Vladimir Tod hängt todsicher ab (Band 3) - Heather Brewer - E-Book

Vladimir Tod hängt todsicher ab (Band 3) E-Book

Heather Brewer

0,0

Beschreibung

Er ist verliebt und schwebt auf blutroten Wolken. Seine größte Sorge ist, dass sein bester Freund ihm die Lakaienschaft kündigt! Und die Ausgeburt des Bösen hat es auf seine Lebensessenz abgesehen ... Klingt schräg? Willkommen im Leben von Vladimir Tod, Halbvampir! "Vladimir Tod hängt todsicher ab" ist der dritte Band der Vladimir Tod-Pentalogie. Die beiden Vorgängertitel lauten "Vladimir Tod hat Blut geleckt" und "Vladimir Tod beisst sich durch".

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 347

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Dich, weil Du bist,wie Du bist!

INHALT

Auftritt Ignatius

Am Ende des Sommers

Rückkehr zur Bathory High

Ein langer Abschied

Unerwarteter Besuch

Blutgier

Halloween

Eine wichtige Lektion

Das perfekte Geschenk

Um Haaresbreite

Knutscherei mit Folgen

Ein treuer Lakai

Tücken der Freundschaft

Fremdes Terrain

Vor der Jagd

Eine schlaflose Nacht

Strenge Etikette

The Crypt

Wahre Freunde

Hausarrest

Doch die Post?

Die blutige Wahrheit

Das Ritual

Schwere Entscheidung

Danach

Erlösung

Das Sommerfest

Späte Entschuldigung

AUFTRITT IGNATIUS

Ignatius zog die geschwungene Klinge langsam über den Wetzstein, das raue Schaben erfüllte seine Ohren. Das Messer musste scharf sein, so scharf, dass es selbst durch Knochen schneiden konnte. Er durfte den Jungen, dieses Halbblut, nicht töten, aber er würde ihn verstümmeln, ihn brechen, bevor er seinen nahezu leblosen Körper vor den Rat zerrte, wie es sein Auftrag war. Aber wenn der Junge es auch nur wagte, ihm Probleme zu bereiten, dann würde Ignatius sich seiner Blutgier hemmungslos hingeben und der Junge sollte jeden einzelnen Schlag, jeden einzelnen Stich spüren.

Er hoffte beinahe, dass der Junge sich wehren und ihm damit einen Grund liefern würde, ihn zu foltern. Schließlich hatte er es verdient. Seine Existenz allein war ein Verbrechen wider die Natur.

Funken sprühten von der Klinge auf und schließlich nahm Ignatius das Metall vom Stein. Er fuhr mit dem Daumen über den Stahl und seine blasse Haut klaffte auf. Blut – dickflüssig und rot – tropfte aus dem Schnitt, bevor er wieder zuheilte.

Ignatius hatte Durst. Es war stets besser, durstig auf die Jagd zu gehen. Er hatte nun schon seit Monaten nicht mehr getrunken, so sehr hatte er sich auf dieses unstillbare Verlangen gefreut, das ihn durch die Jagd begleiten und ihn anspornen würde.

Der Rat hatte ihm versprochen: »Bring uns Vladimir Tod und wir werden dich reich entlohnen.« Sie hatten nicht gesagt, in welchem Zustand er ihnen den Jungen bringen sollte, nur, dass sie ihn lebendig wollten. Wie wenig sie doch wussten! Ignatius war nicht auf die Bezahlung aus. Dem Jungen Leid zu bereiten – ihn vielleicht sogar seinem Tod zuzuführen, dachte er mit einem wohligen Schauder –, war für ihn Belohnung genug.

Der Junge, der der Pravus sein sollte. Dieser Gedanke machte Ignatius nur noch rasender und er führte die Klinge wieder an den Wetzstein. Er schliff sie geduldig, bis die Schneide dünn wie die eines Rasiermessers war.

Bald. Wenn die letzten Verträge unterzeichnet waren, würde seine Jagd beginnen.

Und Vladimir Tod würde leiden.

AM ENDE DES SOMMERS

Vlad kniff die Augen fest zu und lauschte auf das Pochen seines Herzens und das Rauschen des Bluts, das durch seine Vampiradern strömte. Na ja, Halbvampiradern, aber egal. Sein Magen knurrte seit einer halben Stunde wie wild und der Hunger machte es ihm leicht, seinen Onkel nur mithilfe seiner Vampirinstinkte zu finden.

Otis hatte das zuerst gar nicht glauben wollen – genau wie Vikas, der letztes Jahr bei ihren Trainingsstunden in Sibirien ziemlich überrascht reagiert hatte, als Vlad erwähnt hatte, dass er es einfacher fand, in die Gedanken anderer einzudringen, wenn er hungrig war. Es sah ganz so aus, als wäre Vlad auch in dieser Beziehung ein Freak. Aber vielleicht war das ja gar nicht mal so schlecht. Immerhin schien der Hunger seine Vampirfähigkeiten tatsächlich noch zu verstärken.

Er spannte die Bauchmuskeln an und verkniff es sich, in Otis’ Bewusstsein einzudringen. Sein Onkel hatte ihm schließlich erklärt, dass man nicht in den Gedanken eines anderen Vampirs herumschnüffeln musste, um zu spüren, wo er sich aufhielt. Es ging vielmehr darum, das eigene Blut und jede einzelne Körperzelle nach seinesgleichen rufen zu lassen. So konnte man die Gegenwart des anderen spüren, um dann die Entfernung abzuschätzen.

Vlad stand auf der Veranda des Hauses seiner Tante Nelly, das seit fünf Jahren auch sein Zuhause war. Er atmete tief durch und konzentrierte sich. Schon fühlte er die Gegenwart seines Onkels nordwestlich von sich. Einer seiner Mundwinkel verzog sich zu einem schiefen Lächeln, als Vlad Otis in Gedanken ansprach. »Also echt jetzt, das ist doch viel zu einfach! Geh weiter weg! Das ist ja nicht mal ein Kilometer. In der Entfernung könnte dich selbst Henry ausfindig machen.«

»Pah, dein Lakai findet doch ohne GPS noch nicht mal zu Stop&Shop.«

Vlad lachte lauthals auf, strich sich das schwarze Haar aus den Augen und ließ dann lächelnd den Blick auf seine Schuhe sinken. »Aber mal im Ernst, wie mach ich mich denn so?«

»Ausnehmend gut, Vladimir, aber ich nehme an, dass ich dir das nicht extra sagen muss. Du bist besser als jeder Vampir, den ich je gekannt habe. Die meisten können andere Vampire bis zu ungefähr fünfhundert oder sechshundert Meter Entfernung aufspüren. Aber du … du scheinst in dieser Hinsicht wirklich eine besondere Begabung zu haben – dein Vater wäre stolz auf dich. Und jetzt leere dein Bewusstsein und versuch es in fünf Minuten noch mal.«

Vlad setzte sich auf die Stufen und sah hinauf in den sternenübersäten Himmel. Eine kühle Windbö strich über seine Wange. Ab morgen würde der Sommer endgültig vorbei sein und Nelly wäre nicht mehr so nachsichtig, was seine spätnächtlichen Aktivitäten anging – selbst wenn Otis ihn dabei begleitete. Er wünschte, dieser Abend würde ewig dauern. Aber der erste Schultag rückte unerbittlich näher und damit auch eine Sache, die er den ganzen Sommer über zu verdrängen versucht hatte.

Doch es war nicht zu ändern. Jetzt nicht mehr. Er hatte gejammert und gebettelt, auf seinen Onkel eingeredet, bis er Fransen vor dem Mund hatte. Aber es gab keinen weiteren Aufschub mehr. Es war unvermeidlich. Die Zeit war gekommen. Onkel Otis musste gehen.

Und das Schlimmste war, dass Vlad absolut nichts tun konnte, um es zu verhindern.

Aber nicht nur Otis’ bevorstehender Abschied machte Vlad zu schaffen. Hinzu kam auch, dass er jetzt ohne den Schutz seines Onkels auskommen musste, an den er sich in den letzten Monaten so gewöhnt hatte. Was sollte Vlad denn tun, wenn sein ehemaliger Freund Joss entschied, nach Bathory zurückzukehren und Vlad mal wieder eine kleine Kostprobe seiner Vampirjägerkunst zu geben? Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es statistisch möglich war, einen weiteren Pflock durchs Herz zu überleben. Einmal und nie wieder, vielen Dank! Zumal die Tatsache, dass er den Angriff überlebt hatte, zu allem Überfluss auch noch die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass er vielleicht wirklich der Pravus war. – Der Typ also, der halb Mensch, halb Vampir war und laut Prophezeiung über die Vampire herrschen und die gesamte Menschheit versklaven sollte. Der Typ, auf den Elysia schon seit Jahrhunderten wartete. Allein der Gedanke daran jagte Vlad einen Schauer über den Rücken.

Und wenn Vladimir wirklich dieser Pravus sein sollte, dann erschien es ihm auch mehr als unwahrscheinlich, dass sich D’Ablo noch ein weiteres Jahr zurückhalten würde. Immerhin hatte dieser reißzahngesteuerte Idiot schon bei ihrem letzten Aufeinandertreffen einen auf Terminator gemacht – und dann »Hasta la vista, Baby« …

Oh Mann, manchmal war es echt ein Kreuz, ein halber Vampir zu sein.

Und dann auch noch ein Teenager.

Dessen Vampir-Onkel obendrein im Begriff war, sich aus dem Staub zu machen, wonach man vollkommen auf sich selbst und seine eigenen mickrigen Selbstverteidigungsfähigkeiten gestellt war.

Vlad stand auf und lauschte auf seinen Herzschlag: langsam und kräftig – erstaunlich gesund nach seiner Konfrontation mit Joss im letzten Jahr. Er konzentrierte sich wieder auf Otis und ertastete kurz darauf dessen Gegenwart. Diesmal jedoch fühlte er nicht nur, dass sein Onkel drei Blocks entfernt stand, er konnte ihn geradezu sehen – Otis lehnte lässig an der Straßenlaterne gegenüber von Mr Craigs altem Haus. Es war, als würde Vlad die ganze Szene durch den Sucher einer allwissenden Kamera betrachten.

Er runzelte die Stirn. »Otis, stehst du gegenüber von Mr Craigs Haus und lehnst an einer Laterne?«

Otis’ Stimme erklang zögernd in Vlads Bewusstsein. »Vladimir, du sollst doch schätzen, wie weit ich von dir entfernt bin. Schnüffelst du etwa in meinen Gedanken? Ich kann dich gar nicht spüren.«

»Nein, ich beobachte dich. Zumindest glaube ich, dass ich das tue. Von außen.«

Daraufhin wurde Otis still und trat hastig aus dem Blickfeld von Vlads Gedankenkamera, die sich gleich darauf ausschaltete. Nachdenklich kaute Vlad auf seiner Unterlippe. Innerhalb weniger Sekunden, dank seiner vampirischen Schnelligkeit, kam Otis die Straße zu Vlad herauf. Otis’ Gesicht schien sogar noch bleicher als sonst und seine Augen waren geweitet, fast misstrauisch. Stirnrunzelnd und mit zusammengezogenen Brauen, als quäle ihn etwas, öffnete er das Gartentor. »Wie konntest du mich sehen, Vladimir? Was genau hast du gemacht?«

Vlad zuckte nervös mit den Schultern – diesen Ausdruck hatte er den Sommer über des Öfteren in Otis’ Augen gesehen. Und bei jeder dieser Gelegenheiten war er wieder einmal daran erinnert worden, was für ein Freak er war – selbst in der Welt der Vampire. »Ich hab überhaupt nichts anders gemacht als sonst, nur mit meinem Blut nach dir gerufen, wie du es mir beigebracht hast. Wieso?«

Otis schüttelte den Kopf. »Wir Vampire können nicht sagen, wen genau wir spüren oder wo er ist, nur, wie weit weg er ist. Und wie viele es sind.«

Vlad seufzte. »Na toll. Nicht mal die einfachsten Sachen krieg ich hin, ohne das Ganze zu vermurksen, so ein komischer Typ bin ich.«

»Das ist kein Fluch, Vladimir. Es ist ein Segen!« Doch Vlad hörte die Lüge in Otis’ sanften Worten.

Vlad presste die Kiefer fest aufeinander, aber er gab sich Mühe, seine Stimme ganz entspannt klingen zu lassen: »Schön, dann sei du doch zur Abwechslung mal dieser Pravus. Du hast ja keine Ahnung, wie anstrengend das ist, die ganze Zeit über die Welt der Vampire zu herrschen, ganz zu schweigen von der Versklavung der gesamten Menschheit!«

Otis verzog die Lippen zu einem Lächeln, doch es wirkte gezwungen. Vlad spürte die Angst hinter Otis’ aufgesetzter Gelassenheit. »Würdest du das denn wirklich tun, wenn du tatsächlich der sogenannte Pravus sein solltest?«

»Keine Ahnung. Hätte bestimmt was für sich, so ein Gott in Vampirgestalt zu sein.« Vlads Mundwinkel hoben sich kurz zu einem Schmunzeln, dann aber zuckte er nur mit den Schultern und richtete den Blick auf den Boden. »Aber selbst wenn ich es sein sollte – und … na ja, ich glaube, wir wissen beide, dass die Möglichkeit durchaus besteht …«

Otis trat von einem Fuß auf den anderen und Vlad wappnete sich schon mal. Er war ja nicht blöd. Er hatte sehr wohl bemerkt, wie sich das Verhalten seines Onkels verändert hatte, seit Vlad mit einem gepfählten Herzen im Krankenhaus gelandet war – Otis’ Unruhe und die verstohlenen, nervösen Seitenblicke. Nur der Pravus konnte so etwas überleben. Vlad fand die Vorstellung grässlich, dass er eine Gefahr für die gesamte Menschheit darstellen und als grausamer Diktator über seine Brüder, die Kreaturen der Nacht, herrschen könne. Doch viel schlimmer war der Gedanke, dass sein Onkel, sein letzter lebender Verwandter, sich vor ihm fürchtete … oder vielmehr vor dem, was aus Vlad werden könnte.

»Selbst wenn ich der Pravus bin, hast du doch noch immer recht, Otis: Ein Mann ist nichts weiter als die Summe seiner Entscheidungen. Das hast du mir selbst so erklärt. Und ich habe vor, gute Entscheidungen zu treffen – ich will ein guter Mann sein. Wie mein Vater.« Er sah Otis in die Augen und lächelte, in der Hoffnung, dass seine Worte Otis’ Ängste besänftigen würden, und sei es nur für diesen einen Abend.

Aber Otis wirkte immer noch besorgt.

Vlad blickte zum Nachthimmel auf. »So ein Mist, dass der Sommer schon so gut wie vorbei ist. Keine langen Nächte mehr hier draußen, in denen du mir neue Sachen beibringst. Obwohl ja kaum noch viel übrig sein kann, was du mir noch nicht gezeigt hast.«

»Oh, glaub mir, ein, zwei Dinge gibt es da schon noch.« Otis zwinkerte ihm zu. »Hast du Hunger?«

»Ich bin halb tot.« Wie zur Bestätigung schossen Vlads Eckzähne aus seinem Zahnfleisch. Er fuhr mit der Zunge über die scharfen Spitzen und fing Otis’ Blick auf. »Ich wollte mich übrigens noch bei dir bedanken. Du weißt schon, weil du keine Menschen gebissen hast, solange du hier warst. War sicher nicht einfach, sich nur von Blutkonserven zu ernähren, wo du es doch gewohnt bist, direkt von der Quelle zu trinken. Ich weiß es echt zu schätzen, dass du dich so zurückgehalten hast … auch wenn du vermutlich ganze Familien leer saugen wirst, sobald du aus Bathory weg bist.«

Otis gluckste vor sich hin. Widersprach dem Scherz aber auch nicht, wie Vlad auffiel. »Und ich will dir danken«, erwiderte Otis.

»Wofür denn?«

Otis drehte sich um und ging die Verandatreppe hinauf. Er öffnete die Tür und hielt sie für Vlad auf, dann folgte er seinem Neffen ins Haus. »Für vieles. Dafür, dass du die abergläubischen Vorstellungen eines alten Narren wie mir erträgst. Dass du all unsere Brüder mit deiner Klugheit und deinen Fähigkeiten übertriffst. Dass du mich in dein Heim eingeladen hast. Und vor allem dafür, dass ich deinen Vater wiedersehen darf. In dir.«

Vlad spürte, wie ihm eine leichte Röte in die Wangen stieg. »Ist ja nicht so, als hätte ich irgendwas dazu zu sagen gehabt, ob du hierbleibst oder nicht – Nelly hätte nie im Leben erlaubt, dass du woanders wohnst. Aber ich ja auch nicht. Du gehörst hierher, Otis, zu uns.«

Otis schwieg einen Augenblick, dann nickte er, als hätte er soeben eine bedeutsame Entscheidung getroffen.

»Komm mit, Vladimir. Ich will dir etwas zeigen.«

Otis führte ihn in die Küche, wo er in ein paar Schubladen kramte, bis er ein Messer fand. »Im Blut liegt große Macht. Das weißt du sicherlich schon. Aber ich habe dir noch nicht beigebracht, wie du diese Macht zu deinem Schutz nutzen kannst und zum Schutz derer, die dir wichtig sind. Und jetzt, da ich gehen muss … Nun ja, mir wäre wohler, wenn du mehr darüber wüsstest, wie du dich absichern kannst.«

Otis legte das Küchenmesser zwischen sie auf die Arbeitsplatte. Mit leiser Stimme fuhr er fort, als habe er Angst, Nelly zu wecken. Vielleicht sprach er aber auch so leise – und Vlad vermutete, dass dies wohl eher zutraf –, damit Nelly nichts mitbekam. »Erinnere dich, Vlad. Weißt du noch, wie ich damals vor zwei Jahren meinen Namen in elysianischer Schrift in die kleine Schachtel auf deiner Kommode geritzt habe?«

Vlad nickte. Wie hätte er das vergessen können? Damals hatte er Otis für eine Art Psychokillervampir gehalten, der ihn als sein nächstes Opfer markiert hatte. Rückblickend war es fast zum Totlachen, wie falsch er damit gelegen hatte.

Otis schob seinen linken Ärmel hoch und entblößte das schwarze Symbol auf seinem Handgelenk. Als er es neben Vlads ebenfalls tätowiertes Handgelenk hielt, glühten beide Symbole auf. »Ich habe dich markiert und damit bei meinem Leben geschworen, dich zu beschützen. Und zwar indem ich meinen Vampirnamen in etwas eingeritzt habe, was dir gehört. Es ist quasi eine Warnung an jeden Vampir, der vorhaben könnte, dir etwas anzutun. Du erinnerst dich doch, wie ich dir das erklärt habe?«

Vlad lächelte hinunter auf ihre beiden Tätowierungen und nickte dann. »Natürlich. Aber was ist jetzt mit diesem Messer?«

»Immer langsam. Also – so eine Markierung wird in der Vampirwelt sehr ernst genommen. Aber sie ist wie gesagt nur eine Warnung – nicht wirklich ein Element der Macht. Wirkliche Macht verleihen uns unsere elysianischen Namen, wenn wir mit ihnen Glyphen erschaffen.« Otis nahm das Messer von der Arbeitsplatte und drückte es an seinen Zeigefinger. Die glänzende Metallspitze pikte in die Haut und ein purpurroter Tropfen quoll hervor. Vlads Magen knurrte. Er tauschte einen ernsten Blick mit Otis – von einem hungrigen Vampir zum anderen. Otis nickte entschuldigend. »Normalerweise würde ich mir einfach in den Finger beißen, aber ich fürchte, der Blutgeschmack – auch wenn es mein eigenes ist – wäre im Augenblick zu viel für mich. Und ich habe vor, mein Versprechen dir gegenüber zu halten. Keine Mahlzeit von der Quelle, solange ich hier in Bathory bin!«

Otis legte seinen Finger auf die hölzerne Tür des Küchenschranks neben ihm und schrieb mit dem Blut seinen Namen in elysianischer Schrift, wie in der Tätowierung auf seinem Handgelenk. Das Blut sickerte ins Holz ein und Sekunden später begann das Blutsymbol, sich ins Holz einzubrennen. Otis sah Vlad an. »Öffne den Schrank.«

Vlad runzelte die Stirn und griff nach dem Knauf, aber die Tür bewegte sich nicht. »Es geht nicht.«

»Ich weiß. Dieser Glyphe habe ich die Macht verliehen, die Tür zu verschließen. Während ich meinen Namen daraufgeschrieben habe, habe ich meine Absicht mithilfe meiner Gedanken auf mein Blut übertragen.« Otis lächelte, aber in seinem Lächeln lag noch etwas anderes – Sorge? Oder Angst. Mal wieder. »Im Blut liegt Macht. Aber auch in deinem Namen. Und wenn du diese beiden kombinierst, kannst du wertvolle Gegenstände und geliebte Menschen schützen, Geheimnisse bewahren und sogar unerwünschten Eindringlingen Schaden zufügen. Glyphen sind ein essenzieller Bestandteil der Vampirgesellschaft, sie gehören zu unserem Leben. Aber sie können auch gefährlich sein, Vladimir, wenn man sie falsch anwendet oder nicht respektiert. Setze deine Glyphen mit Bedacht und halte dich fern von solchen, die rot glühen.«

Vlad fuhr mit dem Finger über die Glyphe und fragte sich insgeheim, was Nelly wohl zu dem unbenutzbaren Schrank und seiner ramponierten Oberfläche sagen würde. »Warum?«

Doch Otis hatte seine Frage entweder nicht gehört oder beschlossen, sie nicht zu beachten. Er wusch nur das Messer in der Spüle ab und drehte sich dann wieder zu Vlad um. Sein Blick wirkte beinahe ängstlich. »Jetzt bist du dran. Beiß dir in die Fingerspitze, nur ganz leicht, wir wollen ja nicht, dass das Blut gleich in Strömen fließt. Sonst verschmierst du deine Glyphe nur, und eine Glyphe, die nicht makellos ist, funktioniert nicht.«

Als Vlad sich in den Finger biss, wandte Otis zitternd den Kopf ab. Plötzlich hatte Vlad ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil er seinen Onkel derart auf Diät gesetzt hatte. Als das Blut wie eine kleine rote Blüte aus dem winzigen Hautriss quoll, drückte Vlad ein bisschen, damit die Wunde offen blieb.

Otis schloss die Augen und Vlad spürte ihn kurz darauf in seinem Bewusstsein. Seine Anwesenheit dort wirkte beruhigend. »Jetzt stellst du dir zum Beispiel vor, dass niemand außer dir diese Besteckschublade öffnen kann.« Pause. Dann: »Sehr gut. Und jetzt schreibst du einfach mit deinem Blut deinen Namen auf Elysianisch darauf.«

Vlad atmete tief durch und fuhr mit seinem blutigen Finger über die Schublade. Er zeichnete das Symbol, das seinen Vampirnamen darstellte – das Zeichen, das für immer in sein linkes Handgelenk eingebrannt war. Als er fertig war, sah er Otis in die jetzt wieder offenen Augen. »Und das war schon alles?«

Otis zog am Griff, aber die Schublade war fest verschlossen. Er lächelte stolz. »Scheint doch ganz wunderbar zu funktionieren.«

Als Vlad sein Werk begutachtete, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Allerdings verblasste es ganz schnell wieder, als ihm aufging, welche Verwirrung Nelly hier am nächsten Morgen erwartete. »Und wie kriegt man diese Glyphen wieder weg?«

»Nur der Schöpfer einer Glyphe kann sie wieder entfernen. Sie muss mit reinem Quellwasser abgewaschen werden.« Otis trat zum Kühlschrank und wühlte ein bisschen darin herum, bis er eine kleine Plastikflasche in der Hand hielt. Zusammen mit einem Lappen warf er sie Vlad zu. »Hast du ein Glück, dass es das mittlerweile in Flaschen zu kaufen gibt! Dein Vater und ich mussten früher oft kilometerweit laufen, bis wir eine Quelle gefunden hatten.«

Vlad goss etwas Wasser auf den Stoff und wischte damit über die Markierung auf der Besteckschublade. Zuerst zischte seine Glyphe, dann verpuffte sie komplett und die Schublade war wieder wie neu. Sein Blut hatte nicht den geringsten Schaden hinterlassen. Er warf Otis den Lappen zu, der als Nächstes die Schranktür abschrubbte. »Schon klar. Bergauf wahrscheinlich. Auf dem Hin- und Rückweg. Durch meterhohen Schnee.«

Otis schmunzelte. »Manchmal schon. Wir mussten in unserer Jugend viele Hindernisse überwinden, um zu Quellen zu gelangen – damals, als wir noch lernen mussten, wie man Glyphen benutzt. Das eine Mal vergesse ich nie, als wir geradewegs durch eine Versammlung von ungefähr hundert Vampirjägern hindurchmussten. Sie waren gerade dabei, einander die unglaublichsten Märchen aufzutischen, wie viele Vampire sie schon getötet hätten. Aber die einzige Quelle im Umkreis lag nun mal leider mitten in ihrem Zeltlager.«

Vlad riss die Augen auf. »Und die haben euch nicht gesehen?«

»Natürlich haben sie das. Aber trotz ihres so beachtlichen Könnens hat uns niemand angegriffen. Ein kleines Grüppchen kam mit erhobenen Pflöcken auf uns zu und fragte nach unseren Münzen. Jeder Vampirjäger trägt nämlich eine Münze mit sich, die beweist, dass er der Jägervereinigung angehört. Tomas zog genau so eine Münze aus der Tasche und erzählte ihnen von drei Vampiren, die wir angeblich gerade getötet hatten, keinen Kilometer von ihrem Lager entfernt. ›Drei auf einen Streich‹, brüstete er sich. Dabei waren es in Wirklichkeit drei Vampirjäger gewesen, mit denen wir kurz zuvor einen kleinen Schmaus veranstaltet hatten. So war er auch an die Münze gekommen. Und die haben ihm seine lächerliche Geschichte tatsächlich abgekauft.« Otis grinste über Vlads ungläubige Miene. »Hab ich erwähnt, dass dein Vater ein Meister der Gedankenkontrolle war?«

RÜCKKEHR ZUR BATHORY HIGH

Vlad packte seinen Rucksack und warf einen Blick auf die Uhr. Er kam zu spät, und das an seinem ersten Tag als Zehntklässler der Bathory Highschool! Außerdem war er noch total erschlagen von seinem nächtlichen Training mit Otis. Er reckte die Arme und gähnte, wobei sich seine Eckzähne vorwitzig aus dem Zahnfleisch schoben – wie um ihn daran zu erinnern, dass er noch nicht gefrühstückt hatte. Einen Moment später pflichtete sein Magen ihnen knurrend bei. Vlad nahm drei Blutkonserven aus der Gefriertruhe, legte sie wie zu einem Sandwich zusammen und biss durch alle Plastikschichten auf einmal, sodass das kühle, süße, köstliche Blut in seinen Mund strömte. Schnell hatte er die Beutel leer gesaugt, doch es war nicht genug, um seinen quälenden Hunger zu stillen. In letzter Zeit schien es nie genug zu sein.

»Auf ein Wort, Vladimir.« Otis stellte seine alte, lederne Arzttasche auf dem Tisch neben Vladimirs Rucksack ab und gähnte. Schon komisch, wie schnell sich ein Vampir daran gewöhnen konnte, tagsüber zu schlafen und nachts durch die Gegend zu streifen. Das Ganze wieder umzukehren, war allerdings alles andere als einfach.

Vlad warf die Beutel in den Sondermülleimer unter der Spüle und schenkte seinem noch immer rumorenden Magen keine weitere Beachtung. Seine Eckzähne hatten sich wieder zurückgezogen, wenn auch widerwillig, so als wollten sie ihn warnen, dass er seinen Hunger nicht ewig ignorieren konnte. Dann wandte er sich zu Otis um. Er ahnte schon, was jetzt kommen würde, und er wollte es nicht hören.

Otis presste zögernd die Lippen aufeinander, als brauche er noch einen Moment, um sich seine Worte zurechtzulegen. Dann atmete er tief ein und setzte zu seiner üblichen Predigt an, die Vlad mittlerweile fast auswendig kannte. »Dein Hunger …«

Vlad konnte nicht anders, als ihn genervt zu unterbrechen: »Was ist damit?«

»Er ist den Sommer über wesentlich größer geworden, meinst du nicht?«

Vlad zuckte mit den Schultern und senkte den Blick auf die Bodendielen. Anfangs hatte er noch gehofft, niemand würde es merken. Aber dann hatte Henry ihm mehrmals irgendwelche ironischen Sprüche reingedrückt, Nelly beschwerte sich sowieso ständig darüber und Otis warf ihm andauernd diese überbesorgten Blicke zu. Konnte man denn in dieser Stadt kein einziges Geheimnis haben?

Na gut, diese ganze Vampirgeschichte natürlich ausgenommen.

»Ich bin mir sogar sicher, dass es so ist. Und ich sehe doch, wie du damit zu kämpfen hast, Vlad.« Wieder hielt Otis inne und beugte sich dann näher zu ihm. Seine Augen wirkten sehr ernst, sein Tonfall sachlich. Es sah Otis gar nicht ähnlich, derart einen auf väterlich zu machen. »Es wird Zeit, dass wir uns mal ernsthaft über eine Nahrungsumstellung unterhalten. Bevor du deinen Appetit nicht mehr kontrollieren kannst und jemandem, der dir nahesteht, Schaden zufügst.«

Vlad presste die Kiefer aufeinander und schüttelte stur den Kopf. »So ein Quatsch. Ich murkse doch keinen ab, nur weil ich mal eben ein Hüngerchen habe.«

Otis ließ sich nicht beirren, wenn er auch behutsam vorging. »Es ist gar nicht notwendig, jemanden zu töten. Und es gibt auch Alternativen dazu, das Blut eines Menschen gegen seinen Willen zu trinken. Freiwillige Spender zum Beispiel.«

Vlad ließ sich das Ganze einen Moment lang durch den Kopf gehen und fragte sich, warum Otis noch nicht früher von dieser Spendersache erzählt hatte – nicht, dass er überhaupt daran interessiert war, von einem Menschen zu trinken, natürlich nicht! Als ob er nachts wach liegen und darüber nachdenken oder gar davon träumen würde, wie es wohl schmeckte. Er doch nicht. Nö. Er hatte seinen enormen Durst vollkommen unter Kontrolle. »Was meinst du damit, freiwillige Spender?«, fragte er.

»Es gibt da eine Gruppe von Menschen – von Lakaien –, die sich als Spender anbieten, um einer kleinen Gemeinschaft freidenkerischer Vampire zu helfen, die dagegen sind, Menschen zu töten oder sie zu zwingen, ihnen als Nahrungsmittel zu dienen. Diese Menschen bieten sich aus freiem Willen an, ohne dass ihre Herren es ihnen befehlen. Du siehst also, dass man durchaus von Menschen trinken kann, ohne dafür gleich ihr Leben zu beenden.«

Vlads Magen knurrte begierig. Vladimir zwang sich, noch einmal tief durchzuatmen, bevor er zugab: »Klingt eigentlich ganz okay.«

Otis’ Augen glänzten vor Erleichterung. »Gut. Schön, dass du so aufgeschlossen bist. Allerdings gibt es bei dieser Lösung ein winziges Problem. Diese Gemeinschaft … lebt in Paris. Damit du jeden Tag deine Mahlzeit einnehmen kannst, wie es dein Körper zu benötigen scheint, müsstest du also dort zur Schule gehen.«

»Paris?« Vlad schüttelte wieder den Kopf. Sein Onkel war wohl übergeschnappt. »Ich kann doch nicht nach Paris ziehen, Otis.«

»Es wäre etwas anderes, wenn du einer von jenen Vampiren wärst, die nur einmal im Monat trinken müssen, Vladimir. Aber da dein Appetit doch etwas größer scheint, müssen wir uns dem eben anpassen. Ich habe gute Freunde dort, die sich um dich kümmern und auf dich aufpassen würden.«

Vlad schnappte sich seinen Rucksack, tonnenschwer vor Schulsachen, und schwang ihn sich über die Schulter. »Was ist mit Nelly? Wenn ich nicht hier bin, um sie zu beschützen, ist sie doch nicht mehr sicher.«

Otis schluckte vernehmlich. Stockend vor lauter Sorge brachte er heraus: »Vladimir … Wenn dein Hunger schlimmer wird und du dich weiterhin weigerst, von Menschen zu trinken … dann ist sie in deiner Gegenwart vielleicht bald noch viel weniger sicher.«

Vlad runzelte die Stirn. Er würde Nelly nie wehtun, egal, wie hungrig er war. Das musste Otis doch wissen. Er eilte Richtung Haustür. »Ich gehe hier nicht weg.«

Otis folgte ihm bis auf die Veranda und flehte: »Dann lass mich dir wenigstens beibringen, wie man jagt. Nur für den Notfall.«

»Nein.« Vlad stapfte die Stufen hinunter und aus dem Gartentor – und ließ Otis mit seinen absurden Vorstellungen allein.

Auf der anderen Straßenseite wartete schon Henry. »Hey, Mann, wo ist denn deine Süße?«

Vlad versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, das sich bei der Bezeichnung von Meredith – der Meredith Brookstone – als seiner »Süßen« auf seine Lippen gestohlen hatte. Aber er schaffte es nicht. »Sie geht nicht mit uns zur Schule. Ihr Dad scheint mich irgendwie für ’ne Art durchgeknallten Serienmörder oder so zu halten.«

»Wie kommt er denn darauf?«

»Mit seiner Tochter zusammen zu sein, ist wohl Verbrechen genug.«

Henry nickte Otis zu, der immer noch auf der Veranda stand und ihnen nachblickte, bis sie schließlich zwischen den Häusern verschwunden waren. »Worum ging es denn da eben?«

»Ach, gar nichts.« Vlad umklammerte die Riemen seines Rucksacks, als er noch einmal über das Gespräch nachdachte. Er konnte immer noch nicht glauben, dass Otis tatsächlich befürchtete, Vlad könne irgendwann zu einer Gefahr für Nelly werden. Und dabei würde Otis doch heute Nacht abreisen! Wenn das mal kein beschissener Zeitpunkt für eine Meinungsverschiedenheit war. Noch dazu an Vlads erstem Schultag nach den Ferien! Als hätte er da nicht schon genug Sorgen.

»Ach Mist, hab ich ja ganz vergessen, dir zu erzählen«, fing Henry an. Sie bogen um die Ecke und gingen auf die Treppe vor dem Eingang der Bathory Highschool zu. »Snelgrove hat einen neuen Job.«

»Echt? Als was? Mann, was würd ich nicht dafür geben, den Typen Hundehaufen schippen zu sehen«, gluckste Vlad, aber seine gute Laune sollte nicht lange anhalten. Auf der obersten Stufe entdeckte er ein wohlbekanntes Gesicht. Die kleine Mausenase des Mannes zuckte, während er die herbeiströmenden Schüler argwöhnisch musterte wie ein Gefängniswärter.

»Eigentlich …« Henry wand sich vor Unbehagen. »Also er ist jetzt nicht mehr Direktor der Junior Highschool, sondern der Highschool.«

Vlad stieß einen verzagten Seufzer aus. Erst die Predigt von Otis und jetzt auch noch Snelgrove! Fehlte nur noch, dass Eddie Poe mal wieder rumerzählte, Vlad sei ein Monster, und Bill und Tom ihn in einen Spind einsperrten, dann wäre er wirklich bedient. »Na toll. Wie unterirdisch soll der Tag denn noch werden?«

Henry zupfte an seinem Ärmel und flüsterte kichernd: »Alter, du bist ein Vampir. Bei dir müsste eigentlich jeder Tag unterirdisch sein.«

»Vlad!« Auf dem Bürgersteig gegenüber stand ein hübsches Mädchen mit schokoladenbraunem Haar und einer offensichtlichen Vorliebe für rosa Klamotten. Vlad grinste.

Lächelnd überquerte Meredith in einer Art Hopserlauf die Straße, sodass ihr rosa Rucksack auf ihren Schultern auf und ab hüpfte. »Ich hab so gehofft, dass wir uns vor dem Unterricht noch sehen!«

»Genau wie ich.« Vlads Herz hämmerte in gleichmäßigen Schlägen gegen seinen Brustkorb. Ein paar von den beliebten Leuten schlenderten vorbei und rümpften die Nase, aber selbst die würden es nicht schaffen, ihm die Laune wieder zu vermiesen. Er hatte eine Freundin. Eine richtige, echte Freundin. Und das war etwas, was ihm niemand wegnehmen konnte. Weder Snelgrove noch Eddie und noch nicht mal eine Million arroganter Blicke aus der Beliebtenfraktion.

Und eine Million war noch nicht mal sehr übertrieben. Angefangen, diese Blicke zu ernten, hatte Vlad nämlich schon beim letzten Sommerfest, als er den ganzen Abend mit Meredith verbracht hatte. Und jedes Mal hatte sich Vlads Magen vor Angst ein bisschen mehr zusammengezogen. Es schien fast, als wäre jedem außer Meredith klar, dass er nicht zu ihr passte. Vlad wusste es ja selbst. Sie hatte was Besseres verdient.

Meredith lächelte Henry zu und winkte Vlad näher zu sich. Er beugte sich vor und sie flüsterte ihm ins Ohr: »Ich hab dich vermisst. Vielleicht können wir uns ja nach der Schule treffen, nur wir zwei?« Ihr warmer, zuckersüßer Atem jagte ihm einen wohligen Schauer über den Rücken.

Er strich ihr weiches Haar zurück und flüsterte: »Heute Abend geht’s nicht. Mein Onkel reist ab und ich muss mich von ihm verabschieden. Aber ich kann morgen nach der Schule Henry abservieren, dann treffen wir uns um halb vier im ESSEN, okay?«

Zur Antwort wandte sie den Kopf und ließ ihre Lippen sanft über seine Wange gleiten.

Vlads Herz explodierte fast vor Glücksüberlastung.

Das ESSEN, das einzige Bistro in der Stadt, war nicht gerade ein Gourmettempel. Aber wenigstens konnte man dort mal allein sein, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass Henry sich vernachlässigt fühlte oder jeden Moment Merediths Vater hereinstürmte, um sie aus den Klauen eines geistesgestörten Massenmörders (= fester Freund) zu befreien. Plötzlich kam das ESSEN Vlad ziemlich paradiesisch vor. Eigentlich hieß es ja gar nicht ESSEN, aber das war das einzige Wort auf dem Leuchtschild über dem Eingang, das noch funktionierte. Witzigerweise klang es dadurch jetzt mehr wie ein Befehl.

Meredith ging zu Melissa Hart, die schon am Fuß der Treppe auf sie wartete, und die beiden hüpften leichtfüßig nach oben. Vlad blickte Meredith versonnen hinterher – er fühlte sich immer noch wie auf Wolken. Henry, der plötzlich ziemlich mürrisch wirkte, räusperte sich. »Wir sollten mal lieber gucken, welche Spinde wir gekriegt haben. In fünf Minuten klingelt’s.«

Er ging vor und Vlad folgte ihm, bemüht, sich sein Glück nicht allzu offensichtlich anmerken zu lassen. Er wusste, dass Henry es nicht besonders toll fand, dass Vlad mit Meredith zusammen war, weil er selbst noch immer nicht bei Melissa landen konnte. Aber das war ja schließlich nicht Vlads Schuld und er hatte auch nicht vor, sich deswegen ein schlechtes Gewissen einzureden. Dann hatte eben ausnahmsweise mal Henry die Mädchenprobleme, und nicht Vlad.

Ehrlich gesagt war das sogar eine ganz nette Abwechslung.

»Denk ja nicht, dass ich nicht ein Auge auf dich habe, Vladimir Tod«, knurrte Direktor Snelgrove, als Vlad an ihm vorbeiging. Vlad wartete, bis er in sicherer Entfernung war, bevor er genervt die Augen verdrehte.

Doch auf der anderen Seite der Tür stand noch jemand anderes, der Vlad Sorgen bereitete. Jemand, der ihn ebenfalls ganz genau im Auge behielt und an dessen Hals eine nigelnagelneue digitale Spiegelreflexkamera baumelte.

Eddie Poe.

Der Junge, der letztes Jahr gesehen hatte, wie Vlads Augenfarbe sich in dieses komische schillernde Lila verwandelt hatte. Der Junge, der Vlad dabei fotografiert hatte, wie er zum Glockenturm der Schule raufschwebte. Vlads Stalker hatte offenbar aufgerüstet. Und er folgte Vlad mit seinem Blick, als erwarte er, dass dieser seine Zähne mitten in der Schule in den Hals des nächstbesten Cheerleaders schlagen würde.

Als ob Vlad jemals einen Cheerleader beißen würde! Allein der Gedanke hinterließ einen fiesen Geschmack in seinem Mund.

Vlad nickte Eddie knapp zu, der dasselbe tat und auf seine neue Kamera deutete. Vlad presste die Lippen aufeinander und machte sich auf den Weg zu Spind Nummer 313, während Henry kurz auf dem Klo verschwand.

Seitdem Eddie das violette Schillern in Vlads Augen gesehen hatte, war er ihm auf den Fersen, schoss ununterbrochen Fotos von ihm oder starrte ihn an. Das komplette Schnüfflerprogramm. Aber damit kam Vlad klar. Was ihn dagegen wirklich in den Wahnsinn trieb, war der plötzliche Selbstbewusstseinsschub, den diese Besessenheit bei Eddie scheinbar ausgelöst hatte. An jeder Ecke schien er ihm aufzulauern, um ihn mit Genuss zu quälen, als könne er den Tag gar nicht erwarten, an dem Vlad endgültig ausrasten und allen sein dunkles Geheimnis enthüllen würde. Es war, als hätte Eddie endlich einen Weg aus seinem Loserloch herausgefunden und Vlad dazu auserkoren, ihm dabei die Leiter zu halten.

Vlad kramte ein Vorhängeschloss aus seinem Rucksack und hängte es an seine Spindtür. Dann stopfte er seine Hefte und die anderen Schulsachen in den Spind. Nicht zu fassen, der sah jetzt schon aus, als hätte darin eine Bombe eingeschlagen. Schnell schlug Vlad die Tür zu.

Dahinter wartete Eddie, der ihn ernst ansah.

Auch Vlad lächelte nicht. »Was willst du, Eddie?«

»Wollte dir nur meine neue Kamera zeigen. Super, oder? Ich hab den ganzen Sommer dafür gespart. Hab wahrscheinlich jeden einzelnen Rasen in Bathory gemäht, um mir dieses Schmuckstück leisten zu können.« Liebevoll tätschelte er die Kamera, ohne den Blick von Vlads Augen zu wenden.

Vlad zuckte mit den Schultern. »Ist bestimmt ein tolles Teil. Ich hab nicht so viel Ahnung von Kameras.«

»Ich schon. Ich ahne sowieso so einiges, weißt du?« Eddie reckte das normalerweise chronisch zittrige Kinn vor und in seine Augen trat ein entschlossener Ausdruck. »Also … dann bis bald.«

»Nicht allzu bald, wenn’s nach mir geht.« Vlad sah Eddie hinterher und seine Laune sackte in den Keller. Er würde nie normal sein. Er würde nie dazugehören. Und dieser Typ hatte es sich offenbar zum Ziel gesetzt, der ganzen Welt zu erzählen, warum.

Da kam Henry anmarschiert, ging an Eddie vorbei und blickte ihn dabei so finster an, dass der sich hastig davonmachte. Jetzt ging es Vlad schon ein kleines bisschen besser. Henry öffnete seinen Spind. »Was wollte unser rasender Reporter denn schon wieder?«

Vlad zuckte mit den Schultern. »Dasselbe wie immer, schätze ich.«

Er warf einen Blick zu Eddie hinüber, der am Trinkbrunnen stehen geblieben war, und biss sich auf die Unterlippe. »Der lässt nicht locker, bis er mich entlarvt hat, Henry. Seit einiger Zeit ist er irgendwie anders drauf. Letztes Jahr war er ja nur nervig, aber jetzt … jetzt ist es, als meint er, allen was beweisen zu müssen. Und blöderweise hat er dabei mich im Visier.«

Henry griff sich sein Englisch- und sein Biobuch und schloss seinen Spind. Seine Stirn war gerunzelt, als bereite ihm irgendwas Sorgen. »Mach dir keinen Kopf, Vlad. Wir kriegen das schon hin! Wir reden hier schließlich von Eddie Poe. Der Kerl ist doch ein Nichts. Noch nicht mal leere Luft.«

Vlad nickte, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er Henrys Einschätzung der Lage wirklich zustimmte. Eddie mochte ein Nichts sein. Aber auch ein zielstrebiges Nichts konnte es schaffen, zu einem Etwas zu werden, wenn sich ihm die passende Gelegenheit bot. Vlad versuchte, diese beunruhigenden Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, und konzentrierte sich auf den Stundenplan in seiner Hand. Dieses Mal hatte er überhaupt keinen Kurs mit Henry oder Meredith, was ihn nicht gerade mit Vorfreude auf den Unterricht erfüllte. Henry verabschiedete sich mit einem freundlichen Boxhieb auf Vlads Schulter. Und Vlad schnappte sich das blaugrüne Buch, auf dessen Umschlagbild sich ein Gehirn und ein Stück Brokkoli die Hände zu reichen schienen, und machte sich auf in Richtung Bioraum.

In der zehnten Klasse war Sexualkunde angesagt. Wobei man sich ernsthaft fragte, wer sich so was einfallen ließ. Einen Haufen Jugendliche in einen Raum mit einem Lehrer zu stecken, der sich stammelnd und errötend von einer Peinlichkeit zur nächsten hangelte, war nicht gerade eine grandiose Idee. Noch dazu, wo diese Jugendlichen das meiste über Pubertät und Geschlechtsverkehr schon längst wussten, wenn sie in die Highschool kamen. Und selbst das, was sie nicht wussten, wollten sie mit Sicherheit nicht von einem alten Windbeutel wie Mr Cartel erklärt bekommen.

Mr Cartel war vor Anbeginn der Zeit geboren und schien überaus angenehme Erinnerungen an diese Prä-Dinosaurier-Ära zu hegen. Er konnte es sich nämlich einfach nicht verkneifen, ständig von seiner eigenen Jugend zu schwafeln. Vlad hatte die Horrorgeschichten über Sexualkunde bei Mr Cartel schon gehört. Man hatte ihm von dem merkwürdigen Schnaufgeräusch berichtet, das dieser beim Atmen ausstieß. Und davon, dass Mr Cartel jedes Mal anfing zu stottern, wenn er gezwungen war, das Wort »Hoden« auszusprechen. Aber auf die lebensgroßen Poster von zwei nackten Menschen mit allen Einzelheiten war Vlad nicht vorbereitet gewesen. Und auch nicht auf die Nachbildungen der menschlichen Fortpflanzungsorgane, die vorne auf dem Lehrerpult standen.

Ach. Du. Kacke!

Mit knallrotem Gesicht bahnte Vlad sich den Weg zu seinem Platz und nahm im Geiste eine schnelle Volkszählung vor: zwölf Mädchen, acht Jungen, ein Methusalem von einem Lehrer und entschieden zu viele nackte Geschlechtsteile. Es war wie eine Szene aus seinem schlimmsten Albtraum.

Plötzlich war er sehr erleichtert, dass er diese Stunde nicht mit Meredith zusammen hatte.

Er suchte sich einen Tisch im hinteren Teil des Raums, so weit weg von all der Nacktheit wie möglich. In der ersten Reihe saß natürlich niemand. Mr Cartel wartete schweigend ab, bis es klingelte, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und blickte die Schüler mit ernstem Gesicht an. »Herzlich willkommen in meinem Unterricht. Wir werden gemeinsam über die Veränderungen sprechen, die der Körper im Laufe der Zeit durchmacht. Außerdem über den Prozess der Fortpflanzung und die Gefahren sexuell übertragbarer Erkrankungen, aber auch die Gefahren, die durch Drogen und Alkohol entstehen. Und einen ganzen Monat werden wir der Frage widmen, inwiefern das Rauchen dem menschlichen Körper schadet.«

Vlad war bei jedem einzelnen Punkt, den der Lehrer angesprochen hatte, auf seinem Stuhl ein Stückchen tiefer gesunken, bis die Drogen, der Alkohol und die Zigaretten drankamen. – Dass er das alles unbedingt meiden musste, wenn er vorhatte, über zwanzig Jahre alt zu werden, wusste er längst. Und zwar nicht nur, weil es ungesund war. Wenn er irgendwas davon auch nur anrührte, würde Nelly ihn eigenhändig umbringen, das war mal sicher!

Mr Cartel räusperte sich und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, bevor er schließlich aufstand. Er nahm einen langen, hölzernen Zeigestab zur Hand und knallte die Spitze zu Vlads großem Entsetzen geradewegs auf die unteren Körperregionen des Mannes auf dem Poster. »Die menschlichen Fortpflanzungsorgane sind ein überaus komplexes und faszinierendes Thema. Wir wollen uns mit jedem einzelnen davon intensiv beschäftigen, von den Eierstöcken bis zu den H…h…hoden …«

Vlad spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg, bis er das Gefühl hatte, er müsse förmlich glühen. Er rutschte noch ein Stück tiefer und wartete sehnsüchtig darauf, dass dieser Albtraum ein Ende hatte.

Nachdem er im Anschluss daran die Geometriestunde verdöst und in Chemie aus Versehen Mrs Pattersons Becherglas am Labortisch festgefroren hatte, stolperte Vlad in die Oase der Cafeteria. Meredith hatte ihm einen Platz freigehalten. Ihr gegenüber saß Henry und warf Melissa Hart, die noch an der Essensausgabe anstand, schmachtende Blicke zu. Mit einem gequälten Lächeln setzte sich Vlad neben Meredith. »Wie lange noch bis zu unserem Schulabschluss?«

Meredith stieß ihr süßes Kichern aus und verwandelte Vlads Inneres sogleich in Wackelpudding. »War’s denn so schlimm?«

Henry schnaubte. »Tja, wir können ja nicht alle das Glück haben, nur solche Pillepallekurse wie Kunst und Einschleimen für Fortgeschrittene zu haben, Meredith.«

Wie immer, wenn sie sich ärgerte, rümpfte Meredith ihre niedliche Nase. Sie strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und erwiderte: »Das heißt Lehrerassistenz. Und wenn du dich ein bisschen mehr anstrengen würdest, dürftest du das vielleicht auch mal ein Halbjahr lang machen. Außerdem ist Kunst ja wohl alles andere als Pillepalle.«

Henry zuckte mit den Schultern und Vlad wechselte schnell das Thema – er war nicht in der Stimmung für eine weitere Kabbelei zwischen den beiden. »Mit Cartel wird mir dieses Halbjahr auf jeden Fall ewig vorkommen.«

Ein Grinsen breitete sich auf Henrys Gesicht aus. »Nur wenn er weiter so viel über H…h…hoden labert. Mann, der Kerl kann vielleicht stottern! In unserem Kurs haben wir ihm die ganze Zeit Fragen gestellt, in deren Antwort Hoden vorkamen, nur um ihn da wieder und wieder durchrattern zu hören. Zum Totlachen!«

Vlad gluckste in sich hinein, aber Meredith blieb ernst. Sie wirkte sogar ein kleines bisschen angeekelt. Offenbar lachten Mädchen über ganz andere Sachen als Jungs.

Sehr zu Henrys Bestürzung setzte sich Melissa auf die andere Seite von Meredith. Die Mädchen waren in ein Gespräch vertieft, als Henry sich über den Tisch beugte und anzüglich die Augenbrauen hob. »Und? Wie fandest du die Tussi auf dem Poster?«

Vlad brach in Gelächter aus und schüttelte den Kopf. »Mann, hast du eine Ahnung, wie lange das Bild da schon hängt? Die sitzt jetzt wahrscheinlich irgendwo in ’nem Altenheim!«

EIN LANGER ABSCHIED