Vladimir Tod ist ganz schön untot (Band 5) - Heather Brewer - E-Book

Vladimir Tod ist ganz schön untot (Band 5) E-Book

Heather Brewer

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Beschreibung

Vlad läuft die Zeit davon. Der Elysianische Rat hat ihm vor seiner Hinrichtung nur noch zwei Wochen gegeben – und die sind ihm auch nur sicher, falls die Vereinigung der Vampirjäger ihn nicht vorher pfählt! Nebenbei hat er die Frage nach seinem Vater zu klären – der vielleicht, vielleicht auch nicht, doch noch am Leben ist. Und dann wäre da außerdem noch diese klitzekleine Prophezeiung, nach der er die Menschheit versklaven und die Vampire unterwerfen soll. So viel zum Thema Abschlussprüfungen. Im atemberaubenden Finale um Vladimir Tod deckt Heather Brewer finstere Geheimnisse auf. Alte Freunde werden zu eingeschworenen Feinden und so manch einer muss aufpassen, dass ihm nicht das Blut in den Adern gefriert! "Vladimir Tod ist ganz schön untot" ist der fünfte Band der Vladimir Tod-Pentalogie. Die vier Vorgängertitel lauten "Vladimir Tod hat Blut geleckt", "Vladimir Tod beisst sich durch", "Vladimir Tod hängt todsicher ab" und "Vladimir Tod kämpft verbissen".

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Für meinen Agenten, Michael Bourret,dafür, dass er schon ganz am Anfangan Vlad – und mich – geglaubt hatund es noch immer tut.Und für meine Minion-Horde, dafür,dass ihr der vamptastischste Haufen Außenseiterauf der ganzen Welt seid. Ohne euchwürde es Vlad nicht geben.

INHALT

Prolog

Unverhofft

Bittere Erkenntnis

Unter Verdacht

Ein Hauch Wahnsinn

Die lange Suche

Unerwarteter Besuch

Alles

Eine geplatzte Feier

Waffenbrüder

Ein wahrer Freund

Familie

Unerwartete Worte

Schule nervt

Diner des Grauens

Kristoffs Rache

Stärke

Hunger

Enricos Leid

Schmerzliche Wahrheit

Überraschungen

Die Bitte des Jägers

Beutezug

Halloween

Klappe halten

Keine Geheimnisse mehr

Nach Hause

Einladungen

Thanksgiving

Väterlicher Stolz

Zur Sache, Otis!

Trauen oder nicht

Nahrung fürs Hirn

Schlechter Rutsch

Anfang vom Ende

Die Säuberung

Beichte mit Biss

Alte Wunden

Blut und Tränen

Ankunft des Pravus

Die Wahrheit

Ehre deinen Vater

Abschied

Blumen für Nelly

Wieder vor Gericht

Der Abschluss

PROLOG

D’Ablos Haut war nach seiner glühend heißen Begegnung mit der Sonne vor eineinhalb Jahren wieder so gut wie verheilt, aber seine Hand … seine Hand war für immer verloren. Er war in alle Ewigkeit gezeichnet und sein Name war unwiderruflich beschmutzt, und das alles wegen eines Jungen namens Vladimir Tod.

D’Ablo sank auf die Knie und schüttelte den Kopf, die ungläubig geweiteten Augen auf den Mann vor ihm gerichtet. Seine Stimme zitterte leicht. »Aber … warum? Ich habe doch nichts getan!«

Der Mann, der vor D’Ablo stand, schwieg. Seine Gesichtszüge lagen im Schatten, als fürchtete selbst das Licht der Bürolampen, ihm zu nahe zu kommen.

Der gesamte Raum schien von einer Warnung erfüllt zu sein, die D’Ablo nur allzu deutlich war. Und obwohl das Fenster des Büros geöffnet war und ein sanfter Wind die Vorhänge bewegte, fühlte sich die Luft dick, abgestanden, muffig und alt an. Das Atmen fiel ihm schwer.

»Ich … habe …«, begann D’Ablo, schloss den Mund aber gleich wieder, aus Angst vor der Reaktion, die seine Worte auslösen könnten.

Er blickte den Mann an – blickte in das vertraute Gesicht, das er so gut kannte – und hob in einer flehenden Geste die Hände. Oder, um genau zu sein, die eine Hand, die er noch hatte … und den Stumpf, der übrig geblieben war, nachdem Vlad ihm mit dem Lucis die andere genommen hatte.

Doch sein Flehen würde das, was ihm bevorstand, nicht abwenden können.

Plötzlich machte der Schattenmann einen Satz durch den Raum und schleuderte D’Ablo zu Boden. Mit gebleckten Zähnen stieß er seine Hand nach vorn. Die Fingerspitzen bohrten sich in D’Ablos Fleisch. D’Ablo heulte auf und wand sich vor Schmerzen, biss die Zähne zusammen und versuchte verzweifelt, sich loszureißen. Doch der Mann ließ nicht von ihm ab, sondern grub seine Hand nur noch tiefer in D’Ablos Brust. Mit einem bitteren Zug um den Mund flüsterte er D’Ablo ins Ohr: »Das hier hätte ich schon viel früher tun sollen. Du hast deinen Zweck erfüllt.«

Er schloss die Finger um D’Ablos noch schlagendes Herz und riss die Hand mitsamt dem Organ aus der Brust. Dann richtete er sich auf und drückte die Finger zusammen, bis nur noch eine blutige Masse in seiner Hand zurückblieb. D’Ablos Augen wurden starr.

Er war tot.

Die Tür ging auf und ein zweiter Mann betrat den Raum. Der Mann im Schatten stand auf und schüttelte sich D’Ablos Blut von der Hand. »Schneide ihm den Kopf ab und verbrenne die Leiche. Ich will sichergehen, dass er auch tot bleibt.«

UNVERHOFFT

»Dad?«

Das Wort selbst schien zu beben, vielleicht sogar mehr als Vlads Lippen, als er es aussprach. Er sah dem Mann forschend in die Augen, studierte seine Lachfältchen und suchte nach irgendeiner Unstimmigkeit, einem Beweis dafür, dass der Mann, der da vor ihm stand, jeder andere war, nur nicht sein Vater.

Doch er fand nichts. Es war Tomas. Oder vielleicht dessen Zwillingsbruder. Nur dass er nie einen gehabt hatte. Und selbst wenn, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass er und sein Zwillingsbruder beide Vampire waren, verschwindend gering. Und der Mann vor ihm war definitiv ein Vampir. Vlad konnte es riechen.

Er roch nach Blut. Und Weisheit. Und Jugend. Alles miteinander vermengt.

Nichts auf der Welt war damit vergleichbar.

Tränen verschleierten Vlads Blick und schreckliche Zweifel machten sich in seinem Herzen breit. Das hier konnte nicht sein Vater sein. Sein Vater war tot. Das wusste er genau. Er hatte seine verkohlte Leiche gesehen, den Gestank des Todes im Zimmer gerochen. Tomas war tot.

Und stand doch direkt vor ihm.

Voller Misstrauen, beinahe wütend, krächzte er abermals: »Dad?«

Tomas nickte und presste die Lippen aufeinander. In seinen Augen lagen Trauer, Schmerz und Verlust. Als er schließlich antwortete, konnten seine Worte nur einen Teil von Vlads Zweifeln beseitigen. »Ja, mein Sohn.«

Vlad drehte sich um, als er hinter sich ein Rascheln hörte. Joss, blutüberströmt und ziemlich übel zugerichtet, kroch auf seinen Pflock zu, dann kämpfte er sich auf die Beine.

Einen Moment lang hatte Vlad komplett vergessen, dass Joss da war – dass er selbst hier war, um Joss zu töten. Seinen Freund. Der ihn verraten hatte.

Joss strauchelte und brach wieder zusammen. Vlads Blick flog zwischen Joss und seinem Vater hin und her und verharrte schließlich voll ungläubiger Ehrfurcht auf dem Mann vor ihm.

»Bist du …« Vlad schluckte, noch immer den Geschmack von Dorians Blut auf der Zunge und seine Gedanken erfüllt von dessen Wahnsinn.

Dorian war genial gewesen, aber zugleich völlig verrückt. Hatte Vlad womöglich einen Teil seines Wahnsinns geerbt, als er sein Blut getrunken hatte? Waren seine schlimmsten Ängste plötzlich Wirklichkeit geworden?

Vlad war sich darüber im Klaren gewesen, dass es ein großes Risiko sein würde, Dorians Bitte nachzukommen und sein Blut zu trinken. Otis hatte einst von Dorians Sohn, Aidan, getrunken und verfügte seitdem über telekinetische Kräfte – was Vlad immerhin demonstriert hatte, wie unberechenbar die Folgen waren.

Und trotzdem hatte er es getan. Kurz bevor Dorian gestorben war, hatte Vlad von seinem Blut getrunken. Vielleicht war er jetzt auch dem Wahnsinn verfallen. Vielleicht gab es jetzt kein Zurück mehr.

Er holte tief Luft und zwang die Frage über seine Lippen, obwohl er wusste, dass die Antwort Nein lauten würde. Musste. Denn er war jetzt wie Dorian. Er war wahnsinnig geworden. Ganz und gar wahnsinnig. Und halluzinierte anscheinend wie wild. »Bist du wirklich da?«

Die Vision seines Vaters lächelte nur. Tomas stand schweigend da – eine Erinnerung, die jeden einzelnen Gedanken Vlads überschattete, jeden Albtraum, alles, was er je getan hatte. Sein Vater. Sein toter Vater.

Hier. Jetzt.

Vlad schloss die Augen, als ihn die Erinnerung an das Feuer einholte, das ihm seine Eltern genommen hatte, und fragte sich, ob er nun zur Strafe für immer Visionen von seinem Vater haben würde. Mit jeder Sekunde war er sich sicherer, dass Dorians Blut seinen Verstand vergiftet hatte. Schließlich seufzte er und machte die Augen wieder auf.

Der Mann, der wie sein Vater aussah, die Ausgeburt seines kranken Bewusstseins – was auch immer es gewesen war … war fort.

Nur er und Joss und Dorians Leiche waren noch auf der Lichtung.

Vlad fuhr herum, suchte die Umgebung ab, doch da war nichts. Nicht mal ein Zweig knackte, kein Zeichen, dass sich jemand bewegte. Sein Herz zog sich zusammen. Krank oder nicht, es war schön gewesen, nach so langer Zeit in das lächelnde Gesicht seines Vaters zu blicken.

Dann hörte er ein Geräusch. Vlad wirbelte wieder herum und sah Henry, der mit leichenblassem Gesicht auf die Lichtung gestürzt kam. »Vlad! Ist alles in Ordnung? Ich hatte ein ganz schreckliches Gefühl. So als … als würdest du mich brauchen.«

Und wie Vlad ihn brauchte! Er hatte gerade Joss geschlagen, wäre dabei fast selbst draufgegangen und direkt im Anschluss war er Zeuge des Unmöglichen geworden. Außerdem hatte er vielleicht gerade den schlimmsten Fehler seines Lebens gemacht – indem er das Blut eines Verrückten getrunken hatte. Im Moment war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, auf den er sich noch verlassen konnte, sein Lakai. Sein bester Freund. »Henry … du hast ja keine Ahnung, was hier los ist.«

Henrys Augen weiteten sich, als sein Blick auf Vlads Mund fiel. »Alter, ist das Blut? Von wem hast du getrunken?«

Vlad sah zu Dorians Leiche hinüber. Henry folgte seinem Blick. Er schüttelte den Kopf. »Du hast von diesem gruseligen Vampirstalker getrunken? Nichts für ungut, Vlad, aber ich könnte mir vorstellen, dass es da draußen weit appetitlichere Häppchen gegeben hätte.«

»Aber ich musste es tun. Er … er hat es selbst gesagt. Und Joss … Oh, Mist, Joss!« Vlad holte tief Luft und rannte zu Joss hinüber. Die Erinnerung an seinen Vater brannte noch immer irgendwo am Rand seines Bewusstseins. Aber davon konnte er Henry nicht erzählen. Noch nicht. Das alles war noch zu frisch, wie eine offene Wunde.

Joss lag auf dem Rücken, sein Gesicht entspannt, die Augen geschlossen, und seine Brust hob und senkte sich in kurzen, offensichtlich schmerzhaften Atemzügen. Atemzüge, die zusehends flacher wurden, bis sie gar nicht mehr da zu sein schienen. Vlad kniete sich neben ihn, Angst erfasste ihn bis in die letzte Faser seines Körpers. »Joss?«

Aber Joss konnte nicht antworten. Er war bewusstlos. Oder Schlimmeres. Hatte Vlad ihn umgebracht? Möglich wäre es. Verdammt, bei Vlads Vampirkräften, und dann noch in Kombination mit seiner entfesselten Wut, war das sogar ziemlich wahrscheinlich.

Henry fluchte lautlos und kniete sich neben seinen Cousin, sein Herz klopfte wie wild. Vlad lauschte auf das gleichmäßige Pochen, das in seinen Ohren widerhallte und das jeden Hinweis darauf, dass Joss noch am Leben sein könnte, übertönte. »Was ist denn passiert, Vlad? Was war zwischen euch beiden los? Was hast du gemacht?«

Vlad streckte zwei zitternde, ängstliche Finger nach Joss’ Hals aus und seufzte erleichtert auf, als er den gleichmäßigen Pulsschlag fühlte.

Er hatte Joss nicht umgebracht. Und seltsamerweise war er darüber genauso erleichtert wie enttäuscht.

Henry übernahm das Ruder. Ohne Vlad anzusehen, zog er Joss’ Handy aus dessen Hosentasche und sagte: »Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen. Ich rufe einen Krankenwagen. Du gehst zurück zu Nelly. Wir treffen uns dann da.«

»Nein, Henry.« Vlad schüttelte langsam den Kopf. »Ich bleibe hier bei ihm, bis der Krankenwagen kommt. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«

Henry zischte durch zusammengebissene Zähne: »Das Mindeste, was du tun kannst, ist, dich zu verdünnisieren, damit die Polizei nicht zu viele Fragen stellt. Ich regle das schon, Vlad. Lass mich einfach machen.«

»Nein.« Vlads Stimme klang jetzt dunkler und rauer, voller Entschlossenheit. Er konnte Joss nicht allein lassen. Nicht jetzt. Nicht, nachdem er ihn fast getötet hätte. »Ich muss hierbleiben.«

Henry seufzte. »Na gut. Aber sobald der Krankenwagen ihn mitgenommen hat, erzählst du mir ganz genau, was hier heute Abend passiert ist.«

Die Zeit rauschte in einem Gewirr aus Momenten und Gefühlen an ihm vorbei, aber Vlad kam es nicht so vor, als wäre er Teil davon. Er war da, aber irgendwie auch wieder nicht. Er war schuld an allem. Genauso wie Joss vor nur ein paar Jahren schuld daran gewesen war, dass Vlad beinahe gestorben wäre.

Er saß an Joss’ Seite und flüsterte Entschuldigungen. Entschuldigungen, die er noch vor ein paar Minuten nicht ernst gemeint hätte.

Nicht im Traum hätte er daran gedacht, dass er sich eines Tages bei diesem Jungen entschuldigen würde, der ihn so oft verraten hatte.

Es tat ihm leid. Auch wenn Joss jeden einzelnen Schlag verdient hatte. Es tat ihm leid.

Henry saß neben ihm, schweigend und in sich gekehrt.

Dann, kurz bevor die Polizei eintraf, zogen sich Vlad und Henry in den Wald zurück und versteckten sich, sodass niemand sie sehen konnte. Wenige Augenblicke später – nicht länger als ein paar Atemzüge – bemerkten sie das Blaulicht des näher kommenden Krankenwagens. Dasselbe Licht, wie Vlad es in seinen Fieberträumen gesehen hatte, nachdem Joss ihm den verdammten Pflock in den Rücken gerammt hatte, mitten ins Herz. Dasselbe Licht, das ihn überzeugt hatte, dass er sterben würde. Er fragte sich, ob Joss gerade dasselbe durch den Kopf ging oder ob die Schmerzen ihm schon den Verstand geraubt hatten.

Vlads Blick verharrte auf Dorians Leiche. Die Sanitäter näherten sich Joss bereits und Vlad war klar, dass sie auch Dorian finden würden. Ihm war klar, dass es Fragen geben würde. Doch dann, so als wäre Dorian gar nicht da, stiegen die zwei Männer über seine Leiche hinweg und liefen weiter zu Joss.

Als das Blaulicht wieder in der Ferne verschwunden war, wandte Vlad sich ab vom Ort seines Verbrechens. Von dem Mann, der ausgesehen hatte wie sein Vater. Von seiner Wut auf Joss. Von allem, selbst von einem Teil seiner selbst. Für immer. Nichts war mehr wichtig. Nur sein Freund, der Junge, den er in die Obhut von Ärzten und Krankenschwestern gegeben hatte. Nur Joss war noch wichtig.

Denn Joss war sein Freund. Und nach allem, was sie durchgemacht hatten, war Vlad sich dessen sicherer als je zuvor. Joss hatte versehentlich Dorian getötet, als er eigentlich Vlad hatte töten wollen, und dafür musste es einen Grund geben.

Schließlich waren sie Freunde.

Nichts war jetzt mehr wichtig, außer, dass es Joss gut ging. Sonst nichts. Nicht einmal Vlads Vater. Wenn es überhaupt sein Vater gewesen war. Vielleicht war es ja ein Geist gewesen oder irgendwas anderes, was Vlads Bewusstsein sich zusammengesponnen hatte. Irgendetwas war es jedenfalls gewesen, so viel war sicher.

Irgendetwas. Aber nichts Reales.

Irgendetwas, was Dorians Blut in sein Gehirn gepflanzt hatte.

BITTERE ERKENNTNIS

Ein lauer Sommerwind wehte Vlad die schwarzen Stirnfransen aus den Augen, als Henry und er sich auf den Weg zurück zu Nellys Haus machten. Sobald der Krankenwagen wieder verschwunden war, hatte Henry von Vlad Antworten verlangt. Und nachdem sie Dorians Leiche mit ein paar heruntergefallenen belaubten Zweigen zugedeckt hatten, hatte Vlad sie ihm auch gegeben.

Auch wenn es schwer war, sie auszusprechen. Auch wenn die Wahrheit alles andere als schön war.

Vlad hatte weglaufen wollen, weg von allem. Er hatte das Schlafzimmer seiner Eltern ausräumen und dann Bathory für immer verlassen wollen. Er wollte vor der Justiz Elysias fliehen wie ein Feigling. Aber etwas hatte ihn davon abgehalten, und dieses Etwas war Joss gewesen. Oder, genauer gesagt, Joss’ Pflock.

Er hatte keine Ahnung, was Joss dazu gebracht hatte, ihn anzugreifen. Eigentlich hatte er gedacht, sie hätten in ihrer ungewöhnlichen Freundschaft eine Art Friedensabkommen getroffen. Aber Joss hatte ihn trotzdem pfählen wollen, und wenn Dorian nicht dazwischengetreten wäre, hätte er Vlad getötet.

Als Nächstes hatte Dorian von Vlad das Unmögliche verlangt: von ihm zu trinken. Er hatte gesagt, dies sei der einzige Weg, Vlad die Prophezeiung des Pravus zu übermitteln. Und so hatte Vlad, nur wenige Augenblicke vor Dorians Tod, dessen Blut getrunken. Danach hatte sich all seine Wut auf Joss gerichtet, doch er war abgelenkt worden.

Und jetzt … jetzt war alles ein einziger Trümmerhaufen und nichts würde je wieder so werden, wie es mal war.

»Warum hast du aufgehört?«

Vlad blinzelte verwirrt und ging etwas langsamer. »Was meinst du?«

Henry war noch immer genau neben ihm, hatte sich seinem Schritt angepasst. Sein Blick fing Vlads in der Dunkelheit auf. »Warum hast du aufgehört, auf Joss einzuschlagen? Warum hast du ihn nicht umgebracht?«

Vlad kaute einen Moment auf seiner Unterlippe und versuchte abzuschätzen, wie Henry wohl auf die Neuigkeit reagieren würde, dass Tomas Tod lebendig war. Na ja, zumindest in Vlads kranker Fantasie. »Wenn ich’s dir sage, würdest du mich sowieso nur für total durchgeknallt halten.«

»Das wäre ja wohl kaum was Neues, also komm schon. Raus damit, Vlad!« Da war er wieder, dieser Ton, mit dem er Vlad dazu gebracht hatte … tja, alles Mögliche zu tun, seit dem allerersten Tag ihrer Freundschaft.

Vlad wusste, dass er sich nicht widersetzen konnte. Außerdem musste er sich endlich jemandem anvertrauen, bevor er komplett überschnappte. »Eine Stimme hat mich aufgehalten.«

»Geheimnisvoll, gruselig und ziemlich abgedreht auf einmal, Alter.« Henry wurde langsamer und brachte auch Vlad zum Anhalten, indem er ihn beim Ärmel packte. »Was denn für eine Stimme? Vielleicht die vom Weihnachtsmann? Oder Direktor Snelgrove? Graf Dracula? Geht’s vielleicht auch ein kleines bisschen genauer?«

Vlad schluckte krampfhaft und zwang dann die Worte über seine Lippen, den Blick die ganze Zeit auf Henry gerichtet. »Es war mein Dad, Henry. Ich hab ihn gesehen. Er hat mit mir auf dieser Lichtung gestanden. Und dann war er auf einmal weg. Einfach … weg.«

Henrys Augen waren riesengroß, doch er nickte. »Okay. Gut. Du hast also deinen Dad gesehen.«

Vlad zuckte mit den Schultern und verspürte plötzlich den starken Wunsch, dass sich der Boden unter ihm auftun und ihn verschlingen möge.

Henry schluckte. »Etwa lebendig?«

Vlad wollte gerade die Augen verdrehen und Henry unmissverständlich klarmachen, dass das ja wohl eine total bescheuerte Frage war, dann aber hielt er inne. Schließlich war die Frage alles andere als bescheuert. Doch Vlad wusste nicht so recht, wie er darauf antworten sollte, denn wer wusste schon, ob sein Dad nun lebendig war oder nicht? Er konnte es nicht sagen.

Henry gab sich alle Mühe, verständnisvoll zu wirken, auch wenn er Vlad ansah, als hätte der nun vollends den Verstand verloren. Er gab Vlad einen Klaps auf die Schulter und sagte: »Erzähl mir das Ganze doch noch mal von vorne, okay? Ich will nur sichergehen, dass ich alles richtig kapiert hab.«

In den wenigen Minuten, die ihnen noch blieben, bevor sie Nellys Haus erreichten, lieferte Vlad seinen Bericht noch einmal ab. Und diesmal erklärte er sogar etwas ausführlicher, warum er von Dorian getrunken hatte, und beschrieb jedes Detail der Begegnung mit seinem Dad, an das er sich noch erinnern konnte. Als sie schließlich an Nellys Veranda ankamen, sah Henry ziemlich verwirrt aus. »Wow. Das ist echt krank.«

Vlad nickte und schloss die Tür auf. Und nun wurde es noch besser. Es war echt krank. Das Schlimmste aber war, dass Vlad keine Ahnung hatte, ob die Gestalt, die direkt hinter der Tür stand, real war oder bloß ein weiterer Albtraum, den er Dorians vergiftetem Blut zu verdanken hatte.

»Vladimir Tod. Wie schön, dich wiederzusehen.« Em lächelte und hielt einen Keks hoch, den sie sich offenbar in der Küche stibitzt hatte. »Auch einen?«

Vlad sah Henry an, dann wieder Em und schüttelte entsetzt den Kopf. Es war zu früh. Viel zu früh. Vlad war noch nicht bereit für seine Verhandlung. Noch lange nicht.

Ihre bloße Anwesenheit widerte ihn an, gleichzeitig aber war er ziemlich erleichtert, dass Nelly die ganze Woche Doppelschichten im Krankenhaus schob. Wenigstens ihr würde das Vergnügen erspart bleiben, Em kennenzulernen.

Em trug ein schwarzes Corsagentop und eine schwarze, extrem weite Baggyhose mit lilafarbenen Stickereien. Ihre Füße steckten in Chucks, die ganz ähnlich aussahen wie die von Vlad. Sie schenkte ihm ein überhebliches Lächeln, setzte sich auf die Armlehne der Couch und brach den Keks entzwei. Die eine Hälfte hielt sie Vlad hin, der ablehnend den Kopf schüttelte. Mit einem Stirnrunzeln, beinahe schmollend, drückte sie ihm das Stück trotzdem in die Hand.

Vlad verzog das Gesicht, als sie ihn berührte, biss aber nach einem ziemlich stechenden Blick von Em vorsichtig hinein. Die Schokosplitter hatten einen bitteren Beigeschmack.

Neben Em stand Enrico, dem das Ganze ein bisschen peinlich zu sein schien. Vlad nickte ihm zu und wandte sich einen Moment von Em ab. »Enrico, schön, dich zu sehen.«

Enrico – der Besitzer der V-Bar und Dorians Vater – trat vor, schüttelte Vlad die Hand und lächelte ihm freundlich zu, obwohl ein dunkler Schatten in seinen Augen lag. »Ich bin entzückt, wie immer, Vladimir.«

Vlad brachte es nicht über sich, Enrico von Dorians Tod zu erzählen. Noch nicht.

Die Treppe knarzte und Otis kam nach unten. Er trug kein Hemd und sein Haar war noch nass vom Duschen. Um den Nacken hatte er ein feuchtes weißes Handtuch geschlungen. »Ich dachte doch, ich hätte hier unten Stimmen gehört. Enrico? Was verschafft uns die Ehre deines Besuchs?«

Als Otis’ Blick auf Em fiel, sanken seine Schultern nach unten und seine Fröhlichkeit erlitt einen klaren Dämpfer.

Vlad fragte sich, ob sich wohl jemals irgendwer freute, sie zu sehen.

Enrico warf einen Blick zu Em, die nickte. Dann sah er wieder Otis an. »Ich fürchte, etwas Schreckliches ist passiert. Wie es scheint, ist ein Mitglied Elysias, eine sehr angesehene Persönlichkeit der Vampirgemeinschaft, ermordet worden.«

Niemand sagte etwas.

Vlads Herz gab zwei kräftige, erschrockene Schläge von sich, bevor es dann leise weiterraste. Dorian! Sie wussten schon von Dorian.

Die Luft schien dicker zu werden. Doch noch immer sagte niemand etwas.

Schließlich, als könne er es nicht länger ertragen, brach Henry das Schweigen. »Äh, einige hier haben keine telepathischen Fähigkeiten. Also, wer ist gestorben?«

Em warf ihm einen finsteren Blick zu, als sähe sie ihn gerade erst und hätte sofort beschlossen, ihn zu hassen. Vlad zuckte zusammen.

Doch Henry blinzelte nicht einmal. Vlad bekam immer mehr den Verdacht, dass einen McMillan wirklich nichts aus der Ruhe bringen konnte.

Em antwortete durch zusammengebissene Zähne, aber nicht an Henry gewandt. Sie richtete ihre Worte ausschließlich an die Vampire im Raum. »Wie es aussieht, ist D’Ablo ermordet worden.«

Vlads Blick flog überrascht zurück zu Em. D’Ablo? Tot? Der Vampir, der vier Jahre lang sein Erzfeind gewesen war, der Vampir, der ihn bis zum bitteren Ende gejagt hätte, der Vampir, der das personifizierte Böse in Vlads Leben gewesen war … war tot?

Und jemand anders hatte ihn ermordet? Das war unmöglich. Das konnte nicht sein. D’Ablo konnte nicht tot sein. Mann, der Typ hatte doch sogar das faustgroße Loch überlebt, das Vlad ihm mit dem Lucis in den Bauch geschossen hatte!

Vlad blickte Enrico an. »Seid ihr … sicher?«

Enrico nickte. »Es wurden zwei Häufchen Asche gefunden. Laut DNA-Untersuchung passen beide auf D’Ablo, was bedeutet, dass ihm vermutlich der Kopf abgetrennt wurde, bevor man ihn verbrannt hat.«

»Könnte ein Trick sein.« Henrys Stimme klang furchtbar fehl am Platz in einem Raum voller Vampire. Aber er hatte recht.

»Es ist kein Trick, Mensch.« Ems Tonfall war beißend. Und genau das hatte sie wahrscheinlich auch vor, wenn Henry nicht bald den Mund hielt. »Wir wissen ziemlich gut, wie viele Unzen Asche von einem verbrannten Vampir übrig bleiben. D’Ablo ist tot. Wag es nicht, unser Wort anzuzweifeln.«

Vlad fühlte sich plötzlich seltsam hohl. Es war beinahe, als hätte man ihm einen Freund genommen, ohne dass er sich von ihm hatte verabschieden können.

Einen grausamen, bösen, fanatischen Freund, dessen einziges Ziel es gewesen war, Vlad leiden zu sehen.

Otis stand noch immer am Fuß der Treppe und sein Gesicht wirkte leer.

Em erhob sich und Vlad musste gegen den Drang ankämpfen, einen Schritt zurückzuweichen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: »Ich muss dich vermutlich nicht darauf hinweisen, dass das Verfahren gegen dich nun eingestellt wird, da ein Großteil der Vorwürfe gegen dich im Zusammenhang mit dem günstigen Zeitpunkt von D’Ablos Ableben nichtig geworden sind.«

»Günstig?«, schnaubte Henry und zog abermals Ems hasserfüllten Blick auf sich. »Was soll das denn heißen? Dass Vlad D’Ablo getötet haben soll? Ja, sehr wahrscheinlich … Nachdem er damit in der Vergangenheit so unglaublich erfolgreich war.«

Vlad wollte Henry gerade warnen, dass dies ein guter Moment wäre, den Mund zu halten, wenn ihm sein Leben lieb war. Aber es war zu spät. Em machte einen Satz quer durch den Raum, bis sie fast Nase an Nase mit Vlads Lakaien stand. Sie fuhr ihm mit einem langen, lilafarben lackierten Fingernagel über die Wange, aber Henry zuckte nicht mal mit der Wimper. Vlad überlegte, ob er vielleicht unter Schock stand. Entweder das oder Henry hatte trotz allem, was Vlad seinem besten Freund über Em erzählt hatte, immer noch nicht eins und eins zusammengezählt und kapiert, dass das schnuckelige Mädchen vor ihm, das ihn so aufgebracht anfunkelte, in Wirklichkeit ein uraltes, unendlich böses Geschöpf war. Armer Henry. Armer, dummer, dummer Henry.

Ihre Stimme war beinahe ein Schnurren. »Ach, Menschlein, du hast keine Ahnung, was ich dir für Schmerzen bereiten könnte. Ich schlage vor, du behältst ab jetzt deine Gedanken für dich, bevor ich dem überwältigenden Drang nachgebe, dir bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen.«

Vlad sah seinen Onkel an, der die Szene interessiert beobachtete, aber noch immer nichts sagte. Dann wandte er sich wieder Em zu. »Also, was willst du damit andeuten? Dass ich D’Ablo getötet habe? Oder dass ich jemanden angeheuert habe, der ihn tötet?«

Otis’ Stimme war ruhig und dunkel, als er sich schließlich zu Wort meldete. »Keins von beidem entspricht der Wahrheit.«

Em trat einen Schritt zurück und drehte sich auf dem Absatz zu Otis um. Nachdem sie ihn eine Weile schweigend gemustert hatte, wandte sie ihren Blick wieder Vlad zu. Bevor sie etwas sagen konnte, flüsterte Henry: »Alter, die giftige Schnalle ist echt mal heiß.«

Vlad verdrehte die Augen, hörte aber sofort auf, als er Ems Blick auffing. Henry sah sie nicht mal mehr an. »Ein Vorwurf gegen dich bleibt jedoch bestehen, Kleiner. Der Vorwurf, dass dein Vater eine romantische Beziehung mit einer Menschenfrau eingegangen ist.«

Henry warf Vlad einen bezeichnenden Blick zu, aber Vlad schenkte ihm keine Beachtung. »Und dafür muss ich mich verantworten, weil mein Vater tot ist, richtig?«

Em nickte knapp und in ihren Augen regte sich Argwohn.

Vlad holte tief Luft. »Was würdet ihr davon halten, wenn ich euch erzählen würde, dass ich meinen Vater heute Nacht gesehen habe, lebendig und wohlauf?«

Otis erhob das Wort, diesmal aber in Vlads Kopf, geschützt vor den misstrauischen Ohren der anderen. »Das hier ist kein Spiel, Vladimir. Du kannst Em nicht täuschen, um Zeit zu gewinnen.«

»Ich weiß. Aber ich versuche auch niemanden zu täuschen, Otis. Ich habe ihn wirklich gesehen.«

Otis schwieg einen Moment, dann nickte er seinem Neffen zu und trat einen Schritt zurück. Er wirkte zutiefst verstört. »Darüber unterhalten wir uns, wenn Em gegangen ist, in Ordnung?«

»Klar.«

Em schien eine Weile über Vlads Worte nachzudenken, bevor sie schließlich antwortete. »Bist du bereit, diese Aussage zu Protokoll zu geben, Kleiner?«

Vlad biss die Zähne aufeinander und nickte.

»Dann sieht es wohl so aus, als gäbe es doch noch eine Verhandlung. Eine Verhandlung gegen Tomas, wenn du ihn bis zum letzten Tag im Dezember ausfindig machen kannst. Wir werden ihm gleich hier im beschaulichen kleinen Bathory den Prozess machen. Wenn du ihn uns jedoch nicht lebendig präsentieren kannst, wirst du für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen. Und dann wirst du dafür sterben. Langsam. Und so schmerzvoll wie möglich. Ich bin sicher, dir ist bewusst, dass seine Beziehung zu einer Menschenfrau auf dich zurückfällt, wenn er nicht mehr am Leben ist.« Sie sah Vlad in die Augen, und obwohl ihre Stimme freundlich klang, war in den Tiefen ihres Blicks nichts dergleichen zu erkennen. »Nur weil mir dein Vater und unsere gemeinsame Vergangenheit am Herzen liegen, gewähre ich dir oder deinem Vater etwas Zeit, um von der Welt Abschied zu nehmen. Sieh es als Zeichen meiner Liebenswürdigkeit und zolle meiner Entscheidung gebührenden Respekt, indem du nicht versuchst zu fliehen. Wenn du fliehst, wenn du versuchst, dich zu verstecken, werde ich dafür sorgen, dass dich ein sehr viel schlimmeres Schicksal ereilt … ebenso wie deinen Vater, sollte er wirklich am Leben sein.«

Otis’ Stimme war leise und nachdenklich. »Und wie steht es mit D’Ablos Mörder? Gibt es eine Spur?«

Em drehte sich zu Otis um und irgendetwas Unausgesprochenes ging zwischen ihnen hin und her. Vlad wusste nicht, was es war, aber es war beunruhigend, um es ganz vorsichtig auszudrücken. »Welche gemeinsame Vergangenheit überhaupt? Woher kanntet ihr euch, du und mein Vater?«

Em schnalzte mit der Zunge. »Tomas und ich kannten uns gut. Ich bin seine Großmutter, musst du wissen. Die Mutter von Ignatius.«

Sie hielt einen Moment inne und ließ ihre Worte wirken. Als Vlad keinerlei Reaktion zeigte, fuhr sie fort: »Ich bin deine Urgroßmutter, Vladimir.«

Vlads Brust fühlte sich plötzlich hohl an. So als hätte jemand ein riesiges Loch in seinen Brustkorb gegraben, ohne dass er etwas davon mitbekommen hatte.

Urgroßmutter. Diese mädchenhafte Bestie, in deren Augen er die Gier nach seinem Untergang lesen konnte, war seine Urgroßmutter?

Nein.

Das konnte nicht sein.

Er schüttelte den Kopf, weigerte sich, Ems Worten Glauben zu schenken, und sah zu seinem Onkel hinüber, der entsetzt dreinblickte und gleichzeitig so, als sei ihm übel geworden. »Meine Urgroßmutter?«

Nach einem Moment des Schweigens, vielleicht weil er seine Worte mit Bedacht wählen wollte, sagte Otis schließlich: »Es ist die Wahrheit. Em ist meine Großmutter, die Großmutter deines Vaters und Ignatius’ Mutter.«

Dann trat Otis einen Schritt näher. »Aber das sagt absolut nichts über dich aus, Vladimir. Wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen. Oder unsere Großeltern.«

Em lächelte, doch ihre Augen blieben kalt. Sie wischte sich die Kekskrümel von der Kleidung. »Unsere Kinder dagegen können wir uns aussuchen. Auch wenn wir manchmal eine schlechte Wahl treffen.«

Ihr Blick fiel auf Vlad und in ihren Augen brannte ein Hass, den sie nicht verbergen konnte. »Was jedoch unsere Urenkel betrifft … nun ja … auch unsere Kinder und Kindeskinder treffen manchmal eine schlechte Wahl.«

Eine unbehagliche Stille senkte sich über die nicht ganz so glückliche Familie. Niemand sprach oder rührte sich, bis Em sich schließlich zur Tür wandte. Als sie nach draußen trat, sagte sie: »Du hast Zeit bis zum einunddreißigsten Dezember, um deinen Vater ausfindig zu machen und ihn vor den Ältestenrat zu bringen. Dann werden wir sehen, ob du über sein Auftauchen gelogen hast, wovon ich überzeugt bin. Sei versichert, dass du dein Leben dadurch nur um ein paar Monate verlängert hast, denn der Tod ist die einzig angemessene Strafe für die Vergehen, die dir zur Last gelegt werden.«

Vlad stieß den Atem aus, an dem seine Lungen sich seit einer gefühlten Ewigkeit festgeklammert zu haben schienen.

Er hatte sich soeben selbst das Leben gerettet. Zumindest bis auf Weiteres.

Das Problem war nur, dass er nun das Unmögliche schaffen musste.

Er musste seinen Vater finden.

UNTER VERDACHT

In der Notaufnahme herrschte Massenandrang, es war unfassbar laut, und obwohl Vlad schon seit einer gefühlten Ewigkeit wartete, blieb niemand stehen, um ihm ein paar Antworten zu geben – nämlich darüber, ob sein Freund überleben oder sterben würde.

Nachdem Em gegangen war, hatte Henry sie so schnell es ging hergefahren, auch wenn sie noch einen Zwischenstopp an der Lichtung eingelegt hatten, um Joss’ Rucksack – und, noch viel wichtiger, das Tagebuch von Vlads Vater, das darin sein musste – zu suchen. Das Tagebuch bedeutete Vlad viel und nach der möglichen wundersamen Wiederkehr seines Vaters fragte er sich, ob das Buch ihm vielleicht Hinweise liefern könnte, die er vorher übersehen hatte, oder ob es ihn sogar zu seinem Dad führen würde. Doch alles, was sie vorgefunden hatten, war ein Flecken Gras gewesen, durchtränkt von Dorians Blut. Verwirrung machte sich in Vlad breit – wo war Dorian? Doch gerade als sich schon die Hoffnung, Dorian könnte vielleicht überlebt haben, in ihm regen wollte, erinnerte Vlad sich an dessen letzte Momente und er wusste, dass er tot war. Wohin seine Leiche verschwunden war, war eine andere Frage. Vlad versuchte, nicht auf die Stelle zu sehen, wo Dorian gestorben war, und gab sich alle Mühe, nicht zu genau an jene letzten Momente zu denken. Dann verfluchte er sich selbst dafür, dass er nicht gleich daran gedacht hatte, das Tagebuch mitzunehmen. Dann würde es wohl im Krankenhaus sein, bei Joss. Das musste es einfach.

Otis hatte gesagt, er habe noch etwas Wichtiges zu erledigen, danach aber wollte er gleich Nelly holen und zu ihnen in die Notaufnahme kommen.

Schließlich, nach viel zu langer Zeit, näherte sich ihnen ein Mann im weißen Kittel, sein Gesicht wirkte angespannt, die Lippen waren aufeinandergepresst. Er wusste es. Irgendwoher wusste er, dass Vlad schuld an allem war. »Ihr seid wegen des Jungen hier, der zusammengeschlagen wurde?«

Vlad nickte und schluckte seine Schuldgefühle wie eine bittere Pille hinunter. »Joss McMillan.«

Der Mann im weißen Kittel – Vlad konnte den Namen auf dem Schild nicht genau entziffern – blätterte durch ein paar Seiten auf dem Klemmbrett, das er bei sich trug, und machte sich eine Notiz in einer Handschrift, die Vlad stark an Otis’ unleserliches Gekritzel erinnerte. Dann sah er Vlad in die Augen, sein Blick war undurchdringlich, das Gesicht ausdruckslos. »Er ist bei Bewusstsein, aber nur knapp. Die Schmerzmittel, die wir ihm gegeben haben, machen ihn ziemlich müde. Könnt ihr mir sagen, was passiert ist?«

»Ich …« Das schlechte Gewissen traf Vlad hart und unerbittlich, es sickerte in seine Muskeln, die Knochen, in jedes Organ – ganz besonders sein Herz. Gleichzeitig dämmerte ihm, dass er sich eine Menge Ärger damit einhandeln würde, irgendjemandem gegenüber irgendetwas zuzugeben. Vielleicht würde er sogar im Gefängnis landen. Der Gedanke war ihm kaum durch den Kopf geschossen, als er auch schon zwei uniformierte Polizisten schnurstracks auf sich zukommen sah, den Blick fest auf ihn gerichtet. Vlads nächste Worte waren nicht mehr als ein Murmeln, weit weg, verloren. »Nein, kann ich nicht.«

Henry trat vor. »Hören Sie, Joss ist mein Cousin und Vlads Freund. Wir wollen nur wissen, wie es ihm geht.«

Der größere der beiden Polizisten, der ziemlich griesgrämig dreinblickte, fragte: »Vladimir Tod?«

Vlad sah zwischen den Polizisten hin und her, so als hätte er keine Ahnung davon, dass sie hier waren, um ihn zu verhaften, weil er Joss krankenhausreif geschlagen hatte. Dabei hätte Vlad sein Leben darauf verwettet.

Sein Leben. Das Joss ihm schon zweimal hatte nehmen wollen.

Aber das würde niemanden interessieren. Vor allem, weil Vlad ihnen so gut wie nichts verraten konnte, ohne dabei zuzugeben, dass er ein Vampir war.

Na ja, ein Halbvampir, wenn sie es denn ganz genau wissen wollten.

Der kleinere Polizist, der freundlich lächelte, sagte: »Wir würden uns gern mal mit dir unterhalten.«

Vlad schluckte, in seinem Hals bildete sich ein Kloß, so groß wie eine Grapefruit, doch es gelang ihm zu nicken. Sie lotsten ihn von Henry weg, der ihnen besorgt nachsah.

Der freundliche Polizist legte gleich los. »Wie gut kennst du Joss McMillan?«

»Ziemlich gut. Wir sind befreundet.« Vlad zuckte mit den Schultern und sein Herz schien zu brechen bei dem Gedanken an das, was er Joss angetan hatte. Nie und nimmer hätte er das für möglich gehalten. Nicht nachdem sie sich wieder zusammengerauft hatten, nicht nach ihren vielen nächtlichen Treffen, bei denen sie zum Spaß miteinander gekämpft hatten.

Nur heute Abend war es blutiger Ernst gewesen, reine Selbstverteidigung. Doch Vlad musste zugeben, dass von seiner Seite her auch ein kleines bisschen Rache dabei gewesen war – und das lag ihm jetzt ziemlich schwer im Magen, gärte dort vor sich hin. »Oder waren es zumindest.«

Der freundliche Polizist lächelte verständnisvoll. Vlad war froh, dass er derjenige war, der das Wort führte. Der griesgrämige sah einfach nur … na ja … griesgrämig aus. »Und jetzt ist es aus mit der Freundschaft?«

»Wir haben uns gestritten.«

»Wegen eines Mädchens?«

»Nein. Das heißt … ich weiß eigentlich gar nicht genau, worüber. Joss hat sich in letzter Zeit irgendwie ziemlich verändert.« Vlads Gedanken wirbelten wie ein Tornado durch seinen Kopf. Wie kamen sie darauf, dass es um ein Mädchen gegangen war? Wussten sie etwa von Meredith? Dachten sie vielleicht, Vlad hätte Joss deswegen so übel zugerichtet? Mit zitternder Hand strich er sich die Haare aus den Augen. »Hören Sie, bin ich vielleicht irgendwie in Schwierigkeiten?«

Freundlich lehnte sich zu ihm herüber und senkte die Stimme, als wollte er Vladimir ein finsteres Geheimnis anvertrauen. »Hat Joss dir gegenüber jemals von seinem Onkel gesprochen? Abraham McMillan? Hat er irgendwas über ihn erzählt?«

Vlad blinzelte. Was hatte das denn damit zu tun, dass er Joss krankenhausreif geschlagen hatte? »Nein. Nicht dass ich wüsste. Warum?«

Die beiden Polizisten wechselten einen Blick und Freundlich drückte Vlad sanft die Schulter. »Mehr müssen wir nicht wissen, Vlad. Danke für deine Mitarbeit. Wir hoffen, dass dein Freund sich schnell wieder erholt. Das Ganze war doch ein Unfall, oder?«

Vlad blickte ihm unverwandt in die Augen, und bevor er es verhindern konnte, platzte er mit der Wahrheit heraus. »Nein, Sir.«

Freundlich zögerte, seine Augenbrauen rutschten ein Stück höher, dann trat Verständnis in seinen Blick.

Das war’s dann wohl. Das war der Moment, in dem die Polizisten ihm Handschellen anlegen und ihn ins Gefängnis stecken würden. Vlad wusste es. Er konnte es spüren. Dem Polizisten wurde langsam klar, dass Vlad soeben eine schlimme Gewalttat gestanden hatte, und er würde jede Sekunde nach seinen Handschellen greifen.

Freundlich runzelte die Stirn und drückte Vlad abermals die Schulter. »Na, wennschon.«

Als die Polizisten davongingen, starrte Vlad ihnen hinterher, völlig perplex und ohne auch nur einen Schimmer zu haben, warum er nicht verhaftet worden war.

Dann kam Nelly durch den Flur auf ihn zugeeilt, sie wirkte verängstigt und besorgt. Neben ihr lief Otis. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Nelly. »Was war denn los zwischen euch? Geht es Joss gut?«

Vlad senkte die Stimme, und obwohl seine Worte der Wahrheit entsprachen, fühlte er sich doch schrecklich dabei, sie auszusprechen. Schrecklich, denn er war kurz davor gewesen, den einen Menschen auf diesem Planeten zu töten, den er neben Henry seinen besten Freund nannte. Selbst nach allem, was Joss getan hatte. »Joss hat versucht, mich zu pfählen. Ich musste mich verteidigen.«

Otis’ Augen wurden schmal, als wollte er sagen: Ich hab’s dir ja gesagt. Nellys dagegen weiteten sich vor Entsetzen.

Die Tür zu Joss’ Zimmer ging auf und seine Mutter trat heraus, gefolgt von seinem Vater. Vlad hatte gar nicht bemerkt, dass die beiden hineingegangen waren. Aber er war ja auch ein kleines bisschen durch diese Beinahe-Verhaftung abgelenkt gewesen. »Mrs McMillan, ist alles in Ordnung? Was ist mit Joss?«

Joss’ Mom schnupfte in ein zerfleddertes Taschentuch und starrte Vlad an. »Sprich mich nicht an. Und halt dich von meinem Sohn fern.«

Vlad durchforstete sein Gehirn, doch ihm wollte einfach nichts Angemessenes einfallen, was er sagen könnte. Also tat er lieber wie geheißen und hielt den Mund.

Joss’ Dad blickte Otis an und in seinen Augen lag fast so etwas wie ein entschuldigendes Flackern – was Vlad sich absolut nicht erklären konnte. Außerdem fiel ihm auf, dass Joss’ Dad ihn kein einziges Mal ansah. »Er wird schon wieder. Wir haben Joss nur in den letzten Jahren schon so oft nach Prügeleien in Krankenhäusern besucht, dass … dass es langsam einfach ein bisschen viel wird.«

Nelly öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Otis warf ihr einen Blick zu, der sie davon abhielt. Otis folgte den McMillans in den Warteraum für Angehörige, wo Matilda und Big Mike mit Henry warteten. Vlad hatte das Gefühl, er sollte irgendetwas sagen, aber er wusste nicht, was. Er erwog kurz, Henry beiseitezunehmen und ihm von dem seltsamen Gespräch mit den Polizisten zu erzählen. Aber dafür hätte er noch einmal an Joss’ Eltern vorbeigemusst – und das hielt er für eine ziemlich schlechte Idee.

Nach ein paar Minuten kam Otis zurück und sagte: »Sie lassen Joss jetzt in eine Spezialklinik verlegen, wo er sich erholen kann, aber sie wollen nicht sagen, wohin. Seine Eltern, besonders seine Mutter, geben dir die Schuld, Vlad. Joss hat ihnen erzählt, dass ihr euch geprügelt habt und er verloren hat, aber er hat nicht verraten, wie es wirklich gewesen ist, also dass du ein Vampir bist und er ein Jäger. Wenigstens dafür können wir ihm dankbar sein.«

Vlad sah seinem Onkel in die Augen und sprach in Gedanken zu ihm. »Otis. Es gibt da was, was ich dir vorhin vergessen habe zu erzählen. Dorian ist tot.«

Otis wirkte betroffen, aber seltsamerweise auch erleichtert, so als wäre eine unsichtbare Last von ihm abgefallen. »Ich weiß. Ich habe sein Blut gerochen und habe auf der Lichtung nachgesehen. Ich habe seine Leiche ein bisschen besser versteckt. Vikas und ich lassen sie dann später ganz verschwinden. Was ist denn genau passiert?«

»Er hat mich vor Joss gerettet. Er hat sich für mich pfählen lassen. Und dann hat er gesagt, ich soll …« Vlads Gedanken schweiften ab. Er war sich nicht sicher, wie viel er seinem Onkel anvertrauen sollte. Fürs Erste wäre es wahrscheinlich klüger, nicht zu verraten, dass er von Dorian getrunken hatte, sondern sich den nächsten Schritt zu überlegen. Also, eins nach dem anderen: Erst einmal musste er prüfen, ob Dorians Blut ihn wirklich wahnsinnig gemacht hatte, und das bedeutete, dass er sich dem Geist seines Vaters stellen musste. Wenn er seinen Dad tatsächlich finden konnte, brauchte Otis ja gar nicht erfahren, dass Vlad überhaupt von Dorian getrunken hatte. Was zugegeben nicht das Klügste gewesen war.

Denn Vlad hatte genau gewusst, dass Dorians Blut in irgendeiner Weise nicht gut für ihn sein würde. Schließlich hatte Onkel Otis die bizarre Fähigkeit entwickelt, mit der bloßen Kraft seiner Gedanken Türen zufallen zu lassen, nachdem er von Dorians Sohn getrunken hatte. Und bei Dorian selbst war es immer so gewesen, als wüsste er ganz genau, was passieren würde … bis zum Ende. Otis schien Angst vor Dorian gehabt zu haben, darum hatte Vlad ebenfalls Angst vor ihm gehabt. Wenn Vlad Otis nun gestand, was er getan hatte, würde ihm wahrscheinlich die Standpauke seines Lebens blühen. Und das Letzte, was er im Moment gebrauchen konnte, war, dass man ihn noch genauer im Auge behielt.

Otis hob scharf die Augenbraue. »Du sollst was?«

Vlad schüttelte den Kopf und ignorierte Nellys Blick, die angesichts des lautlosen Gesprächs zwischen ihm und seinem Onkel zusehends nervöser wurde. »Ach, nichts. Du hast dich also um die Leiche gekümmert?«

»Fürs Erste, ja. Es war wirklich ein Glück, dass die Sanitäter sie nicht gesehen haben. Aber ich nehme an, da war vielleicht ein bisschen unbewusste Kontrolle deinerseits im Spiel.« Otis blickte ihn noch immer mit gehobener Augenbraue an. »Und du bist sicher, dass du mir nicht noch irgendetwas anderes erzählen wolltest?«

Vlad runzelte die Stirn, als Otis scheinbar nebenbei diese »unbewusste Kontrolle« erwähnte – was auch immer das sein sollte –, und nahm sich vor, seinen Onkel später danach zu fragen. Dann kaute er einen Moment auf seiner Unterlippe herum und dachte noch einmal über seine Entscheidung nach, Otis nichts davon zu erzählen, dass er Dorians Blut getrunken hatte. Schließlich war es nie besonders hilfreich gewesen, irgendwas vor ihm geheim zu halten. Trotzdem, diesmal hatte er das Gefühl, das Richtige zu tun. Das hier musste er allein klären. »Im Moment nicht.«

Nelly tätschelte Vlads Arm. »Ich unterbreche eure telepathische Unterhaltung nur ungern, aber wir sollten jetzt nach Hause fahren.«

Vlad nickte langsam und wünschte, er könnte Joss wenigstens kurz sehen, bevor sie gingen. Außerdem hätte er gern einen Blick in Joss’ Rucksack geworfen, um das Tagebuch herauszuholen, bevor es noch in falsche Hände – das heißt in die der Vampirjägervereinigung – geriet. Aber wie es aussah, würde er dazu wohl keine Gelegenheit mehr bekommen. Jedenfalls nicht heute. Heute musste er Joss seinen besorgten Eltern überlassen und hoffen, dass er und Joss noch immer Freunde waren, egal, was Joss ihm hatte antun wollen. Er hatte ihm vertraut während ihrer spätnächtlichen Scheinkämpfe. Und er hatte noch immer das Gefühl, dass er Joss vertrauen konnte, selbst jetzt noch.

Nelly nahm ihn fest in den Arm und ihre Stimme war tröstlich, als sie flüsterte: »Du siehst so verstört aus. Mach dir keine Sorgen, Joss wird überleben. Darauf verwette ich mein Schwesternzeugnis.«

Vlad schüttelte den Kopf und flüsterte zurück: »Das ist es nicht.«

Wieder trat die altbekannte mütterliche Sorge in ihren Blick. »Was denn dann?«

»Ich hab meinen …« Vlad hielt inne und schüttelte den Kopf. Er konnte Nelly nicht von seinem Vater erzählen. Sie durfte nicht wissen, was er zu sehen geglaubt hatte. Zuerst musste er sich allein den Gespinsten seines kranken Verstands stellen und einen Beweis dafür finden, dass sein Vater natürlich nicht am Leben war, sondern dass Vlad genauso verrückt war wie Dorian vor seinem Tod. »Ach, schon gut. War wahrscheinlich nur Einbildung. Ich glaube, ich brauche ein bisschen frische Luft. Ich warte draußen, bis ihr so weit seid.«

Als Vlad an der Tür des Wartezimmers vorbeikam, warf er einen Blick hinein. Griesgram sah kurz zu ihm auf, stieß Freundlich an und nickte zu Vlad hinüber. Offensichtlich hatten sie ihn noch immer auf ihrem Radar, aber dagegen konnte er wohl nicht viel tun.

Er verließ das Krankenhaus durch eine Seitentür und trat auf eine kleine, dunkle Nebenstraße hinaus. Eine Kühle empfing ihn, die ihm ins Gedächtnis rief, dass es zwar offiziell bereits Sommer war, aber der Frühling noch immer ein Wörtchen mitzureden hatte. Am Ende der Straße standen zwei uniformierte Polizisten neben einem Toyota Prius. Vlad vermutete, dass sie darüber beratschlagten, ob sie dem Besitzer des Wagens einen Strafzettel verpassen sollten. Zumindest bis der eine Polizist die Beifahrertür aufmachte und einen Stapel Papiere auf den Sitz fallen ließ.

Merkwürdig. Sehr merkwürdig, dass zwei uniformierte Polizisten mit einem Prius unterwegs waren statt mit einem offiziellen Streifenwagen.

Vlad wurde langsamer und blieb stehen. Er überlegte, ob er lieber wieder hineingehen sollte, aber er konnte nicht recht sagen, was genau ihm an der Szene so falsch vorkam. Es war mehr ein ungutes Gefühl in seiner Magengrube – wahrscheinlich lag es nur am Anblick der Polizisten, nachdem er gerade erst von zwei anderen verhört worden war.

Schlechtes Gewissen, das war’s. Ganz einfach.

Einer der Polizisten drehte sich zu Vlad um. Eine dünne Narbe verlief von seinem linken Auge zum Mundwinkel. Als er Vlad sah, stieß er seinen Kollegen an und beide wandten sich ihm zu. »Entschuldige, Junge, aber bist du nicht Vladimir Tod? Wir hätten da ein paar Fragen an dich.«

Vlad runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. »Reden Sie einfach mit Ihren Kollegen da drinnen. Denen hab ich schon alles erzählt.«

Die Polizisten wechselten einen Blick und kamen dann durch die Gasse auf Vlad zu.

Vlad hätte sich am liebsten selbst dafür geohrfeigt, dass er nicht den Mund gehalten und abgewartet hatte.

Der Polizist mit der Narbe lächelte, als sie sich ihm näherten. »Du hast ja ein ganz schön großes Mundwerk, Junge. Pass besser ein bisschen auf. Sonst bekommst du eines Tages noch Schwierigkeiten deswegen.«

Der andere Polizist, dessen Haaransatz schon ziemlich weit zurückgewichen war, grunzte zustimmend.

Vlad seufzte. »Sie haben also Fragen an mich?«

»Nur eine. Ich bin nämlich neugierig.« Das Narbengesicht sah Vlad direkt in die Augen und hielt seinen Blick fest. »Warum hast du ihn nicht kaltgemacht? Ich meine, deine Kumpels hätten auch nicht von ihm abgelassen, bevor es vorüber gewesen wäre. Also, warum hast du Joss am Leben gelassen?«

Vlads Herz begann, vor Verwirrung zu rasen. Er zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Wovon reden Sie eigentlich?«

Halbglatze griff an seinen Gürtel, und als er seinen Schlagstock aus dem Holster zog, huschte Vlads Blick zu dessen Ende.

Zu der scharfen, silbernen Spitze.

Das war kein Schlagstock. Es war ein Pflock. Die Polizisten vor ihm waren Vampirjäger!

Vlad hob die Hände und ging langsam rückwärts. »Hey, das ist doch wohl nicht Ihr Ernst.«

Sein Rücken stieß an etwas Lebendiges hinter ihm. Freundlich – der auf einmal gar nicht mehr so freundlich aussah. »Oh doch. Das ist es.«

Neben Freundlich stand Griesgram und sah genauso mürrisch aus wie eh und je. Und jetzt wusste Vlad auch, warum.

Sie waren hier, um den Auftrag zu Ende zu führen, den Joss begonnen hatte. Darum hatten sie Vlad nicht ins Gefängnis gebracht. Weil sie genau diesen Moment abgewartet hatten, um ihn ganz woanders hinzubringen.

Nämlich ins Grab.

Vlad beobachtete Freundlich aus dem Augenwinkel und sein Herz klopfte noch schneller, als nun auch der nach seinem Pflock griff. Vlad holte tief Luft und biss die Zähne zusammen, ihm war klar, was er zu tun hatte. Anders würde er hier nicht lebend rauskommen.