westdeutschen Erinnerungskultur, die ungefähr zwei Jahrzehnte andauerte.

Gut möglich, dass sich die westdeutsche Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten beim Umgang mit der Nazivergangenheit auch darum dynamischer als die DDR zeigte, weil zu Beginn mehr liegen geblieben war. Jedenfalls markierte der Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmal des jüdischen Ghettos in Warschau am 7. Dezember 1970 den Beginn der zweiten Phase der Erinnerungskultur. Diese war gekennzeichnet durch ein verändertes Verhältnis der westdeutschen Gesellschaft zu ihrer Gewaltgeschichte: Man rief Gedenktage aus und hielt bewegende Reden, schuf Denkmäler, rekonstruierte Synagogen und jüdische Friedhöfe und gründete Museen. Dieser neue Umgang mit der Geschichte ging einher mit einem neuen Selbstverständnis als Nation, das Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 auf den Punkt brachte: Man verstand sich fortan nicht mehr als besiegtes, sondern als befreites Deutschland.4

Von heute aus gesehen wird deutlich, dass diese erinnerungskulturelle Entwicklung zugleich den Auftakt bildete für eine »Wiedergutwerdung Deutschlands« in der Gegenwart, die sich nach dem Aufgehen der DDR in der BRD1990 zur gemeinsamen Erzählung des glücklich vereinigten Deutschlands verdichtete.5 Damit läutete die Vereinigung die dritte Phase des deutschen Erinnerns ein: das Versöhnungstheater. Diese Weiterentwicklung fand auf Basis der in den Jahrzehnten zuvor etablierten (west)deutschen Erinnerungskultur statt, die zum Ausgangspunkt einer neuen Normalität erklärt wurde, die sich in den Jahrzehnten darauf als Forderung nach einem unverkrampften Nationalismus, in der Gründung von Heimatministerien, bei Bauprojekten wie der Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt oder des Berliner Stadtschlosses äußerte. Die Verbindung zur Erinnerungskultur offenbart sich aber auch darin, dass die Verantwortlichen fortwährend Bezug nehmen auf die vermeintlich beispielhafte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, selbst wenn der konkrete Anlass gar nicht direkt damit verbunden ist.

So ist es auch kein Zufall, dass das Humboldt Forum im Berliner Stadtschloss am 20. Juli 2021 eröffnet wurde. Der 20. Juli ist nämlich das Jubiläum des Stauffenberg-Attentats, an dem eine Reihe vormaliger Gefolgsleute Hitlers 1944 versuchte, ihren Führer aus dem Weg zu räumen. Dass Stauffenberg mit der Neueröffnung der ethnologischen Sammlungen Berlins in der ehemaligen Residenz der preußischen Könige überhaupt nichts zu tun hat, ist symptomatisch für das Versöhnungstheater. Und auch Klingbeils Phrase »nach knapp achtzig Jahren der Zurückhaltung« fällt in diese Kategorie. Einen ersten Höhepunkt erlebte das Versöhnungstheater bereits mit der Fußballweltmeisterschaft 2006. Dieses national und international gefeierte mediale Großereignis war eine kollektive, lustvolle Bejahung eines neuen deutschen Nationalempfindens. Kritik wurde damals mit einem energischen »Es ist ja nur Fußball« vom Tisch gewischt. Entscheidend war aber auch hier der Verweis auf die Jahrzehnte einer Erinnerungskultur, mit denen man den eigenen Nationalstolz legitimierte, oder sogar erklärte. Die Worte sind anders, die Melodie ist dieselbe.

Als Olaf Scholz am 27. Februar 2022 von der Zeitenwende sprach, wehte Begeisterung durch den Bundestag. Wie bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 wurden auch die deutschen Feuilletons und Talkshows von der Hochstimmung ergriffen, nur dass diesmal nicht die Nationalmannschaft, sondern die Opferbereitschaft und Mannhaftigkeit der ukrainischen Soldaten gepriesen wurde, die den deutschen Männern insbesondere in Großstädten angeblich fehle. Mich beeindruckte in diesen Wochen die Mühelosigkeit, mit der die Menschen ihre Ernst-Jünger-Rhetorik aus der Schublade zogen, nachdem sie sich und anderen jahrzehntelang eingeredet hatten, dass sie mit diesem Deutschland nichts mehr zu tun haben wollten. Was war passiert, dass der erinnerungspolitische Aufbruch der 1968er-Generation ein halbes Jahrhundert später in die Sehnsucht nach einer neuen nationalen Normalität mündete? Und wie konnte es sein, dass ihre Sehnsucht bis heute das öffentliche Gespräch über Erinnerungskultur dominiert, wenn wir doch wissen, dass neben den Nachkommen der Täter*innen auch Menschen in Deutschland leben, die andere Ängste, Sehnsüchte und Bedürfnisse mit sich herumtragen?

Der folgende Essay ist der Erkundung dieser Fragen gewidmet. Er beginnt mit einer Rekonstruktion der unterschiedlichen Phasen der Erinnerungskultur, bevor er sich der Gegenwart des Versöhnungstheaters zuwendet. Eine zentrale Einsicht dieser Rekonstruktion lautet, dass die zweite Phase der Erinnerungskultur sich ab den 1970er Jahren vor allem in einer Intensivierung symbolischer Handlungen manifestierte, die aber keine echte Übernahme von Verantwortung bedeuteten — etwa in Form von Entschädigungen, Rückübertragungen oder Verurteilungen wegen Mordes. Dieses Auseinanderklaffen von symbolischer Ebene und Realität ist unterdessen so normal geworden, dass man Ereignisse wie den rasanten Aufstieg einer völkischen Partei kaum noch als Erschütterung der erinnerungskulturellen Wiedergutwerdung Deutschland erlebt. Die zentrale erinnerungspolitische Frage, ob die deutsche Erinnerungskultur an einer Gegenwart mitarbeitet, in der Minderheiten weniger gefährdet sind als zuvor, tritt damit fast automatisch in den Hintergrund.

Bei der Analyse des deutschen Versöhnungstheaters kam es mir zunehmend so vor, als ginge es gar nicht um eine Anerkennung von Realitäten, sondern darum, dass sich ein Teil der deutschen Gesellschaft einen Wunsch nach Versöhnung erfüllt. Jedenfalls vermittelt dieser Wunsch dem Versöhnungstheater seine Dramaturgie. Vordergründig zielt er auf das Gegenüber, etwa die Gemeinschaft der lebenden Juden und Jüdinnen, bei denen man sich im Rahmen von Erinnerungsveranstaltungen für die Verfolgung entschuldigt — und im gleichen Atemzug für die Versöhnung bedankt. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass es beim Versöhnungstheater vor allem auch um ein Aussöhnen mit der eigenen deutschen Vergangenheit geht, denn nachdem die Gewaltgeschichte einmal an Gedenkorten lokalisiert und in Gedenkritualen gebannt worden ist, ist der Platz frei für die Erfindung einer »guten deutschen Vergangenheit«. Und so wird die deutsche Erinnerungskultur in dieser dritten Phase zum Energieträger einer Neuerfindung Deutschlands, die seit 2021 einen prominenten Platz in der von Bundespräsident Steinmeier ins Leben gerufenen Bundesstiftung »Orte der deutschen Demokratiegeschichte« gefunden hat.6

Ich muss zugeben, dass mich die Leichtigkeit beeindruckt, mit der dieser Prozess der Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung durch das Mittel der Erinnerungskultur abläuft. Seine Funktionsweise hat die vergangenen Jahrzehnte Schule gemacht. Genau wie die Einzelnen keine juristische Verantwortung übernehmen mussten, indem man sie einfach wegmoderierte, wegversöhnte, wegrekonstruierte, wegerinnerte, verhielt man sich auch ein halbes Jahrhundert später angesichts des rechten Terrors der 1990er Jahre, des Asylkompromisses, des Versagens der Sicherheitsbehörden bei der Mordserie des NSU, der Angriffe auf die Asylunterkünfte 2015 und der bis heute andauernden EU-Grenzpolitik. Die deutsche Öffentlichkeit beschwört einfach weiter die eigene Wiedergutwerdung, ohne die Verbindung der gewaltvollen Gegenwart mit der Vergangenheit zu bedenken und den Preis zu zahlen, der zu zahlen wäre, damit das eigene Selbstbild den eigenen Handlungen entspricht. Oder anders gesagt: die Gegenwart so einzurichten, dass sich diese Katastrophe, die wir Vergangenheit nennen, nicht wiederholt.

Dieser Essay steht in einer Reihe mit zwei weiteren Büchern. In meinem ersten Essay Desintegriert Euch! ging es um das Zusammenwirken von Integrations- und Gedächtnistheater in einer deutschen Gegenwart, die nicht von Fantasien der Hegemonie und Harmonisierung lassen kann — und die Frage, wie eine Gegenstrategie aussehen könnte7; Gegenwartsbewältigung befasste sich mit einer Kritik der Idee kultureller Überlegenheit und der damit einhergehenden Vorstellung einer guten deutschen Kultur als Orientierungspunkt der pluralen Demokratie, die in den vergangenen Jahrzehnten ein Ort der radikalen Vielfalt geworden ist.8 Im vorliegenden Versöhnungstheater geht es mir nun um das sich wandelnde Verhältnis der deutschen Gesellschaft zur eigenen Geschichte, ein bemerkenswerter Prozess, an dessen Ende die deutsche Erinnerungskultur selbst zum Ausgangspunkt für eine Neuerfindung Deutschlands wird. Man hat Großes mit der Vergangenheit vor, von dem man sich auch dann nicht mehr abbringen lässt, wenn sich die Gegenwart nicht entsprechend verhält.

Eine solche Erinnerungskultur, die Versöhnung zur Voraussetzung erklärt, hat weder Raum noch Interesse an Gefühlen der Untröstlichkeit und einer Haltung der Unversöhnlichkeit. Damit schließt sie einen erheblichen Teil der Gesellschaft aus der Erinnerungsarbeit aus. Im letzten Abschnitt schaue ich mir an, wie diese verdeckten Perspektiven dennoch eine Praxis des Verbündet-Seins und eine andere Sprache inspiriert haben, die grundlegend waren für die Entwicklung der pluralen Demokratie. Dieser Teil läuft auf die Feststellung hinaus, dass es für eine Wahrnehmung dieser anderen Erinnerungsrealitäten auch ein verändertes Verständnis davon braucht, wofür die deutsche Vergangenheit eigentlich da ist — nicht als Ressource für eine demokratische plurale Gegenwart, sondern als Warnung davor, wie schlimm die Dinge werden können, wenn wir nicht aufpassen. Wenn wir das verstehen, verstehen wir auch, was auf dem Spiel steht: dass wir mit der Vergangenheit nämlich auch die Zukunft dieser Gesellschaft verhandeln.

Versöhnungstheater. Die dritte Phase der Erinnerungskultur

Stellen Sie sich vor, ich wäre Ihr Nachbar. Ich klopfe an der Tür und frage, ob Sie mir eine Bohrmaschine leihen können. Sie verschwinden kurz in Ihrem Hobbywerkraum, kommen mit dem Gerät zurück, und ich rufe: Tausend Dank für das schöne Geschenk! Fänden Sie das lustig? Im Jahr 2020 fanden sich anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz Vertreter*innen Israels, der Siegermächte und Deutschlands zum fünften World Holocaust Forum in Yad Vashem zusammen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hielt eine in der deutschen Presse viel gelobte Rede, die unter anderem folgende Passage enthielt:

Fünfundsiebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz stehe ich als deutscher Präsident vor Ihnen allen, beladen mit großer historischer Schuld. Doch zugleich bin ich erfüllt von Dankbarkeit: für die ausgestreckte Hand der Überlebenden, für das neue Vertrauen von Menschen in Israel und der ganzen Welt, für das wieder erblühte jüdische Leben in Deutschland. Ich bin beseelt vom Geist der Versöhnung, der Deutschland und Israel, der Deutschland, Europa und den Staaten der Welt einen neuen, einen friedlichen Weg gewiesen hat.9

Stopp. Stopp. Schnitt. Was hat er gerade gesagt? Was ist passiert? Also, anlässlich des 75. Jubiläums der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz lädt der israelische Staat zu einer Gedenkveranstaltung nach Yad Vashem ein, bekanntlich dem zentralen Gedenkort für die von Deutschland ermordeten sechs Millionen Juden und Jüdinnen. Zur Veranstaltung sind Repräsentant*innen derjenigen Länder eingeladen, die Nazi-Deutschland 1945 besiegten, außerdem ein Vertreter der Bundesrepublik Deutschland, Sie wissen schon, warum. Man trifft sich also, um der Toten zu gedenken und all der Dinge, die hätten sein können. Und während man andächtig schweigt, klatscht der deutsche Bundespräsident in die Hände und ruft: Mensch, also ich finde es wirklich ganz toll, dass wir uns hier versammelt haben, um uns miteinander zu versöhnen!

Wir sind uns vermutlich einig, dass Erinnern und Versöhnen ebenso wie Leihen und Schenken nicht dasselbe sind. Und doch taucht auch das Sprachbild des Geschenks regelmäßig in den Reden von Politiker*innen auf, wenn sie über jüdisches Leben in Deutschland sprechen, etwa beim NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet anlässlich der Eröffnung des Festjahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« im Februar 2021.10 Vielleicht wollte er damit ausdrücken, dass die Anwesenheit von Juden und Jüdinnen nach 1945 als große Bereicherung für die nichtjüdische Gesellschaft verstanden wird, die kurz zuvor noch alle Juden und Jüdinnen vertrieben oder umgebracht hatte. Vielleicht sollte ein Gefühl der Dankbarkeit zum Ausdruck kommen, dass das mit der Wiedergutwerdung so gut geklappt hat, denn wo Juden und Jüdinnen leben, kann kein Nationalsozialismus sein.

Die Autorinnen Judith Coffey und Vivien Laumann würden in dieser Selbstbezüglichkeit vermutlich einen weiteren Fall von Gojnormativität erkennen.11 Und sie hätten recht, denn eine nichtjüdische deutsche Hoffnung auf Versöhnung wird hier so weit verallgemeinert, dass sie die jüdische Anwesenheit als ein Geschenk an sich selbst bezeichnen kann. Tatsächlich verhält es sich ziemlich wahrscheinlich anders: Juden und Jüdinnen haben alle möglichen Gründe, in Deutschland zu sein — das Erfreuen der nichtjüdischen deutschen Seite zählt nicht dazu. Sie sind keine Geschenke für Deutsche.

Wie konnte es so weit kommen? Die Entwicklung bis zu Steinmeiers gefeierten Sätzen von 2020 lässt sich für die BRD recht mühelos rekonstruieren. Wurde der deutsche Völkermord an den Juden und Jüdinnen in der ersten Regierungserklärung Konrad Adenauers 1949 noch gar nicht ausdrücklich erwähnt, hielt der Bundeskanzler bereits am 27. September 1951 eine kurze Rede, die als Grundlage der bundesdeutschen Ära der Wiedergutmachung gelten kann. Darin heißt es unter anderem:

Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt.12

Diese Behauptung ist zwar faktisch falsch, bildet aber den Ausgangspunkt einer westdeutschen Erzählung, die über die folgenden Jahrzehnte hinweg als Basis der Politik diente. Sie erklärt auch, warum Adenauer bereits kurz nach Regierungsantritt Amnestiegesetze erließ, mit denen er die meisten kleinen Nazifische per Dekret entlastete. Doch auch die großen hatten kaum noch Strafverfolgung zu fürchten, ich komme darauf zurück. Wenn in der bis 1963 dauernden Adenauer-Ära von Wiedergutmachung die Rede war, ging es dementsprechend nicht um die juristische oder gesellschaftliche Aufarbeitung der Rolle, die die deutsche Gesellschaft und jedes einzelne ihrer Mitglieder bei der Shoah gespielt hatten. Sondern: um eine Reihe öffentlicher Handlungen, die auf eine Wiederaufnahme der BRD in die Weltgemeinschaft abzielten, die nicht zuletzt gegen den Willen der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung umgesetzt wurden.13 Diese Politik erfolgte in mehreren Schritten: Auf das Luxemburger Abkommen mit dem jungen Staat Israel 1953 folgten das Bundesentschädigungsgesetz 1956 sowie das etwas eigenartig benannte Bundesentschädigungsgesetz-Schlussgesetz 1965.

In den folgenden Jahrzehnten wurde diese »Vergangenheitsbewältigung« mit zunehmender Schärfe kritisiert, weil manche sicherlich nicht zu Unrecht vermuteten, man wolle mit der gewaltvollen Vergangenheit einfach nur irgendwie abschließen, sie eben: bewältigen. Diese Kritik war Ausdruck eines sich wandelnden Umgangs mit der jüngeren deutschen Vergangenheit und hatte auch mit einem Generationenwechsel zu tun. Mit der sogenannten 68er-Generation kamen nämlich die Kinder der Nazieltern zu Wort und sahen deutlich weniger Nutzen in Amnestieparagrafen als ihre Erzeuger*innen. Stattdessen forderten sie eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit der Geschichte. Kaum eine Geste bringt diese Veränderung so eindrücklich auf den Punkt wie der Kniefall des ehemaligen Widerstandskämpfers und Exilanten Willy Brandt 1970 vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettoaufstands. In der Bundesrepublik diskutierte man den Kniefall in den folgenden Wochen und Monaten kontrovers. Sahen die einen in ihr einen Ausdruck von Unterwürfigkeit gegenüber der Sowjetunion, mit der man sich im Kalten Krieg befand, meinten andere, darin die lange überfällige Anerkennung der deutschen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und seine Verbrechen zu erkennen. Letztere Perspektive setzte sich durch und damit eine Kritik an der Vorstellung, bei den Nazis habe es sich um eine kleine Clique von Gangstern gehandelt, die das eigentlich gute deutsche Volk verführt und anschließend ganz Europa in den Abgrund gerissen habe. So wurden auch die eigenen Familien zum Ziel der kritischen Bestandsaufnahme, an nicht wenigen Küchentischen mussten sich die Eltern die Frage gefallen lassen, wo sie während der Zeit des Nationalsozialismus gewesen waren und welche konkrete Verantwortung sie für die verübten Verbrechen hatten.

Die frühen 1970er Jahre bildeten den Auftakt für die zweite Phase der deutschen Erinnerungskultur. Und mir scheint, ihre Bedeutung und Reichweite ist sowohl unterschätzt als auch übertrieben worden: unterschätzt, weil hier tatsächlich ein neues Erinnerungsparadigma entstand. Die »deutsche Erinnerungskultur« wurde international so beispielhaft für eine staatliche und gesellschaftliche Anerkennung einer gewaltvollen Vergangenheit, dass man von einem echten Exportschlager sprechen kann. Zugleich wurde die Bedeutung und Reichweite dieser zweiten Phase auch übertrieben: Zwar läutete das Jahr 1970 ein neues Paradigma des gesellschaftlichen Umgangs mit der nationalsozialistischen Gewalt ein, dieser neue Umgang bedeutete aber nicht, dass Menschen für die Verbrechen, die sie während des Nationalsozialismus verübt hatten, auch tatsächlich zur Rechenschaft gezogen wurden, ebenso wenig wie für die Profite, die sie daraus geschlagen hatten. Erinnerungskultur made in Germany zeigte sich vor allem als eine Reihe politischer und gesellschaftlicher Bekundungen guten Willens, die sich fortan auch in Reden, Denkmälern und Gedenktagen ausdrückten.

Hier lohnt es sich, noch einmal auf die Bundestagsrede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 zurückzukommen. In seinem Versuch, die Zuhörer*innen von einer Anerkennung der deutschen Verbrechen zu überzeugen, bezeichnete der Bundespräsident die Erinnerung als »Geheimnis der Erlösung«, als etwas, was nicht nur Hoffnung schaffe, sondern auch den »Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung«.14 Eine bemerkenswerte Stelle. Nicht nur wegen der religiösen Bezüge, die die gesamte Rede durchziehen, sondern auch wegen der Nähe zur Versöhnungspassage vom Anfang des Kapitels. Bereits fünfunddreißig Jahre vor Steinmeier findet sich also die Vorstellung, der Akt des Erinnerns selbst könne Versöhnung bedeuten. Dass das mit dem Judentum weitaus weniger zu tun hat als mit einer christlichen Vorstellung von Vergebung brauche ich hoffentlich nicht erklären.

Es sollte offensichtlich sein, dass Versöhnung nur funktionieren kann, wenn das Gegenüber mitmacht. Gibt es dieses Gegenüber nicht, etwa, weil man es ermordet hat oder weil es Forderungen nach echter Aufarbeitung und Entschädigung stellt, die man wirklich nicht erfüllen möchte, hat man ein Problem. Auf dieses Problem kann man entweder reagieren, indem man auf die Forderungen eingeht — oder indem man sich einfach ein neues Gegenüber erfindet, das den eigenen Fantasien entspricht: Das war die Geburtsstunde der Juden des deutschen »Gedächtnistheaters«, das der Soziologe Michal Bodemann 1996 beschrieben hat.15 Nun hatten die lebendigen Juden und Jüdinnen weder in der DDR noch in Westdeutschland besonders große Lust, der deutschen Seite dabei zu helfen, sich mit ihrer eigenen Geschichte auszusöhnen. Aber dieser mangelnde Kooperationswille war kein echtes Problem für die deutsche Erinnerungskultur, die in den folgenden Jahrzehnten ein bestimmtes Bild von der jüdischen Bevölkerung erzeugte, die man vernichtet und vertrieben hatte und der man nun nachtrauerte. Das hatte unweigerlich Auswirkungen auf die — wenigen — lebenden Juden und Jüdinnen in der Bundesrepublik.16 In diesem Sinne gab Michal Bodemann seinem Buch den programmatischen Untertitel Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung.17