Verwundbar sein - Hildegund Keul - E-Book

Verwundbar sein E-Book

Hildegund Keul

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Beschreibung

Verwundbar zu sein ist wahrlich nicht immer angenehm. Zugleich eröffnet Vulnerabilität die Chance, dass Menschen berührbar und empathisch sind, einander Zuwendung schenken und solidarisch handeln. Humanität lebt aus der Bereitschaft, für andere Menschen ein Wagnis einzugehen. In Miniaturen zur Verwundbarkeit lotet Hildegund Keul die überraschenden Tiefen und Untiefen menschlichen Lebens aus. Leichtfüßig verbindet sie aktuelle politische Fragen und gesellschaftliche Herausforderungen mit dem Kern christlichen Glaubens. Wo wir unsere Verletzlichkeit spüren, scheint sie besonders auf: die Kostbarkeit des Lebens.

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Hildegund Keul

Verwundbar sein

Vulnerabilität und die Kostbarkeit des Lebens

Matthias Grünewald Verlag

Inhalt

Einleitung:Wo sich die Kostbarkeit des Lebens offenbart

1. Teil: Das Wagnis der Verwundbarkeit: Weihnachten – Ostern – Pfingsten

Das Wagnis der Verletzlichkeit

Gott, ein Migrant

Hingebungsvoll leben

Die dahergelaufenen Sterndeuter. Und Sterndeuterinnen?

Nagelprobe der Humanität: Umstrittene Herberge

Auferstehung als Lebenskunst. Über die brüchigen Pfade der Hoffnung

Die Auferstandenen

Wie der österliche Glaube diakonisch bereichert

#PorteOuverte – Pfingsten heute

Ein geistreicher Umgang mit Vulnerabilität

2. Teil: Verwundbarkeit in der Pandemie – auf Kosten Anderer leben oder füreinander dasein?

Wunden verbinden

Vulneranz aus Vulnerabilität. Die prekäre Lage geflüchteter Menschen

Katholische Verschwörer und der Herodes-Effekt

Das Verletzlichkeitsparadox

Vulnerabilität – ein neues Dispositiv der Macht

3. Teil: Sexuelle Gewalt in der Kirche – Vertuschung, Aufarbeitung, Widerstand

Warum schweigen alle? Frauenstimmen zur Missbrauchskatastrophe

Das Verfemte des Verfemten ist doppelt verfemt

Widerstand, der nicht bitter macht, sondern frei

Schönstatt. Die prekäre Machtkonstellation ›Sexualität, Demut, Gehorsam‹

Prävention als Zeichen der Zeit. Pastoraltheologische Perspektiven

Missbrauch und Vertuschung an der Odenwaldschule: Wie Heilsversprechen auch in säkularen Kontexten gefährlich werden

4. Teil: In aller Verletzlichkeit um Frieden ringen

Schwäche zeigen? Nur Mut!

Ein einziges kleines Wort

Great? Again?

Das Aufleuchten eines Augenblicks, der dem Tod widersteht

Zu lange weiß

Selbstverschwendung. Widerstand gegen die eigene Vulneranz in der Feindesliebe

Heterotopien schwuler Existenz – Orte prekärer Vulnerabilität

Das Heilige der Anderen

9/11: Verwundbarkeit und die Präsenz des Lebens

Das Heterogene. Ein Blick in die Welt der Abgründe

Frieden und die Liebe zum Leben

5. Teil: Mystik – wo sich die Kostbarkeit des Lebens zeigt

Schöpfung durch Verlust. Mystik bei Ingeborg Bachmann

Überraschendes aus der Katastrophenforschung

»Doch mit Gott ist man nie fertig.« Poetische Erkundungen in Gottesfragen der Gegenwart

Wir Menschen: Sonnengeborene

Literatur

Verzeichnis der Erstveröffentlichungen

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Einleitung Wo sich die Kostbarkeit des Lebens offenbart

»Vulnerable Gruppen« – wie oft dieser Begriff im Jahr 2020 wohl gefallen ist? Vulnerabilität war vor kurzem noch ein unbekannter Zungenbrecher. Aber dann kam die Corona-Pandemie, und sie nötigte uns, über Verwundbarkeit zu sprechen. »Das ist, was eine Epidemie uns zeigt: wie verwundbar wir alle sind, wie abhängig von dem rücksichtsvollen Verhalten anderer, aber damit eben auch: wie wir durch gemeinsames Handeln uns schützen und gegenseitig stärken können.« (Die Bundesregierung 2020) So formulierte es Angela Merkel in ihrer vielleicht berühmtesten Fernsehansprache als Bundeskanzlerin. Aber auch schon vor der Pandemie war die menschliche Ver­wundbarkeit ein öffentliches Thema, vor allem dort, wo islamistische oder rechtsextreme Terroranschläge die Verletzlichkeit offener Gesellschaften auf die Agenda gesetzt hatten. Kein Wunder also, dass mit der Rede von ›vulnerablen Gruppen‹ der Zungenbrecher ›Vulnerabilität‹ 2020 in die Alltagssprache einging.

In den Wissenschaften hingegen ist der Fachbegriff schon länger verwurzelt. Medizin und Psychologie wollen wissen, wie verwundbar bestimmte Menschen gegenüber Krankheiten sind, um sie besser vor einem Ausbruch zu schützen. Die Armutsforschung interessiert, wie sich sozial erzeugte Vulnerabilität im Blick auf Gesundheit, Bildung und gesellschaftliche Teilhabe auswirkt. Die UN-Gremien, die sich mit Armutsbekämpfung, Gesundheitsfürsorge und Migrationsbewältigung befassen, verwenden ›Armut und Verwundbarkeit‹ als feststehenden Doppelbegriff. Die Ökologie wiederum fragt nach der Vulnerabilität von Arten, Landschaften und Ökosystemen gegenüber dem Klimawandel. Die Informatik bezeichnet damit die Sicherheitslücken von Computersystemen und die Ingenieurwissenschaften wollen Gebäude weniger vulnerabel machen, damit sie bei Erdbeben nicht zusammenbrechen.

Einen besonderen Beitrag leistet die Politikwissenschaft, die der Vulnerabilität den Begriff »Vulneranz« zur Seite stellt. Damit bezeichnet sie die Bereitschaft und Fähigkeit, selbst andere Menschen zu verwunden. Jeder Staat sollte demnach seine Vulnerabilität kennen und zugleich wissen, wo er andere Personen, Institutionen, Staaten verletzen kann. Im Folgenden wird dieser Begriff aufgegriffen und in verschiedenen Kontexten weitergeführt, beispielsweise wenn es bei sexueller Gewalt nicht nur um die Vulnerabilität von Kindern, sondern auch um die Vulneranz der katholischen Kirche geht.

Die Theologie schaltet sich erst spät, etwa seit 2010, in die wissenschaftlichen Debatten ein, als sich eine Wende im Diskurs vollzieht. Während die Natur- und Lebenswissenschaften Vulnerabilität ausschließlich als etwas Negatives sehen und ihre Forschungen als Schwachstellenanalyse betreiben, rücken die Geistes- und Sozialwissenschaften auch die positiven Seiten der Verwundbarkeit in den Blick. Sie verstehen Verwundbarkeit als eine Art Öffnung, die Menschen zwar Schmerz und Verlust aussetzt, aber auch befähigt, empathisch zu sein, einander zu lieben und solidarisch zu handeln. Keine Liebe ohne Verletzlichkeit. Wenn offene Gesellschaften eine besondere Vulnerabilität aufweisen, so bergen gemeinsam verschmerzte Wunden zugleich eine Chance für gesellschaftlichen Zusammenhalt.

In den letzten Jahren wurde die Theologie zu einer treibenden Kraft in dem Diskurs, der Vulnerabilität grundsätzlich neu begreift. Wenn der Blick erst einmal auf die Verwundbarkeit gerichtet wird, kann die Theologie auf einen Reichtum an Traditionen zurückgreifen, welche die schöpferischen Möglichkeiten der menschlichen Vulnerabilität beleuchten. Sie gründen auf der Überzeugung, dass Gott in Jesus von Nazareth ein verwundbarer Mensch wurde: von seiner Geburt als schutzbedürftiger Säugling bis hin zum Foltertod am Kreuz. Beharrlich setzt die Theologie auf jene Geistkraft, die nicht mit Rüstung, Mauern und Waffen daherkommt, sondern mitten in schmerzlichen Wunden überraschendes Leben stiftet; eine Kraft, die Menschen beflügelt und befreit.

Wenn eine Pandemie die Vulnerabilität der Menschheit bloßlegt und die Gewaltbereitschaft in einer Gesellschaft vielerorts wächst, wird es umso wichtiger, theologische Perspektiven einzubringen und gesellschaftlich fruchtbar zu machen. Menschen wollen nicht verwundet werden, denn Wunden bringen Schmerzen, behindern das Leben und bringen es häufig in Gefahr. Dass das Leben eines jeden Menschen mit dem Tod endet, ist das Unmögliche schlechthin. Aus diesem Grund ist das Anliegen vieler Wissenschaften, die menschliche Vulnerabilität so niedrig wie möglich zu halten, mehr als berechtigt. Dennoch sind Wunden nicht ausschließlich destruktiv, auch wenn es auf den ersten Blick so erscheinen mag.

Das liegt nicht an den Wunden selbst, sondern daran, wie Menschen mit ihnen umgehen. Menschen können aus Wunden einen Ort der Kommunikation machen und so deren Machtwirkungen in eine andere Richtung lenken. Das lässt sich in Familien beobachten, wenn plötzlich ein Angehöriger lebensgefährlich erkrankt. Solches Unglück macht Menschen sprachlos. Aber die Sprachlosigkeit will miteinander besprochen werden, auch wenn dies nur tastend und brüchig geschehen kann. Wunden lassen Menschen zusammenrücken und miteinander auf intensive Weise kommunizieren. Wunden verbinden. Als Öffnungen sind sie zwar gefährlich, sie können aber auch Empathie und Mitmenschlichkeit wecken. Wenn sie seelisch, geistig und geistlich eine Öffnung erzeugen, ermöglichen sie intensiven Austausch, ja Intimität.

Der französische Religionstheoretiker Georges Bataille (1897–1962) schrieb in seinem Buch »Die Freundschaft«: »Die Kommunikation erfordert einen Fehler, einen ›Riss‹; sie tritt, wie der Tod, durch einen Fehler in der Rüstung ein. Sie erfordert eine Koinzidenz von zwei Rissen, in mir selbst und im anderen.« (Bataille 2002, 43) Im Alltag existieren Menschen als abgegrenzte Wesen, die ihr Leben absichern und unter allen Umständen versuchen, Wunden zu vermeiden. Im Bild gesprochen: Wir laufen mit einer Rüstung herum, die Verwundungen verhindern soll. Dies ändert sich schlagartig, wenn ein Mensch, mit dem wir uns verbunden fühlen, eine tiefe Verwundung erfährt. Das kann bei Angehörigen passieren oder mit Menschen, die man gar nicht kennt – bei einem Terroranschlag, bei einer Hochwasserkatastrophe, bei einem Flugzeugabsturz. Plötzlich fühlt man sich zutiefst verbunden und legt die Rüstungen des Alltags ab. Zuvor fremde Menschen kommunizieren intensiv.

Verwundete sprechen anders miteinander, wenn sie Abgrenzungen überwinden und sich in ihrer humanen Verbundenheit begegnen. Sie kommunizieren nicht oberflächlich, sondern tiefgehend – mitten in die Öffnung, mitten in den Schmerz hinein. Wird mit dieser Form intimer Kommunikation die Wunde zu einem Ort mystischer Erfahrung? Wenn Menschen in den Mühen des Alltags verstrickt sind und mit seinen Widrigkeiten zu kämpfen haben, droht die Lebendigkeit des Lebens zu entgleiten. Aber da, wo das Leben bedroht ist, leuchtet seine Kostbarkeit auf. Um diesen Zusammenhang dreht sich das Buch »Verwundbar sein«.

Aufbau

Mit meinen Texten möchte ich den Blick für die vielfältigen Machtwirkungen schärfen, die aus der menschlichen Vulnerabilität entstehen und die ganz alltäglich am Werk sind – sowohl destruktiv als auch schöpferisch, sowohl im persönlichen als auch im politischen Kontext. Die verschiedenen Beiträge des vorliegenden Buchs wurden bereits in ganz unterschiedlichen Kontexten publiziert; ein Verzeichnis hierzu findet sich am Buchende (s. u. S. 180f).

Im Folgenden beginnt mit jeder Überschrift ein neuer Text. Die verschiedenen Einzeltexte wurden so bearbeitet und aufeinander abgestimmt, dass ein neues Ganzes daraus entsteht. Sie wurden nach folgenden Schwerpunktthemen gruppiert:

Im ersten Teil geht es um die besondere Verbindung des Christentums zur Vulnerabilität, die sich an seinen Hauptfesten – Weihnachten, Ostern, Pfingsten – zeigt.Der zweite Teil fragt, wie Menschen in einer Pandemie mit ihrer Vulnerabilität umgehen; versuchen sie, auf Kosten Anderer zu leben oder wollen sie füreinander da sein?Der dritte Teil beleuchtet die Katastrophe von Missbrauch und Vertuschung in der katholischen Kirche. Er stellt den Segen heraus, den die riskante und schmerzliche Offenlegung der Gewalt durch Überlebende bedeutet.Der vierte Teil handelt von Krieg und Frieden. Eine der wichtigsten Kompetenzen der Menschheit liegt darin, Frieden stiften zu können. Wie kommt hierbei die Vulnerabilität zum Einsatz?Im fünften Teil geht es um die Mystik, in der sich alles um die Lebendigkeit des Lebens dreht. Wo das Leben Brüche erfährt, leuchtet zugleich seine Kostbarkeit auf. Wie kann aus den Brüchen ein Aufbruch werden und neues Leben entstehen?

Dank und Widmung

Die meisten kurzen sowie einige längere Texte stammen aus der österreichischen Wochenzeitung »Die Furche«. Ich bin sehr froh über die Chance, dort in interreligiöser Verbundenheit und wöchentlichem Wechsel mit Prof. Dr. Mouhanad Khorchide, Dr. Ines Charlotte Knoll und Dr. Markus Krah monatlich eine Kolumne zu schreiben. Die große Freiheit in der »Glaubensfrage«, die Dr. Otto Friedrich und Mag. Doris Helmberger-Fleckl ermöglichen, schätze ich sehr.

Auch den Betreiberinnen und Betreibern der Online-Plattform »feinschwarz.net« bin ich dankbar für den Diskursraum, den sie eröffnen und mit hohem Engagement lebendig halten. Dass eine solche Plattform ehrenamtlich betrieben werden kann, erstaunt mich stets aufs Neue. Gern stelle ich dort auch kontroverse Themen zur Diskussion, die im vorliegenden Buch ebenfalls aufgenommen sind.

Die Lektorin Dipl.-Theol. Andrea Langenbacher und der Lektor Dipl.-Theol. Volker Sühs ermutigten mich zur Publikation dieses Buchs und begleiteten den Entstehungsprozess professionell, beharrlich und humorvoll. Barbara Hillenbrand, die in meinem Forschungsprojekt »Verwundbarkeiten« mit­arbeitet, erfasste unermüdlich die Literaturhinweise und gab mit ihrem frischen Blick auf den Text hilfreiche Hinweise. Meiner Schwester Ass. Jur. Angela Keul-Göbel danke ich für das Kor­rekturlesen.

Die Künstlerin Birgit Cauer stellte ihr Bild »Die Tänzerin« für das Cover zur Verfügung. Neben einer inspirierenden Ausstellung zu Mystikerinnen im Jahr 2001 verbindet uns das »Lebendige Labyrinth« der kfd im Kloster Helfta. Schwungvoll drückt »Die Tänzerin« jene Kostbarkeit des Lebens aus, um die es im Folgenden geht.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ermöglichte das Entstehen des Buchs im Forschungsprojekt »Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs« (gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 389249041).

Dieses Buch über die Kostbarkeit des Lebens widme ich Prof. Dr. Ulrich Winkler (1961–2021) und dem 10. Theologischen Studienjahr Jerusalem (1982/83), mit denen ich seit 1982 theologisch und menschlich verbunden bin.

Koblenz, 22. Juli 2021

1. Teil:Das Wagnis der Verwundbarkeit: Weihnachten – Ostern – Pfingsten

Das Christentum hat eine besondere Verbindung zur Verwundbarkeit. Das zeigen seine Hauptfeste, die von leidenschaftlicher Hingabe und dem Wagnis der Verwundbarkeit erzählen. Kann es auch heute lebensstiftend sein, die eigene Vulnerabilität aufs Spiel zu setzen, um das Leben Anderer zu fördern, zu unterstützen oder überhaupt erst zu ermöglichen?

Weihnachten

Das Wagnis der Verletzlichkeit

In einer Welt der Gewalt wollen Staat und Bürger:innen unverwundbar sein. Ein Gott aber, der Kind wird, durchbricht dieses Denken.

Wie kommt Gott in die Welt? Das Christentum gibt seine Antwort an Weihnachten: Gott wird geboren. Er kommt zur Welt als Kind, leiblich geboren von einer Frau. Er tritt nicht in Kampfrüstung auf wie die Göttin Athene, die kriegsbereit dem Kopf des Zeus entspringt. Jesus kommt ohne Waffen. Ihn zeichnet das aus, was heute ›hohe Vulnerabilität‹ genannt wird. Wie jedes Neugeborene ist er äußerst verwundbar. Er ist darauf angewiesen, dass Andere ihn mit Lebensmitteln versorgen und ihm Schutz bieten vor den Unbilden des Wetters, vor dem Zugriff wilder Tiere und gewalttätiger Menschen. Jesus wird nicht als Königssohn in einem prunkvollen Palast geboren, wie es der Vergöttlichung wehrhafter Heroen und machtvoller Kaiser in der hellenistischen Welt entsprach. Er wird hineingeboren in die Armseligkeit eines Stalls. Seine Familie findet keinen Platz in der Herberge. Sie muss vor Mord und Totschlag einer skrupellosen Staatsmacht nach Ägypten fliehen. Jesus ist ein Kind mit Migrationshintergrund, das den Gefährdungen des Lebens in besonderer Weise ausgesetzt ist.

Mit den Weihnachtsgeschichten führt das Neue Testament die Verwundbarkeit Jesu anschaulich vor Augen. Das Thema ist hochaktuell: Wie viele der beinahe acht Milliarden Menschen, die heute auf der Erde leben, werden an Hunger, Krankheit und Verelendung sterben? Müssen immer mehr Menschen aufgrund der Klimakatastrophe aus ihrer Heimat fliehen? Welchen Migrationsdruck wird die wachsende Weltbevölkerung auf Europa ausüben? Wie können wir uns schützen vor der Gewaltsamkeit, die in der ungerechten Verteilung globaler Lebensressourcen lauert? Diese Fragen weisen darauf hin, wie verwundbar die Menschheit ist, individuell und sozial, im menschlichen Körper wie im Staatskörper. Wie Einzelpersonen und Staaten mit ihrer Verwundbarkeit umgehen, ist gesellschaftlich relevant und zugleich prekär. Denn nicht erst die tatsächlich erlittene Wunde, sondern schon die Verwundbarkeit, also die Möglichkeit, verwundet zu werden, übt eine unerhörte Macht aus. Das gesamte Versicherungssystem, das immer stärker auf Menschen und Politiken zugreift, speist sich aus dieser Macht.

Die Angst vor Verwundung treibt dazu, vielfältige Ressourcen einzusetzen und sogar zu verschwenden. Sicherungsstrategien stehen hoch im Kurs. Aber wo stehen die hier verbrauchten Ressourcen nicht mehr zur Verfügung, obwohl sie andernorts viel dringender gebraucht würden? Noch dazu kommen oft gar nicht die eigenen, sondern fremde Ressourcen zum Einsatz: die Bodenschätze anderer Länder, die Arbeitskraft von Menschen in ruinösen Arbeitsbedingungen, die Lebensressourcen späterer Generationen. Das Bemühen um Nicht-Verwundung erzeugt unsägliche Opfer. Nicht-Verwundung kostet; und den Preis müssen häufig Andere zahlen.

Menschen und Staaten entwickeln Strategien, um die eigene Verwundbarkeit so niedrig wie möglich zu halten. Achill und Siegfried in der klassischen Mythologie bezeugen den alten Traum der Menschheit, unverwundbar zu sein. Niemand will verletzt werden und Schmerzen erleiden. Umso gefährlicher ist jedoch die Utopie der Unverwundbarkeit. Wer ihr folgt, landet beim Staatstrojaner. Der Staatskörper versucht, sich selbst unverwundbar zu machen, und verwundet diejenigen, die er zu schützen vorgibt. Gut getarnt, eine Mimikry, erschleicht sich der Staatstrojaner, die IM, der V-Mann das Vertrauen, damit die Staatsmacht dann effektiv zuschlagen kann.

Gott aber kommt nicht als Staatstrojaner zur Welt. Er wird geboren als Kind. Schon der frühen Kirche war dies wichtig: Gott hat sich nicht verkleidet oder getarnt, noch hat er eine Rolle gespielt. Er ist nicht zum Schein Mensch geworden, sondern tatsächlich. Heftig bekämpften die Kirchenväter die Trojaner-Theorien in den eigenen Reihen, zum Beispiel den Doketismus, der lehrte, dass Jesus nur einen Scheinleib hatte. Die frühen Konzilien sprachen sich nachdrücklich gegen solche Thesen aus. Dies ist im Blick auf die heutigen Debatten über die Verwundbarkeit entscheidend. Denn mit der Geburt des Kindes in der Krippe geht Gott selbst das Wagnis der Verwundbarkeit ein. In einer gewagten Gabe seiner selbst stellt er sich den körperlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Verletzungen des menschlichen Lebens. Er wird Mensch und offenbart sich als schutzbedürftiges Kind. Um leben zu können, braucht dieses Kind den Geburtsschmerz der Mutter Maria, den Besuch der armseligen Hirtinnen und Hirten, die Gaben der dahergelaufenen Sterndeuter:innen, den beharrlichen Beistand des sozialen Vaters Josef. Ohne die hingebungsvolle Zuwendung anderer Menschen stirbt ein Neugeborenes in kürzester Zeit.

Unbestreitbar ist es wichtig, sich vor Verletzungen zu schützen. Aber dies allein reicht nicht für ein humanes Leben. Die unausweichliche Verwundbarkeit, die jede Geburt offenbart, erfordert Menschen, die sich in der Liebe verletzlich machen. Erst das macht menschliches Leben human: die gewagte Hingabe. Kinder gebären und versorgen, gefährdete Menschen schützen, sich für Gerechtigkeit engagieren, wegen Missbrauch und Vertuschung schmerzliche Tatsachen zur Sprache bringen, einer Diktatur entgegentreten – das alles erhöht die eigene Vulnerabilität; es kann sogar tödlich ausgehen. Aber weil diese Hingabe Leben erschließt, entwickelt sie eine eigene Kraft, eine Macht aus Verwundbarkeit. Menschen gehen gestärkt aus ihr hervor. Wenn sie das Wagnis der Verwundbarkeit eingehen, entsteht eine Macht, die sogar Diktaturen zu stürzen vermag. Das hat der Herbst 1989 gezeigt.

Das Weihnachtsfest setzt auf diese andere Lebensmacht, die aus dem Wagnis der Verwundbarkeit hervorgeht. Gott selbst geht dieses Wagnis ein. Er kommt nicht als Staatstrojaner, sondern als verwundbares, schutzbedürftiges Kind.

Gott, ein Migrant

Das Steuer sicher in der Hand, den Hafen von Lampedusa fest im Blick – so brachte Carola Rackete, Kapitänin der Sea-Watch 3, im Juni 2019 die Existenznot flüchtender Menschen erneut auf die Tagesordnung. Das war bitter nötig. Denn die zahllosen Schiffbrüchigen, die im Mittelmeer ertrinken, verschwinden allzu schnell aus der öffentlichen Wahrnehmung. Ihr Tod macht sie unsichtbar, im wahrsten Sinn des Wortes.

Der Glaube an die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus verbindet das Christentum mit Migration und Flucht. Denn das lateinische migrare bedeutet den Ort wechseln oder auswandern, eine Grenze überschreiten. Nichts Anderes tut Gott in der Inkarnation. Der Schöpfer der Welt geht selbst mitten in die Schöpfung hinein. Es gibt keinen riskanteren Weltenwechsel. Von einem geradezu unverwundbaren Ort aus wechselt er in eine Welt voller Gefahren. Seine Menschwerdung ist ein riskanter Ortswechsel, ein gewagter Akt der Migration. Gott wird selbst zum Migranten.

Dass die Familie Jesu nach seiner Geburt aus politischen Gründen fliehen muss, weil sie vom Diktator Herodes bedroht wird (Mt 2,13–15), führt die Migration fort. Gott geht den Weg in die Verwundbarkeit der Welt aus Solidarität. Gott hat eine Schwäche für die Menschen, besonders für Arme und Bedrängte aller Art. Diese Schwäche Gottes ist die größte Stärke der Menschheit. Carola Rackete teilt diese Schwäche Gottes für Menschen in Not. So gewinnt sie selbst Stärke. Sie riskiert ihre Verwundbarkeit, nimmt Festnahme und Diffamierung in Kauf, um in einer beherzten Hafenfahrt bedrohte Menschenrechte durchzusetzen. Sie zeigt, was Europa braucht: sichere Häfen, die Verwundete aufnehmen; Grenzen, die sich für Menschen in Not öffnen; und eine EU-Politik, die die Menschenwürde schützt, auch wenn das etwas kostet.

Hingebungsvoll leben

Die Weihnachtsgeschichten der Bibel erzählen davon, wie leidenschaftlich und zugleich verletzlich Menschen sind. Wie gehen die Menschen rund um die Krippe damit um, dass sie verwundbar sind? Setzen sie darauf, sich unbedingt selbst zu schützen, oder wagen sie Hingabe, um neues Leben zu er­öffnen?

In ihren Geburtsgeschichten erzählen die Evangelisten Lukas und Matthäus, wie verschieden man mit der menschlichen Verwundbarkeit umgehen kann. Die Herbergsleute wollen ihre Lebensressourcen schützen und lassen Maria und Josef nicht ins Haus hinein. König Herodes verschärft diese Strategie, sich die Verwundbarkeit anderer Menschen vom Hals zu halten. Er ist sogar bereit, Andere zu verwunden oder gar zu töten, damit sein eigener Machtbereich nicht verletzt wird. Angriff erscheint ihm als beste Verteidigung. Er schützt sich konsequent: seine politische Machtposition, seine finanziellen Ressourcen, sein öffentliches Ansehen. Als machtvoller Herrscher kann er nicht nur Steuern eintreiben und prachtvolle Gebäude errichten, sondern auch Kriege anzetteln und Menschen heimtückisch töten lassen. Zugleich ist er als von Rom eingesetzter Vasall ein Abhängiger, der immer befürchten muss, bei der Zentralmacht in Rom in Ungnade zu fallen. Ein falscher Schritt und er ist weg vom Thron.

Auch König Herodes ist verwundbar. Und er fürchtet seine Verwundbarkeit. Nach der Erzählung des Matthäus-Evangeliums lässt er aus Angst vor einem heranwachsenden Konkurrenten in Betlehem und Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten. Damit wendet er sich gegen jene Menschen, die er als König eigentlich zu schützen hat. Auf die Herausforderung, ein verwundbarer Mensch zu sein, antwortet der Diktator mit der »Herodes-Strategie«: um selbst nicht verwundet zu werden, verwundet er Andere. Diese Strategie wird in Kirche oder Gesellschaft auch heute noch vielerorts angewendet.

Die Menschen jedoch, die an die Krippe kommen und die wir bis heute zu Hause an den Krippen versammeln, verhalten sich anders. Auch sie schützen sich, wo dies notwendig ist. Aber sie sind auch bereit zur Hingabe, wenn es darum geht, das bedrohte Leben des neugeborenen Kindes zu schützen. Für diese Bereitschaft, hingebungsvoll zu leben, steht an erster Stelle Maria. Sie geht das Wagnis ein, in einer völlig ungesicherten Situation ein Kind zur Welt zu bringen, das sie in große Schwierigkeiten bringen wird. Auch Josef zeigt eine erstaunliche Seite, wenn man ihn nach seinem Umgang mit Verwundbarkeit befragt.

Josef ist nach biblischer Darstellung nicht der biologische, sehr wohl aber der soziale Vater Jesu. Anfangs hat er seine Schwierigkeiten mit der prekären Rolle, die Maria und Gott ihm da zumuten. Aber nachdem ein Engel ihn überzeugte, engagiert er sich hingebungsvoll. Mit größter Selbstverständlichkeit teilt er mit der Mutter und dem Neugeborenen alles, was er zum Leben hat. In dem Gemälde »Die Geburt Christi« (1404) führt Conrad von Soest dies anschaulich vor Augen. Hier bückt sich Josef ganz tief bis auf den Boden, um mit seinem Atem ein Feuer am Brennen zu halten. Er kocht Essen, einen Löffel hat er sich griffbereit zur Seite gelegt. Seine ganze Körperhaltung zeigt: Josef ist hingebungsvoll bei der Sache. Er stellt sich ganz in den Dienst dessen, was hier und jetzt getan werden muss. Dabei ist es ihm egal, dass manche vielleicht die Nase rümpfen und sagen, das alltägliche Kochen sei nicht Männersache. Auch dass sein Bart dem Feuer gefährlich nahe rückt, kümmert ihn nicht. Hauptsache, das Essen gelingt und stärkt die Frau im Wochenbett.

Aber der Einsatz Josefs ist nicht nur engagiert, sondern auch riskant. Dies wird deutlich, als König Herodes seine Häscher schickt und dem Neugeborenen nach dem Leben trachtet. Das ist für den Zimmermann und für seine Verlobte Maria gefährlich. Spätestens jetzt könnte er sagen: Was kümmert es mich, es ist nicht mein Kind. Er könnte sich schnellstens vom Acker machen, indem er die beiden verlässt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Tatkräftig steht er zu ihnen, gerade in gefährlicher Zeit. »Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten.« (Mt 2,14)

Bedenkenlos riskiert Josef sein eigenes Leben. Die Häscher des Herodes sitzen der Familie im Nacken, als sie sich auf den gefährlichen Weg in ein Land machen, wo sie Fremde sein werden. Das fördert nicht gerade den Schlaf. Ständig muss man auf der Hut sein vor Gefahren, die im Verborgenen lauern. Man muss befürchten, in der Fremde unfreundlich oder gar feindlich empfangen zu werden. Josef geht diesen riskanten Weg freiwillig, weil er Maria liebt und dem neugeborenen Kind einen guten Start ins Leben ermöglichen will. Conrad von Soest bringt diese Bereitschaft in der Geburtsszene zum Ausdruck, indem er zeigt, wie Josef sich bückt. Als sozialer Vater erweist er sich wahrhaft als Vater, indem er sich rückhaltlos in den Dienst des jungen Lebens stellt.

Die Darstellung des heiligen Josef, der sich bückt und Essen kocht, ist ungewöhnlich. Und sie ist theologisch interessant. Denn in seiner Geste des Bückens verhält sich Josef nicht nur sehr human, sondern er verweist zugleich auf Gott. Die Theologin und bildende Künstlerin Benita Joswig, die 2012 viel zu früh verstarb, hat diese Bück-Bewegung Gottes 2008 in einer Glasmalerei ins Bild gebracht. Sie hatte sich längere Zeit mit der Mystikerin Mechthild von Magdeburg (geb. 1207) befasst. Daraufhin bemalte sie im Magdeburger Roncalli-Haus ein bodennahes Glasfenster mit leuchtend roter Farbe und schrieb dort mit filigranem Schriftzug die Worte ein: »Gott bückt sich« (Joswig 2008). Um die Worte lesen zu können, musste man sich selbst bücken. »Gott bückt sich« wird so zu einer Metapher der Inkarnation. Zur Menschwerdung Gottes und der Menschen gehört es, sich zu bücken, um bedrohte, niedergeschlagene, kleingehaltene Menschen aufzurichten. Diese Praxis trägt zum Aufbau einer humanen Welt bei.