Verwunschen in Knipsel - Renate Pöhls - E-Book

Verwunschen in Knipsel E-Book

Renate Pöhls

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Beschreibung

Das Dorf Knipsel liegt etymologisch zwischen 'Knirps' und 'Schnipsel', geographisch zwischen Kullerstadt und Vierecktal. Dröge, verschlafen und überaltert, sticht eigentlich nur Burg Hohenknipselstein hervor - kurz 'Knipsel Castle' genannt. Doch eines Tages kommt Besuch: Lorbas Zacke, pensionierter Verleger mit geerbtem Ruhesitz in Knipsel, soll der für einen Nachmittag durchreisenden Marrá von Flausen-Tulpenscheitel die Burg zeigen. Die geheimnisvolle Adlige interessiert sich für etwas ganz besonderes ... Erst sieht es so aus, als fiele die Burgbesichtigung wegen zu geringer Beteiligung ins Wasser, aber dann tauchen doch noch überraschend viele Besucher auf und etwas ganz anderes bekommt eine Fuhre Wasser ab ... Man muß nicht gegen das Andere sein - nur das Eigene lieben!

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VERBUNDENHEIT

Die Grenze jedoch ist nicht nur Umriß und Rahmen, nicht nur das, wobei etwas aufhört.

Grenze meint jenes, wodurch etwas in sein Eigenes versammelt ist, um daraus in aller Fülle zu erscheinen, in die Anwesenheit hervorzukommen.

Martin Heidegger

Denkerfahrungen

Vittorio Klostermann GmbH

Frankfurt a. M. 1983

Die anarchische Freiheit, radikal genommen, erlöst nicht, sondern macht den Menschen zum mißratenen Geschöpf, zum Sein ohne Sinn.

Joseph Ratzinger – Benedikt XVI

Glaube – Wahrheit – Toleranz

Verlag Herder

Freiburg i. Br. 2003

In dankbarer Verbundenheit

zur Münchner Rhythmenlehre

von Wolfgang Döbereiner

und als herzliche Ermutigung

für seine Frau Petra Döbereiner.

Schnell noch ein ordentlicher Überblick …

<> ZUR EINSTIMMUNG

Die Verwunschenen

<> ERSTER TEIL

Wunschlos verwunschen

<> ZWEITER TEIL

Wunschlisten

<> DRITTER TEIL

Unerwünschtes

<> VIERTER TEIL

Wünschelgänger

<> FÜNFTER TEIL

Wundersam

<> NACHWORT

… bevor es bunt durcheinandergeht!

ZUR EINSTIMMUNG

Ein verwunschener Ort

<> KNIPSEL – etymologisch ein Ort zwischen Knirps und Schnipsel, geographisch zwischen Vierecktal und Kullerstadt gelegen – hat nur den Rang eines Appendix. Einzig Burg Hohenknipselstein, genannt Knipsel Castle, ragt heraus aus Landschaft und Kultur. – Aber welche Menschen man zur Zeit in Knipsel antrifft, das kann schon überraschen. Deshalb eine kleine Vorstellung der handelnd eingreifenden oder vertrauensvoll abwartenden Personen …

Unvorbereitete Helden …

<> LORBAS ZACKE

Was macht ein Mann wie Lorbas Zacke in einem Ort wie Knipsel? Er, ein pensionierter, selbständiger Verleger – spezialisiert auf Nachdruck von Vergriffenem … – hat der sich in seinem Ruhesitz vergriffen?! Irgendwie schon und auch wieder nicht … Lorbas Zacke hat geerbt … vor gut zehn Jahren von einer nie gekannten Tante ein kleines Grundstück samt Häuschen in Knipsel. Erst wollte er das Erbe ausschlagen – man soll sich von Bedingungen nicht zwingen lassen – dann wollte er es verkaufen, aber niemand fand sich dafür – und letztlich ist er selbst geblieben.

Lorbas Zacke ein Wahrhaftiger, der sich dessen nicht bewußt ist, lebt an einem vielleicht verwunschenen Ort. Aber Lorbas kommt der Erlösung schon recht nahe, er könnte also aufatmen, was ihm aber schwerfällt, bei all den verzwickten Ereignissen, die ihn mitreißen.

Aber die meisten anderen Knipsler sind noch viel weiter von ihrem Dasein entfernt … – So bleibt die Geschichte das Drama der Verwunschenen.

<> MARRÁ VON FLAUSEN-TULPENSCHEITEL

Alter Adel – und auch selbst gealtert. Aber es treibt sie, verschiedene Dinge zu klären – doch selbst diese Couragierte hätte sich manches nicht so verworren vorgestellt.

Staatsdiener in der Provinz …

<> PORTUS TÜPFELHUND

ist gern der Gemeinderatsvorsitzende von Vierecktal und Kullerstadt, weil man mit denen Start machen kann – nur mit Knipsel weiß er eigentlich nichts anzufangen …

<> PETTAR LASCHER

Assistent von Portus Tüpfelhund, mit durchaus eigenen Ideen …

<> ARMICA KLEMME,

Mittvierzigerin, alteingesessene Sekretärin mit Bobhaarschnitt, immer auf dem Sprung

Standhaft im Flüchten und Organisieren:

<> RIA

Organisatorin bei ‘Klartext-Asylanten’ jung, dynamisch, mit allen Wassern gewaschen …

<> ARIB, CLIP und KAFI:

aus Pieselwesien stammend und von dort geflüchtet

Immer unter Strom am Trafokasten …

Alkoholabhängige Obdachlose in Knipsel (– nein, wir nennen diese Menschen nicht einfach ‚Spritis’ …):

<> RABAUTZE, Sixty plus

<> BIKER-SCHORSCH

<> BRESCH, DER DÜRRE ZAUSEL

Für die vielfältige Einfalt der Presse zeichnen verantwortlich:

<> GUTHARDT KRUMPEL

Herausgeber des ‚Knipsler Schnipsel’, die Postille erscheint vierzehntäglich

<> ZIPPA LINDWUST und DRUKS EGEL

von ‚Kullereck-TV’ – ein Regionalsender

Haben die Haare schön verschnitten …

<> SANNA KLEIN

sie betreibt – am Anfang noch eigenständig – ihren Friseursalon ‚Haar-Klein’; hat auch eine Urlaubsbekanntschaft gemacht; ihre Kundinnen sind unter anderen:

<> FRAU SCHRUM

<> RESA WETZEL

<> TRUDE WINSER

<> GRITTI ist im ‚Haar-Klein’ Friseur-Azubi

Amtlich und ehrenamtlich …

<> WOBEL HUPENHORN

Kustos auf Knipsel Castle – sonntags aber am liebsten in seinem Garten

<> TOBEL SCHLEUDERLAUS

Polizeiposten in Kullerstadt

<> FRAU HASENSCHNUT

Aufwarte von Lorbas Zacke

<> NIKTA PRITZ

Leiterin des neu geschaffenen ‚Amt zur Vorbeugung gegen Kulturelle Zumutungen für Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund’, kurz – oder doch eher lang: AVoKuZuAuMi

<> TROPS, ein junger Securitymann

Zum geistlichen Beistand berufen sind …

<> BELIESA GLAUSACK

in Knipsel Pfarrerin – und schon dadurch entschieden evangelisch

<> PATER BURKARD

Katholisches Pendant zu Beliesa Kein Witz: mitten in Knipsel steht die katholische Kirche Sankt Witzel

Kulinarisch sind wir gut ‚aufgestellt’ in diesem Roman, denn für das leibliche Wohl in Knipsel sorgen:

<> IGOR-INDI-ITALO

hat eine Curry-Pizza-Station am Bahnhof

<> GUNDI GRUNDLOS

übergewichtige Alt-68erin, betreibt einen Tante-Emma-Laden in Knipsel

<> BAUER HARFE mit seiner Frau HEGELTRAUT

haben einen Bauernhof mit Hofladen

<> FRANZ STULLENSEGEN

gehört der Weingarten ‚Knipsler Hicks’

<> HOBERT WATSCHE

ist der Wirt der ‚Knipsler Schwarte’

Den Faulen die Fitness näherbringen, das möchten …

<> YUBI und SCHRINTI

Entwickler der mentalen Purzelbaumentspannung: ‚Kobolz-Relax’; das bieten sie – noch mit mäßigem Erfolg – in ihrem ‚Keep-Cool-Spa’ in Kullerstadt an

Psychologische Betreuung …

<> DR. BROMMEL DOSENDRAUS

hat nicht viel zu melden

Werbe- und PR-Tüftler …

<> PUGIBALD DRALL und KURTI STUMPEL

beide haben eine wunderbare Recycling-Idee, die aber nicht bei allen Leuten gut ankommt …

Royalen Glanz und Krönung verpaßt der Geschichte …

<> GERTRULDE KÖNIGIN VON FERHÖKERLANDE

sie interessiert sich in ihrer knappen Freizeit für antike Möbel

Im Hintergrund …

<> MÖRK

Pieselwesischer Geist des Zerfalls, der auch mal selbst nachhilft

<> DER ERZÄHLER

einmal als Wasserkipper, dann als lila Redner – Wer ist er wirklich …?

Erster Teil

WUNSCHLOS VERWUNSCHEN

Empörung

Nachhilfe beim Aufwarten

Wenn man ein idyllisches Kaff sucht …

Geduckte Könige

Besuchen sie Knipsel

Volle Führung

Unannehmlichkeiten

Der Stand der Dinge

Empörung

„Jetzt haben Sie meine letzte Locke geköpft!“ Lorbas Zacke schaut entsetzt und empört in den Spiegel des Friseursalons ‚Haar-Klein’.

Sanna Klein, schicke, dreißigjährige Chefin des einzigen Haarsalons in Knipsel, begegnet verwundert und etwas zerstreut Zackes Blick im Wandspiegel. Sie sieht natürlich, daß die Frontlocke über Zackes Stirn mit ihrem letzten unbedachten Schnipp-Schnapp stiften gegangen ist. Ihr ist auch klar, daß der über siebzigjährige Kunde nicht mehr so viel üppigen Haarwuchs hat, daß er auf so eine Locke mal locker verzichten könnte …–

Aber Sanna weiß auch aus Erfahrung: wenn sie jetzt ‚uncool’ reagiert und in das ‚Achherrjemine’ des Kunden mit einsteigt, werden ihm aus Empörung viel mehr Haare zu Berge stehen, als er überhaupt noch auf dem Haupt hat!

Also gilt es, den Verlust eher abzuwiegeln, herunterzuspielen … ja, am besten in einen Vorteil ummünzen … – falls das bei einem so sturen Bock wie Zacke überhaupt machbar ist …

„Den ganzen blöden Schmonzes muß ich mir anhören,“ lamentiert Zacke da schon weiter „von Ihren mit dem Klammerbeutel gepuderten Fönweibern! Ich schweige extra, nur damit ich hier schnell einen Haarschnitt bekomme … nur ‚Nachschneiden’, das kürzen, was zuviel herausgewachsen ist, was fransig ist begradigen – mehr soll’s nicht sein! – Ja, ja: ruckzuck könnte das gehen! Aber erst muß ich ewig warten, weil Sie drüben im Dauerwellbereich ständig mit Haube-Auf-und-Abstülpen beschäftigt sind … dann komm’ ich dran – Gott sei Dank hier im Herrenbereich – aber nein, nein: anstatt konzentriert meine Haare zu bearbeiten, müssen Sie ständig zu den Haubenlerchen rüberzwitschern und die piepen zurück – Haubenlerchengeschnatter! Schon seit Minuten waren Sie im Geiste nicht mehr bei mir und meinem Haar, haben aber munter mit der Schere draufgehalten …“

„Herr Zacke …“ Sanna kommt gar nicht dazu auch nur irgendeinen Hebel ihrer angedachten Strategie anzusetzen.

„ … und warum?“ Zacke meint es selbst am besten zu wissen „Weil irgendein König einen Vogel abgeschossen hat …“

„Einen Elefanten …, er hat einen Elefanten geschossen, auf einer Safari, zu der ihn seine Freundin und nicht seine Ehefrau begleitet hat …“ mischt sich jetzt angepiekt, ob Zackes verdrehter Berichterstattung, Frau Schrum ein. Sie ist um die Sechzig und hat momentan drüben im Dauerwellbereich die Haare auf dem Kopf mit kleinkalibrigen Wicklern gespickt. „Das sind doch lausige Verhältnisse im Royalen – und Sie klagen über den Verlust einer Locke!“ fügt sie ergriffen von Zackes Unsensibilität hinzu.

„Weltbewegend!“ ätzt Zacke sich weiter echauffierend. „Immer hatten Könige Mätressen – mag sein, man hat sich früher zum Amüsement etwas anderes als Elefantentotschießen einfallen lassen – etwas, was beim Schwatzen einem einfachen Mann aus dem Volk nicht die Haarpracht kostet!“ zischt der Empörte, den seine verlorene Locke immer noch mehr bewegt, als die Fremdgehkrise an einem europäischen Königshofs.

„Immerhin: bei dem hochgeflatterten Röckchen von Prinzessin Rhinea, wo nicht mal zu erkennen war, ob sie überhaupt was drunter hat, da haben Sie aber ganz schön den Hals gereckt …“ behauptet jetzt die noch naturblonde Kundin Resa Wetzel. Sie streckt für Fingernagelgemälde seit einer gefühlten Stunde dem Azubi Gritti die Hand hin, während sie um den Kopf eine löchrige Gummimatte mit durchgezupften Strähnen trägt. Dieser Putz, so findet Lorbas Zacke, wippt bei jeder Bewegung wie zu heiß gefönter Pfau!

Lorbas, will sich gegen die Attacke, ein Lüstling zu sein, zur Wehr setzen: „Das mußte ja kommen! Sobald eine Rotte etwas nicht begreifen will, haut sie unter die Gürtellinie: ich sei der Lüstling zur verluderten Ghinea von Wappelreich! Wer läßt eigentlich zu, daß Klatschplunder, wie Sie, bei Arzt, Friseur und Fitnesstudio in solchen Gift-und-Galle-Gazetten jede Woche Königs in die Schlüpfer und Buxe glotzen dürfen?!“

„Rhinea! Die Prinzessin von Wabelreich heißt Rhinea, nicht Ghinea!“ korrigiert Frau Schrum nun auch entsprechend empört.

Zacke hat es jetzt satt! Er merkt selbst, daß er sich in seiner Lockenbeschwerde verheddert hat. So erhebt er sich aus dem Frisierstuhl und versucht sich die Fesseln aus Halskrause, Umhang und Handtuchlappen entschlossen abzureißen, stranguliert sich aber fast damit, weil – in einem Griff angepackt – sich alles nur noch fester um ihn würgt. Dazu passend läuft er noch röter an, als er es durch seine Aufregung eh schon ist.

Salonchefin Sanna, sonst nicht auf den Mund gefallen, ist sehr erstaunt über die aufmüpfigselbstbewußte Zurechtweisung gegen Zacke durch ihre Stammkundinnen. – Also stimmt es doch: der regelmäßige Klatsch, mit dem ihre Kundinnen hier im Salon durch die ausliegenden Zeitschriften versorgt werden, der ist schon was wert – so wie es alle auf die Palme bringt, wenn ein Outsider wie Zacke das in die Tonne treten will.

Hat doch Sanna selbst neulich überlegt, das Klatschzeitungs-Abo drastisch einzuschränken – auch damit sie selbst nicht mehr dauernd auf dem Laufenden sein muß, was im Showbizz und vor allem auch im Royalen am Brodeln ist. Mag Zackes Locke ab sein und dieser Kunde in den Wind schießen, das Zeitungs-Abo der bunten Blätter – auch einfarbig ‚Yellowpress’ genannt, vielleicht wegen Gift und Galle… – das wird sie eher noch aufstocken müssen, dafür ist dieser Vorfall allemal nützlich.

„Vielleicht helfen Sie mir mal aus diesem Pranger heraus!“ röchelt Lorbas Zacke, seinen zusehends aussichtslosen Kampf mit den inzwischen völlig festgezurrten Friseurumhangschichten im Spiegel verfolgend und gleichzeitig das abwesend nachdenkliche Gesicht Sanna Kleins registrierend, das ihn dahinter hervorlugend, unbeteiligt anstarrt.

„Wahrscheinlich sind Sie nur neidisch, daß sich von Ihnen kein Elefant totschießen läßt, weil sie ja kein König sind! – Der eine hat’s eben, der andere nich’! Sie sind ein uninteressierter Mensch – also um Ihre krause Locke ist’s nicht schade!“ Mit diesem Satz aus dem Munde von Trude Winser – einer ganz alten Kundin, die mit irgendwie eingeschäumten Haaren geduldig in ihrem Stuhl auf die nächste Aktion in diesem Tempel der Haarschönheit wartet – fühlt sich Zacke zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten geköpft, auch wenn er nun doch mit Sannas Hilfe japsend die Friseurpelerinen losgeworden ist. Er nestelt ungeschickt einen zwanzig Euroschein aus der Börse – sonst heißt’s noch, er habe die Rechnung geprellt!

„Sie sind einfach ein farbloser Mensch, ohne Tiefgang!“ resümiert Trude Winser und dann fällt ihr noch was vermeintlich Witziges ein, was sie kichernd in die Runde wirft: „Vielleicht sind Sie weniger wegen des Elefanten neidisch, als vielmehr weil mit Ihnen eben keine Schlampe auf Safari geht!“

Das reicht, um die Stimmung im Damen-Dauerwellbereich ins frohgemute Giggeln zu kippen. Alle greifen kicher-feixend zum Sektgläschen, was stets parat steht, und prosten sich zu … – Ja, der Service mit dem Hicks-Wässerchen gehört selbst in dem hinter-pommeranzigen Ort Knipsel nun schon zum Standard und da darf sich Sanna Klein auch nicht lumpen lassen – alles andere wäre farblos und ohne Tiefgang …

Sanna ist plötzlich aus den Überlegungen von Zeitungs-Abos und Sekt-Offerte wieder ganz bei sich und spurtet hinüber von der Trockenschnittecke in die Dauerwellabteilung, wo die Damen sitzen: „Farblos … Tiefgang … – ach, du Schreck, Frau Winser … Ihre Farbe … wir wollten ja nur einen Schimmer ‚Black Beauty’ überfärben … – ich hoffe, wir haben Sie nicht zum Rappen gemacht!“

Was der hinausstürmende Lorbas Zacke zuviel an puterrot im Gesicht ist, gleicht Sanna Klein durch plötzliche fahle Schreck-Blässe über die zu dunkel gefärbte Frau Winser wieder aus. –

So ist das: der eine hat’s gar nicht drauf und die andere hat’s zu dick drauf!

Nachhilfe beim Aufwarten

„Waren Sie beim Friseur?“

Zacke ist das peinlich.

Frau Hasenschnut, seine gemütliche Aufwarte inspiziert fragend seine Frisur. Wie dazu passend den Staubsauger in der Hand, als wolle sie ihm bei Nichtgefallen gleich noch die letzten Haarfusseln vom Kopfe saugen. – Schon die Frage: ‚Waren Sie beim Friseur?’ zeigt Lorbas bereits an: ‚Falls ja, dann ist das aber nicht gelungen!’

Es ist keine gute Veränderung zu sehen, aber eine schnittige, das fällt selbst seiner putzenden Frau Hasenschnut auf. Sie selbst ist noch mit üppigem, sechzigjährigem Haar gesegnet.

„Haben Sie sich Ihre Vorderlocke abschneiden lassen?“ fragt sie und wechselt dabei dem Staubsauger die Vorderdüse aus.

„Die Friseuse hat gepatzt …“ grummelt Lorbas kleinlaut, als wäre es seine Schuld. Er will niemanden beschuldigen und sein empörter Auftritt im Friseursalon einige Tage zuvor, ist ihm peinlich – obwohl es doch den anderen peinlich sein sollte – schließlich war der scharfe Schnitt nicht sein Fehler.

„Ach, war Klein-Sanna wieder mit Rundumschwatzen beschäftigt? Das passiert ihr öfter! Je nach Thema schnippelt sie geniale Frisuren oder verpeilt es!“ erklärt Frau Hasenschnut.

„’Verpeilt’ … – kann sie nicht richtig sehen?“ Lorbas ist verwirrt.

Frau Hasenschnut nun auch irritiert, hält kurz in der Sauger-Montage inne. „Die kann schon richtig gucken, nur schaut sie munter beim Quasseln nicht hin, wo sie schneidet – also da haben Sie noch Glück gehabt: Ohrläppchen, Nase, … Nuschel, ist ja bei Ihnen alles noch dran!“ Frau Hasenschnut muß kichern, offensichtlich wegen all dessen, was ‚Nuschel’ so sein könnte, bei einem älteren Herrn wie Zacke.

Zacke rückt seine zornig gefalteten Brauen noch mehr zusammen, errötet leicht und rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum. Er will nichts haben, was man als ‚Nuschel’ bezeichnen könnte.

Frau Hasenschnut ist aber gleich wieder zurück beim Thema: „Und das, wo wenn man nicht bei der Sache ist oder bei der falschen Sache zu mittenmang, dann nennt die Jugend das heute ‚verpeilt’! Wir hätten früher vielleicht ‚luschig’ oder ‚larifari’ gesagt! – Sie sind da nicht so cool drauf in dem, wie man jetzt so schnackt, Herr Zacke?!“

„Muß ich auch nicht mit einer Locke weniger!“ bockt Zacke kleinlaut zurück.

Kurzes Schweigen.

Nun fällt aber Frau Hasenschnut – jetzt mit der frisch aufgesetzten, breiten Saugerdüse, wie Gewehr bei Fuß, dem am Eßzimmertisch sitzenden Zacke über die Schulter schauend – noch eine zweite Sache auf, die sie überrascht.

„Scheint, Sie sind heut’ auch verpeilt!“ stellt sie fest und stupst dabei mit der kleinen, abgenommenen Düse auf die Tischfläche vor Lorbas.

Dort liegt der Stapel Klatschzeitungen, den Frau Hasenschnut frisch erworben immer mit dabei hat, wenn sie zu Zacke aufwarten kommt. Die Gazetten sind für die Damen auf ihren nächsten Putzstellen, die ihr regelmäßig Auftrag geben, diese Zeitschriften einzukaufen. – Aufwarte umfaßt heute eben mehr als bißchen Staubwischen …

Aufwartefrauen sind scheußlich, denkt sich Zacke, dem immer noch sein ‚Verpeiltsein’ zu schaffen macht und so raffen seine Stirnfalten, die sich gerade entspannen wollten, die Brauen fast wieder über der Nase zusammen.

„Seit wann interessiert Sie meine Klatschblatt-Batterie?“ Frau Hasenschnut findet das wirklich witzig, ihre rundliche Figur in der Kittelschürze wippt beim Kichern.

„Dafür habe ich meine Locke gelassen! Jetzt will ich auch wissen, was es damit auf sich hat!“ versucht Lorbas entschieden zu klingen, um nicht wieder zu den ‚Verpeilten’ einsortiert zu werden.

„Ach, hat sich die ganze Frisier-Bagage über die Adelsbraut ausgelassen, die nicht schwanger wird?“ Frau Hasenschnut legt den Mutter-Sauger weg, und behält nur das kleine, lose Runddüsenkind in der Hand, dann zieht sie sich einen der Eßtischstühle neben Zacke heran und setzt sich ohne Umstände – eben ganz unverpeilt – neben denjenigen, der sie für diese Zeit zum Putzen engagiert hat und bezahlen wird, alle Unterschiede von Putzfrau zu Haushaltsvorstand beiseite lassend. Eine gute Aufwarte hat eben auch den Rundblick und nimmt wahr, wo außer aktueller blinder Flecken grundsätzlich etwas aufpoliert werden muß …

Zacke nimmt den leichten Plumps von Frau Hasenschnut auf seinen Nebenstuhl in diesem Moment nicht als Egalisierung der Stände wahr. Vielmehr ist er schon bei der Sache, die ihn seit neulich beschäftigt: „Weshalb Frauen von der Krone träumen, während sie unter der Haube sitzen, ist mir nicht klar!“ erklärt er seine Verwunderung.

„Die wollen am liebsten selbst Königinnen werden!“ klärt ihn Frau Hasenschnut auf.

„Ja, und dann merken sie: ein bißchen Frisur richten, das reicht da nicht!“

„Ich würd’ mal sagen, die lästern einfach auch gern … und klar, sie wüßten selbst natürlich am besten, wie’s besser geht, aber wirklich machen will’s wohl keine, denn wenn alle Untertanen ihnen auf den Bauch starren, wann sie mal langsam schwanger werden, wäre das wohl den meisten Menschen selbst in hohem Rang recht lästig …“

„So etwas gibt es also auch …“ Zacke schüttelt ungläubig den Kopf. „Aber neulich ging es wohl darum, daß ein verheirateter König mit seiner Freundin zur Safari fuhr … und die Freundin hatte wohl nichts drunter an …– kann das sein?“ Zacke schaut jetzt Frau Hasenschnut an.

Weil er das wirklich mal wissen will, ist sie für ihn jetzt von der Aufwarte zur Klatschblatt-Expertin geworden.

„Das mit dem hochgewehten Rock, mit ohne Schlüpper drunter …, das war was anderes als der König, der mit seiner Geliebten Elefanten totgeschossen hat …“ informiert Frau Hasenschnut erst einmal nebenbei.

„Ist das nicht schon anstrengend, sich so viel unwichtiges Zeugs über andere Leute zu merken und auseinander zu halten?“ ist Zacke jetzt verwundert.

„Ach, was, die, die das lesen, die sind doch wie die Schwämme, die nehmen das alles sofort auf, behalten es und geben ihren Senf dazu. Da können sie die alte Frau Hitz, die, die hinten am Ortsausgang wohnt, fragen, die kann ihnen zu jedem europäischen Königsstrang was erzählen und das stimmt dann auch – nur ob sie nach dem Mittag den Herd ausgestellt hat, darauf achtet sie nicht immer – das wird aber auch erst brenzlig, wenn’s streng stinkt! Und dann muß sie im Wohnzimmersessel mal kurz von der Klatschblattlektüre aufstehen, um wenigstens den Herd abzudrehen und den Topf beiseite zu stellen. Den Topf, den ich dann wieder blitzblank ausscheuern soll!“

„Na gut, alte Frauen, die nichts anderes zu tun haben … aber so jemand wie die Friseuse, die Frau Klein, daß die sich auch für so etwas so ereifern kann, daß sie mir meine Locke abschneidet …!“

„Aber ja, die muß das schon von Berufs wegen wissen. Über was soll sie sich denn mit ihren Kundinnen unterhalten? Wem fliegt in unserem Knipsel schon der Rock hoch und er hätte nichts drunter an Schlüpper?“ Frau Hasenschnut sinniert kurz die weiteren Konsequenzen. „Und vor allem: wer würde das sehen wollen, was da unbeschlüppert wäre?! – Mal ehrlich, fällt Ihnen da irgendeiner ein, Herr Zacke?“

„Ganz ehrlich und unverpeilt, Frau Hasenschnut, ich möchte da noch nicht mal in Gedanken alle Knipsler durchgehen!“ erwidert Lorbas wirklich ernst.

„Sehen Sie mal!“ sagt Frau Hasenschnut. In ihrer Meinung bestätigt, trumpft sie mit der Kleindüse auf eine der Klatschzeitungen vor Zacke. „Die Gazette hab’ ich über, die laß ich Ihnen mal da – tröstet Sie vielleicht nicht über ihre abgeschnippte Locke hinweg, aber wenn wer nachvollziehen kann, warum ein anderer verpeilt ist, dann grollt’s nicht mehr so in einem selbst …“

Lorbas schaut seine Aufwarte verwundert über den tieferen Sinn dieses Nachsatzes an.

„… hat neulich so ein Seelenmanager geschrieben, auch in so einem Blatt …„ setzt Frau Hasenschnut hinzu „…ich glaub’ das war im ‚Show-Blitz’. Tja, neben Klatsch haben die da auch ganz seriöse Psychologen, die zu allen Sachen was erklären können! – Ich sag ja: wird Ihnen gefallen! – Ich düse mal jetzt weiter Ihren Teppich durch …“ damit tauscht Frau Hasenschnut nochmals die Düsen am Staubsauger aus.

Wenn man ein idyllisches Kaff sucht …

… dann ist man in Knipsel genau richtig – vorerst …

So etwas wie Knipsel – ein Kaff zwischen ‚Knirps’ und ‚Schnipsel’ – liegt immer mal irgendwo dazwischen, zwischen Baum und Borke, als Appendix größerer Gemeinden oder Landkreise, die eigentlich nicht recht wissen: ‚Was anfangen mit diesem Flecken? – Haben tut er nichts, produzieren tut er nichts – verlängert nur wie Kaugummi die Durchfahrt von Kullerstadt nach Vierecktal!’

Aber halt!

Daß man Knipsel gemeindetechnisch und flurbereinigend noch nicht ausgelöscht hat, liegt einzig an ‚Hohenknipselstein’! –

Ja, Knipsel hat eine Burg auf einem Berg!

Es ist ein eher kleines Ding, was da auf dem steilen Felsen thront, dazu noch karg – Schlößchenart sähe gefälliger aus! Während also Burg Hohenknipselstein so gar nichts Prächtiges hat, ist sie aber für eingeweihte Historiker wohl deshalb immer mal wieder interessant, weil sie auch in Vorzeiten schon als hintertupfiger Rückzugsort genutzt wurde und nun überlappen sich hier mehrere Epochen, die recht gut erhalten sind. Weil aber Hohenknipselstein noch nie wichtig genug war, um vernichtet zu werden – was ja ein echter Vorteil ist über die Jahrhunderte betrachtet – hat es jetzt mitunter historische Bedeutung, was spezielle geschichtliche Nischen betrifft. Aber diese wunderbare Eigenschaft ist noch viel zu wenig bekannt – also im doppelten Sinne das, was man ein ‚Allein-Stellungsmerkmal’ nennen könnte!

So wie manche Adelslinien es nie zum Regieren gebracht haben, aber lebhaft überall mit Freude einverheiratet wurden, so ist auch Knipsel durch seine Burg quasi eine Moos- oder Schneckenart, die durch ihre Unwichtigkeit famos am Leben blieb und unüberzüchtet auch so etwas wie Widerstandskraft gegen Anfeindungen jeglicher Art entwickeln konnte. Während anderes immer auf irgend jemanden bedrohlich wirkte und nieder gemacht wurde, blieb Hohenknipselstein – oder ‚Knipsel Castle’, wie es landläufig genannt wird – als plumpes, häßliches Hascherl immer auf dem Quivive.

Auch heute noch hat es einen verschlafenen Touch: es kann nur Mittwoch, Freitag und Sonntag zwischen zehn und sechzehn Uhr besichtigt werden. Führungen nur Freitag und Sonntag ab zehn Uhr dreißig bis elf Uhr fünfzehn und Sonntagnachmittag noch von fünfzehn Uhr bis fünfzehn Uhr fünfundvierzig. Der Sonntagnachmittagstermin findet nur statt, wenn sich eine Gruppe ab fünf Personen aufwärts dazu einfindet … – Also da braucht man mehr Zettel, um sich die Öffnungszeit-Modalitäten aufzuschreiben, als die Führung dann an Notizen hergibt.

Aber immerhin – oder auch nicht – auf Knipsel Castle muß man sich nichts ins Ohr stöpseln, sondern wird vom Kustos selbst geführt. Deshalb auch die eingeschränkten Zeiten.

Wobel Hupenhorn, der alte Kustos, will nämlich den Sonntagnachmittag auch lieber in seinem Gärtchen – auf halber Höhe zu Knipsel Castle gelegen – ausgestreckt im Liegestuhl verbringen oder beim Tee im Wintergarten, je nachdem, was das Wetter hergibt.

Werbe- und tourismustechnisch könnte man da natürlich mehr herausholen, aber Moos- und Schneckenarten hatten wohl nie PR-Beratung in Anspruch genommen … – Sollte man da einmal Überlegungen anstellen, ob gerade dieser Verzicht sie immer so gut hat durchkommen lassen …?! –

Vielmehr stellt sich für uns die nächste Frage: Was macht nun ein Mann wie Lorbas Zacke in Knipsel, zumal als pensionierter, selbständiger Verleger – spezialisiert auf Nachdruck von Vergriffenem … – hat der sich in seinem Ruhesitz vergriffen?!

Irgendwie schon und auch wieder nicht …

Lorbas Zacke hat geerbt … vor gut zehn Jahren von einer nie gekannten Tante ein kleines Grundstück samt Häuschen in Knipsel. Erst wollte er das Erbe ausschlagen – man soll sich von Bedingungen nicht zwingen lassen – dann wollte er es verkaufen, aber niemand fand sich dafür – und letztlich ist er selbst geblieben.

So greift alles ineinander: ein Wahrhaftiger, der sich dessen nicht bewußt ist, lebt an einem vielleicht verwunschenen Ort.

Hier schneidet man ihm die Locke ab, die er behalten möchte – so Außenseiter wie er nach zehn Jahren noch ist … Aber Knipsel bewahrt ihm dadurch auch den Blick des Außenseiters – auch wenn ihm das gar nicht so bewußt ist …

Heute sitzt er im Weingarten ‚Knipsler Hicks’ und ist mit Guthardt Krumpel verabredet. Krumpel, ein gemütlicher Mittfünfziger, gibt den ‚Knipsler Schnipsel’ heraus. Das ist die Knipsler Postille, die vierzehntäglich erscheint und damit wieder mal zwischen allen Stühlen sitzt, weil sie weder Wochennoch Monatszeitung ist.

Später will noch Pater Burkard – nach dem Patron Burkard von Beinwil – dazukommen, der katholische Pfarrer von Knipsel. Die drei Herren überlegen immer zusammen, was für den gemeinen Knipsler lesenswert sein könnte – und was man nicht im ‚Knipsler Schnipsel’ unterbringen kann, das kommt dann in den Pfarrbrief. Diesem so lange unbeachtetunbeschadet durchgekommenen Kaff und seinen Bewohnern durch Artikulation das Gemüt zu reinigen, sollte von irgendwem wahrgenommen werden …

Ausgerechnet im – gemeindetechnisch – verkniffenen Knipsel lebt der Pfarrer der vier oder fünf zusammengeschlossenen Gemeinden. Ja, wer in Kullerstadt oder Vierecktal lebt, der muß tatsächlich zur sonntäglichen Messe in das hintergemeinige Knipsel kommen, um von Gottes offizieller Stärkung und seinem Zuspruch etwas Offizielles abzubekommen. Immerhin: die barocke, katholische Kirche Stankt Witzel – auch wieder nach so einem Außenseiter-Heiligen benannt – ist hoch und schon von weitem zu erkennen. Nicht umsonst heißt es etwas spöttisch im Volksmund:

Knipsels Burg und Knipsels ‚Dom’ machen jeden from!

Selbst als frömmster Katholik kommt man bei solchen Verhältnissen ins Grübeln, was denn der Herrgott an diesem verwunschenen Kaff findet, daß er es mit so ein paar guten Pfründen gesegnet hat, die auch das Weltliche irgendwie nicht ignorieren kann ...

Nun sitzen Guthardt Krumpel und Lorbas Zacke noch allein bei schönem Ausklangssommerwetter im Weingarten vom ‚Hicksler’.

Guthardt Krumpel ist gerade angekommen und hat sich hingesetzt, als ihm etwas auffällt: „Warum hast Du Dir denn die Locke abgeschnitten? – Beim Nasenhaarstutzen die falsche Brille aufgehabt?!“ – Guthardt findet seinen Witz recht humorvoll. Er weiß noch nicht, wie es immer noch in Lorbas Zacke brodelt wegen der verschnittenen Locke …

„Werde ich hier nur noch auf meine Stirnlocke reduziert?“ fragt Zacke barsch.

Guthardt zieht in gespielter Verprelltheit die Mundwinkel nach unten und reckt den Kopf in den Nacken, als müsse er einem Ballwurf ausweichen. Bevor er noch nachfragen oder einen nächsten eigenen, witzigen Erklärungsversuch vom Stapel lassen kann, grummelt Zacke knapp die Ereignisse bei ‚Haar-Klein’ heraus. „… und darüber möchte ich jetzt nichts mehr hören oder sagen müssen!“

„Schade, darüber hätte man eine so schöne Glosse im ‚Schnipsel’ bringen können!“ grinst Guthardt.

„Es gibt bessere Glossen, als die abgeschnittene Locke eines hier nie eingelebten Mitbürgers!“ versetzt Lorbas etwas verbittert, denn er weiß, daß er einer von denen ist, die bei Katastrophen nie und nimmer auf einen Sitzplatz im Rettungsboot eingeladen würden …

„Also bitte, wer sich nicht einlebt, muß die Schuld nicht immer bei den anderen suchen!“ hakelt Guthardt gutmütig zurück.

„Schnurz!“ schnauft Zacke und nimmt von seinem freien Nebensitz ein paar vorbereitete, eng beschriebene Seiten auf, die er Krumpel direkt neben sein Bier legt, noch bevor dieser eine neue Lockenfrotzelei starten kann.

„Was das?“ fragt Guthardt überrascht.

„Warum man rabiat wird, wenn man hinter den falschen Königen hinterherhechelt!“ erklärt Lorbas in unverrückbarem Ton.

„Ach, hast Du versucht, Deinen Lockenverlust zu verarbeiten?!“ Guthardts Süffisanz ist nicht zu überhören. „Ausgerechnet Du, der der Psychoanalyse nicht von hier bis zum Ortsausgang traut …“

Der ‚Knipsler Hicks’, so muß man wissen, liegt einen schlecht gespuckten Weitwurf vom Knipsler Ortsausgang nach Vierecktal entfernt.

„Man schneidet mir die Locke ab – was sollte ich denn da verarbeiten? – ‚Arbeiten’ müßten ja wohl andere – aber so bekomme ich die Locke ja auch nicht mehr dran. Nebenbei: schon daß man in der Psychoanalyse ‚arbeiten’ muß, sollte doch viel mehr Leute stutzig machen … Da stellt sich einer in Wien eine Couch ins Arbeitszimmer, auf der jeder herumlamentieren kann und schon ist das schick und alle kommen ins ‚Verarbeiten’ …“

„Wie so oft wirfst Du Pappel und Appel in einen Topf …“ will Guthardt einwenden und weiter ausführen.

„Egal …!“ schneidet Lorbas ihm das Wort ab. „Woran liegt es wirklich, daß man mir einfach eine Locke abgeschnitten hat, während die ganzen Lockenwicklerweiber sich über Klatsch hermachten? – Na, na, woran?“

Guthardt Krumpel ist einen Augenblick sprachlos.

„Weil die ganzen Fönpfauen-Weiber den falschen Königen und den falschen Königinnen nachjagen! – Sie könnten keinen echten König mehr erkennen, selbst wenn der vor ihnen stände. Statt dessen sitzen Sie im Abseits und ziehen, zerren, nesteln an allem Unwichtigen herum, was einen König ausmachen könnte. So …“ Lorbas sucht nach Worten, nichts besseres fällt ihm ein „…so verpeilt sind die! Und das habe ich mal aufgeschrieben, als Artikel für den ‚Schnipsel’!“

„Ist nicht Dein Ernst!“ entfährt es Guthardt jetzt zum ersten Mal ernstlich besorgt um das Niveau des ‚Knipsler Schnipsel’, seinen eigenen Redakteursruf und … ja, auch besorgt um Lorbas Zacke mitten in der Krise seines anscheinend schlecht verarbeiteten Lockenverlusts. „Also das hat man ja schon öfter mal vernommen in so alten Sagen, daß einer seiner Haarpracht beraubt, auch nicht mehr das Zepter schwingen konnte – aber daß einer mit einer Locke weniger sich gerade dann zum König aufschwingt … - echt, Lorbas, das macht Dir so schnell keiner nach!“

„König kann es auch nur einen geben!“ entfährt es Zacke zu seiner eigenen Überraschung, der diese Ambition gar nicht in sich finden kann.

Geduckte Könige

„’GEDRUCKTES VON GEDUCKTEN KÖNIGEN

Wenn man irgendwo warten muß, sei es beim Arzt oder beim Friseur, dann sitzen da vor allem Leute, die sich nicht selbst beschäftigen können. Junge Leute stöpseln sich die Ohren zu oder schmieren ihre Finger über kleine Plastikplatten. Ältere Menschen – vor allem ältere Frauen – die greifen zu ausliegenden Zeitschriften, wo bunt aufbereitet Nichtigkeiten stehen, die sie gar nichts angehen – aber genau deshalb ist das nun furchtbar interessant für sie!

Ja, ich meine die Klatschblätter!

Dieser Fledderkram berichtet von Leuten, die in simpel Inszeniertem sich aufspielen, die nur den oberflächlichen Typus abgeben, der schon immer in ihnen steckte. Diese Plattheit kommt unterhaltend an, nur weil die Leserinnen bei Arzt oder Friseur ‚Ih!’ oder ‚Ah!’ sagen können, bevor sie sich den Blutdruck messen, den Zahn bohren oder die Haare verschneiden lassen. – Wie simpel gestrickt muß man da sein – als Leservonund als Abgedruckterinden Klatschpostillen?!

Bei Schauspielern und Spaßmachern könnte man noch sagen: ‚Na, ja, die brauchen das, die leben davon, dass man sie kennt, irgendwie mag oder eben nicht ausstehen kann …!’ – aber wie können Adlige und sogar Könige zulassen, so hergenommen und verbraucht zu werden?

Ich – als Nicht-Leser dieser Hefte – habe auch erst jetzt mitbekommen, dass man diese Leute vorher noch nicht einmal danach fragt, ob sie heute etwas zu verkünden hätten, was auf die Menschen in ihrem Einflußbereich orientierend wirken könnte. – Das ist wohl schon lange vorbei, habe ich erfahren! Statt dessen knipst man ihnen heute unter die Röcke, um etwas Schlüpfriges drucken zu können – so oder so!

Und damit haben sich die Könige und die Königinnen bei uns in Europa abgefunden! – Wie konnten sie nur!

Welchem Monarchen kann man es verübeln, dass er aus dem ererbten Erfahrungsschatz seit der Französischen Revolution sich duckt und den Nacken einzieht, was – ganz ehrlich – nicht wirklich hilft, weder gegen Fallbeil noch gegen Kameraobjektive.

Aber die Schlussfolgerung aus dieser Angst kann doch nicht sein, Presseberater einzustellen, die mich als König und vor allem als Königin für das Volk passend hinstriegeln. Wie kann ich mich als Monarchen so überbügeln lassen, dass ich auf dem scharfen Meinungsgrad der ungnädigen Untertanen gerade schick und oh lala genug aussehe, um gegen andere Könige modisch ins Feld ziehen zu können, aber ja nicht so etwas Prächtiges anlege, was den ranzigen Neid vor allem des weiblichen Pöbels beim Friseur und im Arztwartezimmer hochschwulgen läßt? – Dafür gehörten die derzeitigen Monarchen doch wirklich … abgemahnt!

Wenn das so ist und ich – wenn ich König wäre – mich dafür hergäbe, dann hätte ich doch wirklich den Beratern, den Knipsern, den Drögen im Volk mein Zepter schon längst übergeben …

‚Das kann man heute nicht mehr anders machen! Wir leben in einer Medienwelt!’ so höre ich schon die Einwände. Es käme vielleicht auf einen Versuch an, ich kann nicht glauben, dass wir in einem Land leben, in dem die Macht der übel entarteten Narren die Herrschaft schon übernommen hat.

Mag sein, man merkt die wirklich großen Einflüsse in so einem Flecken wie Knipsel erst sehr spät, aber vielleicht wäre gerade das die Möglichkeit, in der hiesigen, überschaubaren, von niemandem fotoverquälten Welt noch königlich leben zu können. Und wenn ein Völkchen königlich lebt, vielleicht findet sich dann auch ein wirklicher König an. – Ich hoffe, wir haben hier in Knipsel nichts verpaßt, das uns aus der Freiheit der Unnützlichkeit für andere noch so eine Unbeschwertheit übrig gelassen hat und haben unsere Pfründe nicht schon zu lange brach liegen lassen.’“

Pater Burkard endet mit seinem Vorlesen und schaut nun auf vom neuesten ‚Knipsler Schnipsel’, in dem Lorbas’ Artikel nun tatsächlich abgedruckt ist.

Es ist vierzehn Tage her, seit Lorbas seinen Artikel an Guthardt übergeben hat und nun sitzen die drei Männer wieder im Weingarten ‚Hicks’ und haben arg zu diskutieren über Lorbas’ Geschreibsel …

„Das ist doch alles ganz schön …“ sagt der Pater von Knipsel und nickt anerkennend mit dem Kopf, auf dem die schon etwas grauen Haare mitschwingen.

„Gar nichts ist schön!“ fällt ihm Guthardt Krumpel fast ins Wort. „Lies das auch gleich noch vor …“ damit gibt er Pater Burkard direkt am schweigenden Lorbas vorbei einen kleinen Stapel unregelmäßiger Blätter.

Pater Burkard orientiert sich kurz und liest dann die zum Teil in Handschrift beschriebenen Blätter vor: „’Ich muß Ihnen mal sagen, bisher habe ich Ihren ‚Schnipsel’ ja gern gelesen und sogar abon…’ – nee, das heißt wirklich ‚abonnemiert’ – ‚… aber nach diesem Artikel werde ich mir das überlegen! Wem wollen Sie eigentlich die Freude an ein bißchen Glitzerwelt verderben, dass Sie so eine gemeine Meinung für wert halten abzudrucken?! – Mit geneigten Grüßen Ihre Trude Winser.“ Pater Burkard dreht den Brief ein wenig: „’P.S.: Ich weiß auch genau, wer der gemeine Mensch ist, der das verfaßt hat …’ – Oho!“ Pater Burkard lächelt zu Lorbas hinüber, der brütend über seinem Glas vom besten ‚Murkelhänger Hohenlob’ sitzt, das er im Moment so gar nicht genießen kann.

„Die blöde Ziege!“ raunzt Lorbas.

„Es ist vielleicht etwas überintensiv artikuliert,“ wendet der Pater ein „vielleicht liegt das an den pechschwarzen Haaren, die Trudchen gerade hat – irritierte mich letzten Sonntag in der Messe … – Aber …“ fällt ihm gleich noch lachend ein „man lobt immerhin Deinen ‚Schnipsel’, Guthardt – ist das nichts?!“

Aber Guthardt und Lorbas sind für diese witzigen Feinheiten in Trudchen Winsers Leserpost momentan gar nicht zu haben.

„Das ist der dunkle Schaumerguß ‚Black Beauty’, den sie ihr bei ‚Haar-Klein’ zu lange ins Haar geschmiert haben, der sie so ranzig macht. Wahrscheinlich ist sie deshalb so sauer …“ überlegt Lorbas.

„Lies weiter!“ fordert Guthardt ungerührt Pater Burkard auf.

Der legt Trude Winsers Leserbrief beiseite und schaut sich das nächste Blatt an. „’Sehr geehrte Redaktion des ‚Knipsler Schnipsel’, das ist ja eigentlich ein kosmopolitisches Kleinod, was Sie da herausgeben, ich lese es gern, lege es gern bei mir im Geschäft aus und bisher habe ich auch gern meine Werbung bei Ihnen geschaltet, weil ich Ihre Leser für nette, aufgeschlossene Leute halte. Ihre neueste Schreibkraft für die Rubrik ‚Was Knipsel bewegt’, gehört aber scheint’s nicht zu diesen Menschen. Wer solche verbiesterten, antiquierten Ansichten vom Stapel läßt, sollte nicht in einer modernen, weltoffenen Regionalzeitung das Wort führen dürfen. Da sollten Sie vielleicht zukünftig mal drauf achten. MfG Sanna Klein, Salon ‚Haar-Klein’.’“

Pater Burkard schaut zu den beiden anderen, wieder sagt er: „Oho!“, zieht dabei aber lächelnd die Augenbrauen hoch. „Da war schon ein Wink mit dem Zaunpfahl drin – aber so etwas wirst Du natürlich ignorieren. Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder gleich eingeschnappt seine Anzeigen zurückzieht, nur weil ihm eine andere Meinung als die eigene nicht paßt!“

„Mal eine andere Meinung … – das mag ja schön und gut sein, aber so viel Leserpost habe ich nicht mehr bekommen, seit ... seit …“ Guthardt Krumpel will nicht lügen – nicht bei Kleinigkeiten – „ … würd’ mal sagen, seit dem Tod von Prinzessin Diana nicht mehr – damals waren’s wohl zwanzig Leserbriefe und heute, nach Lorbas’ Artikel sind es neun Stück!“

„Noch nicht mal fünfzig Prozent von der Höchstmarke …“ beruhigt Pater Burkard. „Ich nehme aber an, was Dich besorgt macht, ist die Tendenz der Briefe: waren es beim Tod der ‚Prinzessin der Herzen’ Beileidsbekundungen mit dem Tenor ‚Laßt uns alle enger zusammenrücken, indem wir lesen möchten, wie uns dieser Verlust bis hinein nach Knipsel trifft …’, so ist heute doch ein klein wenig kritischeres Engagement herauszulesen …“

„Du hast gut reden! Du kannst Wasser predigen und Wein trinken und wirst nicht nach der Auflage bezahlt, nicht nach der Belegung der Kirchenbänke am Sonntag …“ platzt Guthardt der Kragen.

„Langsam, langsam, lieber Guthardt, jeder hat seine Vorgaben, meine als Priester sind etwas anders als die Deinen als Redakteur – mein Verein wird im großen Stil angegriffen, das muß ich bedenken, wenn ich etwas tue – nicht nur öffentlich, sondern bis ins Private hinein. Aber bei so einer frischen, mal anderen Ansicht, wie sie Lorbas in seinem Artikel geschrieben hat, solltest Du so ein Kettengerassel – oder Scherengeschnippe – wie im Brief unserer geschätzten Mitbürgerin Sanna Klein – mal aushalten können. Zeigt es doch, daß die Knipsler vielleicht ein wenig verwöhnt sind, wie eine Prinzessin auf der Erbse … – Deshalb solltest auch Du, Lorbas, nicht so verkantet sein: Du bist der frische Hauch, der mal aus einer anderen Richtung weht. Vielleicht fehlt das sogar: mal ordentlich was schwungvoll Neues!“

Der Pater weiß noch gar nicht, was er da vorausahnend heraufbeschwört. Guthardt und Lorbas reißt das allerdings – jeder in seine Bedrücktheit verstrickt – wenig mit, deshalb will Pater Burkard das ganze von der geerdeten Seite auflockern, wenn’s von der himmlischen schon schwer zu versöhnen ist: „Ich lad’ Euch noch zu einer Runde ein – Guthardt, für Dich noch ein Hopfenhell und Lorbas, noch einen Murkelhänger?“

„Hm, gern, aber ein großes …“ brummt Guthardt.

„Na, gut, noch einen Murkel,“ gibt Lorbas nach „aber dann muß ich nach Hause, denn morgen kommt Besuch …“

„Oho!“ lächelt Pater Burkard.

Besuchen Sie Knipsel

Lorbas Zacke zieht den Schlüssel aus dem Zündschloß seines Kleinwagens, den er eben vor dem Bahnhof geparkt hat.

Seit er sich in Knipsel zur Ruhe gesetzt hat, muß er nicht mehr oft fahren, nur alle zehn Tage mal in eine größere Stadt wenn dort Markt ist oder zwischendurch – was er haßt – in einen der Supermärkte, nach Vierecktal oder Kullerstadt. Hier in Knipsel gibt es zwar noch zwei Tante Emmaläden, die eigentlich alles anbieten, was man so braucht, aber Lorbas muß doch öfter mal raus, damit er keinen Knipsel-Koller bekommt. So recht befriedigend sind die ‚Einkaufsmeilen’ von Kullerstadt und Vierecktal allerdings dafür auch nicht.

Also die beiden Mini-Geschäfte, die Knipsel noch hat, werden von Einheimischen betrieben: Bauer Harfe – ja, Harfe, nicht Harke – bietet an, was auf seinem Hof wächst, seine Frau verkauft es in dem Lädchen am Hof. In schickeren Städten nennt man das dann ‚Hofladen’ … – aber wir sind ja hier in Knipsel …

Den zweiten Emmaladen betreibt Gundi Grundlos. Sie ist so etwas wie eine fossile Alt-68erin, die sich beizeiten in Knipsel niedergelassen hat, weil sie schon ahnte, daß sie, leicht zu Übergewicht neigend, als ‚radfahrende Kommunen-Schlampe’ keine Chance hat dauerhaft in Talkshows eingeladen zu werden, um da den Wirsing von vor vierzig Jahren ewig aufzuwärmen. So bietet sie lieber den reel-real in ihrem Kleingarten angebauten Wirsing und andere Gemüsesorten in der Ladenstube – dem Wintergarten ihres Häuschens an. Gundi hat aber einen größeren Wagen, so etwas hinten mit Ladeklappe, wo nicht nur ihre vier oder fünf Hunde Platz haben, sondern auch mal bestellte Sachen, die sie in den größeren Städten rundum besorgt. Wenn wer aus Knipsel keine Lust hat, sich in Shopping-Paradiese zu stürzen, nur weil er mal einen Schreibblock, ein spezielles Buch oder einen Turnschuh in Größe vierzig braucht … Das alles besorgt Gundi, die sich ganz gern ab und zu von der Großstadt – also was man aus Knipsel-Perspektive für Großstadt hält – einatmen, aber genauso gern nach Knipsel hin wieder ausatmen läßt.