Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit - Hildegund Keul - E-Book

Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit E-Book

Hildegund Keul

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Beschreibung

Woher kommt die faszinierende Kraft der Weihnachtsgeschichte? Hat sie vielleicht damit zu tun, dass sich darin alles um ein neu geborenes Kind dreht, winzig, schutzbedürftig und - verwundbar? Doch nicht nur der neugeborene Jesus ist verletzlich, auch die Menschen in seinem Umfeld zeigen sich als verwundbar und schutzbedürftig: Maria und Josef zum Beispiel, die bei der Herbergssuche abgewiesen wurden. Anhand dieser Beobachtung ermöglicht Hildegund Keul einen ganz neuen Zugang zur Weihnachtserzählung. Was in dieser Geschichte sichtbar wird, begreift sie als einen Wesenszug, der alle Menschen verbindet: Wir sind alle verletzlich und brauchen Menschen in unserer Nähe, die uns nahe sind und Schutz gewähren. Ein nachdenkliches Buch für die stille Zeit.

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HAUPTTITEL

Hildegund Keul

Weihnachten – Das Wagnis der Verwundbarkeit

Patmos Verlag

Gewidmet allen Helferinnen und Helfern, die sich im Sommer 2002 und 2013 an Elbe, Donau und weiteren Flüssen bereitwillig für Andere engagiert haben.

INHALT

Geboren werden: ganz neu und ganz verletzlich sein

1. Selbstschutz – wie Menschen alltäglich mit ihrer Verwundbarkeit umgehen

Wegschauen. Die Menschen in der Herberge von Betlehem

Andere verwunden, um sich selbst zu schützen. Die Herodes-Strategie

Wissen, aber nicht handeln. Die Schriftgelehrten und Hohenpriester

2. Verletzlichkeit wagen – ein weihnachtlicher Mensch werden

Ausgeschlossene einbeziehen. Die armseligen Hirtinnen und Hirten

Was wir teilen, macht uns reich. Die dahergelaufenen Sterndeuter

Verblüffend großzügig sein. Der soziale Vater Josef

Hingabe wagen. Die Mutter Gottes Maria

Ja Sagen zum Leben – das »Es werde« der Schöpfung

Den Weg der Verwundbarkeit gehen – mit Risiken und Nebenwirkungen

Flucht vor dem tödlichen Zugriff der Diktatur – sich selbst und Andere schützen

Begeistert das Leben feiern – der Zauber von Weihnachten

3. Inkarnation – Gottes Wagnis der Verwundbarkeit

Das Kind in der Krippe – verwundbar

Inkarnation – ein gewagter Akt der Migration

Die Botschaft von Weihnachten – Selbsthingabe wagen

Position beziehen und sich angreifbar machen – die prophetische Reich-Gottes-Praxis Jesu

Opfer menschlicher Gewalt – das Kreuz als schlimmstmögliche Folge der Inkarnation

Auferstehung als Lebenskunst – Maria Magdalena

4. Verwundbarkeit wagen! Was Weihnachten heute zu sagen hat

Neu geboren werden – eine beharrliche Gnade

Migration – prekäre Verwundbarkeit im Zeichen der Zeit

Herodes-Strategien überwinden – wider die Utopie der Unverwundbarkeit

Die zerstörerische Macht der Herodes-Strategien

Ankunftsstädte – überraschende Orte einer Kultur des Teilens

Macht aus Verwundbarkeit – ein gewagtes Unterfangen

Heute Weihnachten feiern – hingebungsvoll leben

Anmerkungen

Bibliografie

Geboren werden: ganz neu und ganz verletzlich sein

Die Weihnachtsgeschichten der Bibel faszinieren. Auch heute noch rühren sie alljährlich unzählige Menschen an, ob sie nun zur Kirche gehören oder nicht. Selbst wer die Bibel niemals zur Hand nimmt und in ihr liest, hat von den Ereignissen rund um die Krippe wahrscheinlich schon gehört. Zwar leeren sich die Kirchen in Mitteleuropa, aber an Weihnachten füllen sich ihre Räume. Woher kommt diese faszinierende Kraft?

Die wichtigste Rolle spielt hierbei das neu geborene Kind, um das sich an Weihnachten alles dreht. Neugeborene haben etwas Anrührendes. Sie sind so winzig, schutzbedürftig und verletzlich – und zugleich voller Wärme, Zukunft und Lebendigkeit. Gerade erst zur Welt gekommen, ist ihr Leben noch ganz unverbraucht. Alle Chancen auf Wachstum, Erblühen und Neubeginn liegen vor ihnen. Sie wecken Hoffnung und zaubern ein Lächeln ins Gesicht. Denn alles fängt neu an. Mit jeder Geburt erneuert sich das Leben.

Zugleich zeigt jedes Neugeborene, wie ungeheuer verletzlich das Leben ist. Bei Zeugung, Schwangerschaft und Geburt kann so schnell etwas schiefgehen. Unzählige Kinder sterben schon vor der Geburt oder überleben nur wenige Tage. Nicht jedes Kind wird freudig begrüßt, wenn es zur Welt kommt. Viele werden vernachlässigt und bekommen nicht das, was sie zum Leben brauchen. Und wie hilfsbedürftig diese Winzlinge sind! Ohne die tatkräftige Zuwendung anderer Menschen stirbt ein Säugling in kürzester Zeit. Selbst wenn ein Glas Wasser direkt neben ihm steht, wird es verdursten, wenn niemand ihm dieses Wasser reicht.

Auch Jesus, das Kind in der Krippe, ist verwundbar. Es kann sich nicht selbst schützen vor den Unbilden des Wetters, vor dem gefährlichen Angriff wilder Tiere oder vor der Gewaltsamkeit anderer Menschen. Es zeichnet das aus, was die Wissenschaften heute »hohe Verwundbarkeit« nennen. Um leben zu können, braucht das Kind den Schutz, die Unterstützung und die hingebungsvolle Zuwendung anderer Menschen. Hiervon erzählen die Weihnachtsgeschichten. Sie führen die Verletzlichkeit des neu geborenen Lebens vor Augen – und die verblüffende Bereitschaft von Menschen, diesem Kind bedingungslos Schutz, Zuwendung und Liebe zu schenken.

Da sind Maria und Josef, die sogar ihr eigenes Leben riskieren, um Jesus den Aufbruch ins Leben zu ermöglichen. Ähnlich verhalten sich die Sterndeuter, die aus einem fernen Land auf gefährlichen Wegen nach Betlehem kommen. Auch die armseligen Hirtinnen und Hirten tragen dazu bei, dass das neue Leben Fuß fassen kann. Bereitwillig verschenken diese Menschen das, was ihnen zur Verfügung steht. Sie tragen zu einer Kultur des Teilens bei, die Leben eröffnet.

Aber nicht nur die Menschen reagieren an Weihnachten auf ihre Verwundbarkeit. In dem neugeborenen Kind kommt Gott zur Welt, so sagt es der christliche Glaube. Gott wird geboren als Mensch. Damit stellt er sich jener Verwundbarkeit, der alle Menschen ausgesetzt sind. Dies ist ein Wagnis. Gott schafft nicht nur eine äußerst zerbrechliche Welt – und überlässt sie dann ihrem Schicksal. Sondern in Jesus Christus stellt sich Gott selbst der Verwundbarkeit. Und das aus freien Stücken. Die Geburt als Mensch aus Fleisch und Blut macht Jesus verletzlich. Das zeigt bereits das Neugeborene in der Krippe. Und Jesus wird tatsächlich verwundet, wird gemartert und gekreuzigt bis in den Tod.

Die Weihnachtsgeschichten sind ein Lehrstück darüber, wie Menschen mit der Tatsache umgehen, dass sie verletzlich sind – sie selbst und die Anderen, mit denen sie zu tun haben. Diejenigen, die sich hingebungsvoll dem Neugeborenen widmen und sich damit verwundbar machen, spiegeln das, was Gott in der Menschwerdung tut. Sie werden Mensch, indem sie Hingabe wagen. Aber man kann auch ganz anders reagieren. Das zeigen der König Herodes, der das Neugeborene töten will, und die Menschen in der Herberge, die nicht zum Teilen bereit sind.

Wenn man den Blick auf die Frage richtet, wie Menschen mit ihrer Verwundbarkeit umgehen, dann verlieren die biblischen Geschichten ihre ganze scheinbare Naivität. Die Krippe ist keine Idylle, keine Utopie einer heilen Familie mit schmückenden Accessoires wie sanftmütigen Hirten, jubilierenden Engeln, wunderschönen Frauen und reich geschmückten Königen. Vielmehr erzählen sie ergreifende Geschichten darüber, wie Gott und die Menschen mit der Verletzlichkeit humanen Lebens umgehen.

Das Weihnachtsfest macht »Verwundbarkeit« zum Schlüsselwort christlicher Gottesrede. Es handelt von Schwangerschaft und Geburt, Verfolgung und Flucht, Gleichgültigkeit und Wagemut, Gewalt und Engagement. Befragt man diese Geschichten danach, was sie in Fragen der Verwundbarkeit zu sagen haben, so erscheint das Weihnachtsfest in neuem Licht. Erzählend geht es Fragen nach, die uns auch heute noch bewegen. Wo ist es notwendig, dass ich mich schütze? Und wo ist es wichtig und richtig, dass ich Hingabe wage?

Um diese Fragen bewegt sich das Buch, das Sie in Händen halten. Es geht einen ungewöhnlichen Weg, um sich dem Kind in der Krippe zu nähern. Es schaut nicht zuerst auf Jesus, sondern auf die Menschen in seinem Umfeld. Mit der Verwundbarkeit eines Neugeborenen konfrontiert, verhalten sie sich ganz unterschiedlich. Und dieses Verhalten entscheidet darüber, wie weit sie von der Krippe entfernt sind oder wie mutig sie sich ihr nähern.

Zunächst stellt das Buch jene Gruppe von Menschen vor, die nicht zur Hingabe bereit sind und daher auch nicht zur Krippe kommen: die Herbergsleute, die Schriftgelehrten und Hohenpriester, den König Herodes. Anschließend rückt das wagemutige Engagement jener Menschen in den Blick, die ihre eigene Verwundung riskieren: die Hirtinnen und Hirten, die Sterndeuter sowie allen voran Maria und Josef. Aber auch Gott geht das Wagnis der Verwundbarkeit ein, indem er Mensch wird im Kind, das in der Krippe liegt. Dieses dritte Kapitel geht über Weihnachten hinaus in das weitere Leben Jesu hinein. Sein gewagtes öffentliches Auftreten macht ihn verwundbar bis zum Tod am Kreuz. Das Abschlusskapitel geht der Frage nach, was die Botschaft von Weihnachten heute zu sagen hat. Denn Fragen nach Verwundung und Heil, Selbstschutz und Hingabe sind aktueller denn je – im persönlichen Leben, in politischen Konflikten, in sozialen Herausforderungen.

1. Selbstschutz – wie Menschen alltäglich mit ihrer Verwundbarkeit umgehen

Menschen sind fragile Wesen. Sie sind verwundbar. Sie haben einen Körper und eine Seele, die auf vielfache Weise Schaden erleiden können. Da Wunden aber Schmerzen hervorrufen und das Leben behindern oder gar zerstören, wollen die Menschen sie vermeiden. Sie schützen sich vor Verwundung. Das ist ganz alltäglich der Fall. Menschen bauen Häuser aus Stein, um vor Wind und Wetter, Tier und Mensch geschützt zu sein. Sie legen Vorräte an, um sich für Zeiten des Hungers, der Krankheit oder Gebrechlichkeit zu wappnen. Sie verbünden sich miteinander und bilden Gemeinschaften, um einem Angriff von außen besser standzuhalten.

Nicht erst die tatsächlich erlittene Wunde, sondern schon die potentielle Gefahr, verwundet zu werden, übt eine unerhörte Macht aus. Menschen, Gruppen und Staaten befürchten, verwundet zu werden. Und sie tun vieles, um dies zu verhindern. Hierzu setzen sie einen großen Teil der eigenen Lebensressourcen ein. Und manchmal greifen sie sogar gewaltsam auf die Lebensressourcen Anderer zu, um sich selbst zu schützen. Die Weihnachtsgeschichten erzählen von drei Gruppen, die dies tun: die wohlhabenden Leute in der Herberge, die Schriftgelehrten und Hohenpriester sowie der machtvolle König in Jerusalem. Diese drei Gruppen zeigen besonders deutlich, dass die Weihnachtsgeschichten keine Idylle vor Augen führen, sondern von harten Konflikten erzählen. Denn die Gruppen, die nicht zur Hingabe bereit sind, entwickeln ihre je eigenen Strategien, um sich vor Verwundungen zu schützen und das eigene Wohlergehen zu sichern. Die Leute in der Herberge halten sich die Verletzlichkeit des Neugeborenen erfolgreich vom Hals. Die Schriftgelehrten und Hohenpriester kooperieren mit einer diktatorischen Staatsmacht, um selbst ungeschoren davonzukommen. Und der König Herodes ist sogar bereit, Andere zu töten, um sich selbst zu schützen und ja nichts zu riskieren.

Biblische Geschichten zur Geburt Jesu

Zwei Evangelien erzählen Geschichten über die Geburt Jesu. Das Evangelium nach Lukas (Lk 1,5–2,52) legt neben Johannes dem Täufer besonderen Wert auf die Aktivitäten von Frauen wie Maria, Elisabet und der Prophetin Hannah. Lukas erzählt mit inspirierenden Bildern von dieser besonderen Geburt an der Krippe (2,1–21). Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1,18,–2,23) ist stärker daran interessiert, wie Männer handeln, und erzählt ausführlich von König Herodes und seinen Häschern, von Josef und den Sterndeutern.

Wegschauen. Die Menschen in der Herberge von Betlehem

Die wohl beliebteste Weihnachtsgeschichte stammt aus dem Lukas-Evangelium. Walter Jens meint sogar, dass es »der bekannteste Text der Weltliteratur« (Jens 2007, 12) sei. Dieser beginnt mit den Worten: »In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen.« (Lk 2,1) Das mag zunächst harmlos klingen. Aber der zweite Blick lässt Schlimmes ahnen: Steuerlisten. Auch nach Jahrhunderten schwant da nichts Gutes. Eine Staatsmacht greift zu und stellt Forderungen. Sie hat die Macht, die finanziellen Ressourcen der Bürgerinnen und Bürger anzutasten. Sie kann Steuern einnehmen, eintreiben oder gar abpressen. Steuern sind eine heikle Angelegenheit. Denn oft sind sie ungerecht, sie machen die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer.

Der Machtzugriff des Kaisers bringt die Menschen seines Reiches zwangsläufig in Bewegung. Die Familien müssen in den Geburtsort der Männer gehen, um sich registrieren zu lassen. »So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete.« (Lk 2,4f) Eine hochschwangere Frau ist mit ihrem Verlobten unterwegs an Orten, wo sie nicht auf das Entgegenkommen von Verwandten, Freundinnen und Freunden vertrauen kann – wie es ihr wohl ergeht in dieser Fremde? »Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.« (Lk 2,6f)

Mit nur wenigen Worten wird hier eine Personengruppe benannt, die in den heutigen Weihnachtserzählungen und Krippenspielen gern ausgemalt wird: die Menschen in der Herberge. Sie sind beliebte Figuren, denn sie rühren an ein Grundbedürfnis des Menschen. Es geht darum, ein Dach über dem Kopf zu haben und durch Wände vor unliebsamen Übergriffen bewahrt zu werden. Obdach zu genießen und in einer Wohnung zu leben gehört heute zu den allgemeinen Menschenrechten (Art. 25/1). Wer draußen leben muss, ist ungeschützt, die Verwundbarkeit erhöht sich schlagartig. Für Menschen, die in der Fremde unterwegs sind, ist Obdach nichts Selbstverständliches. Wer nicht genug Geld hat oder gar auf der Flucht ist, wird nur schwer eine angemessene Unterkunft erhalten. Da man selbst keinen Wohnraum zur Verfügung hat, ist man auf die Gastfreundschaft Anderer angewiesen, selbst wenn man dafür bezahlen kann.

Die Chancen auf eine gute Unterkunft werden geringer, je schwieriger die eigenen Lebensumstände sind. Dass die junge Familie keinen Platz in der Herberge findet, ist daher kein Zufall. Die Herbergen mögen mancherorts voll sein, weil so viele Menschen wegen der Volkszählung unterwegs sind. Aber das ist nicht alles. Immerhin geht es hier um eine hochschwangere Frau, die bald gebären wird. Jede Geburt aber ist eine Herausforderung – nicht nur für die Eltern, sondern für alle, die es mit ihr zu tun bekommen.1 Sie erfordert Positionierungen in die eine oder andere Richtung. Eine Geburt macht Arbeit und verbraucht Lebensressourcen. Sie erzeugt Lärm, sie stiftet Unruhe und ist für alle Beteiligten eine riskante Sache.2

Wenn die Gebärende unbekannt ist, weiß man zudem nicht, ob sie Krankheiten oder Ungeziefer oder sonstigen Ärger aller Art mit ins Haus bringt. Geschwächt und angestrengt sieht sie jedenfalls aus. Daher ist es schon leichter zu sagen, dass leider kein Platz mehr in der Herberge sei. Stünde der König des Landes vor der Tür, so würde er selbstverständlich großzügig Raum erhalten. Aber die Schwangere, die kurz vor der Niederkunft steht, erhält keinen Einlass. Hier zeigt sich ein Verhalten, das Menschen in Armut häufig widerfährt: Die Frau, die wegen ihrer Schwangerschaft am meisten Schutz bedarf, wird aus den Schutzräumen der Gesellschaft ausgeschlossen. Und das im wahrsten Sinn des Wortes. Weil sie ein Risiko verkörpert, wird die Tür vor ihr verschlossen. Die Menschen in der Herberge zeigen keine Bereitschaft, ihre Lebensressourcen zu teilen. Sie befürchten, dass die Schwangere sie in Schwierigkeiten bringt und zu viel kostet.

Das Verhalten der Herbergsleute ist nur zu gut verständlich. Denn es entsteht aus dem Bedürfnis, sich selbst zu schützen. Die Herbergsleute – Besitzer und Bewohner – greifen zwar Andere nicht an, fügen Anderen keine Wunden zu und verhalten sich nicht aggressiv. Sie tun aber nur wenig oder gar nichts, um drohende Verwundungen zu verhindern. Um es deutlich zu sagen: Das Verhalten der Menschen in der Herberge ist der alltägliche Normalfall. Das hat damit zu tun, dass jeder Mensch Ressourcen für sich selbst und für die eigene Gemeinschaft braucht. Man muss sich davor schützen, dass Andere auf die eigenen Ressourcen zugreifen – falls man überhaupt die Macht dazu hat. Selbstschutz ist eine unverzichtbare Lebensstrategie.

Wir wissen nichts über die Lebensgeschichten und die momentane Situation der Herbergsleute und warum sie ihre Ressourcen für sich behalten. Es mag Bösartigkeit sein, dass man nicht teilen will, sondern alles für sich hortet. Oder man schätzt aus Nachlässigkeit oder Unkenntnis die Situation falsch ein. Man hat selbst Kinder zuhause, die versorgt werden wollen, oder Alte, Bedienstete, Pflegebedürftige. Vielleicht will man auch deswegen lieber gar nicht so genau hinschauen. Das Wegschauen ist in der Strategie der Herbergsleute ein entscheidender Punkt. Weil man sich vor dem Verlust eigener Ressourcen schützen will, schaut man nicht so genau hin, wenn sich bei Anderen Verwundbarkeit zeigt. Wenn man genauer hinschauen würde, dann würde man sich vielleicht anrühren lassen von dem, was sich zeigt. Wer wegschaut, bleibt unberührt von der Not Anderer. Wer hinschaut und sich öffnet, macht sich selbst verletzlich.

Aber auch mit dem Wegschauen kann man sich schuldig machen. »Guilty bystander« (schuldig daneben Stehende) hat der Mystiker Thomas Merton jene Menschen genannt, die schuldig werden, indem sie neben einer Not oder einem Verbrechen stehen und nichts dagegen unternehmen. Sie befürworten die Verwundung nicht, halten sich aber die Gefährdung der Anderen dennoch konsequent vom Hals. Im 20. Jh. hat der Nationalsozialismus auf diese Strategie des Wegschauens gebaut und konnte sich gut auf sie verlassen. Die Menschen waren nicht einmal »Zuschauer«, denn sie haben ja gerade weggeschaut. Thomas Merton zeigt dabei jedoch nicht einfach mit dem Finger auf Andere, sondern er meint durchaus sich selbst. Man kann sich nicht allen Verwundungen der Welt aussetzen, nicht einmal all den Verwundungen, mit denen man direkt in Berührung kommt. Strukturell sind viele Menschen »guilty bystander«, die schuldig werden, weil sie wegschauen.

Dies ist jedoch keine Entschuldigung für jedes Wegschauen und Nichtstun. Die Herbergsleute verweisen vielmehr auf eine entscheidende Doppelfrage. Wo ist es notwendig, sich selbst und die eigenen Ressourcen zu schützen? Und wo ist es im Sinne der Humanität notwendig, die eigenen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und Andere damit vor Verwundung zu schützen? Diese Doppelfrage ist grundlegend. Alltäglich werden Menschen mit ihr konfrontiert und müssen sich entscheiden. Das ist nicht leicht, aber unerlässlich.

Es ist bemerkenswert, dass die Bibel die Menschen in der Herberge nicht beschuldigt, anklagt oder verurteilt. Nicht einmal die Eltern Jesu beschweren sich. Es wird nur festgestellt, dass in der Herberge kein Platz für sie war. Und dennoch hat das Verhalten Konsequenzen für die Herbergsleute. Sie treten einfach zurück und spielen keine Rolle mehr im Fortgang der Geschichte. Man könnte vielleicht erwarten, dass sie später noch dazustoßen, als die Hirtinnen und Hirten, Engel und Sterndeuter ankommen. Diese Variante wählt die Bibel nicht. Indem die Herberge die Bedürftigen ausgeschlossen hat, schließt sie sich selbst von jener Heilsgeschichte aus, die sich an Weihnachten ereignet.

Andere verwunden, um sich selbst zu schützen. Die Herodes-Strategie

Die Menschen in der Herberge praktizieren das Wegschauen. Dass es schlimmer geht, zeigt Herodes, der König über Judäa, Galiläa, Samarien, Idumäa und Peräa. Hier haben wir es nach Kaiser Augustus mit der zweiten politischen Machtfigur der Weihnachtsgeschichte zu tun. Herodes ist ein machtvoller Herrscher, denn er kann Kriegszüge anzetteln, Menschen vor Gericht bringen, prachtvolle Gebäude errichten und Steuern eintreiben lassen. Zugleich ist er als von Rom eingesetzter Vasallenkönig ein Abhängiger, der immer befürchten muss, bei den Herrschenden in Ungnade zu fallen. Ein falscher Schritt und er ist weg vom Thron. Er lebt in unruhigen Zeiten, wo Herrschaften wechseln und alle auf ihren Vorteil bedacht sind.

Seine Position, stabil und fragil zugleich, gibt Grund für Befürchtungen aller Art. Er ist offiziell jüdischen Glaubens und vertritt diesen Glauben auch in der Öffentlichkeit. Er baut sogar den Zweiten Tempel in Jerusalem so tiefgreifend um, dass dieser »Herodianischer Tempel« genannt wird. Dennoch findet Herodes im jüdischen Volk kaum Anerkennung. Er lebt in einer politischen Kultur des Misstrauens und trägt selbst zu ihr bei. Hier ist jederzeit mit tödlichem Gift oder einem scharfen Messer zu rechnen. Sein Vater ist getötet worden, er selbst lässt mehrere eigene Söhne hinrichten, die angeblich Hochverrat planten. Weil er im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht und eine politische Machtposition innehat, ist er in besonderer Weise verwundbar. Er weiß dies und agiert entsprechend. Er versucht konsequent, sich vor Verwundungen zu schützen, um seine Machtposition zu bewahren und die herodianische Dynastie zu festigen.

Vor diesem historischen Hintergrund schreibt Matthäus über Herodes. Der Evangelist erzählt, wie bei dem König alle Alarmglocken schrillen, als Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem kommen und fragen: »Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen.« (Mt 2,2) Offensichtlich hat Herodes gerade kein Neugeborenes in seinem Palast. »Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem.« (Mt 2,3) Wenn der Tyrann erschrickt, ist auch sein Volk alarmiert. Niemand weiß, wie er auf seinen Schrecken reagiert und welche Köpfe rollen werden. Politiker agieren mit Machtstrategien. Es muss da eine Macht geben, die Herodes noch nicht im Blick hat, die quasi aus dem Nichts auftritt und die auf seiner Rechnung fehlt. Das bringt eine bedrohliche Unruhe mit sich.

Herodes setzt seine Machtmittel ein, um herauszubekommen, wo dieser Unbekannte ist und welche Bedeutung er hat. Dabei ist auffällig, dass er bereits mehr weiß als die Sterndeuter. Diese Menschen, die einer anderen Religion angehören, sprechen vom »König der Juden«. Herodes identifiziert diesen direkt als »Messias«. Er ruft die Hohenpriester und Schriftgelehrten zu Hilfe. Sie sind ihm zu Diensten und verweisen kundig auf Betlehem, »keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda«. Das ist ein entscheidender Punkt. Herodes weiß Bescheid und kann sich entscheiden. Er kann den Messias verehren oder verfolgen. Er ist selbst Jude, für ihn ist der Messias eine jüdische Heilsfigur. Wird er sich gegen ihn stellen?