Vladimir Tod kämpft verbissen (Band 4) - Heather Brewer - E-Book

Vladimir Tod kämpft verbissen (Band 4) E-Book

Heather Brewer

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Beschreibung

Mathe saugt einem alle Lebenskraft aus! Vor allem, wenn du zur Hälfte Vampir bist! Wenn er eins nicht mag, sind es echte Mordsfreunde. Wenn bestimmte Leute von den Toten auferstehen, haut es sogar ihn um. Und merke: Gepfählte Gäste beißen nicht. Klingt schräg? Willkommen im Leben von Vladimir Tod, Halbvampir! "Vladimir Tod kämpft verbissen" ist der vierte Band der Vladimir Tod-Pentalogie. Die drei Vorgängertitel lauten "Vladimir Tod hat Blut geleckt", "Vladimir Tod beisst sich durch" und "Vladimir Tod hängt todsicher ab".

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Für Jackie Kessler, die beste Freundinund Kritikpartnerin der Welt

INHALT

Jäger-Ehrgeiz

Auf die Freundschaft

Ungesagte Wahrheiten

Ernste Gespräche

Immer Ärger mit Lakaien

Dorian, der Vampir

Böses Erwachen

Man lernt nie aus

Alter Hund, neue Tricks

Monster

Ein Fingerschnippen

Niemand

Erklärte Feinde

Verrat unter Freunden

Die Pflicht des Jägers

Ein kleiner Imbiss

Halloween

Ein mieser Tag

Ein wandelnder Albtraum

Dankbarkeit

Erinnerungen

Ein verdorbener Abend

Die V Bar

Die Jagd

Die Vorverhandlung

Schlechter Rutsch …

Eins zu null für Eddie

Leere

Gegen seinen Willen

Der Pravus

Mitternachtsmaskerade

Der Prozess des Otis

Zehn Minuten Horror

Heimweg

Die Klage des Jägers

Das größte Geschenk

Abschied

Unerwartetes Ende

Ein Abend mit Vlad

JÄGER-EHRGEIZ

Der Vampir wirbelte herum, einen wilden, wahnsinnigen Blick in den Augen. Er stürzte sich auf den Jäger, doch dieser duckte sich gekonnt unter seinem Angriff hinweg und versetzte dem Biest einen harten Roundhouse-Kick direkt vor den Kehlkopf. Der Vampir ging zu Boden und röchelte, während er an seinem eigenen Blut erstickte. Der Jäger hätte das Monster schon vor einer halben Stunde erledigen können. Aber hier ging es nicht nur darum, die Welt von einer weiteren dieser scheußlichen Gestalten zu befreien (obwohl das am Ende natürlich das Ziel war). Hier ging es um einen Jäger, der eine Portion angestaute Wut abreagieren musste und auf diese Weise die Verwirrung in seinen Gedanken loswurde.

Gedanken, die nun wieder vollkommen klar waren.

Diesen blutsaugenden Kreaturen konnte man einfach nicht trauen. Nicht einmal, wenn sie in Gestalt eines relativ normalen Teenagers daherkamen. Nicht einmal, wenn sie behaupteten, dein Freund zu sein. Und besonders dann nicht, wenn sie ihre heimtückischen Fähigkeiten dazu nutzten, sich dein Vertrauen zu erschleichen und dich dazu zu bringen, ihnen Geheimnisse zu verraten, die noch nicht einmal die Menschen kennen, die dir am nächsten stehen! Besonders dann nicht, wenn sie Vladimir Tod hießen!

Joss hatte sich für heute genug ausgetobt. Vlads Gesicht deutlich vor Augen, zog er den hölzernen Pflock mit der Silberspitze aus seinem Rucksack und eilte ungeduldig zu dem Vampir zurück, der immer noch am Boden lag. Er flüsterte: »Für dich, Cecile«, und stieß zu, bevor das Monster noch einmal Luft holen konnte.

Blut – warm, glitschig und so dunkelrot, dass es im Mondlicht beinahe schwarz wirkte – strömte ihm über die Hände. Der namenlose Vampir regte sich nicht mehr.

Zufrieden straffte Joss die Schultern.

Er holte ein Handy aus seinem Rucksack und drückte die Kurzwahltaste auf der Zwei. Als sich am anderen Ende eine Stimme meldete, sagte er: »Hier ist Joss. Ich brauche ein Reinigungsteam im Russian Gulch State Park – auf der zum Meer gewandten Seite. Zielobjekt gesichert. Bitte um Erlaubnis, zur nächsten Mission überzugehen.«

Als die Stimme am anderen Ende diese Erlaubnis erteilte, legte Joss auf. Es gab keinen Grund, das Gespräch fortzusetzen. Small Talk interessierte ihn nicht.

Das Einzige, was ihn interessierte, war, dass er zurück nach Bathory gehen würde.

Und diesmal würde er nichts zu bereuen haben, wenn er die Stadt wieder verließ.

AUF DIE FREUNDSCHAFT

Vlad drehte sein Handgelenk, drückte Daumen und Zeigefinger zusammen und ließ die Bronzemünze auf dem Tisch kreiseln. Als sie schließlich umfiel, hob er sie auf und wiederholte das Ganze. Er zählte. Sechsunddreißig Mal hatte die Vampirjägervereinigung nach oben gezeigt. Zweiundzwanzig Mal nach unten. Wieder versetzte er der Münze einen Drall, doch bevor sie diesmal umkippen konnte, legte sich von der gegenüberliegenden Tischseite eine Hand darauf. Henry blickte seinen besten Freund mit vor Sorge zusammengezogenen Augenbrauen an. Vlad lehnte sich zurück. Ihm war, als hinge eine dicke Wolke über ihm. »Wann?«

Henry klaubte die Münze vom Tisch und drehte sie in der Hand um. »Nächste Woche.«

Vlad starrte auf die Münze und las noch einmal die Inschrift darauf: ZUM WOHLE DER MENSCHHEIT. »Wie lange weißt du es schon?«

»Ich bin sofort rübergekommen, als meine Mum es mir erzählt hat.« Henry ließ die Münze fallen und fuhr sich stöhnend mit der Hand durchs Haar. »Was machen wir denn jetzt?«

Die Münze rollte über die Tischplatte und fiel dann von der Kante. Vlads Hand bewegte sich so schnell, dass Henry ihr nicht einmal mit den Augen folgen konnte. Er legte die Münze auf den Tisch und ließ sie dann von Neuem auf der Platte kreiseln, wobei er wieder in sein voriges Schweigen verfiel.

»Irgendwas müssen wir doch tun, Vlad. Du kannst nicht einfach hier rumsitzen, mit dieser dämlichen Münze spielen und darauf warten, dass Joss die Sache zu Ende bringt. Jetzt, wo du nicht mehr unbesiegbar bist …«

Vlad versetzte der Münze einen Drall, heftiger als vorher. Henry hatte recht. Sie mussten etwas tun. Henrys Cousin Joss zog zurück nach Bathory, diesmal zusammen mit seinen Eltern, und Vlad wäre jede Wette eingegangen, dass das kein Zufall war und auch nichts damit zu tun hatte, dass Henrys Familie hier lebte. Joss kam, um ihn zu töten. Und nach D’Ablos bescheuertem Ritual im letzten Jahr konnte es gut sein, dass es ihm diesmal gelang.

Aber Vlad konnte sich jetzt einfach nicht darauf konzentrieren, über eine Lösung für dieses Problem nachzudenken. Alles, was ihm seit dem Sommerfest durch den Kopf ging, war Meredith und wie sehr er sich wünschte, sie könnten zusammen sein. Aber das war unmöglich. Er stellte eine zu große Gefahr für sie dar. Also hatte er ihr das Herz gebrochen und damit auch sein eigenes in winzig kleine Stücke zerschmettert. Er fühlte sich leer. Und allein.

Und jetzt drohte ihm auch noch der Tod durch die Hand eines Vampirjägers, der früher einmal sein Freund gewesen war.

Er ließ die Münze erneut kreiseln. Henry schnappte sie sich und pfefferte sie quer durchs Zimmer. Klappernd fiel sie irgendwo hinter Vlad auf den Boden. »Unternimm was!«

Vlad sah ihn finster an. »Und was bitte?«

»Irgendwas. Tu nicht so, als wäre es keine große Sache, dass Joss zurück in die Stadt kommt. Ich weiß, du bist immer noch total fertig wegen Meredith …« Vlad warf ihm einen warnenden Blick zu, aber Henry ließ sich nicht einschüchtern. »Was? Du schlurfst schon den ganzen Sommer so durch die Gegend, dabei hast du doch nur getan, was du tun musstest. Und jetzt benimmst du dich auch noch so, als wär’s dir vollkommen egal, ob Joss zurückkommt und dir noch einen Pflock ins Herz rammt!« Henrys Augen schimmerten frustriert. »Mir ist es jedenfalls nicht egal.«

Seine Worte hingen zwischen ihnen in der Luft und weichten Vlads Widerstand auf.

Henry drehte sich um, ging auf die andere Seite der Küche, wo er sich mit dem Ärmel über die Augen wischte und hoffte, dass sein bester Freund es nicht sah. »Hör mal, Alter, ich will ja nicht schnulzig werden, aber du bist mein bester Freund, und beim letzten Mal hab ich dich beinahe verloren. Noch mal mach ich das nicht mit. Keine Chance.«

Vlad seufzte. Seine Blicke sprachen all das aus, was sein Mund nicht fertigbrachte. Er konnte nichts unternehmen. Außer Joss – Henrys Cousin, Vlads früheren Freund – zu töten. »Du hast ja recht. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich ihn aufhalten soll, ohne …« Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu führen, und keiner von ihnen wollte es. Er konnte Joss nicht töten. Das ging einfach nicht.

»Was ist denn mit Gedankenkontrolle?«

Vlad runzelte die Stirn. »Ich kann ihn nicht für den Rest seines Lebens kontrollieren, Henry. Außerdem würde ich mich früher oder später nicht mehr konzentrieren können.«

»Aber irgendwas muss es doch geben.« Henry kehrte zu seinem Platz zurück. In seinem Gesicht machte sich ein verzweifelter Ausdruck breit. »Und was ist mit Otis? Der ist doch gut und gerne ’ne Million Jahre alt.«

»Dreihundertzwei.«

»Egal, auf jeden Fall alt. Er hatte doch bestimmt sein ganzes Leben lang mit Vampirjägern zu kämpfen. Du solltest ihn fragen, was man da machen kann.«

Nach einer Weile nickte Vlad nachdenklich. Wenn irgendwer wusste, was zu tun war, dann sein Onkel.

Henry nickte auch, einigermaßen erleichtert, dass Vlad endlich etwas unternehmen würde. »Na ja, ich geh dann mal lieber wieder. Meine Mum ist total im Putzwahn, weil die Verwandtschaft herzieht. Wer weiß, was sie noch wegschmeißt, wenn ich nicht da bin! Diese Frau hat einfach keinen Respekt vor den Heiligtümern eines heranwachsenden jungen Mannes.« Henry stand auf und sah Vlad besorgt an. »Du kommst doch klar, oder?«

»Ja sicher, alles okay.« Vlad zwang sich zu einem Lächeln und Henry verschwand durch die Haustür und zog sie hinter sich zu. Sobald sie ins Schloss gefallen war, hob Vlad die Münze wieder auf. Eine tiefe Furche erschien auf seiner Stirn, als er die Inschrift noch einmal las. Er konzentrierte sich auf Otis und rief mit seinen Gedanken nach ihm. »Otis? Ich muss mit dir reden. Ich könnte einen Rat gebrauchen.«

»Meine Besprechung mit Direktor Snelgrove ist gleich zu Ende, dann komme ich direkt nach Hause, Vladimir.« Pause, dann ertönte Otis’ Stimme erneut in seinem Kopf. »Ist alles in Ordnung?«

Vlad drehte die Münze in seiner Hand hin und her. In seinem Bewusstsein blitzte ein Bild auf. Eine kleine silberne Spitze mitten in seiner Brust. Und Blut. Unmengen von Blut. Vlad schüttelte den Kopf und verscheuchte die Erinnerung. »Nein. Aber das kann warten, bis du nach Hause kommst. Nur … beeil dich, ja?«

Otis schwieg einen Moment lang und erwiderte dann: »Ich bin gleich bei dir.«

Vlad schloss die Faust fest um die Münze und beugte sich vor, bis seine Stirn auf der Tischplatte ruhte. Er kämpfte dagegen an, aber die Erinnerungen waren stärker als sein Widerstand: Joss’ Augen, die sich beim Anblick von Vlads leuchtender Markierung verengten. Die bitteren Anschuldigungen, dass Vlad ihn verraten habe. Ein Flüstern: »Für dich, Cecile.« Das Gefühl, einen Schlag in den Rücken zu bekommen. Dann der Blick nach unten, auf die silberne Spitze des Holzpflocks. Er hatte noch gehustet, dann hatte der Schmerz ihn überwältigt.

Danach, als Joss ihn im Krankenhaus besucht hatte, war Vlad sich beinahe sicher gewesen, dass er sich bei ihm entschuldigen wollte. Aber das hatte er nicht getan. Stattdessen hatte er Vlad gesagt, dass er die Stadt verlassen würde. Ihre Freundschaft schien tatsächlich am Ende. Aber jetzt, da sie keine Freunde mehr waren, waren sie nicht bloß einfach Feinde. Sie waren natürliche Todfeinde – Vampir und Jäger. Und Vlad war sich immer noch nicht ganz sicher, was er davon halten sollte.

Die Sache mit dem Pflock war natürlich entsetzlich gewesen und sich davon zu erholen auch nicht gerade ein Kindergeburtstag. Aber das Schlimmste an dem Ganzen war, dass er Joss vermisste, ihre Treffen, die Vertrautheit zwischen ihnen, seine manchmal unglaublich verquere Art, die Dinge zu sehen. Vlad hatte überlebt, als Joss ihm dieses Stück Holz in die Brust gerammt hatte … aber ihre Freundschaft nicht. Und darum trauerte er noch immer, untröstlich über den Verlust eines guten Freundes. Von dem offensichtlichen Grund für Joss’ plötzliche Rückkehr ganz zu schweigen.

Er musste es gar nicht von Joss persönlich hören. Die Botschaft auf dem Zettel, den er an Vlads Spind zurückgelassen hatte, bevor er am Ende der neunten Klasse die Stadt verlassen hatte, war nur zu deutlich gewesen: Freundschaft beendet.

Und wenn sie tatsächlich beendet war, dann würde Vlad sich schnellstens einen Plan ausdenken müssen, wie er Joss dem Jäger und nicht Joss dem Freund gegenübertreten sollte.

Er richtete sich auf, die Münze immer noch fest umklammert, und starrte zur Tür, in der Hoffnung, dass Otis bald kommen würde. Viele Minuten später schwang sie endlich auf und sein Onkel kam herein.

Otis sah ihm direkt in die Augen. »Was ist los?«

»Wie ist dein Vorstellungsgespräch gelaufen?«

Otis runzelte die Stirn, sein Blick war fragend. »Gut. Ich darf an der Highschool Mythologie unterrichten, in Vollzeit.« Zögernd leckte er sich über die Lippen. »Ist alles in Ordnung?«

»Glückwunsch zum neuen alten Job. ’ne Menge Schüler haben dich nach der achten Klasse ganz schön vermisst – die werden alle froh sein, dich wiederzusehen. Und ich natürlich auch.« Vlads Blick fiel auf die Vampirjägermünze und er stieß einen angespannten Seufzer aus. »Ich hab ein Problem, Otis. Joss kommt zurück nach Bathory.«

Otis schloss eine Sekunde lang die Augen und atmete dann tief durch. Er schien sich sichtlich zu entspannen. Dann setzte er sich Vlad gegenüber, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. »Puh, einen Moment lang habe ich mir wirklich Sorgen gemacht.«

Vlads Augenbrauen rutschten verwirrt eine Etage höher. Anscheinend war Otis nicht ganz bei sich. »Und jetzt machst du dir keine mehr?«

Otis schüttelte den Kopf. Der amüsierte Ausdruck auf seinem Gesicht ärgerte Vlad, auch wenn er nicht so ganz verstand, warum. »Vladimir, es gibt wesentlich Schlimmeres als einen Jäger, der hinter deinem Blut her ist. Wenn er dir nur einmal zu nahe kommt, dich nur einmal bedroht, können wir uns seiner ganz leicht entledigen. Schließlich sind wir zwei, bald sogar drei Vampire hier in Bathory.«

»Entledigen?« Vlad blinzelte und sah kurz auf die Münze hinunter, die zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Ich will ihn aber nicht umbringen.«

Das schien Otis zu erstaunen. Er schwieg, offenbar dachte er nach. Schließlich nickte er und sagte: »Gut, wenn dir das angenehmer ist, kann ich das auch gern –«

»Du verstehst mich nicht!« Vlad schob streitlustig den Unterkiefer vor. »Ich will überhaupt nicht, dass Joss was passiert. Ich will nicht, dass du ihm wehtust oder ihn auch nur anrührst. Er ist … mein Freund.«

Otis sagte eine ganze Weile nichts. Vlad auch nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt zu rekonstruieren, wie ihr Gespräch so schnell von seiner Bitte um Rat zu dem Thema, ob sein Freund getötet werden sollte, übergegangen war.

Nach einer Weile beugte Otis sich vor. Anspannung und Verwirrung lagen in seinem Blick. »Wir reden hier von dem Jungen, der dir von hinten einen Pflock durch die Brust gejagt hat, auf die feigste Art und Weise, die es nur gibt, ja? Und du willst jetzt was genau? Ihm die Möglichkeit bieten, es zu Ende zu bringen?«

»Nein.«

»Gut, dann müssen wir die Angelegenheit in die Hand nehmen.«

»Aber er ist mein Freund, oder zumindest war er das mal. Ich glaube nicht, dass er so was noch mal versucht.«

Es überraschte Vlad, wie leicht ihm die Lüge von den Lippen ging. – Andererseits hatte er in letzter Zeit wirklich genug Übung darin bekommen. Hastig schob er den Gedanken an Snow von sich und sah Otis wieder in die Augen.

Otis zog die Stirn kraus. »Na schön. Wenn Joss sich von dir fernhält, lasse ich ihn in Frieden. Aber wehe ihm, wenn er dir auch nur einmal droht oder dir etwas antut.«

Vlad schüttelte den Kopf. »Dann kümmere ich mich selbst um ihn. Ich will nicht, dass ihm was passiert.«

Otis’ Mundwinkel zuckte leicht. »Das hast du mehr als deutlich gemacht. Was willst du denn dann?«

Die Sache war die: Vlad hatte eigentlich selbst keine Ahnung, was er wollte. Das Einzige, was ihm einfiel, war, dass sich die Zeit am besten zurückdrehen und Joss gar nicht erst Vampirjäger werden sollte. Aber das lag ja leider nicht gerade im Bereich des Möglichen.

Vlad seufzte. »Deinen Rat. Ich will wissen, wie ich mir einen Vampirjäger vom Leib halten kann, ohne ihn gleich zu töten.«

Kopfschüttelnd lehnte Otis sich zurück. »Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob das überhaupt schon mal jemand versucht hat. Meiner Erfahrung nach ist das nicht möglich. Sobald ein Jäger sein Ziel kennt, kann ihn nichts mehr aufhalten, bis seine Mission erledigt ist. Darum ist es immer leichter gewesen, ihn direkt von der Bildfläche verschwinden zu lassen.« Seine Stimme nahm einen verächtlichen Tonfall an und wurde lauter. »So nennen sie es – Mission. Hat dein Freund das vielleicht erwähnt? Ich nehme an, es erleichtert das Leben ungemein, wenn man sich einreden kann, man sei auf einer Mission und nicht etwa ein Mörder.«

Wütend und verbittert warf er die Arme in die Luft, so als wäre Vlad da nicht ganz seiner Meinung. »Genau wie es bestimmt auch leichter ist, Vampire als Kreaturen und Monster zu bezeichnen, anstatt sich vor Augen zu führen, dass man anständige Leute tötet, die nun mal zufällig Reißzähne haben!«

Vlad sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und wurde auf seinem Stuhl immer kleiner. »Warum hörst du dich auf einmal so wütend an?«

Otis stand abrupt auf und hieb mit den flachen Händen auf den Tisch. Seine Augen blitzten. »Weil ich wütend bin! Wie kannst du ihn verteidigen, Vladimir? Wie kannst du sein Leben verschonen, wo er dir deins doch beinahe genommen hätte? Er ist nichts als ein Vampirjäger, ein gefährlicher Narr mit einem Pflock. Sie sind diejenigen, die uns den Krieg erklärt haben, und wir haben alles Recht dazu, uns zu verteidigen, wenn wir wissen, dass man uns angreifen will. Mehr ist Joss nicht, Vlad, nur ein weiteres Opfer in diesem Krieg. Er weiß es bloß noch nicht.«

Otis setzte sich wieder, aber in seinen Augen brodelte noch immer die Wut. »Wenn du mich fragst, wäre die Welt besser dran, wenn er und seinesgleichen sich nicht mehr herumtreiben und ungestraft morden könnten.«

Wortlos schüttelte Vlad den Kopf. Als er schließlich etwas sagte, war es kaum mehr als ein Flüstern. »Hörst du dir eigentlich selbst zu? Du steckst sie einfach alle in eine Schublade und planst ihre Vernichtung. Du klingst genau wie sie. Vielleicht unterscheidest du dich gar nicht so sehr von ihnen, wie du denkst.«

Otis presste die Kiefer aufeinander und richtete drohend den Zeigefinger auf Vlad. Dann sprang er vom Tisch auf und schob seinen Stuhl quietschend nach hinten. Vlad wusste, dass er zu weit gegangen war, aber es war ihm egal. Er machte sich auf die Worte gefasst, die gleich aus dem Mund seines Onkels kommen würden. Worte voller Hass. Voller Gift und Selbstgerechtigkeit.

Aber die Worte kamen nicht. Otis wandte sich ab und verließ die Küche. Als die Haustür hinter ihm zuknallte, zuckte Vlad zusammen, aber nur leicht.

Die Münze lag auf dem Tisch, wo er sie liegen gelassen hatte. Er griff danach, ließ sie ein letztes Mal kreiseln und fragte sich, ob Joss sie mittlerweile vermisste, ob er eine Ahnung hatte, wo sie jetzt war. Sie musste ihm gehört haben. Es gab keine anderen Vampirjäger in Bathory. Es musste Joss’ Münze sein. Vielleicht hatte Vlad sie deswegen behalten. Vielleicht konnte er seinen Blick deswegen so schwer von ihr lösen.

UNGESAGTE WAHRHEITEN

»Das kann doch nicht gesund sein.«

Von seinem Platz am Küchentisch sah Vlad blinzelnd zu Nelly auf. Er hatte nicht so genau zugehört, aber er nahm an, dass sie die undefinierbare Masse in dem Topf auf dem Herd meinte, in der sie herumrührte. Stirnrunzelnd legte Nelly den Holzlöffel auf die Arbeitsplatte. Gelblicher Schleim triefte davon herunter. »Du sitzt jetzt schon seit dem Sommerfest mit Leichenbittermiene zu Hause rum. Es ist wirklich nicht gut, wenn du immer nur drinnen sitzt und Trübsal bläst.«

Vlad senkte den Blick auf die Tischplatte. Es war sinnlos, ihr zu erklären, wie er sich fühlte. Er hatte das Gefühl, als wäre jeder Tag schlimmer als der vorangegangene. Zuerst die Sache mit Meredith, dann die Nachricht, dass Joss zurück in die Stadt zog – höchstwahrscheinlich, um zu vollenden, was er vor über einem Jahr angefangen hatte. Und zu allem Überfluss hatten Otis und er nun schon seit fast einer Woche nicht mehr miteinander geredet. Nicht, seit Vlad seinen Onkel um Rat gebeten und ihn dann mit denen verglichen hatte, die Otis als seine Feinde betrachtete.

Nelly seufzte, dann zog sie zwei Zwanzigdollarscheine aus ihrem Portemonnaie und ließ sie vor ihm auf den Tisch fallen. »Warum rufst du nicht Henry an und ihr geht ins Kino oder so? Noch einmal auf die Pauke hauen, bevor morgen die Schule wieder anfängt.«

Morgen. Vlad hatte fast vergessen, dass in weniger als sechzehn Stunden sein elftes Schuljahr losgehen würde. Meredith würde auch da sein. Er hatte sie den ganzen Sommer nicht gesehen. Und Joss würde wahrscheinlich auch kommen. Als wäre es nicht schon schlimm genug, nur einem von ihnen zu begegnen.

Er beschloss, dass Nelly vielleicht recht hatte und er etwas mit Henry unternehmen sollte. Nach dem Abendessen würde er seinen Lakaien anrufen. Außerdem konnte es ja nicht schaden, einmal nachzuhorchen, ob Henrys Cousin schon angekommen war oder ob er es sich nicht vielleicht doch anders überlegt hatte und stattdessen nach Alaska gezogen war. Natürlich hätte Vlad auch einfach einen kleinen Spaziergang machen und selbst nachsehen können, aber diese Idee hatte zwei Haken: Erstens konnte er auf keinen Fall das Risiko eingehen, Meredith zu begegnen, und zweitens war ihm doch ein bisschen mulmig bei dem Gedanken, allein draußen herumzulaufen, wenn dort vielleicht ein rachsüchtiger Vampirjäger auf ihn lauerte. Er schloss die Faust um die Geldscheine und erwiderte Nellys besorgten Blick. »Nelly, glaubst du, es war richtig, mit Meredith Schluss zu machen?«

Nelly wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und seufzte. »Ich glaube, diese Frage kannst nur du beantworten, Vladimir. Glaubst du denn, dass es richtig war?«

Vlad dachte an das Sommerfest. Im Geiste sah er wieder Merediths Gesicht vor sich, zuerst schockiert, dann tieftraurig. Er hatte sie mit seinen Worten verletzt und dann hatte er sie auch noch weggestoßen. Sie war hingefallen und hatte angefangen zu weinen, und er hatte nichts tun können, als wegzugehen. Er leckte sich über die Lippen und sah Nelly an. »Es war der einzige Weg, sie zu schützen.«

Nelly seufzte und drückte seine Schulter. »Steht im Tagebuch deines Vaters nichts darüber, wie er es geschafft hat, deine Mutter nicht auszusaugen?«

Vlad schüttelte den Kopf. Tomas hatte seinem Sohn immer erzählt, dass er sich nur von Blutkonserven ernährte, aber in letzter Zeit fiel es Vlad immer schwerer, das zu glauben. Seine persönliche Erfahrung in Form monatlicher Trink-Treffen mit Snow hatte ihn eins gelehrt: Wenn ein Vampir erst einmal von der Quelle getrunken hatte, war im Vergleich dazu der Geschmack von Blutkonserven ungefähr so, als würde man eine brandneue Harley Davidson gegen ein altes Mofa eintauschen. Blieb nur die Frage, woher Tomas sein Blut bekommen hatte? Allein bei der Vorstellung, dass er von Mellina, Vlads Mom, getrunken hatte, wurde Vlad schlecht. Und seinem Dad musste es doch genauso gegangen sein, also musste er jemand anderen gehabt haben. Aber wen? Vlads Blick huschte zu Nelly. Nein. Das hätte Nelly ihm gesagt.

Sie tätschelte seine Hand. »Na ja, ich bin mir sicher, das kommt alles wieder in Ordnung. Du brauchst nur ein bisschen Zeit, um über die Trennung hinwegzukommen.«

Er stöhnte auf. »Klar, und andere Mütter haben auch schöne Töchter, stimmt’s?«

Nelly schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. »Glaub es oder lass es bleiben, aber Liebeskummer vergeht.«

Vielleicht. Aber solange er da war, nervte er tierisch.

Vlads Gedanken wanderten zu Otis. Er war in letzter Zeit ziemlich hager geworden, also bestand für Vlad kein Zweifel daran, dass er sich an ihre Abmachung hielt: Otis würde nicht von Menschen trinken, solange er in Bathory wohnte. Aber wie schaffte er das? Wie konnte er sich an Nellys Hals schmiegen, ohne zuzubeißen? Er musste wirklich einen eisernen Willen haben. Vlad fühlte sich – völlig zu Recht – wie ein Heuchler, weil er Otis ein Versprechen abgenommen hatte, das er selbst nicht halten konnte.

Nelly fragte: »Warum rufst du Henry nicht an? Melissa kann ihn sicher mal einen Abend lang entbehren, während ihr zwei euch amüsieren geht.«

Vlad öffnete den Mund, um zu antworten, dass das eine gute Idee sei – auch wenn er das eigentlich gar nicht fand –, doch in diesem Moment kam Otis zur Haustür herein und Vlad klappte den Mund wieder zu.

Er war nicht wütend auf Otis, das war er nie gewesen. Aber Otis war extrem enttäuscht von ihm, und Vlad wusste auch, warum. Otis verachtete die Vampirjäger. Vlad war sicher, dass er seine Gründe dafür hatte, aber Joss war nun mal nicht wie die anderen. Zumindest hoffte Vlad das. Eigentlich war Joss sogar der einzige Vampirjäger, den er kannte, daher konnte er gar keine Vergleiche anstellen. Er wusste nur, dass er seinen Onkel mit seinen Worten verletzt hatte, und das tat ihm leid. Aber sowohl er als auch Otis wussten, dass Vlad im Recht war, und das machte die Sache erst richtig schlimm.

Mit seinem Onkel in derselben Stadt zu wohnen, hatte sich in vielerlei Hinsicht als ganz neue Erfahrung entpuppt. Am Anfang waren sie unzertrennlich gewesen. Otis hatte ihm Geschichten von sich und Tomas und ihren gemeinsamen Abenteuern erzählt. Doch seitdem die Renovierungsarbeiten an Vlads altem Haus beendet waren und Otis bei Nelly aus- und dort eingezogen war, sah alles ein wenig anders aus. Warum, wusste Vlad nicht. Plötzlich stritten sie sich über die unwichtigsten Kleinigkeiten und Otis schien sich über irgendetwas Sorgen zu machen, aber er sprach nicht darüber.

Otis gab Nelly einen flüchtigen Kuss auf die Wange und flüsterte ihr eine Begrüßung ins Ohr. Nelly errötete lächelnd und widmete sich dann wieder dem Kochen.

Vlad stand da, das Geld in einer Hand, Joss’ Münze in der anderen, und verließ schließlich den Raum. Er hatte gerade den Fuß auf die unterste Treppenstufe gesetzt, die hoch in sein Zimmer führte, als er Otis sagen hörte: »Das Schweigen zwischen uns ist unerträglich, Vladimir. Diese Stille in meinem Kopf … die ist geradezu ohrenbetäubend.«

Vlad blieb stehen und sah seinen Onkel über die Schulter an. »Ich bin nicht derjenige, der damit angefangen hat.«

Otis’ Augen schimmerten gekränkt. »Da hast du recht. Können wir uns unterhalten?«

Vlad zuckte gleichgültig mit den Schultern, aber in seinem Inneren hatten seine Muskeln schon begonnen, sich vor Erleichterung zu lockern. »Klar.«

Dann erklang Otis’ Stimme in seinem Kopf, warm und herzlich – Vlad hatte sie mehr vermisst, als er sich eingestehen wollte. »Nicht hier. Ich dachte eher an dein Haus. Du bist nicht mehr dort gewesen, seit die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind. Es gibt einiges, was ich dir zeigen und mit dir besprechen möchte.«

Am liebsten hätte Vlad sofort Ja gesagt – schließlich hatte er Otis furchtbar vermisst und sehnte sich mehr als alles andere danach, mit ihm zusammenzusitzen und zu reden. Aber ihr letztes Gespräch spukte ihm noch immer durch den Kopf. »Zuerst musst du mir versprechen, dass du Joss in Ruhe lässt. Dass du ihm nichts tust, egal, was passiert.«

Otis’ Kiefer spannte sich an. »Du weißt, dass ich dir das nicht versprechen kann.«

Er sah Vlad in die Augen und bat nun laut: »Bitte, Vladimir. Nur eine kurze Unterhaltung von Onkel zu Neffe. Lass mich sagen, was ich zu sagen habe, und dann kannst du von mir aus wieder vor dich hin brüten.«

Vlad zuckte zusammen. Vielleicht hatte er es in letzter Zeit wirklich ein bisschen übertrieben mit seinem Trauerkloßdasein. »Okay. Aber nicht zu lange. Henry und ich wollen ins Kino.«

Nicht, dass Henry auch nur ahnte, dass sie sich treffen würden. Aber er hatte Vlad stets rückhaltlos unterstützt, seit er zu dem Schluss gekommen war, dass es eigentlich ziemlich cool war, Vlads menschlicher Sklave zu sein. Allerdings hatte er keinen Schimmer davon, dass Vlad mit Snow einen weiteren Lakaien hatte – Vlad hatte ihm erzählt, dass er das Goth-Mädchen wieder freigelassen hatte. Das war eine Lüge, aber eine durchaus notwendige. Vlad wollte nicht, dass irgendjemand erfuhr, dass er direkt aus den Adern eines Menschen regelmäßig Blut saugte.

Das Problem war nur … manchmal hatte er den Verdacht, dass Snow gern mehr wäre als nur sein Lakai.

Vlad schüttelte den Kopf. Das Letzte, was er jetzt tun sollte, war, über Snow nachzugrübeln, während Otis sich noch in seinem Kopf herumtrieb. Er schirmte sich nicht vor Otis ab, lenkte seine Gedanken aber schnell in eine andere Richtung, indem er stattdessen an Joss und den bedrohlich näher rückenden ersten Schultag dachte.

Der Spaziergang zu seinem alten Zuhause war lang und ruhig. Hin und wieder warf Otis ihm einen Blick von der Seite zu, aber keiner von ihnen sagte etwas. Als sie in die Lugosi Lane einbogen, musste Vlad lächeln. Sein Haus hatte einen frischen Anstrich bekommen und es waren neue Fenster eingesetzt worden. Sogar die Sträucher entlang der Veranda wirkten grüner, als wären sie glücklich, dass wieder jemand dieses Haus sein Zuhause nannte. Vlad hatte nie gefragt, woher Otis das Geld für die Renovierung genommen hatte. Das spielte keine Rolle. Was zählte, war, dass dem Haus neues Leben eingehaucht worden war.

So fiel es ihm gleich viel leichter, das Haus anzusehen und die Erinnerungen an sein Leben dort wachzurufen. Sein Leben vor dem Feuer, vor dem Tod seiner Eltern – bevor alles, was er gekannt hatte, sich in Rauch und Asche aufgelöst hatte.

Freundlich schaltete sich Otis’ Stimme in seinen Kopf ein. »Es tut gut, dich lächeln zu sehen. Das hast du schon eine ganze Weile nicht mehr getan.«

Nachdenklich ging Vlad etwas langsamer, dann antwortete er Otis im Geiste. »Ich hatte auch nicht viel Grund dazu.«

Otis klang hoffnungsvoll. »Und jetzt?«

Sie überquerten die Straße und Vlad räusperte sich. »Das Haus sieht gut aus. Mum hätte die neue Farbe gefallen.«

Otis sah an der Fassade hoch. Das Holz leuchtete nun in einem hellen Gelb – ein wesentlich wärmerer Ton als das frühere Grau. »Nelly hat mir beim Aussuchen geholfen. Sie hat gesagt, das war Mellinas Lieblingsfarbe.«

Ein Bild flackerte in Vlads Kopf auf, eine unerwartete, jahrealte Erinnerung: seine Mum in einem geblümten Rock, einen hellgelben Pullover um die Schultern gebunden. Sie lachte und rannte durch den Garten, weg von Tomas und Vlad. Wollten sie sie fangen? Vlad konnte sich nicht mehr richtig erinnern. Und genauso plötzlich, wie es gekommen war, verschwand das Bild wieder.

Lächelnd über die Erinnerung schüttelte er den Kopf und betrat dann hinter Otis die Veranda. Otis drehte den Knauf und öffnete die Tür, dann nickte er Vlad zu, er solle eintreten. Mit einem flauen Gefühl im Magen trat Vlad ins Haus.

Unbewusst hatte er immer noch damit gerechnet, dass ihm der beißende, unheilvolle Geruch von Rauch in die Nase steigen würde, aber er hatte sich geirrt. Es roch eher so, als hätte Otis Plätzchen gebacken. Ein Blick in das neue Wohnzimmer offenbarte die Quelle des Dufts – parfümierte Kerzen, die auf einem neuen Couchtisch aus Mahagoni standen. Die Wände waren in Goldtönen gehalten, warm und gemütlich. Vlad ging staunend von Raum zu Raum – das war sein Haus, das Haus, in dem er geboren war, das Haus, in dem er so lange gewohnt hatte. Es sah so anders aus. Unglaublich anders. Die Möbel, die Schränke, die Farbe an den Wänden, alles war fremd. Das ganze Haus wirkte, als wäre es vollkommen neu. Vlad war nicht sicher, was er davon halten sollte.

Einerseits hatte er Otis versichert, dass eine Veränderung definitiv notwendig war, hatte gehofft, dass das neue Aussehen den Schmerz lindern würde, wenn er sein einst glückliches Zuhause besuchte. Andererseits jedoch hatte er das Gefühl, als wäre seine Privatsphäre verletzt worden – als hätte Otis, indem er das Haus renovierte, versucht, die Erinnerung an seine Eltern auszulöschen. Ein dummer Gedanke, aber er war da. Er sah seinen Onkel an, der ihn aufmerksam beobachtete. »Ist … ist denn alles anders?«

Otis betrachtete ihn, als versuche er, seine Reaktion einzuschätzen. Schließlich schien er einzusehen, dass Vlad die Situation ehrlich zu schaffen machte. Er holte tief Luft und sagte: »Nicht alles. Komm mit nach oben.«

Otis führte ihn durch die Küche zu dem kleinen Türmchen am Ende des Ganges und dann die Treppe nach oben. Vlad folgte ihm und ließ währenddessen seine Blicke über jeden Zentimeter seines rundum erneuerten Hauses wandern. Die Holzböden waren geschliffen und gebeizt worden und die auffällige Abwesenheit des Rauchgeruchs zog sich durch das ganze Haus. Es war, als fehlte irgendetwas – ein negativer Aspekt, der jahrelang da gewesen und nun plötzlich verschwunden war. Vlad vermisste den Geruch nicht, aber genau das machte ihm ein schlechtes Gewissen, als würde er, indem er ihn nicht einatmete, ihr Andenken nicht ehren. Als würde er seinen Eltern Unrecht tun, weil nichts länger an jenen schrecklichen Tag erinnerte. An den Tag, an dem er seine Eltern für immer verloren hatte.

Auf der Hälfte der Treppe blieb Otis stehen und drehte sich zu seinem Neffen um. Sein Blick offenbarte, dass ihm Vlads Anspannung nicht entgangen war, er jedoch nicht einschätzen konnte, woher sie rührte. Zumindest nicht, ohne Vlads Gedanken zu lesen – und Otis hatte ihm versprochen, das nur zu tun, wenn Vlad ihm die Erlaubnis dazu erteilte. Er machte Anstalten, etwas zu sagen, vielleicht um Vlad zu trösten. Dann aber wandte er den Kopf ruckartig ab und ging weiter die Wendeltreppe zum zweiten Turmgeschoss hoch, bis er vor der Tür zu Tomas’ Arbeitszimmer ankam.

Vlad blieb auf dem Absatz stehen. Einen Moment lang wünschte er sich, Otis würde seine Gedanken lesen, damit er nicht laut aussprechen musste, was ihm durch den Kopf ging. Nachdem er einen verzagten Blick mit seinem Onkel gewechselt hatte, ging er weiter, ängstlich, was ihn nun hinter der Tür zum Allerheiligsten seines Vaters erwartete.

»Dieses Zimmer zu renovieren, war am schwierigsten.« Otis wartete und deutete mit dem Kinn auf den Türknauf.

Mit einem tiefen, zittrigen und schmerzhaften Atemzug streckte Vlad die Hand aus, drehte den Knauf und öffnete die Tür.

Die Wände des Zimmers sahen genauso aus wie früher, sogar die Stelle, wo Tomas’ Stuhl die Farbe abgerieben hatte, war noch zu sehen. Der Schreibtisch seines Dads stand da wie zuvor, nur der Stuhl war neu. Alles wirkte genauso wie vor dem Feuer. Nur sauberer.

Mit fragendem Blick wandte er sich zu seinem Onkel um.

Otis lächelte, seine Augen glänzten. »Um genau zu sein, war es so schwierig, dass ich alles so gelassen habe, wie es war. Nur einmal ordentlich durchgeputzt habe ich natürlich.«

Vlad fuhr mit den Fingerspitzen über den Schreibtisch seines Vaters, sah sich um, sog alles in sich auf. Schließlich sagte er: »Danke, Otis. Das bedeutet mir wirklich viel.«

»Es gibt noch ein Zimmer, das ich unberührt gelassen habe.« Otis’ Blick wanderte die Wendeltreppe hinunter. Unter dem Arbeitszimmer lag das Schlafzimmer von Tomas und Mellina und nahm die mittlere Etage des kleinen Türmchens ein. Er zog einen silbernen Schlüssel aus der Tasche und legte ihn in Vlads Hand. »Das Zimmer ist noch genau wie an jenem Tag. Ich habe es lediglich versiegeln lassen, damit der Rauchgeruch sich nicht im Rest des Hauses verbreitet.«

Vlad drehte den Schlüssel in seiner Hand hin und her. Als er es schließlich schaffte, etwas zu sagen, wirkte seine Stimme rau und seine Brust war von Dankbarkeit erfüllt. »Warum?«

Otis’ Stimme klang warm und freundlich. »Weil es nicht an mir ist zu entscheiden, wann du bereit bist, diesen Augenblick hinter dir zu lassen, Vladimir.«

Vlad entging nicht, dass Otis das Wort »wann«, und nicht »ob«, benutzt hatte. Wann es Zeit war. Als bestünde kein Zweifel daran, dass dieser Moment kommen würde.

Und er hatte recht. Früher oder später würde Vlad seine Schuldgefühle loslassen und sich von der grausamen Erinnerung an jenen Tag verabschieden müssen.

Aber nicht heute.

Vlad nickte und ließ den Schlüssel in seine Hosentasche gleiten. »Das Haus sieht großartig aus. Das hast du toll hinbekommen.«

Otis sah ihn besorgt an. »Ich merke deutlich, dass du traurig bist, Vlad. Ich würde alles tun, um deinen Schmerz zu lindern …«

»Die Böden sehen jetzt wieder viel schöner aus. Dad hat das Mahagoni immer geliebt …« Vlad versuchte, die Worte seines Onkels zu übergehen, aber es gelang ihm nicht.

»Rede mit mir. Erzähl mir, was dir solchen Kummer bereitet. Ist es Joss? Oder Meredith? Du bist so verschlossen, seit ich nach Bathory gezogen bin. Liegt es an mir?«

Vlad schluckte krampfhaft. »Nein …«

Das war nicht gelogen. Zumindest nicht ganz. Die Wahrheit lautete, dass es eine Kombination all dieser Dinge war und noch mehr. Viel mehr, als er Otis je erzählen könnte.

Bilder von Snow, von ihren monatlichen Treffen hinter dem Crypt, huschten durch seine Vorstellung. Vlad hatte den wahren Charakter dieser Treffen geheim gehalten, so geheim, dass Henry überzeugt davon war, dass Vlad in Snow verknallt war und nur deswegen so oft in den Goth-Klub wollte. Falscher hätte er gar nicht liegen können. Im Crypt abzuhängen war erstens total cool und zweitens waren die einzigen Gefühle, die Vlad für Snow hegte, in etwa von der Art, wie ein Mensch sie für einen Big Mac empfand.

Einen sehr liebenswerten, unglaublich verständnisvollen und hübschen Big Mac. Einen Big Mac, der verstand, was man sagen wollte, bevor man es auch nur aussprach. Einen Big Mac, der einem so zuhörte, wie Meredith es niemals gekonnt hatte.

Otis runzelte die Stirn. »Ich werde dem Vampirjäger kein Haar krümmen, solange er keine Bedrohung darstellt. Auch wenn ich deine Beweggründe immer noch nicht verstehe, werde ich sie respektieren, Vladimir. Wenn dies der Weg ist, das zu reparieren, was zwischen uns im Argen liegt, dann soll es so sein.«

Vlad schüttelte den Kopf. »Das ist nett von dir. Aber es liegt nicht an dir, Otis. Ich hab nur ’ne Menge unerwarteten Stress, mit dem ich erst mal klarkommen muss.«

»Das überrascht mich nicht. Du hast in letzter Zeit auch nicht ordentlich gegessen.« Otis’ Tonfall wurde sanfter, genau wie der Ausdruck in seinen Augen. »Nelly sagt, du schaffst nur noch vier bis fünf Blutbeutel am Tag – viel weniger als sonst.«

Vlads ganzer Körper versteifte sich. »Tja, hmm … Ich hab im Moment irgendwie nicht so viel Hunger.«

»Sie hat auch erzählt, dass du einige neue Freunde hast …«

»Na und?«, fauchte Vlad gegen seinen Willen. Er versuchte, Ruhe zu bewahren. Otis wusste es! Er wusste von Snow. Er wusste, dass Vlad von einem Menschen trank. Aber woher? Vlad hatte sich solche Mühe gegeben, ihre Treffen geheim zu halten. Selbst Henry ahnte nichts. Und Otis würde sein Vertrauen nicht missbrauchen, indem er unerlaubt seine Gedanken las.

Otis’ Stimme war ruhig und klang beinahe flehend. »Du sollst nur wissen, dass du jederzeit mit mir reden kannst, Vladimir, über alles. Ich würde nie schlecht von dir denken.«

Vlads Herz raste genauso schnell wie seine Gedanken. Otis konnte es nicht wissen. Das war unmöglich. Vlad hatte sein Geheimnis zu sorgsam bewahrt, als dass sein Onkel es hätte herausfinden können. Oder doch nicht? »Tja, dazu gibt es ja auch keinen Grund. Ich hab nichts Schlimmes gemacht.«

Otis verstummte. Nach ein paar Sekunden legte er Vlad die Hand auf die Schulter. »Das weiß ich, Vlad.«

Er wandte sich ab und ging die Treppe hinunter. Auf halber Strecke blieb er kurz stehen. Ohne sich umzusehen, sagte er: »Glaub mir, ich weiß es.«

Die Worte seines Onkels ließen Vlad erstarren. Niemals waren wahrere Worte gesprochen worden – Otis wusste es. Auf irgendeine Art wusste er alles über Vlads nächtliche Ausflüge ins Crypt. Er wusste von Snow. Er wusste, dass Vlad, der stark genug war, sich gegen D’Ablo zur Wehr zu setzen und auf Leben und Tod gegen einen Vampirjäger zu kämpfen, nicht die Kraft hatte, zuzugeben, wenn er im Unrecht war.

Lange stand er da und lauschte auf das Pochen seines Herzens. Nach einer Weile ging er langsam die Treppe hinunter und in die Küche. Otis saß auf einem Hocker an der riesigen Kücheninsel, einen Kaffeebecher voll Blut in der Hand. Er bot Vlad nichts an, so als wüsste er, dass Vlads Hunger erst vor Kurzem gestillt worden war.

Und das war er auch. Gerade vor einer Woche.

Vlad presste die Kiefer aufeinander. Dann kam ihm die nächste Lüge über die Lippen. »Ich bin gleich mit Henry verabredet.«

Bevor Vlad aus der Tür eilen und sie hinter sich zuschlagen konnte, rief Otis ihm hinterher: »Wir sehen uns heute Abend beim Essen.«

Na toll. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

ERNSTE GESPRÄCHE

»Nelly, dieses Steak ist ein Gedicht.«

Nelly lächelte Otis dankbar über den Tisch zu. Vlad stocherte mit der Gabel in seinem eigenen Steak herum. Es war wirklich gut. Schön roh und gerade warm genug, dass das Blut herauslief und sich auf dem Teller sammelte.

Aber es war kein Menschenblut – eine Tatsache, die es Vlad zusehends erschwerte weiterzuessen.

Otis warf ihm einen kurzen Blick zu und verwickelte Nelly dann in irgendein uninteressantes Gespräch, von dem Vlad kein Wort mitbekam. Nachdem sie einige Minuten lang geplaudert hatten, räusperte sich Nelly, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. »Du bist so abwesend heute Abend, Vladimir. Ist irgendetwas los, von dem ich wissen sollte?«

Jede Menge, dachte Vlad.

Otis zog eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts. Vlad sah ihn an. »Na, lungerst du wieder in meinem Kopf rum, Onkel Otis?«

Dann wandte er sich äußerlich wieder seiner Tante zu. Gekonnt wechselte er zwischen den beiden Gesprächen – verbal und telepathisch – hin und her. »Nichts ist los. Ich hab bloß keinen Hunger.«

Otis schob sich noch einen Bissen Steak in den Mund und kaute nachdenklich. »Herumlungern, ja, aber nicht herumschnüffeln. Jede Menge was, übrigens?«

»Wann holt Henry dich denn ab?«

»So um sechs. Der Film fängt erst um acht an, also laufen wir wahrscheinlich zuerst noch ein bisschen durchs Einkaufszentrum. Kann aber sein, dass ich ziemlich spät wiederkomme. Ich hab Snow versprochen, dass ich noch kurz im Crypt vorbeischaue und ihr meine Ausgabe von Dracula ausleihe.« Gleichzeitig antwortete er im Geiste Otis: »Nichts. Hab ich doch heute Nachmittag schon gesagt.«

»Dann sei aber bitte spätestens um elf zu Hause. Es gefällt mir gar nicht, wenn du dich so spät noch in Stokerton herumtreibst. Großstädte können nachts ziemlich gefährlich sein.«

Otis runzelte leicht die Stirn. »Nichts, aha … Das soll wohl so viel heißen wie ›nichts, das mich etwas anginge‹, stimmt’s?«

»Gut erkannt, Otis.« Vlad schüttelte den Kopf. »Du machst dir zu viele Sorgen, Nelly.«

Nelly stand auf und räumte die Teller weg. Als Otis ihr helfen wollte, winkte sie nur ab und verschwand in der Küche. Sobald sie weg war, blickte Otis Vlad wieder eindringlich in die Augen. »Ich muss dich etwas fragen. Als du vorhin so abrupt verschwunden bist, hatte ich keine Gelegenheit mehr.«

Vlad schüttelte energisch den Kopf. »Nicht. Bitte.«

Otis zog die Stirn kraus. »Ich muss zugeben, dass mich deine Reaktion ein bisschen befremdet, Vladimir. Aber dennoch …«

Vlad sah seinem Onkel direkt in die Augen, als wollte er ihn geradezu dazu herausfordern, ihn wieder über seine Essgewohnheiten auszufragen. Er würde es einfach nicht zugeben. Er konnte es nicht zugeben, nicht nach all den Predigten, die er Otis darüber gehalten hatte, dass Menschen kein Essen waren. »Ich weiß, was du mich fragen willst, und die Antwort lautet Nein.«

Bestürzt lehnte sich Otis in seinem Stuhl zurück. Er sah aus, als wäre ihm soeben das Herz herausgerissen worden. Seine Worte waren nur noch ein schockiertes Flüstern in Vlads Kopf. »Einfach so? Nein? Willst du nicht wenigstens noch einmal darüber nachdenken?«

»Was gibt es denn da nachzudenken? Anscheinend weißt du doch schon genau, wie es mir damit geht, und du hast kein Recht zu verlangen, dass ich meine Meinung ändere, und das weißt du auch.«

»Es tut mir aufrichtig leid. Ich dachte, du würdest dich freuen. Ich hatte so gehofft, du würdest mir deinen Segen geben.«

Jetzt war Vlad derjenige, der verblüfft dreinsah. »Moment mal … meinen Segen? Wofür denn genau?«

»Vlad, es ist überaus wahrscheinlich, dass ich diese Gerichtsverhandlung nicht lebend überstehen werde. Aber für den Fall, dass ich es doch schaffe, sollst du wissen, dass ich um Nellys Hand anhalten möchte, und dazu hätte ich gerne deinen Segen gehabt. Es ist kein Geheimnis, dass ich eine sehr hohe Meinung von Nelly habe. Ich … ich liebe sie, Vladimir. Ich will sie zu meiner Frau machen. Es war falsch von mir, Tomas so hart zu verurteilen. Jetzt verstehe ich, was er mir zu erklären versucht hat.«

Vlad starrte ihn an, einen Moment lang sprachlos. Otis wollte Nelly heiraten? Er versuchte gar nicht, aus Vlad herauszuquetschen, dass er von Snow trank? Er atmete tief durch und ließ diese neue Wendung erst einmal sacken. Es war nicht so, als hätte Otis ihm damit irgendetwas Neues mitgeteilt, aber die Tatsache, dass sein Onkel es endlich zugegeben hatte, haute Vlad beinahe vom Hocker. Vampire verliebten sich schließlich nicht in Menschen. Und wenn doch, dann erzählten sie es niemandem – und heiraten kam schon mal gar nicht infrage. »Und was ist mit Elysia?«

»Was soll damit sein?«

Nelly kam zurück, um das restliche Geschirr zu holen, und Otis blickte ihr lächelnd nach, als sie wieder zurück in die Küche ging. »In deren Augen bin ich doch sowieso schon ein Krimineller. Und es hat keinen Zweck, weiter dagegen anzukämpfen. Ich liebe sie. Und ich hätte gern die Chance, mit ihr zusammen glücklich zu sein. Aber … ohne deinen Segen heirate ich sie nicht.«

Vlad dachte einen Augenblick nach, bevor er antwortete. An und für sich hatte er nichts dagegen, dass sein Onkel seine Ziehtante heiratete. Aber er musste sie doch beschützen. »Und was ist mit deinem Prozess? Du hast gesagt, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass du zum Tode verurteilt wirst, weil du den Rat von Stokerton hintergangen und mich vor ihnen versteckt gehalten hast – wenn ich mich recht erinnere, waren deine genauen Worte ›Ich weiß von keinem Vampir, der je einen elysianischen Prozess dieser Größenordnung überlebt hätte‹. Du kannst sie doch nicht schon in den Flitterwochen zur Witwe machen, Otis. Das ist ihr gegenüber nicht fair.«

»Deshalb wollte ich auch bis nach dem Prozess warten, bevor ich ihr den Antrag mache. Vielleicht bringt mir das ja Glück.« Er lächelte betrübt, so als gründeten sich all seine Hoffnungen, den Prozess in Elysia zu überleben, auf den Wunsch, Nelly eines Tages zu seiner Frau machen zu können. »Wer weiß, vielleicht kann ich mich mit dieser Aussicht vor Augen besser gegen die Anschuldigungen verteidigen.«

»Das sind aber leider ziemlich viele, Otis. Ich meine, wir haben Glück, dass sie mich nicht auch noch vor Gericht zerren, wie sie angekündigt hatten, aber du …« Vlad sah ihn an. »Ich will nur nicht, dass sie leiden muss, Otis.«

»Ich wünsche mir nichts mehr, als dass sie glücklich ist, Vladimir. Darauf gebe ich dir mein Wort.« Aus Otis’ Augen sprach pure Aufrichtigkeit.

Vlad lächelte. »Dann hast du meinen Segen.«

Er stand vom Tisch auf und sah Otis noch einmal an. »Ach, übrigens. Du siehst furchtbar aus. Vielleicht solltest du noch irgendwo einen Happen essen gehen.«

Zögerlich stahl sich ein winziger Hoffnungsfunke in Otis’ Worte, als wäre er nicht ganz sicher, ob sein Neffe ihn nicht nur auf den Arm nahm. »Du meinst …?«

Vlad zuckte mit den Schultern. »Du weißt, was ich meine. Such dir einen leckeren Landstreicher oder so was und hau rein.«

Otis stieß geräuschvoll die Luft aus, sein ganzer Körper entspannte sich sichtlich. »Danke. Die letzten Monate waren wirklich eine ziemliche Qual.«

»Bloß niemanden aus Bathory, okay?«

»Soll mir recht sein.«

Ein Lächeln umspielte Otis’ Lippen. Vlad ahnte, dass sein Onkel bereits ganze Flüsse von Blut vor sich sah, die ihm die Kehle hinunterströmten. »Unsere Gespräche haben mir wirklich gefehlt. Gibt es … gibt es vielleicht noch etwas, über das du mit mir reden möchtest, bevor du nach Stokerton fährst?«

Vlad versteifte sich und wandte sich ab. »Nein. Zumindest nicht im Moment.«

Er rief Nelly einen Abschiedsgruß zu. Zum Glück bog in dem Moment, als Vlad die Tür hinter sich schloss, Henry in seinem verfrühten Geburtstagsgeschenk in die Einfahrt ein – einem glänzend schwarzen Dodge Charger. Vlad konnte sich schon glücklich schätzen, wenn er eines Tages Otis’ klapprige Rostlaube aus schätzungsweise neunzehnter Hand erbte. Tja, ein McMillan müsste man sein.

Mit ein paar schnellen Schritten war Vlad beim Wagen. Er zog die Tür auf und ließ sich seufzend in den weichen Ledersitz sinken. »Du hast ja keine Ahnung, wie perfekt dein Timing ist.«