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Sie haben Heimweh nach einem Ort, den es nicht mehr gibt. Oder den es nie gegeben hat? Die rebellischen Frauen in »Virtuoso« ziehen aus dieser Melancholie explosive Kraft. Während der braunen Polyesterjahre im kommunistischen Prag lernen sie sich mitten im Winter kennen: Jana und Zorka mit den rabenschwarzen Haaren. Während das System erste Risse bekommt, versuchen sie die Erwachsenen in ihrer von Paranoia und Begehren getriebenen Welt zu ergründen – bis Zorka eines Tages plötzlich in die USA verschwindet. Die Vororte Wisconsins sind für eine Rebellin wie Zorka keine geringe Herausforderung. Auch hier findet sie Gefährtinnen, die nach Revolution riechen. Erst Jahrzehnte später treffen sich Zorka und Jana wieder: im Blue Angel Club in Paris. Yelena Moskovich ist eine gewiefte Fährtenlegerin und entfaltet in ihrer Geschichte einen hypnotischen Sog. Die Autorin verwebt das Persönliche mit dem Politischen auf tragikomische Weise. Nicht nur die Figuren, auch die Welt um sie herum verändert sich von Grund auf. In einem hochemotionalen Register schreibt Moskovich von Liebe und Freundschaft zwischen würdevoll verrückten Frauen.
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Seitenzahl: 308
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Virtuoso bei Serpent´s Tail in London.
E-Book-Ausgabe 2022
© 2019 by Yelena Moskovich
© 2022 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach
Emser Straße 40/41 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Marta Bevacqua / Trunk Archive. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 978 3 8031 4353 2
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3350 2
www.wagenbach.de
Wenn ich träume, dann von dir
Meine Liebe, mein Freund
Wenn ich singe, dann für dich
Meine Liebe, mein Freund
Marie Laforêt Mon amour, mon ami
… und riesige Sterne,
über dem fiebrigen Kopf, und Hände,
die nach dem einen greifen,
der seit ewigen Zeiten nicht existierte –
und nicht existieren wird
– der nicht existieren kann –
und existieren muss.
Marina Zwetajewa Nächte ohne den Geliebten…
Mit dem Gesicht nach unten auf dem Hotelbett, der Körper. Eine Hand hängt seitlich vom Bett, ruht auf den roséfarbenen Teppichborsten, die Finger sind gespreizt, die Nägel lackiert, die Nagelbetten wund, der Ehering in Weißgold wie ein zwinkernd erstarrtes Auge.
Der Rest ist leere fleischliche Hülle. Im Laken erstickte Brüste, das Kissen am Kopfteil zerdrückt, die Schultern zur Grimasse verzerrt, die Kniekehlen ein Ringen nach Luft und die Haut bereits matt.
Diese Frau ist allein.
Die mit ihr Verheiratete hat eine Tüte mit Zitronen auf den Wohnzimmertisch der Hotelsuite gelegt. Sie nähert sich der geschlossenen Schlafzimmertür, legt die Hand an den Knauf, dreht ihn. Die Metallfeder knackt, und die Tür gleitet über die flachen Borsten des Teppichs.
Als sie den leblosen Körper sieht – wie allein er ist –, stürzt sie zu ihm.
Draußen das Heulen des Krankenwagens. Immer näher zum Hotel. Im Schlafzimmer, auf dem Nachttisch, hängt das Telefon an seinem eng gewundenen Kabel und tutet hysterisch. Die Frau sucht den Körper nach Atemzügen ab, entfernt Haare aus dem Mund. Zieht ihn vom Bett, ein dumpfer Schlag. Millionen roséfarbene Borsten. Ihre Hände klatschen auf das Brustbein.
Das Telefon tutet und sie pumpt, gummibesohlte Schritte nähern sich. Der Hotelangestellte ist jung und schlank, er tritt einen Schritt vor, dann zurück, wieder vor und zurück, er will hinschauen und will es nicht. Schwerere Schritte hinter ihm, jetzt ist der Geschäftsführer des Hotels da, er sagt »Volte agora para baixo« zu dem Jungen, geh jetzt nach unten. Als sich der Junge zögerlich entfernt, eilen ein Mann und eine Frau in waldgrünen Sanitätskitteln an ihm vorbei. »Geh!«, wiederholt der Geschäftsführer. Der Junge geht, dreht sich aber immer wieder um. Jetzt schreit die Frau: »Por favor! Sie stirbt!«
Auspacken des Defibrillators. Der Mann im grünen Kittel hat einen Aufnäher auf der Brusttasche, ein medizinisches Emblem mit einer dünnen roten Schlange. Die Frau in der gleichen Aufmachung schiebt die tobende Frau weg, zieht sie beiseite, dann noch einmal. »Ich spreche kein Portugiesisch! Wir machen hier Urlaub!« Die Frau im Kittel legt ihr eine Hand auf die Schulter und versucht Blickkontakt zu ihr aufzunehmen, aber die Frau schreit auf Französisch, als würde sie jemanden zusammenstauchen, und die andere im Kittel hält sie fest und nickt. Sie schnippt sich die blonden Haare aus den Augen, will wieder hinschauen zu dem Körper. Ihre Zunge hadert mit den Worten, sie denkt, Ich will sie nur berühren, als wäre nichts weiter nötig. Die Frau im Kittel zieht sie in den angrenzenden Raum. »Ich verstehe«, wiederholt sie nasal auf Englisch, »ich verstehe, Madame …«
»Zurückbleiben«, sagt der Sanitäter auf Portugiesisch und jagt einen Stromstoß in den Körper, der Brustkorb wölbt sich, die Frau springt auf, die Frau im Kittel fängt sie auf, es entsteht so etwas wie eine Umarmung, der Körper fällt auf den Teppich. Die Tränen der Frau spalten sich wie Haare. »Zurückbleiben«, verkündet der Mann erneut, die Frau im Kittel drückt den Unterarm der Frau. Sie schnappt nach Luft, verstummt und schaut. Der Strom rast durch das Fleisch zum Herz und richtet den Körper auf, der Brustkorb biegt sich, die Rippen splittern unter der Haut, und einen Augenblick lang glaubt die Frau, dieses Mal setzt sie sich auf. Aber dann sackt der Körper wieder zusammen und knallt mit einem dumpfen Schlag auf die Millionen roséfarbener Borsten. Die Schulterblätter weiten sich, der Kopf wackelt, dann bleibt er still liegen. Der Mund ist reglos. Von ihren schlaffen, geöffneten Lippen rinnt zähflüssiger blauer Schaum.
Später, die Sonne ist untergegangen, die Frau füllt Formulare aus, ihr Blick ist leer, das Handgelenk steif, die Nase läuft. Name der Toten, Alter und Sozialversichertennummer. Ihren eigenen Namen schreibt sie zögerlich, muss mehrfach wegschauen, bevor sie ihren Blick wieder aufs Papier richtet. Als ihr Stift den letzten Buchstaben setzt, nimmt sie das Blatt und starrt ihren vollständigen Namen an: Aimée de Saint-Pé.
Erst da fällt ihr auf, dass sich noch etwas im Raum befindet. Eine Farbe, wo vorher keine war. Sie schaut sich um: Die Ärztin, eine Brünette in gestärktem Weiß, sitzt auf dem Stuhl; hinter ihr hellgraue Fensterscheiben, dazu helle gesprenkelte Bodenfliesen. Aber außerdem ist dort noch ein zusätzliches Gewicht, eine Bewegung, die sich selbst vollendet.
Die Krankenschwester legt Aimée eine Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung, Madame? Brauchen Sie vielleicht ein Glas Wasser?« Aimée schaut zu ihr auf. Die feinen Furchen ihrer Lippen sind fettig, ihre Haut jetzt nach Sonnenuntergang dunkler, und ihre Augen – Aimées starrer Blick gleitet an der Schwester vorbei hinter deren Kopf, an die Bürowand. Da ist etwas.
Die Schwester wartet: »Brauchen Sie …?«, setzt sie erneut an, gibt den Satz aber auf. Es ist hinter ihr, ja. Das Gewicht, die Bewegung, die Farbe. Die Ärztin blickt auf, dann wieder auf die Unterlagen. Die Schwester spricht Aimée erneut an. Es – es löst sich aus der Luft, tastet sich vor, bewegt sich langsam fast fleischlich auf sie zu.
Ein metallisches Knacken und Aimées Stuhl wird von einer feuchten Hitze erfüllt. Die Ärztin tackert die Unterlagen zusammen, dann tropft Urin auf den Boden.
Es war anhaltend schwül, als der August verhauchte, der Ozean sich an die Küste warf und das Fieber herausprügelte. Autos mitsamt Insassen schoben sich zum Ferienende zurück nach Paris, feuchter Mief waberte über den Autodächern, vor den Oberkörpern der Fußgänger und den Erdgeschossfenstern.
Ich kannte Ihre Freundin, die Malá Narcis, so begann Mr Doubeks E-Mail.
Janas Achseln waren schon wieder feucht, obwohl sie auf der Bahnhofstoilette noch einmal Deo aufgetragen hatte. Nach ihrem Solo-Urlaub im Süden war sie gerade erst wieder in Paris zurück.
Auf die Idee, nach Marseille zu fahren, war sie gekommen, als sie eine Broschüre für den Petroleum-Import/-Export übersetzte, in der ausgeführt wurde, dass die Stadt das französische Zentrum für die Ölraffinerie sei, da sie dank zahlreicher Kanäle über einen ausgezeichneten Zugang zu den französischen Wasserstraßen bis hinauf zur Rhone verfügte. Jana hatte sich die Zugpreise angesehen und für vertretbar gehalten.
In Marseille nahm sie die Fähre zur Insel If und besuchte das Verlies aus Dumas’ Der Graf von Monte Christo; aß Schwertfisch mit Ratatouille und Safranreis; betrachtete die Opéra de Marseille von außen und sah, dass nichts auf dem Spielplan stand; beschnupperte die verschiedenen in der Region hergestellten Seifen; sie schaute die toten Fische auf der blauen Plane mit dem zerstoßenen Eis auf dem Markt am Quai des Belges ganz am Ende des Hafens an; dann ging sie zum Strand, setzte sich in den Schatten und malte sich aus, was für eine Kindheit und Jugend ein Außenseiter wie Antonin Artaud, der avantgardistische Theaterkünstler und gebürtige Marseillaner, hier wohl verbracht hatte. Sie stellte sich vor, wie er mit seinen weit auseinanderliegenden Augen und von philosophischer Wut erfüllt durch seine Heimatstadt streifte. Als sie seine Silhouette, einen dunklen Fleck, über den Sand huschen sah, begriff sie, dass nicht er es war, an den sie dachte, sondern ein Mädchen, das sie früher in Prag gekannt hatte und das alle Malá Narcis nannten, die kleine Narzisse.
Am Abend schlenderte Jana ins Stadtzentrum zu den sogenannten Lesben-Bars, die sie entdeckt hatte, trank dort einen Gin-Tonic am Tresen und kehrte zum Hotel zurück. Fünf Nächte waren genug, sie brauchte keine sieben, also ging sie zum Bahnhof und tauschte ihre Fahrkarte um.
Wieder in Paris, in ihrer Einzimmerwohnung in der Sackgasse, die vom Place Monge abging, im sechsten Stock über dem Laden, in dem es ausschließlich Werkzeugkästen in verschiedenen Zusammenstellungen gab, schloss sie ihr Handy an, klappte ihren Laptop auf und entdeckte die seltsame E-Mail von einem gewissen »Mr Roman Doubek«. Er erklärte, er habe bereits über ihre Agentur versucht, sie für seine bevorstehende Teilnahme an der medizinischen Handelsmesse in Paris anzufragen, wo er Linet vertreten würde, den bekannten tschechischen Produktionsbetrieb für Krankenhausbetten, man habe ihm aber mitgeteilt, sie stünde zu den angegebenen Terminen nicht zur Verfügung. Anscheinend hatte man während ihrer Abwesenheit eine andere tschechische Übersetzerin verpflichtet, dachte Jana, bestimmt die junge großäugige Alicia, die als unaufdringliche und dankbare Ausländerin mit sichtbaren Slip-Konturen angefangen hatte. In jüngster Zeit hatte sie sich, teilweise durch ihren neuen französischen Freund, mit dem es ja so ausgezeichnet lief, aber auch weil die Republik Tschechien ihr inzwischen sehr weit weg vorkam, zur selbstbewussten, katzenäugigen, tangatragenden jungen Frau gemausert, die früher zwar wahnsinnig naiv gewesen war, jetzt aber ja sooo froh, dass sich das geändert hatte.
Jana las die E-Mail und dachte an Alicia, an ihre festen Brüste in ihren billigen, wild gemusterten Blusen, ihren Blick irgendwo zwischen erwartungsvoll, schüchtern und gemein. Daran, wie sie Jana gefragt hatte, ob sie mit jemandem zusammen sei, und das Gespräch mit Anekdoten über ihren Freund und seine witzigen französischen Kumpels angereichert hatte. Einmal hatte sie gar keine Ruhe gegeben und ihr unbedingt ihre Sorge anvertrauen müssen, Jana würde vereinsamen, gewiss täte es ihr gut, sich ein bisschen zu öffnen, denn eigentlich sei sie doch im Großen und Ganzen eine attraktive Frau, und wenn sie wolle, könne sie ja mal mit ihr und ihrem Freund und dessen witzigen französischen Kumpels ausgehen und dann, wer weiß. Jana faltete ihre Gefühle zu einer geraden Linie und zog sich die Lippen damit nach.
Ich kannte Ihre Freundin, die Malá Narcis, lautete die erste Zeile.
Am nächsten Tag erhielt Jana einen Anruf von einer Agenturdisponentin, die sich sehr freute, sie bereits vor der Zeit wieder in Paris anzutreffen. Sie brauchten dringend Ersatz für Alicia, die eigentlich schon vor Tagen von ihrem Urlaub in Biarritz hatte zurückkehren sollen. Sie war auf Felsen am Strand geklettert, um ein Sonnenuntergangsfoto im neuen Bikini zu schießen, und ihr französischer Freund hatte sie gebeten, »ein Stückchen mehr nach links, mon amour« zu rücken, seine Kumpels und deren Mädchen hatten Bier getrunken, und als das tschechische Mädchen die untergehende Sonne im Rücken spürte, Wellen auf sich zurollen sah und das Gefühl hatte, endlich ihren Platz auf der Welt gefunden zu haben, war der Felsen gekippt, sie war ausgerutscht und hatte sich das Fußgelenk gebrochen.
Jana verabredete mit der Disponentin, dass sie Mr Doubek am nächsten Vormittag übernehmen würde.
Jana zog eines ihrer Dienstkostüme an – einen knielangen Rock mit passendem Blazer in Mitternachtsblau, dazu ein schlichtes cremefarbenes Oberteil mit V-Ausschnitt und hohe, dunkelblaue Schuhe.
Sie traf früh auf dem Pariser Expo-Gelände in Porte de Versailles ein. Die Messe fand im größten Pavillon des über sieben Hallen verfügenden Kongresszentrums statt, einem riesigen Gebäude mit gewölbten Oberlichtern über rasterförmig angeordneten Ständen. Sie spazierte durch die Gänge, machte sich mit den Gegebenheiten vertraut, passierte die Bs und die Cs, schaute auf ihren Plan, um nicht auf der Höhe von J14 die richtige Abzweigung zur International Meetings Lounge zu verpassen, wo Mr Doubek und seine französischen Kunden sie um zehn Uhr erwarteten.
Viele Stände waren bereits mit Leuten besetzt, die in verschiedenen Sprachen plauderten, Tafeln aufstellten und medizinische Gerätschaften zusammenbauten. An D32 war ein Rollstuhl ausgestellt, das hellbraun-beige Polster zierte ein Yin-Yang-Symbol, die Rückenlehne war mit einem weichen, geriffelten Material bezogen. Auf einer Tafel hinter dem Rollstuhl waren die Vorzüge des Produkts aufgelistet: Polster zur Vermeidung von Druckgeschwüren, Aufrichtfunktion mit Fernsteuerung … Jana betrachtete die rechte Armlehne, aus der eine herausziehbare Fernbedienung mit einer blauen Gummi-Grifffläche herausschaute.
Sie ging weiter, verlangsamte vor H40, studierte ein Plakat von einem prallen Herzen, das von blauen, in unterschiedliche Richtungen zeigenden Pfeilen geädert war. Zwei gedrungene Defibrillatoren wurden aus ihren Koffern gehoben und auf einem Klapptisch drapiert.
»Excusez-moi« – die Stimme kam von hinten. Dann berührte eine Hand ihre Schulter. Jana drehte sich abrupt um, hätte die Frau beinahe mit dem Ellbogen gestoßen.
»Oh, Verzeihung!«, sagte diese, wich einen Schritt zurück, und Jana nahm schnell die Hände vor den Bauch.
Die Frau trug ebenfalls ein Kostüm, aber ihres sah ganz anders aus. Der Rock war ein bisschen kürzer und enger, die Farbe dunkler – Mitternacht irgendwo zwischen Blau und Schwarz. Der Blazer spannte an der Taille und aus dem Ausschnitt lugte die Andeutung einer elfenbeinfarbenen Bluse. Um den Hals trug sie einen schwarzen Seidenschal, aber ihr Schlüsselbein war unbedeckt. Jana schaute auf ihre Füße: hohe Schuhe, aber vorne spitz zulaufend.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken …«, sagte die Frau nervös.
Ihre blonden Haare waren ordentlich in der Mitte gescheitelt und glatt zu einem zwischen ihren Schulterblättern wippenden Pferdeschwanz gebunden. Ihre Wangenknochen umrahmten ihr Gesicht, ließen ihre Augen schmal wirken, tiefliegend, nur jetzt weiteten sie sich vor Verlegenheit.
»Kennen wir uns?«, fragte Jana ausdruckslos.
»Oh … Oh!« Die Frau schlug eine Hand vor den Mund. »Tut mir leid, ich dachte, Sie arbeiten hier«, sagte sie durch die Finger.
Der Blick der Frau glitt zu Janas Namensschild an ihrem Revers, sie sprach die rot gedruckten Buchstaben laut aus »Liné …?«
»Linet«, korrigierte Jana ihre Aussprache. »Das ist ein tschechischer Hersteller. Weltweit die Nummer eins für Krankenhausbetten. Ich arbeite tatsächlich hier. Ich bin Übersetzerin.«
»Ach …«, fuhr die Frau betreten fort, »dann können Sie mir vielleicht doch nicht helfen, ich suche den Stand von Dupont. Das heißt, den zwischen Dupont und einer Gruppe mit Sauerstoff-Generatoren. Ich bin schon zweimal durch die ganze Halle gelaufen, aber … ich kann ihn nicht finden.«
»Sie sind hier in der internationalen Abteilung«, sagte Jana.
»Bin ich das?«, erwiderte die Frau.
Jana faltete ihren Plan auseinander. Rasch zog auch die Frau ihren hervor und zeigte ihn Jana.
»So einen habe ich auch, aber ich schwöre, die Standnummer gibt es nicht!«
Die beiden Frauen hielten ihre Pläne nebeneinander, als könnten sie den Geltungsbereich des anderen dadurch erweitern, und suchten das Raster der nummerierten Buchstaben ab.
»Der Arzt, der bei Global Plastics auf dem Podium spricht«, erzählte die Frau anlasslos, während sie gemeinsam suchten, »das ist mein Vater. Er ist Prothesen-Spezialist.«
»Arbeiten Sie für Ihren Vater?«, fragte Jana.
»Ich war seine Assistentin, oder ehrlich gesagt, eher Empfangsdame, aber das ist Jahre her. Jetzt arbeite ich für einen seiner Freunde, einen Gynäkologen, seine Klinik befindet sich direkt neben der portugiesischen Botschaft, oberhalb des Parc Monceau, in der …«
»N39.« Jana zeigte auf ein kleines Quadrat in der südöstlichen Ecke der Halle.
»Komisch«, sagte die Frau, »ich bin immer wieder an N36 und N37 vorbeigegangen und habe es nicht gesehen …«
Die beiden Frauen trennten die Pläne und steckten sie jeweils zusammengefaltet in die Taschen ihrer Blazer.
»Könnten Sie mir wohl noch bei einer anderen Sache helfen?«, fragte die Frau schüchtern, griff in ihre Tasche und zog ein Namensschild mit einer auf der Rückseite angeklebten Sicherheitsnadel heraus. Sie hielt es Jana hin.
Jana nahm das Schild, drehte es um, öffnete die Sicherheitsnadel und blickte auf.
»Wo soll ich das hinstecken?«
Die Frau zeigte mit einem Finger, der Nagel war in einem cremigen Rosé-Ton lackiert, auf ihren Blazer-Aufschlag.
»Hier. Dankeschön.«
Jana näherte sich dem Schlüsselbein der Frau, stach die Nadel in den groben dunklen Stoff, hakte sie fest und ließ los, vorsichtig darauf bedacht, nicht die Brust zu berühren.
Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete das Schild am Revers der Frau.
»Aimée DE SAINT-PÉ«, stand darauf.
»Merci«, sagte die Frau.
Genau in diesem Moment fiel Jana ein, sich selbst vorzustellen, aber die Frau lächelte nur kurz, drehte sich um und ging Richtung N39 davon.
Jana sah ihr nach, ihr Rock schlug leichte Falten über der Wölbung ihres Hinterns, und der Saum rutschte die Oberschenkel hinauf.
Die ersten neunzehn Jahre meines Lebens war ich ein einfaches tschechisches Mädchen, ein Aquarell.
Die Zeit damals richtete sich nach der Uhr der Arbeiter und des ŠtB, der tschechoslowakischen Staatssicherheit. Arbeiter in schmutzigem Beige-Braun luden große rechteckige Jutesäcke auf Laster. Arbeiter gingen in zugeknöpften Hemden zur Arbeit. Trugen ihre Aktentaschen an steifen Armen. Der ŠtB ging in Zivilkleidung umher, schoss heimlich Fotos. Mann auf Treppe. Frau mit Kinderwagen. Mann und Frau Hand in Hand. Berühmte Kunstwerke unseres Zeitalters. Sie zapften Telefonleitungen an, öffneten Briefe über Wasserdampf, krochen durch die Schlagadern der Stadt und pickten einzelne heraus, zogen sie aus ihren Biografien. Menschen verschwanden, tauchten wieder auf, gestanden, berichteten über andere … es werden viele lebendige Kunstwerke im angesagtesten Medium der Fotografie geschaffen: Mann untergräbt Republik (Schwarzweiß), Frau beim Verteilen (Triptychon), Mann und Frau organisieren (Reprint).
Die Ereignisse verheilten wie Wunden aus Wasser. Das Leben ging weiter. Atembläschen stiegen an die Oberfläche und platzten. Die Straßen füllten sich mit Geistesabwesenden, mit mental Schwerfälligen, die eine Sorge unter einer anderen begruben. Ameisenhügel und Krater. Aus einem geöffneten Fenster quoll der warme Dampf kochender Kartoffeln. Tauben pickten vom kargen Boden. Schlangen mit Menschen, die um Zuckerrationen, Kaffee, Salz und Brot anstanden … in schmalen Gassen zusammengedrängte Schatten, die rasch auseinandergingen. Da waren Küsse. Da waren Flugblätter. Ausländische Scheine wanderten von einer Tasche in eine andere. An der Ecke überquerte eine Frau die Straße. Auf dem Gehweg fiel ein Kind vom Fahrrad. Ein Code oder nur bedeutungslose Ereignisse? Die Katze am Fenster riss ihr Maul so weit auf, als wäre sie ein Tiger.
Als der tschechische Student Jan Palach sich im Januar 1969, dreizehn Jahre vor meiner Geburt, auf dem Prager Wenzelsplatz anzündete, um gegen die sowjetische Zwangsherrschaft in der Tschechoslowakei zu protestieren, war ich nur ein Partikel, eine Frequenz, ein Regenbogen am Himmel, eine Melodie am Rande eines Bewusstseins.
Und auch als einen Monat später, am 25. Februar 1969, ein weiterer tschechischer Student, Jan Zajíc, anlässlich des 21sten Jahrestags der kommunistischen Machtübernahme denselben Platz in der Prager Innenstadt aufsuchte, war ich noch ein immaterieller Refrain. Er war ein Niemand aus Šumperk, hatte dort die Technische Hochschule besucht, sich auf Schienenführung spezialisiert und nebenher Gedichte geschrieben. Ungefähr eine Stunde nach Mittag betrat er den Flur des Hauses mit der Nummer 39, sein weißes Hemd war durchtränkt. Er zündete ein Streichholz an und hielt es sich an die Brust. Das Hemd wurde augenblicklich zum lodernden Flammenpelz und sein Körper krümmte sich zuckend darin.
Er hatte auf den Platz hinauslaufen wollen, auf dem vor ihm schon Jan Palach wie eine Fackel gebrannt hatte. Doch sein neunzehnjähriger Körper schaffte es lichterloh brennend nicht mehr aus dem Haus, und er brach im Flur zusammen.
»Wo haben die das getan?«, erinnere ich mich, meine Mutter gefragt zu haben.
»Was getan?«
Sagen wir einfach, ich weiß, dass diese Jungen sich selbst angezündet haben, nicht weil es mir jemand erzählt hat, sondern weil Schwebepartikel miteinander reden.
Als die Staatssicherheit einige Jahre nach Palachs Protest jede Spur seines Handelns und Seins vernichten wollte, wurden wir sogar sehr gesprächig. Sein Leichnam wurde exhumiert und eingeäschert. Seine Mutter trauerte ziellos. Es ist schrecklich, um einen Sohn zu trauern, den man niemals hatte.
Ganz plötzlich musste ich den Kreis der gesprächigen Partikel verlassen und geboren werden – ausgerechnet in Prag – ausgerechnet am ersten Januar – und dann wurde ich auch noch ausgerechnet Jana genannt.
»Warum haben die das gemacht? Hat das nicht dolle weh getan? Besonders im Gesicht. An den Wangen und den Lidern …«
Meine Mutter blickte vom Spülbecken auf und sah mich an.
Ich habe häufig über diese Taten nachgedacht, so ungeheuerlich, so besonders. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob ich es auch tun würde oder ob ich es mir für einen besonderen Anlass vorbehalten wollte.
Einmal war mir langweilig, ich meine so langweilig, dass ich das Gefühl hatte, die Luft in mir würde reißen, und ich flehte meinen Bruder an, mit mir zu spielen. Er war älter und interessierte sich nicht für meine Spiele. Normalerweise hätte ich die Abfuhr hingenommen, wäre davongetrottet und hätte mit den Fingernägeln Furchen in den Teppich gekratzt. Aber dieses Mal war meine Langeweile so gewaltig und unendlich, es war die Langeweile in Zimmern über Zimmern voll bettlägeriger Kinder, die den Frühling nur durchs Fenster sehen. Ich sagte zu meinem Bruder, ich würde mich selbst verbrennen, wenn er nicht mit mir spielen würde. Ich drehte mich, um zu gehen, aber er packte mich am Handgelenk und zog mich an sich. In meiner Erinnerung war das meine erste Umarmung.
Das mit dem Spielen gab ich auf und begnügte mich fortan damit, mein Gesicht unendliche Stunden lang an die Fensterscheibe zu pressen, das Kommen und Gehen der Leute auf der Straße zu beobachten. Ich hatte das Gefühl, ihre Gedanken lesen zu können.
Mit Blicken folgte ich einer Frau, ihrem teilnahmslosen Gang, sie trug eine Tüte, ihre Gedanken wanden sich. Ich hätte sagen sollen – nein, sei einfach still, genau, der wird schon sehen, wenn du schweigst – vergiss nicht eine Knoblauchzehe aufzusparen – aber für wen hält er sich, der Professorensohn – das Huhn hat heute Morgen nicht mehr gut gerochen – es geht um ein kleines bisschen Respekt – ich hoffe, es ist noch nicht verdorben – jetzt, wo sie Huhn isst – am Samstag gehe ich mit ihr in den Park – dieser Hurensohn und sein gottverdammtes Gesicht – wieso juckt es mich am Bein – wenn es kommt, dann kommt’s. Ich hab keine Angst zu sterben.
Paranoia war unsere Spezialität. Ich erinnere mich, wie mein Onkel kurz vor diesem letzten Herbst 1989 zu meinem Vater sagte, er solle sich auf kein Klo setzen, ohne vorher in die Schüssel zu schauen.
Das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei hat alle pragmatisch und eigennützig gemacht. Paradoxerweise hätten wir in den Augen eines Fremden wie ein kapitalistisches Irrenhaus gewirkt, alltäglich von dem Gedanken daran besessen, ob wir mehr oder weniger als jemand anders bekommen und warum oder warum nicht und wie wir – morgen, das nächste Mal – verhindern, dass er oder sie mehr bekommt, meins bekommt, mich bekommt.
Die jungen Mütter gingen in den Park, um sich zu informieren. Sie setzen sich auf eine Bank, schickten ihre Kleinen spielen, dann wurde getratscht. Die Parkbank war der einzig sichere Ort zum Reden, ein Auge aufs Kind, das andere auf die anderen Mamkas. Sie tauschten alle notwendigen Informationen aus, verschlüsselten sie nahtlos in ihrem Geplauder. Ihre Mutter liegt im Sterben bedeutete, die Wohnung war zu haben, eine Zweizimmerwohnung und auch noch direkt am Janáčkovo nábřeží, dritter Stock, die Fenster zum Fluss, ich geh sie mal besuchen, die arme Frau – »Lenka, nicht mit dem Gesicht da rangehen, das ist schmutzig!« Deine Lenka muss sich abgewöhnen, alles anzufassen. Weißt du, die Kleine von Wie-heißt-sie-noch hat an Nägeln gelutscht, die sie vom Boden aufgehoben hat. Dann hat sie Tetanus bekommen und ist gestorben. Ihr Mund ist einfach verfault. Ich weiß, ich weiß, ich sage Lenka immer, wenn sie alles in die Finger nimmt, bekommt sie Tetanus und stirbt … aber du weißt ja, wie Kinder sind, dickköpfig. Übrigens, hat Lýdie noch Beziehungen bedeutete, was hat sie für Westprodukte? Und Karel betrügt sie mit dem Direktor des Fachbereichs Mathematik bedeutete, dein Sohn sollte sich am besten mit seinem anfreunden. »LENKA, ICH HAB GESAGT NIMM DIE FINGER AUS DEM MUND ODER WILLST DU, DASS ER DIR WEGFAULT WIE BEI WIE HEISST SIE NOCH! Armes Mädchen. Hübsch war sie, bevor ihr der Kiefer abfiel!«
Ich war ein kleines Mädchen mit sauberen Händen. Ich war nicht neugierig auf Dinge, die Flecken machten. Schmutz habe ich nicht angefasst. Auch keine Pfützen. Ich habe nie heimlich meinen Finger in den Marmeladetopf gesteckt. Auch wenn ich mit stillem Elan die Initiative der Kinder verfolgte, die sich am Bordstein auf die Bäuche legten und tief in den Gully griffen, die Hände wieder herauszogen und die anderen damit jagten, während wir alle die Angst und die Freude herausschrien, die wir zu Hause für uns behalten mussten. Zu Hause mussten wir still sein. Deine Oma ist krank, sei still. Deine Mutter hat Migräne, sei still. Die Nachbarn beschweren sich über unser verzogenes Kind, sei still.
Natürlich staute sich in uns – den stillen Kindern aus der Nachbarschaft – der Wunsch zu kreischen. Uns wäre jeder Anlass recht gewesen. Wir hätten vor Freude gezwitschert, wäre vor unseren Augen jemand auf der Straße erstochen worden, unsere Herzen hätten sich in dem Wunsch verkrampft, der Täter möge sein fleischiges Messer herausziehen und uns damit jagen, um noch lauter kreischen zu können! Verzweifelt gierten wir nach jedem Gekicher.
Mein Bruder kniete in seinem weiten blauen T-Shirt neben mir. Er nahm mir die beiden Schnürsenkel aus der Hand, zog sie lang wie Zauberschnüre und drehte sie umeinander. Dann ließ er sie mit einer schnellen Handbewegung los und ich betrachtete staunend die perfekte Hasenohr-Schleife an meinem Schuh.
In meiner Kindheit gab es zwei Vorschriften. Lass dich nicht klauen und lass dich nicht sexuell missbrauchen.
Ich kannte ein Mädchen, das verschwunden war. Sie wohnte im Haus gegenüber. Milena. Sie war ungefähr ein Jahr älter als wir. Ich sah sie, wenn sie über unseren Hof ging, den wir teilten, mein Haus, ihr Haus und das andere vorne. Unsere Eltern schickten uns Kinder einfach raus – »Geht spielen« –, damit sie ein bisschen Ruhe hatten in den kleinen Wohnquartieren. Wir verbannten Kinder kickten Staub im Hof, bis ein anderes »geh spielen« geschickt wurde, dann taten wir uns in unserem Exil zusammen und stellten etwas mit einem Stein oder dem Abstand zwischen den Bäumen oder den Fugen zwischen den Backsteinen an, oder es griff jemand – wenn wir wirklich tief in einem unüberwindlichen Loch aus Langeweile steckten – auf besagten Gully-Trick zurück.
Aber Milena ging immer einfach nur über den Hof, hielt die Hand ihres Vaters und sah uns ruhig an, trieb dahin wie eine Zarin, die sich zu ihrer Kutsche führen lässt. Egal, welches Spiel wir an dem Tag zusammengekratzt hatten, selbst mitten im Eifer des Gefechts, stets unterbrachen wir und starrten sie an, wenn sie den Hof durchquerte. Sie wurde nie »geh spielen« geschickt. Und sie ließ nie die Hand ihres Vaters los.
Milena war ein Püppchen. Oder das, was in unserer Erfahrungswelt einem Püppchen am nächsten kam – denn es gab keine Spielsachen, höchstens die Lumpenpuppen, die unsere Omas für uns nähten, wenn wir wirklich hartnäckig bettelten. Aber da war sie, mit blonden Zöpfchen und Bonbon-Augen, in ihren sauberen Sachen, der Saum ihres rosa-gelben Kleids glatt, anders als unsere zerknitterten bunt bedruckten Baumwollklamotten, die immer in die Unterhose kniffen oder sich an der Seite verzogen, mit den Rissen, für die unsere Mütter uns ausgeschimpft und die unsere Omas wieder geflickt hatten.
Milenas Lider flatterten, wenn sie blinzelte, wie diese papierdünnen Handfächer. Ihre Haut war immer von der Sonne gebräunt, selbst wenn es seit Wochen grau war, im Ernst, und obwohl sie genauso klein war wie wir, hatten ihre Arme, Beine und der Hals etwas sehr Elegantes, anders als unsere kindlichen, knubbeligen Gliedmaßen voller blauer Flecken, Schrammen und aufgekratzter Mückenstiche.
Jeder Teil von ihr war eine Puppe. Selbst ihre Knie waren faszinierend. Wie aus Wachs gegossen. Meine waren immer aufgeschürft, weil ich so lange auf dem Teppich gesessen, auf Beton gehockt und Unkraut gezählt oder auf der Holztreppe gekniet hatte, um durch das kleine Fenster zu den Nachbarn reinzuschauen (besonders zu Frau Kveta im zweiten Stock, die sich die Lippen rot anmalte, »als müsse sie sich für nichts schämen«, wie Mamka meinte, und ständig in den Ausschnitt ihres Kleids griff, um ihre Brüste zurechtzurücken).
Ich hatte weiße, geäderte Haut, pfützenfarbenes Haar und ausdruckslose graue Augen. Milenas Augen strahlten immer – immer; selbst aus der Entfernung, wenn sie den Hof durchquerte, strahlten sie über ihren runden, frischen Wangen, die sich röteten und ihre Lippen flankierten, so rosig und perfekt gezeichnet.
Ich hatte geglaubt, dass sexueller Missbrauch an kleinen Mädchen unvermeidbar sei, so wie man seine Tage bekommt – es mochte einen mystischen Schmerz mit sich bringen, aber man lernte, seinen Körper intakt zu halten.
Als mein Cousin, der missratene Sohn des Bruders meines Vaters, aus dem Gefängnis kam, blieb mein Vater immer vor mir stehen – er wollte nicht, dass Jiří einen Blick auf mich warf. Ich war fasziniert von diesem Jungen mit den kurzgeschorenen Haaren, dem Mopsgesicht und den Tätowierungen am Nacken. Ich versuchte, mich um meinen Vater herumzuschlängeln und Jiří direkt in die Augen zu schauen – genau in dem Moment sah er tatsächlich zu mir, und da war’s, meine Augen strahlten vielleicht wie die von Milena und ich dachte, endlich!
Den größten Teil meiner Kindheit habe ich darauf gewartet, missbraucht zu werden, so wie man darauf wartet, zur Frau zu werden. Sosehr ich auch versucht habe, mich missbrauchbar zu machen, es kam nie dazu.
Ich hörte, dass Milena sexuell missbraucht worden war.
Ach, Milena hat mich damals schrecklich neidisch gemacht.
Mein Cousin Jiří hatte etwas Lüsternes an sich. Aber er war ein Kind. Er war siebzehn. Und er schaffte es nicht, sich vom Gefängnis fernzuhalten. Außerdem erzählte er mir einmal, ich sähe seiner älteren Schwester, möge sie in Frieden ruhen, ein bisschen ähnlich. Sie hatte ihn großgezogen, war dann aber in eine viel zu junge Liebesehe geflüchtet, woraufhin Jiří sich einem Rudel Jungen anschloss, die alle dieselbe Narbe hatten. Vielleicht fühlte er sich durch meinen Anblick verfolgt, wie wenn Menschen sterben, aber die Wut bleibt. Ich denke, so betrachtete Jiří mich aus seinen zusammengekniffenen Augen, die dabei eigenartig zuckten, wie beschädigte Finger die Schichten der Verpackung abzuschälen versuchten, um an das zu kommen, was er wirklich vor sich sah: seine verstorbene Schwester Frida. Er muss mich mit zitternden Lidern angestarrt haben, die Hülle eines Kindes, die den Schatten jener jungen Frau enthielt – warum bist du nicht bei mir geblieben … ich hatte solche Angst.
Vielleicht wollte er meinen jungen formlosen Körper auch nur berühren, weil er größer und stärker war als ich. Vielleicht stand er aber nicht mal auf den Kampf. Vielleicht wollte er mir seine Drogen geben, damit ich ohnmächtig werde, und er einen schlaffen, warmen Körper halten kann, wie ein frisch erlegtes Kaninchen, lang und zart, und Worte sagen, die ihm unerklärlicherweise in den Sinn kommen: »Jetzt bist du sicher.«
Armer Jiří. Aber damals waren alle ein bisschen beschädigt, verletzt, hungrig oder gelangweilt. Marcel Proust war unseren Eltern verboten gewesen und unsere Nationalhymne ist immer noch »Kde Domov Můj?« – »Wo ist meine Heimat?«
Schließlich wurde Milenas Leiche gefunden. Sie lag in der Erde unter der gestutzten Hecke am Seitentor der Basilika des Heiligen Georgs. Man hatte sie ausgebuddelt und dort hingeworfen, halb verwest. Nach all den Jahren war sie immer noch sieben. Das Ganze blieb ein Rätsel. Da wir hier die Wahrheit sagen: Mein erstes Gefühl war, naja, wenigstens bekommt Milena ihre Periode nicht. Jetzt sind wir wohl quitt. Milena, ich verzeihe dir deine Schönheit, dass du missbraucht wurdest und meine erste Liebe warst.
Milenas Familie zog aus und eine neue zog ein. Eine vogeläugige Mamka im schweren Fuchspelzmantel, ein stoppelgesichtiger Papka, dem man seinen Leistenbruch am Gang ansah, und ein kleines Rabenmädchen.
Es war fast Dezember. Ich war sechs und das neue Mädchen auch. Ich sah sie von meinem Fenster im Hof, sie hielt ihre Wintermütze in ihrer kleinen Handschuhfaust, ihr glattes dunkles Haar war unbedeckt. Sie drehte sich um, betrachtete das Gebäude, und ich erkannte, dass ihr linkes Auge leicht geschwollen war und darunter violett-blaue Striemen waren. Dann blickte sie direkt zu meinem Fenster auf. Ihre Pupillen stachen in meine.
Neujahr und mein Geburtstag kamen, und wie immer feierten ein paar Familien im Haus zusammen, in diesem Jahr war auch die neue eingeladen. Wir Kinder kannten uns alle untereinander, nur das kleine Rabenmädchen nicht, und so standen wir herum und starrten sie an, und sie hockte sich an die Wand, lehnte sich mit dem Rücken an die Steckdose und guckte finster zu uns. Slaveks Mamka sagte: »Was ist los mit euch, warum steht ihr rum wie versteinert, geht spielen.« Sie meinte drinnen spielen, am Feiertag jagte sie uns nicht raus in den Hof. Außerdem schneite es. Auf jeden Fall vergaßen uns die Erwachsenen sehr schnell, sie betranken sich, öffneten und schlossen die Fenster, um zu rauchen oder Schnee auf ihre Schnapsgläser zu füllen. Seit der kommunistischen Machtübernahme 1948 hatte die tschechoslowakische Bevölkerung zunehmend das Interesse an der Politik verloren und keine Meinung mehr zu irgendetwas, das über das eigene Wohnviertel oder die eigene Familie hinausging. Man plante seine Sommerferien auf dem Land, trank, stritt, rezitierte Gedichte, ging ins Bett.
Ein paar Kinder stahlen heimlich Schlückchen. Slavek war bereits angetrunken und seine kleinen Wangen waren rot, als er um die Beine seines Vaters rannte und rief »Papka, Papka, zeig uns das Messer!« Es war das berühmte Messer mit einer sich um den Griff windenden dünnen Schlange, mit dem der Vater von Slaveks Vater einen Nazisoldaten getötet hatte – er hatte es ihm direkt unter dem Adamsapfel quer über die Kehle gezogen – Slaveks Vater benutzte es aber nur, wenn er Hühner in der Küchenspüle rupfte oder die Enden von Elektrokabeln anspitzte. »Nicht jetzt«, sagte Slaveks Papka und schob den Jungen aus dem Weg. Slavek wirbelte ein bisschen herum, spielte dann Schwertkampf mit meinem Bruder und übergab sich neben der Couch. Als die Frauen sauber gemacht hatten, legte der Vater seinem Sohn eine Hand auf die Schulter, ging in die Knie und sagte, »also Slavek, wenn du Schnaps trinkst, dann musst du ihn auch bei dir behalten.«
Slavek zog eine Schnute und murmelte, »tut mir leid, dass ich gekotzt hab, Papka …«
Das Rabenmädchen und ich blieben wie versteinert sitzen und starrten einander an, bis der Countdown begann. Zehn … neun … acht … alle Erwachsenen schenkten sich schnell nochmal nach, drei … zwei … plötzlich sprang das Rabenmädchen auf, rannte los, riss die Arme begierig in die Luft und sang mit schrecklicher Stimme ein wunderbares Lied. Ihre Mamka wollte sie an den Händen festhalten, aber das Mädchen riss sie immer wieder in die Luft, bis ihre Mamka ihr einen kräftigen Klaps auf den Hinterkopf gab und ihr das glatte schwarze Haar um die Ohren flog. Das Mädchen hörte auf, fasste sich an den Kopf und wurde sehr still.
Ihre Mamka entschuldigte sich sofort für sie und sagte jedem, sie sollten sie nicht beachten – ihr kleines Mädchen neige zu solch anfallsartiger Bühnenkunst, und genau deshalb werde sie Malá Narcis genannt, weil sie eine kleine Narzisse sei, die hin und wieder von sich selbst nicht genug kriegen könne. Die anderen Kinder lachten mit geschlossenen Mündern, das Geräusch brach wie Spucke aus ihnen heraus, die Erwachsenen drehten die Musik auf und tanzten, weil das neue Jahr begonnen hatte. Das Rabenmädchen sah sich um und kroch unter einen Stuhl. Von dort betrachtete sie die Waden der Leute. Mitternacht war wenige Minuten her, und ich war jetzt offiziell sieben Jahre alt. Ich ging zu ihr, hockte mich möglichst so hin, dass mein Kleid nicht schmutzig wurde, falls meine Mamka hinguckte, und kroch unter den Tisch, um in der Nähe des Mädchens zu sitzen. Sie sah zu mir rüber.
Ich sog die Lippen ein, dann ließ ich sie los. »Hey«, sagte ich. Wir betrachteten nun zusammen die Waden der Leute. Ich sah das Knie meiner Mamka das Hosenbein ihres Vaters streifen. Ich sah seine Socke aufblitzen, als er einen Schritt im Takt zurück machte, der Saum seiner grauen Anzughose war wegen seiner langen Beine herausgelassen worden. Ich sah die weiße Ferse ihrer Mamka vorbeiziehen und ihren bräunlichen Strumpf in der Kniekehle Falten schlagen. »Ich bin Zorka«, hörte ich neben mir. Als ich zu ihr rüberblickte, bohrte sie in der Nase.
Zorka. Sie hatte Augenbrauen wie ihr Name.
Aeque pars ligni curvi ac recti valet igni. Krummes Holz macht gerades Feuer.
Als sie draußen vor der International Meetings Lounge wartete, hielt Jana sich ihre Handtasche dicht vor den Bauch.
»Sie müssen Ms K sein …«, sagte der Mann im grauen Anzug.
Jana streckte ihm die Hand hin, er umfasste und schüttelte sie, zeigte dabei ein freundliches Lächeln.
»Mr Doubek«, sagte er und räusperte sich. »Roman Doubek.«
Roman Doubek wirkte irgendwie zu klein für seinen Anzug – seine Schultern waren ungewöhnlich schmal oder aber sein Kopf, mit der beginnenden glänzenden Glatze, war am Kinn zu breit oder sein Schmerbauch zu verschämt, wie etwas, das man unter dem Mantel versteckt und aus dem Supermarkt stiehlt. Auf seiner Knollennase saß ein leichtes silbernes Brillengestell.
»Zufällig war ich auf dem Weg nach Paris und zufällig leben Sie in Paris. Zufällig habe ich eine Dolmetscherin gesucht und zufällig arbeiten Sie hier als solche«, sagte Mr Doubek. »Wie gesagt, ich kannte Ihre Freundin – die kleine Narzisse.«
»Woher denn?«, erkundigte Jana sich gleichbleibend desinteressiert.