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Beschreibung

Mit »Überwachen und Strafen« hat Michel Foucault vor 40 Jahren ein Buch veröffentlicht, das die gängigen Vorbegriffe des Machtdenkens - und damit der politischen Theorie und des Befreiungsdiskurses - durcheinander gewirbelt hat. Der Band geht der Frage nach, wie die aktuellen Machtverhältnisse beschaffen sind, die »uns« (wen genau?) in ihrem Bann halten. Welche Aktualität besitzen die Analysen der Disziplinierung noch heute, mit denen Foucault vor 40 Jahren Aufsehen erregte und eine breite Wirksamkeit entfalten konnte? Wie lässt sich das für Foucault so zentrale Verhältnis von Bio- und Disziplinarmacht in der Gegenwart bestimmen? Welche neuen Machtformen sind entstanden - und mit welchen begrifflichen Mitteln können sie erschlossen werden?

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MARC RÖLLI, ROBERTO NIGRO (HG.)

Vierzig Jahre »Überwachen und Strafen«

Zur Aktualität der Foucault’schen Machtanalyse

Die freie Verfügbarkeit der E-Book-Ausgabe dieser Publikation wurde ermöglicht durch den Fachinformationsdienst Philosophie.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2017 im transcript Verlag, Bielefeld© Marc Rölli, Roberto Nigro (Hg.)

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Cover: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Ole Gerlach, Billerbeck Print-ISBN: 978-3-8376-3847-9 PDF-ISBN: 978-3-8394-3847-3 EPUB-ISBN: 978-3-7328-3847-9

Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Marc Rölli, Roberto Nigro

Das invertierte AugePanopticon und Panoptismus

Petra Gehring

Die Entgrenzung des ExamensFoucaults Analyse von Prüfungsformen

Andreas Gelhard

»Die Welt ist eine große Anstalt«Exklusionen in foucaultschen Geschichten des Strafens

Gerhard Unterthurner

»Il y a de la plèbe«Das Infame zwischen Disziplinen und Biopolitik

Maria Muhle

Der Macht-Wissen-KomplexMichel Foucault und das anthropologische Band

Marc Rölli

MenschenformenUnterschiedliche Menschenunterscheidungen (Foucault, Weininger)

Walter Seitter

Die Form der MachtImmanenz und Kritik

Martin Saar

Vom Macht-Wissen-Dispositiv zum Wahrheitsregime

Roberto Nigro

Die Transformation der SichtbarkeitsordnungenVom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten

Andreas Reckwitz

Gouvernementalität und FinanzZum Begriff einer ›seignioralen Macht‹

Joseph Vogl

Autorinnen und Autoren

Einleitung

Marc Rölli, Roberto Nigro

MitÜberwachen und Strafenhat Michel Foucault vor mehr als 40 Jahren (1975) ein Buch veröffentlicht, das die gängigen Vorbegriffe des Machtdenkens – und damit der politischen Theorie und des Befreiungsdiskurses – durcheinander gewirbelt hat.1Nicht die negativen Bestimmungen von Gesetz, Repression und Verbot, sondern die produktiven Aspekte einer in bestimmte Bahnen gezwungenen Disziplinierung definieren die über die gesamten sozialen Beziehungen und Institutionen verteilten Machtverhältnisse. Die Machtform der Disziplin ist »eine der großen Erfindungen der bürgerlichen Gesellschaft«2. Es handelt sich bei ihr um einen Mechanismus, aus den Körpern Zeit und Arbeit herauszuholen und auf diese Weise die Subjekte allererst zu konstituieren. Ihre Produktivität steht im Zeichen von Normalisierung und Steigerung der Lebenskräfte und sie fungiert in Abhängigkeit von einer »bestimmten Ökonomie der Diskurse der Wahrheit«.3

Überwachen und Strafenist damit ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt der intellektuellen Biographie Foucaults. Mit der Kritik des Souveränitätsbegriffs und dem Thema der Disziplinen, mit den Fragen nach der politischen Anatomie des Körpers und den Subjektivierungsprozessen eröffnet das Buch Perspektiven, die auch für die späteren Arbeiten Foucaults enorme Bedeutung besitzen. Das Buch leistet zudem eine kritische Auseinandersetzung mit klassischen Begriffen der politischen Theorie, wie die letzten Publikationen der Vorlesungen am Collège de France deutlich zeigen. Die Vorlesungen von 1971 bis 1976 sind nicht nur die Quelle dafür, die Ausarbeitung der Machtanalyse schrittweise nachzuvollziehen, sondern auch der Punkt, wo die historisch-politische Dimension der Foucault’schen Forschung eine der intensivsten Formen erreicht. InThéories et Institutions pénales(1971-72)4rückt der Repressionsbegriff durch eine detaillierte Analyse der Volksaufstände der Nu-pieds in der Normandie von 1639 in den Mittelpunkt der Analyse. Durch seine genealogische Analyse rekonstruiert Foucault hier die Genese des repressiven Staatsapparats. Dabei setzt er sich intensiv mit Marx, den Marxismen und insbesondere den Fragen Althussers und dessen Mitarbeitern auseinander. In den großenquerellesdieser Epoche bezieht er Position.5

InDie Strafgesellschaft(1973)6stellt Foucault den Begriff des Bürgerkriegs in den Mittelpunkt seiner Analyse der Strafe. Diese Vorlesung bewegt sich bereits im inhaltlichen Rahmen vonÜberwachen und Strafen, auch wenn ihr eine ganz eigene Konzeption zugrunde liegt. Nach Foucault verweist der Bürgerkrieg auf das alltägliche Funktionieren der Macht – während er in der modernen politischen Theorie seit Hobbes als Anomalie, Ausnahme oder Zufallserscheinung betrachtet wird, was seine theoretische und historische Marginalisierung zur Folge hatte. Hier bringt Foucault politische Begriffe auf, die sich nicht zuletzt mit der marxistischen Theorie auseinandersetzen. Die Geburt des Gefängnisses und das neue Strafregime werden mit der Entstehung der Fabrik und der Modellierung des Arbeitstages in einen Zusammenhang gestellt. Die neuen Götter, die unsere Existenz prägen, sind Zeit und Chronometer. Die Genealogie der modernen Subjektivität und die Frage nach der Genese des Kapitalismus überschneiden sich.

Durch die Publikation dieser Vorlesungen werden neue Wege in die zeitgenössische Forschung eröffnet. Man denke an die inDie Strafgesellschaftentwickelte Analyse der politischen Technologien, welche die Menschen an den Produktionsapparat gefesselt haben. Diese Analysen sind heute im Kontext der Migrationsforschung und Migrationsbewegungen wichtig, weil sie migrationspolitische Entscheidungsprozesse erklären helfen. Foucault zeigt, dass die menschliche Beweglichkeit seit den Anfängen des Kapitalismus unter die Kontrolle der Regierungspraktiken gekommen ist. Lebensformen und Existenzmodi werden gezügelt und das Asylrecht bzw. die Rechtsstellung auf der Flucht untergraben.

Um die verstrichenen 40 Jahre nicht unbemerkt vorbeiziehen zu lassen, werden an dieser Stelle drei Einwände gegen Foucaults machtanalytische Theorie rekapituliert, die als praxistheoretisch bezeichnet werden könnten, auch wenn sie sehr unterschiedliche Formen annehmen. Im Unterschied zu den Rezeptionsklischees, die Foucaults Analysen der Disziplinargesellschaft vorwerfen, Aufklärung und Kritik auf dem Altar der Macht zu opfern, gibt Michel de Certeau in seinerKunst des Handelnszu bedenken: »Wenn es richtig ist, daß das Raster der ›Überwachung‹ sich überall ausweitet und verschärft, dann ist es um so notwendiger, zu untersuchen, wie es einer ganzen Gesellschaft gelingt, sich nicht darauf reduzieren zu lassen: welche populären (und auch ›verschwindend kleinen‹, alltäglichen) Praktiken spielen mit den Mechanismen der Disziplinierung und passen sich ihnen nur an, um sie gegen sich selber zu wenden; und welche ›Handlungsweisen‹ bilden schließlich auf Seiten der Konsumenten (oder ›Beherrschten‹?) ein Gegengewicht zu den stummen Prozeduren, die die Bildung der soziopolitischen Ordnung organisieren?«7Mit dieser Fragestellung unternimmt es de Certeau, die Praktiken gegen das Regime der Disziplinierung auszuspielen – und diesen Weg bezeichnet er »als eine Fortsetzung oder auch als ein Gegenstück zu Foucaults Analyse der Machtstrukturen«8.

Eine ebenfalls auf der mikropolitischen Ebene der Praxis situierte Kritik formuliert zur gleichen Zeit auch Gilles Deleuze.9Von ihm stammt der Vorschlag einer Erweiterung des Spektrums der Machttypenlehre, indem neben der Disziplin und abgesetzt von ihr der Begriff der Kontrolle stark gemacht wird.10Das hat nicht nur historisch-deskriptive Gründe, die mit der Flexibilisierung der Arbeitswelten und anderem mehr zu tun haben.11Sondern Deleuze zielt auf eine Revision machttheoretischer Annahmen, die bei Foucault allzu direkt sämtliche in der Immanenz situierten gesellschaftlichen Prozesse in einem Dispositiv engzuführen gestatten. Zwar sind auch aus seiner Sicht Machtverhältnisse relationalen und produzierenden Typs. Gleichzeitig setzen sie aber eine Immanenz der Praxis voraus, die sie stets aktualisierenundin eine bestimmte Richtung modifizieren. InTausend Plateausheißt es dazu: »Die einzigen Punkte, in denen wir nicht mit Foucault übereinstimmen, sind folgende: 1. Für uns sind Gefüge nicht in erster Linie Gefüge der Macht, sondern des Begehrens, da das Begehren immer Gefüge bildet und die Macht eine stratifizierte Dimension des Gefüges ist. 2. Das Diagramm oder die abstrakte Maschine haben Fluchtlinien, die primär sind, die in einem Gefüge keine Phänomene des Widerstands oder Gegenangriffs sind, sondern Punkte der Schöpfung und der Deterritorialisierung.«12

Eine dritte kritische Form der Aneignung findet sich bei Bruno Latour. Es ist offensichtlich, dass er den Machtbegriff einer kritischen Soziologie überantwortet, deren grundsätzlicher methodischer Fehltritt darin besteht, unter Verwendung des Ausdrucks ›Macht‹ Verhältnisse bestimmen zu wollen, die für die Akteure selbst in keiner Weise (ideologisch verblendet) durchsichtig sind, auch wenn sie ihre Handlungen und Denkweisen angeblich festlegen. Somit korrespondiert die Beschreibung struktureller Macht-Wissen-Komplexe mit einer elitären Theorie-Perspektive, die ethnografisch nicht einzuholen ist. »Aus diesem Grund lautete der Slogan der ANT stets: ›Nicht machttrunken, sondern machtnüchtern sein‹, das heißt, sich soweit wie möglich der Verwendung des Machtbegriffs enthalten […].«13Das ist die eine, offensichtliche Seite seines Foucaultbezugs. Auf der anderen Seite rekurriert er an einer wichtigen Stelle seines Entwurfs einer politischen Soziologie auf eine Einsicht Foucaults. Sie besagt, dass der Geburtsfehler der im 19. Jahrhundert entstehenden Soziologie darin besteht, das souveränitslogische fragile Modell des politischen Körpers der Vertragstheorien in einen kompakten Begriff der Gesellschaft zu übertragen. Dadurch wird es unmöglich, die mikrosoziologischen Prozesse wahrzunehmen, die heterogene Akteure versammeln. »Der wunderbarerweise in eine Gesellschaft verwandelte politische Körper soll aus eigener Kraft zusammenhalten, selbst in Abwesenheit jeder politischen Aktivität.«14In diesem Sinne macht Gesellschaft Politik gleichsam zunichte. Man kann sich daher fragen, ob Foucault nicht gerade in seiner Erläuterung der differentiellen Funktionsweisen der Machtstrategien (quasi unterhalb des juridisch-diskursiven Körpermodells einer scheinbar vorgegebenen Gesellschaft) einen wichtigen Beitrag zur Beschreibung von sozialen Phänomenen leistet. Und im Anschluss an die Frage nach den politischen Dimensionen solcher Beschreibungen stünde dann auch die kritische Reichweite der Machtanalyse – und mit ihr Fragen nach Widerstand und Gegen-Macht – zur Diskussion.

In den letzten Jahren konnte sich eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien des Umgangs mit Foucaults Machtdenken etablieren. Sie reichen von einer Neugewichtung der Souveränitäts- und der Biomacht über eine Anknüpfung an den Begriff der ›Gouvernementalität‹ bis zu spezifischen Neuausrichtungen der kritischen Gesellschafts- und Kapitalismustheorien. Der ›Normalisierungsgesellschaft‹ treten mit neuartigen Machtformen operierende Gesellschaftstypen zur Seite: von der Risiko- und der Netzwerkgesellschaft zu den Dispositiven der Beschleunigung, der Sicherheit und der Kreativität. Dieser Befund könnte die Unmöglichkeit einer globalen Vereinheitlichung gesellschaftlicher Machtbeziehungen zum Ausdruck bringen – oder die in Konkurrenz zueinander stehenden Perspektivierungen, die stets auf ganz bestimmte Aspekte des Machtgeschehens fokussieren.

An diese Forschungen und Diskussionen wollen wir anschließen. Mit Foucault werfen wir ein weiteres Mal die Frage auf, wie die aktuellen Machtverhältnisse beschaffen sind, die ›uns‹ (wen genau?) in ihrem Bann halten. Welche Aktualität besitzen die Analysen der Disziplinierung noch heute, mit denen Foucault vor 40 Jahren Aufsehen erregte und eine breite Wirksamkeit entfalten konnte? Wie lässt sich das Verhältnis von Bio- und Disziplinarmacht in der Gegenwart bestimmen? Welche neuen Machtformen sind entstanden – und mit welchen begrifflichen Mitteln können sie erschlossen werden?

Im ersten Beitrag des Bandes wendet sich Petra Gehring gegen einige gängige Rezeptionsklischees des sog. ›Panoptismus‹, die sich innerhalb der Surveillance-Studies gegenwärtig verselbständigen. Sie arbeitet heraus, dass das spezifisch Neuartige im Machtverhältnis der Disziplin gerade nicht in einerInternalisierungdes Blicks (eines selbst unsichtbaren Bewachers, der vom Turm aus die Gefängniszellen überblickt) zu suchen ist. Zwar zeichne sich Benthams Gefängnisarchitektur durch ein ökonomisches Prinzip der Blicklenkung aus, entscheidend sei aber die installierte Automatisierung der Überwachungsfunktion, die das Auge entbehrlich macht. Wenn es überhaupt sinnvoll ist, Benthams Panopticon zur Analyse moderner Machtverhältnisse heranzuziehen, dann keineswegs dort, wo Subjektivierungsformen zum Thema gemacht werden. Deren moderne Domäne liegt bei den Prüfungstechniken oder in der imWillen zum Wissengeschilderten Sexualisierung des Begehrens. Aktualität kommt dem Panopticon stattdessen im Entwurf einer Kybernetik der Macht zu, die den Blick maschinell substituiert und virtuell auf Dauer stellt – und darin den »Furor der Bild- und Sichtbarkeitsforschung« gegenwärtiger Überwachungskritik ad absurdum führt. Die Machtfragen digitaler Datenverarbeitung lassen sich nach Gehring nicht beantworten, wenn man sich an einer Fiktion gottähnlicher OmnipotenzvisuellerÜberwachung orientiert. Vielmehr zeichnet sich moderne Macht durch unsichtbare, diskursiv konstruierte Latenzphänomene aus, die in der Permanenz technischer Systeme und ihrer dezentralisierten Datenflüsse aktuelle Relevanz gewinnen.

Dem Thema der Prüfungstechniken in Foucaults Werk widmet sich Andreas Gelhard. Prüfungstechniken sind nicht nur ein Bestandteil jeglicher Form von Lebensführung, sie verbinden auch Formen der Machtausübung mit den Formen des Erwerbs und der Weitergabe von Wissen. Der dritte Teil vonÜberwachen und Strafenschließt mit einem Abschnitt über die Prüfungsform des Examens. Diese Prüfungsform kombiniert Techniken der hierarchischen Überwachung mit solchen der normalisierenden Sanktion. Sie markiert also genau diejenige Modalität des Macht-Wissens – Strafen und Überwachen – die der Titel des Buches als entscheidend hervorhebt. InÜberwachen und Strafenanalysiert Foucault nicht nur das Aufkommen eines spezifischen Typs von Disziplinarmacht im 18. und 19. Jahrhundert, sondern vertritt auch die These, dass die spezifischen Techniken, auf die sich diese Macht stützt, ihre Vorläufer in der christlichen (insbesondere der protestantischen) Asketik haben, die wiederum die modernen Humanwissenschaften informieren. Das Thema der Individualisierung, bzw. eine besondere Form von Regierung der Individuen, entsteht im Werk Foucaults gegen Ende der 1970er Jahre. Wird Foucaults Charakterisierung dieser Regierungsform der Individuen nicht mit Blick auf die Vorlesungen zur Gouvernementalität betrachtet, sondern mit Blick auf diefrüherenSchriften, so verweist sie fraglos auf seine Bestimmungen des Examens, die oft das Moment der Ausdehnung über die ganze Lebensspanne und die mit ihr verbundene detaillierte Überwachung hervorheben.

Der Beitrag von Gerhard Unterthurner »Die Welt ist eine große Anstalt« fokussiert auf einen zentralen Begriff der Foucault-Forschung: den der Exklusion bzw. des Ausschlusses. Foucault hat mit dem Thema Exklusion etwas ins Zentrum der Analyse gerückt, was für viele heute selbstverständlich geworden ist. Allerdings funktioniert der Exklusionsbegriff im Werk Foucaults keineswegs reibungslos. Unterthurner entwickelt eine eingehende Analyse über einen Zeitraum von den 1960er bis in die 1980er Jahre, in der er zeigt, wie Foucault den Begriff benutzt, kritisiert und problematisiert.Das Modell von Grenze und Überschreitung wird historisiert und infrage gestellt. Während inWahnsinn und Gesellschaftdeutlich gemacht wurde, dass eine Grenzziehung eine Ordnung entstehen lässt, wird das Begriffspaar von Grenze und Überschreitung bereits in den ersten Bemerkungen zum Gefängnis Anfang der 1970er Jahre problematisiert. Die Macht zieht nicht einfach eine Grenze zwischen der Integration auf der einen und dem Ausschluss auf ihrer anderen Seite. Foucault ist nicht einfach ein Denker einer Total- oder Vollinklusion, sondern macht auch auf die Schattenseiten und den Preis von Inklusionen aufmerksam. Die Technologien der Sicherheit, die er Ende der 1970er Jahre analysiert und die eine ›postdisziplinäre Ordnung‹ herstellen, stehen daher nicht für eine totalitäre Anstalt und eine totalitäre Logik oder eine disziplinäre Überwachung, sondern eher für eine ›lebende Anstalt‹ im Sinne Kafkas, die dieses flexible Management inkarniert und als große Inklusionsmaschine mit flexiblen Grenzen immer mehr integriert.

In ihrem Text über das Infame zwischen Disziplinen und Biopolitik analysiert Maria Muhle Figurationen des ›Minderen‹ in Foucaults Denken. Plebs, infame Existenzen, gefährliche Klassen und Individuen gibt es in seinem ganzen Werk. Muhle zeigt, dass das Plebejische keine soziologische Entität ist, sondern vielmehr ein Anteil, ein Etwas, das den Machtbeziehungen ›entgeht‹. Foucault charakterisiert es als zentrifugale Bewegung oder befreite Energie. Für diese gegenläufige Energie kann es keinen genuinen Ort oder Träger geben. Diese Energie erscheint als ein exzessives Moment. Die Plebs entsteht in unregelmäßigen und veränderbaren Flüssen; sie ist unendlich variabel, nicht klassifizierbar, nicht einschreibbar. Im Gegensatz zu den tradierten Kategorien des Volkes, der Masse, des Proletariats als eingeschriebene, sichtbare und sagbare historische Größen hat die Plebs also ›keine Substanz‹ und folglich ist es unmöglich, ihr die Rolle eines historischen Subjekts zuzuschreiben. Denn insofern das Mindere, Plebejische, Infame geradekeinkonstituiertes Volk ist, politisiert es sich auch nicht über die juridischen, konsenspolitischen Wege der Erhebung in einen freiheitlichen Raum der Gemeinschaft und stellt somitkeinejuridisch verifizierbare Antwort auf die Macht bereit. Es zielt nicht auf eine Repräsentation – oder eben Darstellung – des Minderen ab, vielmehr artikuliert sich dieses quasi-mimetisch über Momente der Unterbrechung, die sich der vollkommenen disziplinären Beschreibbarkeit entziehen, indem sie Effekte der Dissonanz oder des Dissenses produzieren.

Im Beitrag von Marc Rölli geht es um die Rekonstruktion der immanenten Beziehungen zwischen Macht und Wissen, indem auf die Relevanz des anthropologischen Diskurses für die Strategien der Disziplinierung und für das Dispositiv der Sexualität eingegangen wird. Es wird deutlich gemacht, dass die von Foucault in derOrdnung der Dingeals anthropologisch deklarierte epistemische Struktur der Moderne für die diskursive Konsolidierung des thematischen und historischen Bereichs der modernen Machtverhältnisse (Disziplin, Bio-Macht) konstitutiv ist. Anders gewendet, wird im philosophischen Denken mit und nach Kant – in seinen idealistischen und positivistischen Spielarten im langen 19. Jahrhundert – eine anthropologische Struktur entziffert, die sich folgenreich in der anthropologischen Literatur nicht-philosophischer Felder (und in den entsprechenden Institutionen) auswirkt: Anthropologie oder Menschenkunde der Medizin, Psychiatrie, Pädagogik, psychologischen Charakteristik, Anthropometrie, Völker- und Rassenlehre, Degenerationstheorie, Eugenik, Sozialanthropologie, Rassenhygiene u.a.15Definiert die anthropologische bzw. empirisch-transzendentale Dublette epistemische Voraussetzungen der modernen Humanwissenschaften, so findet sie sich im »Komplex Perversion-Vererbung-Entartung […] im festen Knotenpunkt der neuen Technologien des Sexes« wieder.16Ebenso verhält es sich mit der inÜberwachen und Strafendargelegten Neugewichtung der menschlichen Totalität im Rahmen der modernen Individualisierung des Verbrechers – die Seele als Korrelat einer Machttechnik der Strafjustiz. In beiden Fällen werden mittels anthropologischer Spekulationen und Verfahren, die angesichts der instabilen Verhältnisse moderner Rationalität nicht prinzipiell zu begründen sind, Normalisierungstechniken entwickelt und diskursiv abgestützt. Mit der Normalisierung verbinden sich bis in die Gegenwart hinein Machtverhältnisse, die sich an der kapitalistischen Wachstumslogik bzw. entsprechenden Krisenerscheinungen und den mit ihnen verbundenen Zuschreibungen von Effektivität ablesen lassen, zum Beispiel auf einer Skala von statistisch definierten Normalitätsklassen.

Auch Walter Seitter thematisiert die von Foucault inÜberwachen und Strafenhervorgehobene Individualisierung des Verbrechers, die weniger auf die begangene Tat und mehr auf die anthropologische, d.h. physische und vor allem psychische Konstitution des Täters (und damit auf die spezifische Bestrafung) sieht. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung gerichtsmedizinischer Gutachten anhand der These Foucaults erläutert, »daß die neuen Formen des Rassismus […] historisch auf die Psychiatrie bezogen werden müssen«17. Den Vorgang der anthropologischen Individualisierung situiert Seitter in einem über sie hinausreichenden historischen Kontext, der von der Infamie zu den Anormalen reicht. Im Rekurs auf zwei Vorlesungen Foucaults wird zwischen der Kritik der (römischen) Souveränität seitens calvinistischer Monarchomachen und dem Konzept des ›internen‹ Rassismus ein Bezug hergestellt.18Der Bezug ist durch die Stadt Wien vermittelt: durch Johann J. Bechers moralisch-politisches Menschenführungskonzept (1669) und seine Auffassungen von Kindern und Frauen einerseits und durch Otto Weininger, der in seinem BuchGeschlecht und Charaktervon 1903 eine für den internen Rassismus und die Figur des Anormalen geradezu exemplarische anthropologische Charakteristik (v.a. der Frau) entwickelt. Mit dem Theorem der ›Bisexualität‹ wird die Idee einer ursprünglichen Polarität der romantischen Naturphilosophie biologisch übersetzt und für eine Charakteristik genutzt, die aber die seelischeEinheitdes menschlichen Wesens (quasi Kants ›reinen‹ im Unterschied zum ›empirischen‹ Charakter) ausschließlich mit dem männlichen Faktor zusammenschließt. Die biologisch-psychologische Grundlage des Charakters wird dabei geistig nicht nur überformt, sondern zuletzt aus dem Grunde des Geistes und seiner aus sich selbst heraus generierten Bildung gemäß einer Idee der Menschheit für nichtigen Schein erklärt.19Angesichts der aktuell neu aufkommenden rassistischen Vorurteile im Kontext der sog. ›Flüchtlingskrise‹ ist es mehr als wünschenswert, ihre Formierung kritisch identifizieren zu können. Auch dazu leistet Seitters Text einen Beitrag.

Martin Saar rekonstruiert Foucaults inÜberwachen und Strafenvorgelegtes Machtdenken, indem er die neuartig produktive Machtform der Disziplin in ihrer besonderen Eigenart der Immanenz ausfindig macht. Das bedeutet aus seiner Sicht, dass die Macht epistemischen, sozialen und Selbst-Verhältnissen immanent ist, d.h. mit ihnen wechselseitige Konstitutionsbeziehungen unterhält. Es gibt daher weder Wissen, Gesellschaft noch Subjektivierung ohne ›innere‹ (im Sinne von: konstitutiven) Machtbeziehungen. Ebenso wenig ist die Macht zu verabsolutieren. Auch sie muss die Interaktionspole ihrer immanenten Bezugspunkte, etwa die Freiheit oder auch den Widerstand, voraussetzen. Anknüpfend an Foucaults späte Texte über Aufklärung und Kritik verbindet Saar mit der Immanenz der Macht die Möglichkeit einer nicht nur historisch-deskriptiven, sondern kritischen Machtanalyse. Die Immanenz der Kritik liegt dabei in ihrer unvermeidlichen Machtförmigkeit und gerade nicht im Anspruch auf eine immanente Normativität. Sie analysiert spezifische Dispositive der Macht und ermöglicht damit ein Anders-Werden, mit Foucaults Worten: »nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken«20. Das Ziel dieser kritischen Interventionen kann nicht in der Abschaffung (und auch nicht in der Affirmation) der Macht liegen, sondern in einer spezifischen Ausprägung ihrer Formen.

In seinem BeitragVom Macht-Wissen-Dispositiv zum Wahrheitsregimezeigt Roberto Nigro, dass die Frage nach der Machtanalyse im Werk Foucaults in einer seiner politisch aktivsten Phasen zu Beginn der 1970er Jahre entsteht. Foucault ist in den politischen Ereignissen, die auf der Tagesordnung stehen, involviert. Wenn die Machtanalyse die Frage nach der Ausbeutung nicht auslöscht, sondern sie auf eine andere Ebene stellt, ersetzt die Machtanalyse auch nicht die Frage nach den Produktionsverhältnissen. Obwohl Foucaults Aufmerksamkeit politischen Technologien gilt, ging es ihm nicht darum, Produktionstechnologien durch sie zu ersetzen – im Gegenteil: Sie müssen in ihren Verflechtungen gedacht werden. Hier überschneidet sich das Werk Foucaults mit dem von Marx und dient dazu, eine neue Interpretation der Genealogie des Kapitalismus und des modernen Subjekts zu entwickeln. Von 1971 bis 1976 setzte sich Foucault intensiv mit Marx, marxistischen Positionen und insbesondere mit den Fragen Althussers und seinen Mitarbeitern auseinander. In derselben Zeit beschäftigte er sich auch eingehend mit dem Werk Nietzsches. Nietzsches Philosophie ist nicht nur alsAbbaueiniger in der Tradition verankerter philosophischer Begriffe wichtig, sondern auch alsAufbaueiner neuen Konzeption der Machtverhältnisse. Darüber hinaus ermöglicht sie die Erweiterung und Veränderung des marxistischen Begriffs des Klassenkampfes. Foucault ist eindeutig von Nietzsche inspiriert, wenn er die Frage nach dem Wahrsprechen in den 1980er Jahren formuliert. Hier zeigt er deutlich, dass Macht weder auf Gerechtigkeit noch auf Notwendigkeit gründet und verweist damit auf die Nicht-Notwendigkeit jedweder Macht.

Andreas Reckwitz untersucht den Strukturwandel des disziplinären Regimes in Richtung einespost-disziplinärenBlicks. Im 20. Jahrhundert hat eine tiefgreifende Transformation der Strukturprinzipien, der kulturellen Legitimationsformen und der affektiven Erregungsstrukturen der Gesellschaft der Moderne als Ganze stattgefunden. Die Tragweite dieses Strukturwandels wird erst zu Beginn des 21. Jahrhundert wirklich erkennbar. InÜberwachen und Strafenliefert Foucault im Kern die Analyse einer Sichtbarkeitsordnung. Foucaults Analytik der Disziplinargesellschaft kann als Inspirationsquelle für die Rekonstruktion von Sichtbarkeitsordnungen der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft gelten. In der Gegenwartsgesellschaft ergibt sich eine komplexe Gemengelage von Sichtbarkeitsordnungen, die weit über das disziplinäre Blickregime hinausgeht, das Foucault für das 18. Jahrhundert im Auge hatte. Die historisch folgenreiche Überlagerung des klassischen Komplexes der Rationalisierung und Disziplinierung durch jenen der Kulturalisierung und Singularisierung hat zur Entstehung einer Sichtbarkeitsordnung kompetitiver Singularitäten geführt, die immer wieder durch eine Politisierung der Sichtbarkeit herausgefordert wird. Da die Gegenwartsgesellschaft im Kern nicht mehr den Mechanismen des disziplinären Blicks folgt, sollten wir uns fragen, wie sich die gesellschaftlichen Sichtbarkeitsordnungen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts verändert haben. Welche Transformation des Sozialen ist damit einhergegangen? Was ist unter einer Sichtbarkeitsordnung zu verstehen?

Im kritischen Anschluss an Foucaults Studien zur Gouvernementalität erläutert Joseph Vogl das Finanzwesen als zwar vernachlässigten, aber bedeutenden Aspekt der neuzeitlichen Ökonomisierung des Regierens. Mit ihm werden strikte Unterscheidungen politischer und ökonomischer Macht problematisch. Einerseits verfügt die Souveränität über geldpolitische Mittel, andererseits erodiert ihre Staatsgewalt durch ökonomische Abhängigkeiten, die sich in der kreditförmigen Verschuldung zum Ausdruck bringen. Anhand der Geschichte des Fiskus wird aufgezeigt, wie sich politische und private Angelegenheiten durch die Herausbildung eines speziellen Machttyps eigentümlich verschränken. Auch im Falle des Münzregals spielen sich politische und ökonomische Prozesse gegenseitig in die Hände, indem nicht nur die Fürsten, sondern auch die mit Wechselbriefen Handel treibenden Bankiers von der Erhebung des sog. Schlagschatzes (›seigniorage‹) profitieren, der sich aus der Differenz des Metallwerts und des aufgeprägten Nennwerts einer Münze ergibt. »Im Zeichen von Souveränitätsrechten hat sich also eine elementare Form kapitalistischer Bereicherung etabliert«, so Vogl. Die Prozesse der Monetarisierung konsolidieren mit der Anerkennung gemünzter Währungen sowohl die souveränen Machtinstanzen, ihre Einnahmequellen und territorialen Ansprüche als auch die Entwicklung überregionaler Finanzmärkte und die Anhäufung von Privatkapital. Eine Urszene des modernen Staatesundinternationaler Finanzinstitutionen kann insbesondere in der durch Staatsschulden motivierten Übertragung steuerpolitischer Befugnisse auf private Akteure – als ein Beispiel fungiert hier die Bank der Seerepublik Genuas, dieCasa di San Giorgio– ausgemacht werden. Entscheidend ist dabei, dass sich ein neuer ›seignioraler‹ Machttyp herausbildet, der sich im informellen Milieu einer Verschränkung politischer und ökonomischer Verhältnisse konstituiert.21Innerhalb des schematischen Gegensatzes von Nationalstaat und kapitalistischen Handelsbeziehungen kann dieser Machttyp nicht erfasst werden.22Dagegen ist es mit ihm möglich, die modernen Prozesse der »Kapitalisierung von Macht« zu beschreiben, die sich durch die Umwandlung von ökonomischen in politische Ressourcen und umgekehrt bestimmen.

Der Dank der Herausgeber gilt Thomas Hügel und Gerhard Unterthurner vom WienerInstitut für Wissenschaft und Kunst(IWK), die 2015 im Jubiläumsjahr die Tagung zu FoucaultsÜberwachen und Strafenmöglich gemacht und ausgerichtet haben. Auch bedanken wir uns bei den Leitern derInstitute für TheorieundDesignforschungderZürcher Hochschule der Künste(ZHdK) Dieter Mersch und Gerhard M. Buurman für ihre verlässliche Unterstützung und beimtranscript Verlagbei Gero Wierichs für die gute und unkomplizierte Zusammenarbeit.

1| Unter dem Titel »Die Machtanalyse nach Foucault – 40 JahreÜberwachen und Strafen« fand am Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) in der Zeit vom 18.06.-20.06. 2015 in Wien eine Tagung statt, auf deren Vorträge die meisten der hier versammelten Beiträge zurückgehen. Vgl.www.iwk.ac.at/events/die-machtanalyse-nach-foucault-40-jahre-ueberwachen-und-strafen, zuletzt geöffnet am 14.12.2016.

2| Vgl. Michel Foucault,Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 91.

3| Vgl. ebd., S. 76. »Das universitäre Mandarinentum ist nur die sichtbarste, die sklerotischste und am wenigsten gefährliche Form dieser Evidenz.« Foucault, »Macht und Wissen«, in: ders.,Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Petra Gehring, Frankfurt a.M. 2009, S. 354.

4| Michel Foucault,Théories et institutions pénales. Cours au Collège de France 1971-1972, Paris 2015.

5| Hier sollte die Debatte zwischen den Historikern erwähnt werden, vor allem die Auseinandersetzung zwischen Boris Porchnev (Les Soulèvements populaires en France de 1623 à 1648, Paris 1963) und Roland Mousnier über die Deutung der Volksaufstände. Vgl. dazu Claude-Olivier Doron, »Foucault et les historiens. Le débat sur les soulèvements populaires«, in: Michel Foucault,Théories et institutions pénales, a.a.O., S. 291-307.

6| Vgl. Michel Foucault,Die Strafgesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1972-1973, hg. v. Bernard E. Harcourt, übers. v. Andrea Hemminger, Frankfurt a.M. 2015.

7| Michel de Certeau,Kunst des Handelns[1980], übers. v. Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 16.

8| Vgl. ebd., S. 186.

9| Vgl. Gilles Deleuze, »Lust und Begehren« [1977], in: Friedrich Balke, Joseph Vogl (Hg.):Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München 1997, S. 230-240. Vgl. dazu Ralf Krause, Marc Rölli, »Subjektivierung der Macht. Begehren und Lust bei Foucault und Deleuze«, in: Gerhard Unterthurner, Ulrike Kadi (Hg.):sinn macht unbewusstes. unbewusstes macht sinn, Würzburg 2005, S. 227-248.

10| Vgl. Gilles Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders.:Unterhandlungen 1972-1990, übers. v. Gustav Roßler,Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262.

11| Tatsächlich könnte man sagen, dass die immanenztheoretisch radikalisierte Machttheorie Deleuzes mit einem postdisziplinären Machttyp der Kontrolle intrinsisch verbunden ist, sofern sie neuartig kapitalistische Vereinnahmungsprozesse geltend macht, die – wie z.B. Boltanski und Chiapello in ihrem Buch über den »neuen Geist des Kapitalismus« (1999) gezeigt haben – bereits in den 1970er Jahren einsetzen, auch wenn sie erst im Laufe der 1990er Jahren in größerem Maßstab sozialkritisch beschrieben und reflektiert werden.

12| Gilles Deleuze, Félix Guattari,Tausend Plateaus[1980], übers. v. G. Ricke u. R. Vouillé, Berlin 1992, S. 194..

13| Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft [2005], übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 2010, S. 447.

14| Ebd., S. 281.

15| Vgl. zu diesem Feld diverser ›Anthropotechniken‹ der Bio-Macht: Marc Rölli, »Biopolitik-Analyse. Entwurf einer Forschungsperspektive«, in: Stephan Schaede, Reiner Anselm, Kristian Köchy (Hg.),Das Leben Bd. 3, Tübingen 2016, S. 37-70.

16| Vgl. Foucault,Sexualität und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum Wissen, übersetzt von U. Raulf u. W. Seitter, Frankfurt a.M. 1977, S. 143.

17| Vgl. Foucault,Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-75), übers. v. M. Ott u. K. Honsel, Frankfurt a.M. 2003, S. 418-419.

18| Vgl. zum internen Rassismus ebd., S. 418-420, und zur »Gegen-Geschichte des Rassenkampfes« und der mit ihr merkwürdig verbundenen Geburt des neuen und eigentlichen Rassismus: Foucault,In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), übers. v. M. Ott, Frankfurt a.M. 1999, S. 76-98, v.a. S. 94-95.

19| In diesem Sinne gibt es nach Weiningers wie Seitter sagt »defizitärer Theorie« im Charakter des weiblichen Geschlechts nichts Substantielles, das sich gerechtfertigt erhalten könnte. Das »echte Emanzipationsbedürfnis […] in der Frau [setzt] Männlichkeit voraus« und der »einzige Feind der Emanzipation der Frau ist die Frau« selbst. Vgl. Otto Weininger,Geschlecht und Charakter[1903], 10. Auflage, Wien 1908, S. 86, 93.

20| Vgl. Foucault 1984, zitiert im Beitrag von Martin Saar, Fußnote 30.

21| Vgl. dazu auch Joseph Vogl,Der Souveränitätseffekt, Zürich, Berlin 2015, S. 69ff.

22| InTausend Plateaushaben Deleuze und Guattari von Staaten als »immanenten Realisierungsmodellen« des weltweiten Kapitalismus gesprochen. Damit haben sie auf die inneren Beziehungen verwiesen, die die kapitalistische Ökonomie und die souveräne Staats-Form unterhalten. Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, a.a.O., S. 630ff.

Das invertierte Auge

Panopticon und Panoptismus

Petra Gehring

»L’efficace du pouvoir, sa force contraignante sont, en quelque sorte, passes de l’autre côté –du côté de sa surface d’application. Celui qui est soumis à un champ de visibilité, et qui le sait, reprend à son compte les contraintes du pouvoir; il les fait jouer spontanément sur lui-même;il inscrit en soile rapport de pouvoir dans lequel il joue simultanément les deux rôles; il devient le principe de son propre assujettissement.«

»Die Wirksamkeit von Macht und ihre zwingende Kraft gehen in gewisser Weise auf die andere Seite über – die Seite der Oberfläche, auf welche sie sich anwendet. Derjenige, welcher einem Sichtfeld ausgesetzt ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er schreibt das Machtverhältnis in sich ein, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.«1

Mindestens zweimal hat die Rezeption das Panopticon – den auf Übersicht angelegten Überwachungsbau – zur sozial- und kulturkritischen Ikone erhoben.

Unmittelbar nach dem Erscheinen vonSurveiller et Punirbringt Foucaults Analyse der panoptischen Anlage die Institutionenkritik der antiautoritären Bewegung auf den Punkt: Wohlfahrtsstaatliche Anstalten mit ihren Programmen einer vermeintlichen ›Humanisierung‹ von Erziehung und Strafvollzug werden entlarvt als nicht nur tief ins Individuum hineinreichende, sondern dessen modernes Sosein sogar erst stiftende Zurichtungsmaschinen. Dem milden Antlitz einer Gesellschaft (fast) ohne Körperstrafen und mit neuen, bürgerlich gestaltbaren Freiräumen korrespondiert die Fratze einer psychotechnischen Ordnungs-Akribie. Ein Wille zur Menschenformung schafft noch die Jüngsten, die Dümmsten und ohnehin die Verbrecher von innen her um. Dabei steht das Panopticon für eine Art Anfang – denn ab 1900 werden die Psychoanalyse, die Arbeits- und Sportpsychologie, die Hirnchirurgie, Psychopharmaka und weitere pseudo-humane Optimierungsregime folgen, und das denken die Leser der 1970er Jahre mit.2

Ende der 1990er Jahre wird das von Foucault analysierte Panopticon als Sinnbild des Digitalzeitalters gelesen. In allen verhaltenskritischen, aber auch den lediglich konsumrelevanten (freizeit- und unterhaltungsförmigen) Alltagssphären Daten zu sammeln: das erscheint als so etwas wie eine ›panoptisch‹ getriebene Praktik – wenngleich eine, die auf einsperrende Architektur weitgehend zu verzichten vermag. Denn nun durchdringt sie, im Gegenteil, den öffentlichen Raum im Ganzen. Videoüberwachung sowie automatisierte Gesichts- und Bewegungserkennung stechen in dieser Hinsicht besonders hervor, aber auch das zugemutete Wissen darum, dass Nutzerspuren im Netz, digitaler Zahlungsverkehr, Digitalkommunikation nachverfolgt werden, lässt an eine Bentham’sche Transparenzmaschinerie denken. Darüber hinaus nimmt sich die freiwillige Selbstpräsentation von Privatleuten, die im Netz schamlos plaudern oder vor Kameras posieren, eigenartig zwanghaft aus. Mit einer Vielzahl neuer Techniken und Phänomene konfrontiert, greift eine nicht gefängnis-, sondern datenpolitische Kritikbewegung Foucaults Analysen auf: Benthams Panoptismus scheint einer Frühform individualisierender Totalerfassung zu gleichen – oder mindestens liefert er einen Vergleichsfall, der die Besonderheiten heutiger, durch Digitaltechnologie verschärfter Überwachung beispielhaft aufzeigt.

Beide Rezeptionswellen haben nun allerdings, wie ich zeigen möchte, Foucaults Analyse frühmoderner Anstalts-Reformbauten – als »Laboratorium«3, »Politische Technologie«4und »Diagramm« eines Machtmechanismus5– an einer zentralen Stelle verfehlt gelesen und so letztlich das Panopticon kurzschlüssig verstanden. Das Panoptismuskapitel wurde einerseits auf schräge Weise subjekttheoretisch gelesen sowie andererseits, sagen wir: visualistisch oder sichtbarmachungslastig gewendet. Nicht selten erfolgte sogar beides zugleich. Auf die eine oder andere Weise etablierte sich jedenfalls die Vorstellung einer durch die panoptische Nötigung (vermeintlich) bewirkten Internalisierung eines Bewacherblicks, der dann gleichsam von innen her, machtvoll und subjektkonstitutiv, wirksam würde.

Eine historisch, aber auch systematisch entscheidende Pointe von Foucaults Analyse wird, denke ich, im Wege solcher Lesarten verfehlt: Beim Panopticon handelt es sich zwar um eine perfide Technik der Blicklenkung. Es handelt sich eigentlich aber eben auch um ein Arrangement, das der Entwertung des Blicks Vorschub leistet, weil es vielmehr eine Art Verkehrung, ein Leerwerden, eine Invertierung des Auges bewirkt – und zwar nicht in quasi fokussierender Manier (etwa individualisierend, sozialisierend und dazuhin noch mit einer Durchdringungskraft ›nach Innen‹) und auch nicht quasi allsichtig, als omnipotenter Streublick ›nach überall‹. Wirkmodus wie auch Effekt des Panoptismus ist vielmehr eine Art Nicht-Sichtigkeit, eine Suspendierung und ein Erlöschen des Blicks und mit ihm auch der Macht des Auges. Und dies nicht etwa zugunsten eines scheinbar doch immer weiter präsentbleibenden, generalisierten Auges, sondern zugunsten von Disziplinierungsformen, die sich gänzlich ins Unsichtbare zurückziehen. Das Panopticon wäre somit ein Übergangsphänomen. Es markiert die Schwelle zu einer nicht-optischen, anokularen und gesichtslosen Operativität der Macht.

Gegen die Vorstellung von einer Internalisierung des Fremdblicks, um den Sinn für das Nichtvisuelle als Element der panoptischen Wirk-Achsen (Bändigung des Einzelkörpers, Überwachung der Überwacher, Parzellierung und Individualisierung) zu schärfen und um die gängige Vorstellung vom Stellenwert des Panoptismuskapitels inSurveiller et Punirfür Foucaults Modernediagnostik zurechtzurücken, spreche ich plakativ von einer ›Invertierung‹ des Auges – sowie der Blickfunktion überhaupt – als der eigentlichen Pointe des panoptischen Szenarios: Das Auge des Überwachers wird eher in ein funktionales Minimum hinein verkehrt als in den Überwachten einzuwandern. ›Augenfixierte‹ Panoptismus-Thesen wären demzufolge umzukrempeln. Und auch die über das 19. Jahrhundert hinweg sich entfaltende Moderne kann mit Foucault zwar gewiss alles andere, aber keinesfalls eine Epoche des Auges sein.

Ich rekonstruiere (1.) Foucaults Argumente kurz auf meine Weise, dabei spielt namentlich das dem Panoptismus-Kapitel vorausgehende Kapitel zu denmoyens du bon dressement, den »Mitteln der guten Abrichtung« – und nicht Bentham6– die entscheidende Rolle. Deutlich soll (2.) werden, dass das panoptische Blickregime nicht wirklich auf die Schaffung einer Innerlichkeit zielt.