Vladimir Tod beißt sich durch (Band 2) - Heather Brewer - E-Book

Vladimir Tod beißt sich durch (Band 2) E-Book

Heather Brewer

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Beschreibung

Der Reporter der Schülerzeitung klebt wie ein Blutegel an ihm. Nachhilfeunterricht bekommt er vom Meister in den Vampirischen Künsten. Und sein bester Freund verfolgt ihn mit einem Pflock! Klingt schräg? Willkommen im Leben von Vladimir Tod, Halbvampir! Bissfeste Unterhaltung der etwas anderen Art! In dieser Fantasy-Reihe hat Vladimir Tod mit ganz normalen Teenager-Problemen wie Schule und erster Liebe zu kämpfen – und ganz nebenbei muss er vor seinen Mitschülern verbergen, dass er in Wirklichkeit ein Halbvampir ist. "Vladimir Tod beisst sich durch" ist der zweite Band der Vladimir Tod-Pentalogie.

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INHALT

Finstere Geschäfte

Hunger

Bathory High

Lebende Tote

Gedanken eines Mörders

Halloween

Unerwartete Einladung

Gelüftete Geheimnisse

Schneeflocken und Erinnerungen

Sibirien

Vikas

In Gedenken an Tomas Tod

Gedankenkontrolle

Trainingspause

Wo dein Herz schlägt

Die heilende Kraft des Blutes

Gefangen

Der Kumpelkodex

Das hier ist für Jacob,

FINSTERE GESCHÄFTE

Jasik nahm das Foto in beide Hände und studierte das Gesicht des Jungen. Wenn man von seiner Blässe und dem hungrigen Funkeln in seinem Blick absah, würde wohl niemand auf die Idee kommen, dass dieser Teenager kein Mensch sein könnte. Aber Jasik wusste es besser.

»Das ist er also?« Er sah zu dem Mann hinter dem Schreibtisch auf, der einmal kurz nickte.

»Vladimir Tod.« Die Stimme des Mannes klang heiser und kratzig.

Jasik steckte das Foto in seine Hemdtasche und räusperte sich mit vorgehaltener Faust. »Dann bräuchte ich natürlich noch einige Informationen und die entsprechende Ausrüstung.«

»Ich werde dafür sorgen, dass du alles bekommst, was du brauchst.« Das Gesicht des Mannes wirkte bitter und ausgemergelt.

Jasik ging quer durch den Raum ans Fenster und sah nach draußen über die Stadt. Es war dunkel, trotz der vielen Straßenlaternen. Tief unter ihm huschten die Leute über die Bürgersteige und mieden sorgsam die hellen Lichtkegel der Lampen. Es war beinahe unmöglich zu erkennen, wer ein Vampir war und wer ein Mensch. Jasik fragte sich, was wohl passieren würde, wenn plötzlich die Sonne aufginge und alles in ihr Licht tauchte: Würden dann alle verschreckt auseinanderstieben und sich an andere finstere Orte flüchten? »Darf ich fragen, wie du auf meine Dienste aufmerksam geworden bist?«

Der Mann hinter dem Schreibtisch fing an zu husten und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. Als er es wieder herunternahm, war es mit dicken, leuchtend roten Flecken verschmiert. »Lassen wir doch diese Spielchen, Jasik. Ich weiß schon seit Jahren, dass du deine … Künste … im Austausch für Geld anbietest. Also, wirst du den Jungen nun für mich aufspüren oder nicht?«

Jasik blickte den Mann an und ein verschlagenes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Meine Künste sind nicht ganz billig.«

»Ich versichere dir, dass es keinen Preis gibt, den ich nicht zu zahlen bereit wäre.«

Der Mann hinter dem Schreibtisch beugte sich vor, schlug sein Scheckheft auf und fing an zu kritzeln. Dann hielt er inne und nickte Jasik zu. »Du musst mir nur noch sagen, ob die Anzahl der Nullen so stimmt.«

Jasik trat vor den Schreibtisch und warf einen Blick auf den Scheck. Die Tinte war noch nicht ganz getrocknet, als er sagte: »Noch drei mehr und wir kommen ins Geschäft.«

HUNGER

Vlad kniff die Augen fest zu. Er war wach, aber nicht besonders froh darüber. Wochenenden, auch mitten im Sommer, waren schließlich zum Ausschlafen da … besonders, wenn man jede Nacht dieser Wochenenden bis in die Puppen aufblieb, weil die Vampirgene einen mal wieder nicht ins Bett ließen, ehe sie nicht ihre wohlverdiente Dosis Finsternis abgekriegt hatten. Ganz zu schweigen davon, dass der ganze Sommerspaß in ein paar Tagen vorbei sein würde und das Grauen, im Volksmund auch Schule genannt, wieder losging.

Ein leises Summen zog über sein Gesicht hinweg, brach ab und näherte sich dann seinem rechten Ohr. Vlad öffnete ein Auge und starrte die Stubenfliege grimmig an, die in seinem Zimmer umherschwirrte. Die hatte ihn also geweckt!

Die Fliege surrte herüber und landete auf Vlads Nasenspitze. Er scheuchte sie weg, und als sie auf sein Kopfkissen flüchtete, schlug er mit der flachen Hand zu. Daneben! Vlad fluchte grummelnd vor sich hin. Was hatte das blöde Vieh denn bitte dagegen, dass er noch eine Runde döste?

Wie wild mit ihren winzigen Flügeln schlagend, summte das kleine Insekt jetzt wieder durchs Zimmer und ließ sich als Nächstes mitten auf Henrys Stirn nieder.

Vlad zögerte einen Moment, dann schlich er auf Zehenspitzen zu Henrys Schlafsack. Langsam hob er die Hand und gewährte der Fliege noch eine letzte Chance, zu entkommen. »Ich mein’s todernst«, flüsterte er.

Als Antwort putzte sich die Fliege sorgfältig ihr fieses kleines Gesicht. Wenn sie gekonnt hätte, da war Vlad sich ziemlich sicher, würde sie ihn auslachen.

Vlad schlug zu, schnell und mit voller Wucht. Das Klatschen seiner Handfläche auf Henrys Haut hallte im ganzen Zimmer wider, wurde aber gleich darauf von Henrys Jaulen abgelöst, der hochfuhr und sich die Stirn hielt. »Alter!«

Vlad straffte in stolzer Siegerpose die Schultern. »Da war eine Fliege.«

Henry rieb sich die Stirn und knurrte unwirsch. »Und? Hast du sie wenigstens erwischt?«

»Ich glaub schon.«

Die Fliege summte an seinem Ohr vorbei und zur Tür hinaus.

Vlad wollte schon wieder fluchen, aber Henry schnitt ihm das Wort ab. »Ich rieche gebratenen Speck.«

Doch es war nicht der Duft des Frühstücksspecks, der Vlad das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Es war der Gedanke an einen dampfenden Becher Null positiv und eine klebrige Zimtschnecke, Tante Nellys Spezialität. Das war einer der großen Vorteile daran, dass er bei Tante Nelly lebte – die eigentlich gar nicht mit ihm verwandt, sondern die langjährige beste Freundin seiner Mutter gewesen war, bevor seine Eltern starben. Denn ihre Zimtschnecken waren so sagenhaft lecker, dass so mancher Bäcker in der Stadt seinen Laden hätte dichtmachen können, wenn Nelly nur über ein bisschen Geschäftssinn und das entsprechende Grundkapital verfügt hätte. Von ihrem Hackbraten hingegen hielt man sich besser fern.

Vlad und Henry rannten eilig aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Keuchend und ausgehungert kamen sie in der Küche an. Henry steuerte sofort auf die Platte mit dem gebratenen Speck auf dem Tisch zu und grunzte: »Essen.«

Vlad schlurfte zum Kühlschrank und holte einen Beutel Blut heraus. Dann nahm er einen Kaffeebecher vom Regal und schubste Henry auf dem Weg zur Mikrowelle zur Seite. »Essen.«

Tante Nelly, die am Herd stand, drehte sich um und kicherte. »Na, ihr Jungs habt doch nicht etwa Hunger?«

Doch weder Vlad noch Henry gaben einen Laut von sich, der als Ja oder Nein hätte gewertet werden können. Henry war viel zu sehr damit beschäftigt, sich gleich mehrere Scheiben Speck auf einmal in den Mund zu schieben, und Vlad hatte den Kopf in den Nacken gelegt und exte einen Becher Null positiv. Es war ein angenehmes Gefühl, als das Blut ihm die Kehle hinunterrann – warm war es immer am besten! Als sein Durst gestillt war, leckte er sich zufrieden über die Lippen und griff nach einer Zimtschnecke.

Blut und Zuckerguss: Das war die vampirische Antwort auf Kaffee und Brötchen.

»Deb hat gesagt, dass bei uns in der Klinik ein ganzer Kühlschrank voller Blutkonserven kurz vor dem Verfallsdatum steht. Bei deinem Appetit in letzter Zeit sollte ich davon wohl am besten so viel wie möglich stibitzen.« Nelly legte neuen Speck auf die Platte und stellte dann einen Teller Rührei vor Henry auf den Tisch. Sie warf Vlad einen missbilligenden Blick zu. »Du hast dich ja total mit Blut bekleckert.«

Vlad sah auf die münzgroßen roten Flecken auf seinem T-Shirt hinunter und grinste schuldbewusst. »Tut mir leid. Ich hatte echt Kohldampf.«

Nellys Blick wurde wieder sanfter. »Pass beim nächsten Mal einfach besser auf. Es mag dich vielleicht überraschen, aber Wäsche waschen gehört nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.«

Henry schluckte seinen Speck runter und griff nach der Karaffe mit Orangensaft. »Hast du schon deinen Stundenplan?«

Vlad nickte und stieß einen schicksalsergebenen Seufzer aus. »Ich hab MrsBell in Englisch und das gleich in der ersten Stunde!«

Henry warf Vlad einen mitfühlenden Blick zu. »Tja, da bist du nicht der Einzige. Ich bin auch bei ihr im Kurs und, laut meiner Mutter, Joss auch.«

»Wann kommt dein Cousin eigentlich an?« Vlad stopfte sich die Zimtschnecke so weit wie möglich in den Mund und fing an zu kauen. In Wahrheit wusste er nicht so recht, was er davon halten sollte, dass Henrys Cousin zu ihnen in die Stadt zog. Was, wenn Joss nun die ganze Zeit mit ihm und Henry rumhängen wollte oder, noch schlimmer, wenn Vlad sich nicht mit ihm verstand?

»Sonntag. Ach, und nur damit du Bescheid weißt, mich wirst du an dem Tag wohl nicht zu Gesicht bekommen. Meine Mutter ist gerade voll auf dem Familientrip.« Henry verdrehte die Augen.

Vlad tat es ihm gleich. »Wie ätzend.«

Nelly warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Vladimir!«

Vlad trank einen Schluck Blut und zog, an Henry gewandt, eine Augenbraue hoch. »Ich meine natürlich: Wie entzückend von deiner lieben Frau Mutter, dafür zu sorgen, dass ihr ein bisschen Zeit miteinander verbringt! Du solltest wirklich dankbar sein.«

Beide Jungen brachen in schallendes Gelächter aus. Auch Nelly musste schmunzeln und schüttelte den Kopf. »Na gut, du Schlaumeier. Ich gehe mal die Post holen. Henry, behalte Vlad gut im Auge, während ich weg bin. Der Kerl macht nur Ärger.«

Vlad riss in gespieltem Entsetzen den Mund auf. »Nelly!«

Nelly schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. »Verzeih – ich meine natürlich: Er ist ein ganz wunderbarer Junge, der Sonne in meinen Tag bringt und mein Leben erst lebenswert macht.«

Sobald sie aus der Haustür war, fingen Henrys Augen schelmisch an zu blitzen. Vlad runzelte die Stirn. »Was?«

Henrys Grinsen wurde noch breiter. »Hast du Meredith schon angerufen?«

Vlad straffte stolz die Schultern. »Zweimal sogar.«

Henry sah ihn eine Weile an und die Überraschung auf seinem Gesicht verwandelte sich mehr und mehr in Argwohn. »Du hast also mit ihr gesprochen, ja?«

Gesprochen? Vlad war es noch immer nicht gelungen, den Kloß runterzuschlucken, der sich in seinem Hals eingenistet hatte, seit Meredith beim letzten Sommerfest die Augen geschlossen und ganz offensichtlich darauf gewartet hatte, dass er ihr einen Kuss gab. Er hatte einen Rückzieher gemacht und wie ein kompletter Idiot irgendwas vor sich hingebrabbelt. Mit ihr zu reden, war gerade nicht das dringendste seiner Probleme. Zunächst mal würde er sich überlegen müssen, wie er es schaffen sollte, in ihrer Gegenwart überhaupt zu atmen.

Vlad streckte langsam die Hand aus, griff nach seinem Becher und genehmigte sich einen großen Schluck, bevor er ihn zurück auf den Tisch stellte. Erst dann sah er Henry in die Augen und seufzte: »Nein. Hab beide Male aufgelegt. Aber ich glaube, das zweite Mal hat sie mich atmen gehört!«

»Na, wenn das kein Fortschritt ist«, seufzte Henry. »Du weißt aber schon, dass ihr Telefon Anrufererkennung hat, oder?«

Vlads Augen wurden kreisrund. Da war er wieder, der Kloß in seinem Hals. »Ach ja?«

»Klar«, erwiderte Henry, als wäre daran gar nichts Beunruhigendes. »Aber mal was ganz anderes.« Er grinste verschlagen und senkte verschwörerisch die Stimme. »Greg hat mir gestern Abend was ziemlich Interessantes über die Mädchen in den höheren Klassen erzählt.«

Vlad lehnte sich an die Arbeitsplatte hinter sich und gab sein Bestes, so zu tun, als wäre er nicht gespannt wie ein Flitzebogen. »Was Interessantes? Was denn?«

Henry beugte sich dichter vor. »Er sagt, wenn man das Glück hat und zu einer Oberstufenparty eingeladen wird, haben die Mädchen da manchmal Erbarmen mit Jungs wie uns und –«

Tante Nelly kam zurück in die Küche. In einer Hand hielt sie einen Stapel Briefumschläge und in der anderen ein kleines braunes Päckchen. Sie warf einen Blick auf die erschrockenen Gesichter der Jungs und hob eine Augenbraue. »Na, worüber habt ihr zwei gerade geredet?«

Die Antwort erfolgte in einem leicht schrillen Duett: »Gar nichts!«

Vlad sah hoffnungsvoll auf den Packen Briefe. »Ist was von Otis dabei?«

Nelly schüttelte seufzend den Kopf, während sie den Stapel durchging. »Ach, Vladimir. Dein Onkel schreibt dir doch mindestens einmal pro Woche, seit er nicht mehr hier in Bathory ist. Wieso sollte er dich jetzt auf einmal vergessen haben?« Sie zog einen dicken braunen Umschlag aus dem Stapel und hielt ihn Vlad lächelnd hin.

Vlad seufzte erleichtert auf. Er hatte seinen Onkel erst letztes Jahr kennengelernt, nach anfänglich großer Verwirrung. Damals hatte Vlad noch nicht gewusst, dass Otis sein Onkel war, und ihn stattdessen für einen verrückten Vertretungslehrer gehalten, der darauf aus war, sein Geheimnis zu lüften und ihn dann zu töten. Es war einfach ein dummes Missverständnis gewesen – das konnte schließlich jedem mal passieren. Otis hatte Vlad dann im Gegenteil sogar vor D’Ablo beschützt, dem Präsidenten des Vampirrats von Elysia, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, Vlad ausfindig zu machen und ihn für die schlichte Tatsache zu bestrafen, dass es ihn überhaupt gab.

Anscheinend hielten Vampire nicht sonderlich viel von der Vorstellung, dass Menschen und ihresgleichen zusammen Kinder hatten.

Seit Otis die Stadt verlassen hatte, um vor Elysia und der gesamten Vampirbevölkerung zu fliehen, hatten Vlad und er sich einen ganzen Haufen Briefe geschrieben. Darin hatte Otis Vlad beigebracht, die Vampirsprache – Elysianisch – zu lesen, und ihn außerdem immer wieder gedrängt, täglich Telepathie zu üben. Für all das war Vlad ihm unendlich dankbar.

Darüber hinaus hatte Otis Vlad natürlich auch ermutigt, an seiner Fähigkeit zu arbeiten, die Gedanken anderer Menschen zu kontrollieren. Die Vorstellung faszinierte Vlad – daran bestand kein Zweifel. Aber an einen Aspekt des Ganzen hatte Otis anscheinend nie auch nur einen Gedanken verschwendet: Was war, wenn Vlad dabei erwischt wurde? Die Gedanken und das Handeln anderer Leute zu manipulieren, konnte man wohl kaum auf das ganz normale Hormonchaos eines Teenagers schieben.

Trotzdem … in Mathearbeiten wäre so was bestimmt ganz brauchbar.

Doch anstatt seinem Onkel seine Sorge zu beichten, tat Vlad nun schon seit Wochen so, als würde er die Sache mit der Gedankenkontrolle absolut nicht auf die Reihe bekommen. Sein Plan war es, dass Otis ihn als hoffnungslosen Fall abstempeln und damit in Ruhe lassen würde. Dann könnten sie sich endlich den vielen anderen faszinierenden Fähigkeiten der Untoten zuwenden. Wie zum Beispiel das Animorphieren … oder das Herz eines Mädchens mit nur einem einzigen Blick zu erobern.

Vlad riss den Umschlag auf und blinzelte einen Moment lang, als er Otis’ krakelige Handschrift sah – er brauchte immer erst ein bisschen, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Dann begann er zu lesen.

Lieber Vlad,

ich hoffe, Dir geht es gut, wenn Du diesen Brief erhältst. Um Deine letzten Fragen zu beantworten: (1) Nein, ich habe keine Neuigkeiten aus Elysia, was Dich oder Deinen Vater angeht. Aber Du musst bedenken, dass ich nicht länger zum Kreis der Eingeweihten gehöre, was die Angelegenheiten des Rates in Stokerton betrifft. Alle meine Informationen basieren auf Hörensagen und sind darum nicht hundertprozentig verlässlich. (2) Deine Tante tut sehr gut daran, so »überfürsorglich« zu sein und darauf zu bestehen, dass Du nirgends allein hingehst. Du magst ja eine Furcht einflößende Kreatur der Finsternis sein, Vladimir, aber Du bist trotz allem immer noch ein Teenager und sie ist Dein gesetzlicher Vormund. Außerdem besteht jederzeit die Gefahr, dass Elysia beschließt, Rache für den Mord an ihrem Präsidenten im letzten Jahr zu üben … selbst, wenn es Notwehr war und ich noch immer hoffe, dass sie Dich aus Furcht vor dem Lucis in Ruhe lassen. (3) Tut mir leid, Vladimir, aber das Gerücht, dass ein Vampir allein mit seinem verführerischen Blick das Herz einer Frau erobern kann, ist kompletter Unsinn und absolut lächerlich. Hast Du schon daran gedacht, Meredith einfach mal zu fragen, ob sie Dich mag? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der direkte Weg meist der beste ist. Ein Mädchen anzurufen und dann ins Telefon zu atmen, hat, soweit ich weiß, noch niemandem ein Date verschafft. Wofür auch immer Du Dich entscheidest, denk immer daran, Dich wie ein vollkommener Gentleman zu verhalten!

Wie versprochen, füge ich noch mehr Informationen darüber bei, wie Du Deine telepathischen Fähigkeiten verbessern kannst. Es wundert mich, dass Deine Versuche bisher offenbar so wenig erfolgreich waren. Normalerweise solltest Du in der Lage sein, die Gedanken jeder beliebigen Person zu lesen. Aber wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass Du der Einzige Deiner Art bist, Vladimir, darum gelten für Dich möglicherweise andere Regeln. Wenn ein Vampir geschaffen wird, entwickeln sich seine Talente in einer ganz bestimmten Reihenfolge, aber Du … Du wurdest geboren und besitzt zudem auch menschliche Gene von Deiner Mutter. Daher können wir nicht sicher sein, welche Anlagen Du von Deinem Vater geerbt hast und welche nicht. Wir können also nur abwarten und sehen, welche Begabungen bei Dir in Erscheinung treten und welche nicht – und sobald wir sie erkennen, nehmen wir uns ihrer an!

Lies Dir die beigelegten Informationen aufmerksam durch und übe, übe, übe! Allerdings muss ich Dir als Dein ehemaliger Lehrer strengstens verbieten, auf Deine telepathischen Fähigkeiten zurückzugreifen, um Deine Noten aufzubessern. Und ja, ich würde es herausfinden, da kannst Du Dir sicher sein!

Was die Probleme angeht, die Du mit der Gedankenkontrolle zu haben scheinst, so gib mir bitte ein bisschen Zeit, damit ich noch ein paar hilfreiche Tipps zu diesem Thema zusammentragen kann. Gemeinsam werden wir einen Weg finden, damit es endlich gelingt. Dein Vater war sehr begabt auf diesem Gebiet. Ich muss zugeben, dass es mich sehr wundern würde, wenn es sich bei Dir anders verhalten sollte. Aber sei versichert, dass ich in keiner Weise enttäuscht von Dir bin.

Ich denke sehr oft an Dich, Vlad. Bitte pass auf Dich auf. Behalte Deine Umgebung genau im Auge und lerne unbedingt weiter Elysianisch. Ich weiß, die vampirische Sprache ist nicht einfach zu lesen, aber es ist wirklich wichtig, dass Du das Buch der Weisheit eingehend studierst. Um es mit den Worten des berühmten Philosophen George Santayana zu sagen: »Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.«

Nächste Woche werde ich in London sein – die Adresse, unter der Du mich erreichen kannst, habe ich diesem Brief beigelegt. Ich werde Dir so oft schreiben, wie es mir möglich ist. Bitte grüße Nelly ganz herzlich von mir.

Auf ewig der Deine,

Otis

Vlad strich mit dem Finger über Otis’ Schlussgruß. »Auf ewig der Deine.« Genau das hatte auch sein Vater immer unter jede Nachricht, in alle Bücher und auf jede Geburtstagskarte geschrieben, die Vlad je von ihm bekommen hatte. Vlad spürte, wie sich der altvertraute Schatten der Trauer über ihn senkte. Mit dem Tod eines geliebten Menschen ist es schon seltsam: Egal, wie sehr man trauert oder wie viel Zeit vergeht, die kleinste Erinnerung an ihn – ein Geruch, ein Gegenstand, ein einzelnes Wort – reicht aus, um einen mit Lichtgeschwindigkeit zurück in die Vergangenheit zu katapultieren. Und bevor man auch nur weiß, wie einem geschieht, überfällt einen wieder genau der quälende Schmerz, den zu verarbeiten man sich doch so viel Mühe gegeben hatte.

Es war ziemlich beunruhigend zu erfahren, dass Vlad nach dem Duell mit D’Ablo letztes Jahr nun unter Umständen die gesamte Vampirgesellschaft am Hals haben könnte. Schließlich war es D’Ablo gewesen, der mit dem ganzen Quatsch angefangen hatte! Vlad hatte ihm lediglich mit dem Lucis ein Loch in den Bauch geschossen, um D’Ablo davon abzuhalten, Vlad eins in sein Bäuchlein zu reißen – und zwar mit bloßen Händen. Andererseits war so ein Racheakt unwahrscheinlich. Denn dank Otis ging man in Elysia davon aus, dass Vlad ein Mensch war und kein Halbvampir. Und anscheinend war man dort nur zu bereit gewesen, Otis zu glauben. Dass Vlad den Lucis besaß, die gefährlichste Waffe gegen Vampire überhaupt, war ihnen nämlich ganz und gar nicht geheuer. Und solange sie sich einreden konnten, dass Vlad nur ein Mensch und damit keine Gefahr für sie war, brauchten sie ihn nicht zu jagen und konnten sich von ihm und dem Lucis fernhalten.

Vlad war enttäuscht, dass sein Onkel mit so gar keinem brauchbaren Rat aufwarten konnte, was sein Liebesleben betraf. Er überlegte, ob er vielleicht mal Nelly nach einem Tipp fragen sollte. Andererseits war das wirklich Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, ein stundenlanges Gespräch über Nellys Erlebnisse als Teenager.

Vlad seufzte. Es war hoffnungslos. Wie nur sollte er Meredith je klarmachen, dass er keinen blassen Schimmer hatte, warum er sie nach dem Sommerfest im letzten Schuljahr nicht geküsst hatte? Außerdem müsste er ihr dann eine Erklärung liefern, warum er den ganzen Sommer über keinen ihrer Anrufe angenommen und auch nie zurückgerufen hatte – und die gab es nun mal nicht. Wie sollte er etwas erklären, was er noch nicht mal selbst verstand?

»Was schreibt er?« Henry lugte über Vlads Schulter auf das Blatt Papier.

Vlad faltete den Brief zusammen, schob ihn zurück in den Umschlag und zog die Zettel mit den Übungstipps heraus. »Dass ich Nelly grüßen soll und dass er ein bisschen Material zum Thema Telepathie beigelegt hat.«

Nelly lächelte selig und errötete, dann warf sie seufzend einen Blick auf ihre Uhr. Resigniert schüttelte sie den Kopf und griff nach ihrer Handtasche. Auf dem Weg zur Haustür rief sie noch über die Schulter: »Ich muss mich beeilen. Ich hab Deb versprochen, heute ihre Nachmittagsschicht in der Klinik zu übernehmen. Könnt ihr Jungs euch für heute Abend selbst versorgen?«

Bevor die beiden antworten konnten, fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Henry deutete mit dem Kinn auf Otis’ Anweisungen. »Wie wär’s, wenn wir das mal ausprobieren? Ich wollte schon immer wissen, ob Melissa Hart auf mich steht!«

Vlad faltete die Zettel zusammen und steckte sie sich in die Hosentasche. »Ich will mir die Sachen vorher noch ein paarmal durchlesen. Vielleicht versuchen wir’s am Wochenende.«

Henry stöhnte. »Ach, komm schon! Ich kann dieses Wochenende doch nicht – Joss, schon vergessen?«

»Ich will’s mir erst durchlesen.«

»Na, dann mach. Und danach gehen wir nach Stokerton ins Einkaufszentrum. Melissa macht bei dieser Herbst-Modenschau mit, die sie da jedes Jahr veranstalten, dann kannst du –«

»Henry, ich hab Nein gesagt.« Vlad sah Henry fest in die Augen. Sein Tonfall war unnachgiebig.

Henry nickte langsam und griff nach seinem Saft.

Lakai oder nicht, Vlad hasste es, Henry direkte Befehle zu erteilen. Und er tat es auch wirklich nur, wenn Henry versuchte, ihn zu etwas zu drängen, was er nicht wollte, oder ihn mit unangenehmen Fragen löcherte … oder wenn Vlad eine Pepsi wollte, aber irgendwie keine Lust hatte, sich selbst eine aus der Küche zu holen. Ansonsten funktionierte diese ganze Vampir-und-menschlicher-Sklave-Chose ziemlich gut. Es war wirklich erstaunlich, wie gelassen Henry die Neuigkeit aufgenommen hatte, dass er durch einen einzigen Biss zu Vlads treu ergebenem Diener geworden war.

Andererseits hatte Henry es vielleicht auch nur gelassen aufgenommen, weil Vlad es ihm befohlen hatte.    

Der Gedanke ließ Vlad erschaudern. Ihm behagte die Vorstellung, Henrys Gedanken zu manipulieren, nicht. Er fand das Ganze eigentlich sogar ziemlich gruselig. Aber manchmal war Henry eben einfach so quengelig!

Vlad drehte das Päckchen um, das Nelly auf dem Küchentisch zurückgelassen hatte, und als er seinen Namen auf der anderen Seite las, begann er es aufzureißen. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Lust auf eine Runde Race to Armageddon 2?«

Henry keuchte auf, als er die Spieleverpackung in Vlads Hand sah. »Nee, im Ernst jetzt?« Vlad drehte die Schachtel um und sah sich die Bilder auf der Rückseite an. »Hier steht: doppelt so viel Action, dreimal so viel Gemetzel.«

Die beiden wechselten ein irres Grinsen und stürmten ins Wohnzimmer.

Zwei Stunden, eine riesige Tüte Kartoffelchips, sieben Dosen Pepsi und vier Blutkonserven später legten Vlad und Henry ihre Gamepads hin und streckten und rekelten sich. Henrys Augen waren groß vor angewiderter Faszination. »Mann, ist das widerlich. Klasse!«

»Auf jeden Fall. Wie cool, dass die Androiden jetzt auch fliegen können!« Vlad trank seine Pepsi aus und stellte die Dose auf den Couchtisch. Sein Magen knurrte.

Henry zog die Stirn kraus. »Aber dieser neue Alienkönig mit den sechs Köpfen? Der ist sicher gar nicht mal so leicht zu schlagen.«

»Und es spritzt echt noch viel mehr Blut als vorher. Apropos …« Vlad ging in die Küche und holte sich einen weiteren Blutbeutel aus dem Kühlschrank. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, fühlte er, wie seine Eckzähne länger wurden – in ihnen pulsierte der Hunger. Er biss in den Beutel und saugte ihn leer, dann stieß er einen gepflegten Rülpser aus und wischte sich die Blutreste vom Mund.

Henry grinste. »Schwein.«

Vlad feixte. »Tschuldigung.«

Henry kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. Als er schließlich etwas sagte, klang seine Stimme ernst und bedächtig. »Meinst du, du fängst irgendwann auch mal damit an, dich von Menschen zu ernähren?«

Vlad schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht in einer Million Jahren.« Er beobachtete Henry eine Weile aus den Augenwinkeln, bevor er sich ihm zuwandte. »Glaubst du im Ernst, ich würde so was machen?«

»Na ja, mich hast du schließlich auch gebissen, als wir acht waren.«

Vlad warf Henry einen ungläubigen Blick zu. »Mann, genau, da waren wir acht! Und außerdem hast du mich selbst dazu angestiftet!«

Henry tat so, als hätte er ihn gar nicht gehört. »Und eben gerade, als du in den Beutel gebissen hast, da sind deine Augen wieder so komisch lila geworden, wie wenn du eins von diesen Symbolen berührst.« Henry deutete auf das eigentümliche Zeichen auf dem Umschlag vom Buch der Weisheit und zuckte mit den Schultern. »Ich sage ja nur, dass es doch durchaus möglich wäre. Ich meine, was ist, wenn dir die Blutkonserven und -kapseln irgendwann nicht mehr reichen?«

Vlad schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Mit dem Finger fuhr er sachte über die Tätowierung auf der Innenseite seines linken Handgelenks. Eine ganze Weile herrschte Schweigen, bevor er sagte: »Wenn sie meinem Dad zum Leben gereicht haben, dann reichen sie auch für mich. Ich sag dir, der Tag, an dem ich anfange, Menschen auszusaugen, ist auch der Tag, an dem ich anfange, dich beim Computerspielen zu besiegen!«

Henry lachte und griff nach seinem Gamepad. »Das heißt dann ja wohl nie, oder?«

BATHORY HIGH

Vlad schob zwei Kugelschreiber in die Vordertasche seines Rucksacks und zog den Reißverschluss zu. Henry hatte ihn den ganzen Sommer lang zu überreden versucht, sich einen neuen zu kaufen – besonders hatte es ihm einer aus dem Einkaufszentrum in Stokerton angetan, der die Form eines Sargs hatte. Supercool. Aber Vlad mochte seinen alten Rucksack trotzdem lieber. Er war ja eigentlich immer für einen guten Scherz zu haben – allein bei der Vorstellung, dass Henry und er den Leuten sein Vampirgeheimnis so offen unter die Nase reiben könnten und es trotzdem niemand in Bathory kapieren würde, weil alle dachten, Vlad gehöre eben einfach zur Goth-Szene, hätte er sich kugeln können vor Lachen. Aber sie beide, er und sein Rucksack, hatten nun schon zwei Jahre miteinander durchgestanden, in denen der Rucksack fast so oft am Fahnenmast gehangen hatte, wie Vlad gegen einen Spind geschubst worden war. Irgendwie war er für ihn fast so etwas wie ein Freund. Wie Henry.

Zumindest, wenn er sich Henry auf den Rücken schnallen und ihn dazu bringen könnte, seine Bücher für ihn rumzuschleppen.

Vlad befestigte einen neuen Button an seinem Rucksack und schwang ihn sich über die Schulter. Er hatte den Anstecker in einem Laden gesehen und direkt einen Lachkrampf bekommen. »Vorsicht, bissig!« stand darauf. Henry würde sich nicht mehr einkriegen.

Tante Nellys Stimme tönte die Treppe rauf: »Beeil dich, sonst kommst du gleich am ersten Tag zu spät!«

Vlad wollte gerade den Lucis in die Gesäßtasche seiner Jeans schieben, doch dann zögerte er und legte den kleinen schwarzen Stab stattdessen auf seine Kommode. Otis und Nelly würden durchdrehen, wenn sie wüssten, dass er ihn auch nur einen einzigen Tag lang nicht bei sich trug, das war ihm klar. Aber Vlad wusste nicht, was so eine Vampirwaffe mit Menschen anstellen konnte, und ihm war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, sie mit in die Schule zu nehmen. Waffen, selbst Vampirwaffen, hatten in der Schule einfach nichts zu suchen!

Er rannte, immer eine Stufe überspringend, die Treppe hinunter und grinste fröhlich seine Tante an, die dort schon auf ihn wartete.

Nelly lächelte zurück und reichte ihm sein Frühstück, das er genüsslich hinunterschlürfte. Dickflüssig und warm rann das Blut ihm die Kehle hinunter. Das Frühstück für einen guten Start in den Tag!

Vlad gab Nelly das Plastikschälchen zurück und war mit den Fingern schon fast am Türknauf, als Nelly fragte: »Hast du dich auch gut mit Sunblocker eingecremt?«

Vlad schmunzelte und widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. »Warum fragst du? Machst du dir etwa Sorgen um meine vornehme Blässe?«

Nelly schüttelte den Kopf, ein resigniertes Lächeln auf den Lippen, und Vlad schlüpfte zur Tür hinaus.

Henry stand auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite und wartete auf ihn. Neben ihm stand ein braun gebrannter, gut aussehender Junge. An den ähnlichen Gesichtszügen der beiden erkannte Vlad gleich, dass sie miteinander verwandt waren.

Vlad nickte Henry zu. »Hey.«

Henry strahlte und deutete mit dem Kinn auf den anderen Jungen. »Hey. Das ist mein Cousin Joss.«

Joss lächelte, sagte aber nichts. Na toll, der große Schweiger oder was?

Gemeinsam trotteten sie über die Trampelpfade zwischen den Häusern in Richtung Schule und äußerten ihre Befürchtungen über den bevorstehenden ersten Tag an der Highschool. Vor lauter Unwillen hämmerte Vlads Herz wie wild gegen seine Rippen. Und gerade als er ein paarmal tief Luft geholt hatte, um seinen Puls zu beruhigen, bogen sie um die Ecke und standen vor der Eingangstreppe der Bathory High.

Die Highschool der kleinen Stadt umgaben eine ganze Menge Gerüchte, denn früher war das Gebäude einmal eine katholische Kirche gewesen. Diese war aber in der Mitte des 19.Jahrhunderts nach irgendeinem schrecklichen Skandal geschlossen worden. Allerdings wollte niemand darüber sprechen – noch nicht einmal die Bibliothekarin, die eigentlich alles über die Geschichte Bathorys zu wissen schien und andere normalerweise liebend gern an ihrer Weisheit teilhaben ließ. Fast hundert Jahre später kaufte ein reicher Geschäftsmann die Immobilie und verwandelte sie in ein »Bildungsinstitut für junge Menschen«. Nach weiteren zwanzig Jahren wurde dann eine öffentliche Lehranstalt daraus und schließlich die Schule, auf die Vlad, seinen Rucksack über der Schulter, nun langsam zuging, während er die Fassade hinaufblinzelte.

»Henry!« Carrie Anderson winkte ekstatisch.

Henry lächelte verlegen. »Bin gleich wieder da, Jungs.« Nur Sekunden später planschte Henry mal wieder im Meer seiner Beliebtheit – ein Schauspiel, das Vlad wie immer nur vom Ufer aus betrachten durfte.

Vlad seufzte und wandte sich dann zu Joss um. »Henry hat erzählt, du bist aus dem sonnigen Kalifornien hergezogen.«

Joss nickte. »Und mir hat er erzählt, dass du grottenschlecht im Playstationzocken bist.«

Nach einem Moment brachen sie beide in Gelächter aus. Vlad grinste. »Tja, unser Henry. Was für ein Scherzkeks.«

»Und ziemlich beliebt, wie mir scheint.« Joss’ Gesichtsausdruck triefte vor Geringschätzung.

Vlad hob überrascht eine Augenbraue. »Ich dachte irgendwie, das wärt ihr McMillans alle.«

»Na, ich jedenfalls nicht. Ist einfach nicht mein Ding.« Joss schüttelte den Kopf und warf einen skeptischen Blick auf die Horden von Schülern. »Ich hab lieber nur ein paar enge Freunde – Leute, denen es schnurz ist, aus was für einer Familie man kommt oder wie viel Geld man hat.«

Vlad lächelte. Joss und er würden gut miteinander auskommen.

Henry winkte, und bevor Joss im Gedränge verschwand, zog er noch mal den Riemen des Rucksacks über seiner Schulter zurecht und lächelte Vlad zu. »Tja, dann … bis später, würd ich sagen.«

»Bis dann.« Vlad sah Joss eine Weile nach, dann drehte er sich um und blinzelte wieder zum Schulgebäude auf.

Aber er blieb nicht lange allein.

Vlads Augen weiteten sich vor Entsetzen, als zwei Paar Hände ihn beim T-Shirt packten und hinter das Gebäude zerrten.

Bill Jensen und Tom Gaiber! Wer sonst?

Die beiden konnten ihn nicht leiden und das schon seit der ersten Klasse, noch dazu aus keinem bestimmten Grund, soweit Vlad das beurteilen konnte.

Zusammen schleuderten Bill und Tom Vlad gegen die Mauer des Schulgebäudes, die Gesichter zu fiesen Grimassen verzogen. »Willkommen auf der Highschool, Grufti-Boy«, ätzte Tom.

Vlad biss die Zähne zusammen, als er mit dem Kopf gegen die Wand prallte. Er versuchte, ein möglichst gleichgültiges Gesicht aufzusetzen, aber seine Augen machten ihm einen Strich durch die Rechnung, indem sie immer wieder auf der Suche nach Hilfe den Gehweg rauf und runter huschten. Die würden ihn an Ort und Stelle zu Hackfleisch verarbeiten! Wo war Henry, wenn man ihn mal brauchte?

Bill kam dicht an ihn heran. Sein Atem roch nach Thunfisch und drei Tage alter Mayonnaise. »Was ist los mit dir, Grufti-Boy? Hast du deine Zunge verschluckt?«

Vlad schossen ein paar schlagfertige Antworten durch den Kopf, aber er beschloss, dass es wohl besser für ihn war, den Mund zu halten.

Manchmal war das beste Mittel gegen solche Schlägertypen beharrliches Schweigen.

Andererseits war man natürlich auch schnell als totales Weichei verschrien, wenn man sich von diesen Gorillas rumschubsen ließ. Also straffte Vlad die Schultern und versuchte, Bill von sich zu stoßen, doch Tom packte ihn am Kragen. Ein stechender Schmerz flammte in Vlads Rücken auf, als er wieder mit voller Wucht an der Wand landete.

»Lasst ihn in Ruhe!«

Vlad wandte den Kopf in Richtung Bürgersteig. Joss war offenbar vor Henrys Gefolge geflüchtet und blickte jetzt Bill und Tom in aller Ruhe an. Er hatte den Kopf leicht schief gelegt und eine Augenbraue gehoben, als wäre er es gewohnt, dass die Leute taten, was er verlangte.

Tja, wie es aussah, war Henrys Cousin zwar ganz witzig, aber wohl leider nicht sonderlich helle. Vlad wollte Joss gerade bedeuten, dass er besser Leine ziehen solle, doch in dem Moment wandte Tom sich wieder Vlad zu und drückte ihn noch heftiger an die Wand. Vlad spürte, wie sich ein spitzer Stein in seine Wirbelsäule bohrte. Er verzog das Gesicht und versuchte, sich aus Toms Griff zu befreien, aber der ließ keinen Millimeter von ihm ab. »Dieses Jahr bist du dran, Grufti-Boy! Wir haben uns was ganz Besonderes für dich ausgedacht.«

»Ich hab gesagt, lasst ihn in Ruhe!« Joss hatte seinen Rucksack auf den Gehweg gestellt und sah Tom ohne einen Funken Angst an.

Tom und Bill ließen Vlad los und wandten sich dem Neuankömmling zu.

Lauf, dachte Vlad, lauf um dein Leben, Joss. Na, los!

Tom und Bill wechselten einen Blick, der verriet, dass sie sich nicht sicher waren, ob Joss nun leichte Beute war oder nicht. Vlad kassierte noch einen letzten kräftigen Schubser von Tom, bevor der sich zusammen mit Bill wortlos in Richtung Haupteingang davonmachte.

Vlad fragte sich, was Joss wohl an sich hatte, das die beiden so schnell in die Flucht geschlagen hatte. Denn was immer es sein mochte, Vlad hatte es ganz offensichtlich nicht.

Er hob seinen Rucksack auf und rieb sich nachdenklich über die Beule an seinem Hinterkopf. Er war nicht ganz sicher, wie er es finden sollte, dass er gerade so heldenhaft gerettet worden war. Immer noch besser, als zusammengeschlagen zu werden, beschloss er dann. »Danke.«

Joss lächelte. »Kein Problem. Diese Typen waren doch die letzten Idioten. Hirnlose Neandertaler-Idioten.«

»Ach, du kennst sie schon?«

»Nicht nötig. Das konnte ich an ihrer fliehenden Stirn und der Monobraue ablesen«, witzelte Joss. »Soll ich ihnen für dich ’nen Arm ausreißen oder so?«

Vlad lachte. »Das wär toll. Bin gespannt, wie sie mich dann verkloppen wollen. Hm, wie könnten sie das anstellen – mich anrempeln, bis es echt nervig wird?«

Hinter Joss lief Meredith Brookstone über den Bürgersteig. Sie trug ein rosafarbenes Kleid, das ihr beim Gehen um die Knie flatterte. Ihre Wangen röteten sich leicht, als sie Vlad zulächelte. Joss folgte Vlads Blick und auf seinem Gesicht breitete sich ebenfalls ein Lächeln aus, als er Meredith sah.

Ach herrje!

Nun gesellte auch Henry sich wieder zu ihnen und sah zum Schulgebäude auf. »Irgendwie gruselig, findet ihr nicht?«

Vlad nickte und sah ebenfalls die Fassade hoch, die vor ihnen aufragte. Er war schon Hunderte Male hier gewesen. Aber nur weil das Gebäude nachts bei Mondschein so heimelig wirkte, hieß das noch lange nicht, dass es einem am helllichten Tag nicht ordentlich Angst einjagen konnte.

Vlad folgte Henry und Joss die Treppe hoch. Es war ein seltsames Gefühl, die Schule durch den ganz normalen Eingang zu betreten. Er zog den Kopf ein und gab sich Mühe, nicht zum Glockenturm aufzusehen.

Ein Plakat an der Tür forderte die Schüler des neuen Jahrgangs auf, sich in der Turnhalle zu versammeln. Vlad rückte den Riemen seines Rucksacks auf seiner Schulter zurecht, dann holte er tief Luft und betrat die Schule.

Auf jeder Seite der Eingangshalle ragten dreizehn große Steinsäulen auf, die am oberen Ende bogenförmig zusammenliefen. Darüber, im ersten Stock, sah Vlad auf einer Art Galerie noch einmal genauso viele Rundbögen, die nur etwas kleiner waren. Zwischen den einzelnen Säulen verlief ein schmiedeeisernes Geländer. Vlad sah zu der hohen Ziegeldecke auf. Dort war offensichtlich einmal ein Deckengemälde gewesen, vielleicht mit Bildern von Männern in wallenden Gewändern und mit goldenen Heiligenscheinen über den Köpfen. Aber alles, was jetzt noch davon übrig war, waren Flecken verblasster Farbe, in denen kaum Motive auszumachen waren. Hoch über Vlads Kopf bildeten die dunklen Backsteine die Form von Kreuzen.

Henry stieß ihn an und flüsterte, sodass niemand anders es hören konnte: »Ist eigentlich was dran an dem Mythos, dass Vampire Kreuze nicht abkönnen?«

Vlad kicherte. Er hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob er in Flammen aufgehen würde, sobald er in die Nähe eines Kreuzes kam. Eigentlich dachte er sowieso nicht viel über Religion nach, egal, um welche es sich handelte. »Sieht nicht so aus.«

Ein großer, stämmiger Mann, der Vlad an einen überdimensionalen Kobold erinnerte, hob die Arme und polterte mit lauter, barscher Stimme los, aus der man schließen konnte, dass mit ihm nicht zu spaßen war: »Die Neuen gehen durch den dritten Bogen rechts den Gang runter zur Turnhalle. Na los doch! Alle anderen, ab in den Unterricht. Stevenson, das gilt auch für dich!«

Vlad spürte, wie ihm jemand einen kräftigen Schlag auf den Rücken versetzte. Er drehte sich um und sah Greg, Henrys älteren Bruder. Greg lächelte. »Kümmer dich nicht um MrHunjo. Der ist immer so. Weißt du, wo du hinmusst?«

Vlad nickte und sah sich nach Henry und Joss um, die plötzlich verschwunden zu sein schienen. »Hey, weißt du, wo dein Bruder und euer Cousin sind?«

»Wahrscheinlich schon auf dem Weg zur Sporthalle. Kommt in der Mittagspause zu mir, okay? Dann führ ich euch ein bisschen rum und stelle sicher, dass die Älteren euch in Ruhe lassen.« Greg gab ihm einen weiteren Klaps auf den Rücken und verschwand dann in der Menge. Vlad blickte ihm nach, bis seine schwarz-rote Baseballjacke nicht mehr zu sehen war. Greg war in den letzten beiden Jahren Werfer bei den Bathory Bats gewesen und man konnte davon ausgehen, dass er die Position auch in der kommenden Saison übernehmen würde.

Greg war der vermutlich coolste Typ der Welt und neben Henry der einzige Mensch, der in Vlad je den Wunsch geweckt hatte, einen Bruder zu haben. Mit Greg war es genauso wie mit Henry, jeder wollte in seiner Nähe sein. Man sollte meinen, dass er dadurch arrogant werden müsste, aber weit gefehlt! Er setzte schlicht und ergreifend die Maßstäbe in Sachen Coolness an der Bathory High.

Vlad ging unter dem angewiesenen Bogen hindurch und folgte dem zögerlichen Strom der anderen Neulinge bis in die Turnhalle. Diese sah so ziemlich genauso aus wie die Turnhalle der Junior Highschool, abgesehen von den riesigen Holzbalken unter der Decke. An einer Wand waren drei lange Tische aufgestellt worden. Vlad ließ sich von der Schülermasse daran vorbeitreiben, und als er die Turnhalle wieder verließ, hielt er einen Gebäudeplan, eine Schulbroschüre und einen kleinen Zettel mit seiner Spindnummer, 131, in der Hand. Er fand seinen Spind sofort – nur ein Stück den Gang runter – und gleich darauf auch Henry, der direkt daneben stand.

Henry grinste ihn an und verkündete augenzwinkernd: »Na, wer sagt’s denn? Kaum sind wir auf der Highschool, klappt’s auch mit dem Nachbarn!«

»Ja, echt cool, dass unsere Spinde genau nebeneinander sind.« Vlad nickte Joss, der hinter Henry auftauchte, einen Gruß zu, kramte ein kleines rotes Vorhängeschloss aus seinem Rucksack und hängte es über den Griff seines offenen Schließfachs. Dann holte er noch seinen Block und einen Stift heraus und ließ den Rucksack anschließend in den Spind fallen. Er war gerade dabei, die Tür zu verschließen, als er aus dem Augenwinkel etwas Rosafarbenes aufblitzen sah. Schnell wandte er den Kopf.

Ein Stück weiter stand Meredith, strich sich gerade eine schokobraune Haarsträhne hinters Ohr und hängte dann sorgfältig ihren rosa Rucksack in ihrem Spind auf. Vlads Herz schwoll auf die Größe eines Footballs an. Es fühlte sich so riesig an, dass er schon Angst bekam, es könnte ihm an Ort und Stelle die Brust sprengen.

Henry fragte: »Sagst du ihr irgendwann noch mal Hallo oder willst du einfach weiter so dastehen und dir auf die Schuhe sabbern?«

Vlad warf ihm einen gereizten Blick zu, sagte aber nichts. In Wahrheit war er sich nämlich nicht sicher, ob ein einfaches »Hallo« überhaupt ausreichen würde. Wahrscheinlich wäre »Entschuldigung« angebrachter, aber wofür genau sollte er sich eigentlich entschuldigen? Dafür, dass er das hübscheste Mädchen der Schule nicht geküsst hatte, als es am Ende des letzten Schuljahrs netterweise mit ihm zum Ball gegangen war? Natürlich. Aber irgendwie hatte Vlad so seine Zweifel daran, dass ein »Tut mir leid, dass wir nicht rumgeknutscht haben« sie dazu veranlassen würde, jemals wieder mit ihm zu einem Ball zu gehen.

Vlad duckte sich hinter seine Schließfachtür und spähte hin und wieder an dem grauen Metall vorbei zu ihr rüber. Er holte ein paarmal tief Luft und schlug dann die Tür zu. »Hi, Meredith.«

Einen Ordner an die Brust gedrückt, drehte Meredith sich zu ihm um. »Hi.«

»Na, hast du jetzt Unterricht?« Oh. Mein. Gott! Was hatte er da gerade gesagt? Super, Vlad! Peinlicher ging’s ja wohl nicht mehr. »Ich meine, Mathe. Oder? Du hast doch jetzt Mathe?«

Meredith hob fragend eine Augenbraue. »Ich hab Englisch. Wieso?«

Vlads Mund wurde staubtrocken, als ihm klar wurde, was das bedeutete: Sie hatten einen Kurs miteinander. Er schluckte krampfhaft, aber wie es sich anfühlte, war soeben jeder Tropfen Flüssigkeit in seinem Körper verdampft. »Ach … nur so.«