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Zwischen Trauma und Hoffnung: Berits Suche nach sich selbst Berit wacht eines Morgens auf - und vier Monate ihres Lebens sind spurlos verschwunden. Fremde Möbel. Unbekannte Kleidung. Stimmen im Kopf. Was wie ein Albtraum klingt, ist ihre Realität. Langsam fügt sich das Bild: In ihrem Körper leben viele. Jeder Teil trägt Erinnerungen, Schmerz, Überlebensstrategien - und gemeinsam erzählen sie Berits wahre Geschichte. Zwischen innerem Chaos und äußeren Herausforderungen kämpft sie um Selbstbestimmung. Und um Liebe - zu sich selbst, und zu Martha. „Vogel mit Licht“ ist ein eindrucksvoller Roman über Identität, Trauma und Heilung. Mit literarischer Tiefe und psychologischem Feingefühl eröffnet er Einblicke in eine zersplitterte Seele, die sich neu zusammensetzt. Eine Geschichte über das Unsichtbare in uns – und die Kraft, daraus etwas Ganzes zu machen. Kann Berit all ihre Anteile vereinen - und ein eigenes Leben beginnen?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wie aus dem Nichts tauchte ANDERS in der Therapie auf, ein heftiger Impuls hatte ihn in die Gegenwart geschubst, die Zeit zwischen damals und heute zusammengeschoben wie der Balg eines Akkordeons.
Kaum angekommen, lief er zur Tür, riss sie auf, flüchtete durch den kleinen Flur die Stufen hinunter in den Garten.
Schockiert von der haltlosen Weite über ihm blieb er stehen, keuchte vor Angst und zitterte. Die Frau kam vorsichtig näher, hielt an und wartete. ANDERS wusste plötzlich, dass ihm in diesem Garten nichts passieren würde. Er stand da und horchte, ein fernes Dröhnen vibrierte in der Luft. Es kam näher, ANDERS starrte in den Himmel, zeigte aufgeregt mit dem Finger nach oben: „Vogel! Vogel mit Licht!“ Kurz darauf kam noch ein Flugzeug, und dann noch eins. „Nest“, sagte er und sah ihnen nach.
Mit der Beiläufigkeit eines Wimpernschlags war er wieder verschwunden; in den Keller mit dem kleinen Fenster hoch oben musste er nicht mehr.
Ich widme dieses Buch allen Menschen, die VIELE sind.
Berit
Protagonistin (Gedanken kursiv)
Die WG (die Namen der INNENPERSONEN sind großgeschrieben, ihre Kommunikation untereinander und mit Berit kursiv):
TOM
BLUE
MIKE
MARA
KATHARINA
RUBY
JOHANN
CHRISTINA
ANDERS
LUCY
TORE
CARO
Rabe – Berits Mutter
Frida – beste Freundin
Agnes – Freundin
Kristin, Johanna, Silke – Kommilitoninnen
Martha – Berits heimliche Liebe
Personen
Die WG
TOM
TOM
TOM
TOM
TOM
TOM
TOM
TOM
TOM
TOM
TOM
TOM
TOM
Das bin ja ich
Martha
Epilog
TOM
Glossar
Ein Wittern setzt ein, ein Stutzen: Etwas ist anders als sonst. Es ist der Luftzug, er kommt von rechts, er müsste von links kommen. Ihre Augenlider geben widerwillig den müden Blick frei, doch die erwarteten Konturen des Raumes stellen sich nicht ein, sie sieht nicht das, was sie sehen sollte. Erschreckt hebt sie den Kopf und sieht sich um: Es ist ihr Schlafzimmer. Aber nichts ist, wie es war: Jemand hat umgeräumt, die Wände neu gestrichen. Orange! Sie lässt sich zurückfallen, zurück auf ihr weiches Kopfkissen, bezogen mit der gestreiften Bettwäsche, wenigstens die kennt sie.
Doch zum Verweilen bleibt keine Zeit, sie schlägt die Bettdecke zurück, richtet sich auf, stellt die Füße mit Schwung auf den kleinen Teppich. In ihrem Kopf dreht es sich, sie verharrt auf der harten Bettkante. Der Schwindel lässt nach.
Auf dem Weg in die Küche gibt es nur ein Ziel: einen Kaffee, eine Zigarette. Im Flur stößt sie auf ein Hindernis, ihr Knie schlägt gegen die Kante eines Regals: Wo sonst alles frei war, nehmen plötzlich in dem schmalen Flur hohe Bücherregale die ganze Wandseite ein. Kurz ins Schlingern gebracht, fängt sie sich wieder, steuert wackelig die Küche an.
Dort scheint alles beim Alten. Die gewohnten Handgriffe machen sich von allein, das Röhren der kleinen Mühle ist vertraut, der Geruch der Kaffeebohnen bringt ein wenig Ruhe ins Hirn. Sie tritt hinaus auf den Balkon, stellt den heißen Kaffeebecher ab, zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen ersten Zug, die Augen fast geschlossen.
Von Nikotin und Kaffee zusammengefügt, lässt sie den Blick über den weiträumigen Hinterhof schweifen. Die großen Bäume gegenüber sind halb kahl, die Blätter braun. Sie runzelt die Stirn: Was ist mit den Ulmen geschehen? Sind sie. Das kann nicht sein. Sie hatte sich am Vortag todmüde ins Bett gelegt. Es war warm! Sie hatte kurze Jeans getragen, ein leichtes Sommerhemd, mittags im Sekretariat ihre Diplomarbeit abgegeben, die Nacht davor durchgemacht, um alles zu schaffen: dreißigster Juni, Abgabetermin.
Gestern.
Gestern?
Sie stellt den Kaffeebecher ab, läuft durch den Flur zurück ins Schlafzimmer, wirft einen Blick nach unten auf die Straße: Blätter wirbeln auf und fliegen durch die Luft. Die Menschen draußen tragen lange Hosen, sie haben Jacken an, oder Mäntel, mit hochgezogenen Schultern schützen sie sich vor dem scharfen Wind. Das Licht ist blass, der Himmel bedeckt, die Geräusche der Straße klingen nicht nach Sommer. Einen Moment bleibt sie ratlos am Fenster stehen, wohin sie auch blickt, es ist Herbst. Über Nacht eingegangen an dieser Krankheit, die die Blätter schon im Sommer welken lässt? Es fröstelt sie, die Luft ist kühl. Es riecht nach Herbst.
Wo ist die Zeit geblieben?
Hastig zieht sie sich an: T-Shirt, Jeans, Turnschuhe, Lederjacke. Sie läuft die vier Etagen hinunter auf die Straße, und dann in schnellem Schritt zum Kiosk um die Ecke. Die Kioskfrau ist noch dieselbe:
„Moin! Lange nicht dagewesen! Wo haste denn gesteckt?“
„War verreist.“
Die Kioskfrau schiebt ihr das Übliche über den Tresen: ein Päckchen Tabak, ein Brötchen, die Tageszeitung. Oben rechts steht das Datum: zwanzigster Oktober. Die Zeitung klemmt sie unter den Arm, sie hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen.
Herbst also. Na gut. Unbequeme Fragen nach dem Verbleib des Sommers nähern sich ihr in konzentrischen Kreisen und verschwinden unbeachtet. Es gibt Wichtigeres: Der Status quo einer unvermittelt eingetretenen Gegenwart muss durchgecheckt, Kontrolle dringend ergriffen werden.
Vor ihrem Haus angekommen, ist es beinah wie immer: Zeitung, Tabak und Brötchen sind Beweise eines normalen Alltags, sie fühlt sich einer erneuten Begegnung mit ihrer Wohnung gewachsen.
Oben angekommen, inspiziert sie die Räume: Verändert ist alles, außer der Küche. Kritisch überprüft sie die Qualität der durchgeführten Arbeiten: Bis auf die orangefarbenen Wände geht alles durch. Ein Anstrich war ohnehin fällig, sie würde sich an die Farbe gewöhnen oder an einem Wochenende neu streichen. Apropos Wochenende, was ist mit ihren Jobs?
Panik flutet hoch: Ist noch Geld auf dem Konto, wurde die Miete bezahlt, ist Essen da? Sie reißt den Kühlschrank auf und weicht zurück: Bestialischer Gestank schlägt ihr entgegen, die Fächer sind randvoll. Mit spitzen Fingern zieht sie eingeschweißte Packungen Leberwurst, Bierschinken, Schinkenspeck aus dem mittleren Fach, gefolgt von einer Partypackung Bratwürsten und anderem Grillgut aus dem unteren Fach, ausreichend für eine Feier mit 10 Personen. Sie überprüft das Ablaufdatum: Vorne stapeln sich die noch haltbaren Fleischlappen, grünlich schillern aus der zweiten Reihe die vor drei Monaten eingeschweißten Steaks. Der Geruch von altem Tilsiter zieht in ihre Nase, igitt, wer isst denn sowas?
Sie stößt die Balkontür auf, der Gestank ist nicht zum Aushalten. Mit einem Fuß hält sie den Mülleimerdeckel hochgeklappt: Alles kommt weg. Es folgen Scheibletten, Käseecken in runden Schachteln, fünfmal grüne Götterspeise, dreimal roter Wackelpudding, achtmal Vanillepudding. Diverse Pizzen im Gefrierfach, die meisten abgelaufen, zwei angebrochene Gläser mit Wiener Würstchen stehen in der Kühlschranktür. Ein Müllbeutel reicht nicht aus, es werden vier. Wie besessen schrubbt sie den leeren Kühlschrank, bis er nur noch nach Putzmittel riecht, die Flächen stumpf vor Sauberkeit.
Ihr wird flau, ganz taumelig im Kopf, das Leben droht außer Kontrolle zu geraten. Essen muss her: Für eine, die gehungert hat, ist es von existenzieller Bedeutung und verlangt nach sofortiger Erfüllung.
Sie muss sich einen Überblick verschaffen: Was ist auf dem Konto, was ist mit ihren Jobs? Ein erneuter Blick auf die Zeitung verrät ihr: ein Dienstag also. Inzwischen ist es elf Uhr. Dienstags, donnerstags und freitags geht sie nachmittags putzen, montags und mittwochs hat sie den Job bei der Zeitschriftenkorrektur. Sie findet das kleine Notizbuch mit den Telefonnummern in der Innentasche ihrer Lederjacke. Da gehört es hin.
Für die Anrufe bei ihren Arbeitgebern muss sie Anlauf nehmen, mit zittrigen Fingern tippt sie die Telefonnummer von Hanno ein, der würde keinen Ärger machen. Sein Freund nimmt ab: „Ja?“
„Hi. Hier ist Berit.“
„Moin. Ich mache gerade Klarschiff, gleich wird das Bett abgeholt, dann kommt jemand, der sich die Bücher anguckt.“ Sie schluckt. Hanno ist tot? Das ist aber schnell gegangen.
„Bist du gut nach Haus gekommen? Warst fertig, oder? Ist ja auch scheiße alles.“
„Ja, verdammt beschissen. Und du, wie geht’s dir heute?“
„Wie soll’s mir schon gehen? Ich mach’ hier alles klar. Wegen der Trauerfeier sag ich dir Bescheid, dauert noch. Du kommst doch, oder?“
„Klar. Sag Bescheid.“
Sie wird nicht hingehen. Sie geht nie zu Trauerfeiern, Abschiede sind nichts für sie, an Abschieden hängen Verluste. Schnell schluckt sie runter, was schon auf dem Weg nach oben war: ein schmerzhaftes Ziehen, Tränen womöglich. Hanno ist gestorben. So schnell.
Sie geht auf den Balkon, eine rauchen, sich wieder in den Griff kriegen; weitere Telefonate stehen an, sie braucht die Jobs. Die weiteren Anrufe gelingen problemlos, für den Rest der Woche meldet sie sich krank. Alle wünschen gute Besserung, niemand beschwert sich über nicht eingehaltene Arbeitszeiten.
Sie braucht eine weitere Zigarette, einen weiteren Kaffee, bevor sie den Gang zur Sparkasse wagt. Das Abschließen der Haustür bereitet ihr Mühe, die Hände gebärden sich unzuverlässig, nesteln am Schloss herum, treffen daneben. Sie flucht. Als es geschafft ist, merkt sie, dass auch ihre Beine zittern, sie fühlen sich an wie Wackelpudding. Den muss sie neu einkaufen. Wenn Geld auf dem Konto ist. Im Treppenhaus hält sie sich am Geländer fest, die sperrigen Müllsäcke schlagen gegen ihre Beine, sie konzentriert sich darauf, nicht zu stolpern. Aus der Mülltonne im Hof schlägt ihr süßlichdumpfer Geruch entgegen, sie hievt mit Schwung den Abfall hoch und lässt ihn in den Container fallen.
Auf der Straße sieht sie sich um, es ist immer noch Herbst. Ihre Füße machen sich auf den Weg, automatisch, einen Schritt vor den anderen. Die Angst vor einem leeren Konto nimmt ihr die Luft: Kaum, dass sie atmet, kaum, dass der Körper zu ihr gehört. In der Halle wartet sie auf einen freien Automaten für den Kontoauszug, biegt unruhig die Plastikkarte zwischen ihren Fingern. Endlich ist sie dran. Sie starrt auf den blinkenden Cursor, auf das blanke Feld für die Pin, ihr fällt die Nummer nicht ein. Drei Versuche scheitern, sie muss zum Schalter. Zum Glück hat sie den Ausweis immer dabei. Die Person auf dem Foto scheint nicht annähernd verwandt mit ihr zu sein, aber es reicht aus, den Kontostand zu erfahren.
„Möchten Sie auch gleich abheben?“ Der Kassierer wartet.
Die freundliche Frage und die Erleichterung über den Kontostand haben sie aus dem Konzept gebracht. Ja, auf jeden Fall will ich abheben.
„Junge Frau, wollen Sie abheben?“
Sie schreckt auf: „Ja! Siebzig Mark bitte, in Zehnern.“ Sie fasst sich wieder, scherzt mit dem Kassierer über den frühen Einbruch des Herbstes. Erleichtert verlässt sie die Sparkasse. Alles im grünen Bereich, die Miete wurde bezahlt, die festen Posten sind abgebucht und es ist noch genügend Geld auf dem Konto. Ihr kann soweit nichts passieren.
Mit dem frisch gefüllten Geldbeutel geht sie gleich einkaufen: Einkaufen, das liebt sie. Heute gibt es etwas Gutes, sie wird sich etwas Leckeres kochen.
Nach dem Essen liest sie zum Kaffee die Zeitung. Im Wesentlichen sind die Nachrichten wie immer, die Welt hat sich nicht verändert. Um Freundinnen und Kommilitoninnen wird sie sich später kümmern.
Zuerst muss sie herausfinden, was sich zwischen Juni und Oktober in ihrem Leben abgespielt hat.
Die Geschichte fing damit an, dass ich Trottel meinen Einsatz verpennt habe.
Also das kam so: Der Typ, bei dem ich geputzt habe, ist gestorben. An Aids. Als klar war, jetzt isses so weit, der stirbt, bin ich gleich dageblieben. Zusammen mit seinem Freund. Der Typ, also Hanno jetzt, der mit dem Aids, war noch keine dreißig. Der war echt nett, voll lustig und so. Keiner, der ewig schlechte Laune hat und einen schikaniert. Bin ich echt gerne hingegangen, war cool mit ihm.
Und dann kam der Schocker. Das Bild hab’ ich immer noch in der Birne. Der ist dann zwar gestorben, aber nicht allein. So hab ich noch nie einen sterben sehen. Noch nie.
Sein Freund hat ihn im Arm gehalten. Bis zuletzt.
Ich weiß nicht, was mehr ‘reingeknallt hat: das Sterben oder das Halten. Komisch, oder? Hab’ aber nicht geheult, das nicht. Ist nicht so meins mit dem Geflenne.
Und dann kam der Arzt. Mann ey, wir wussten auch so, dass Hanno übern Jordan war, dazu braucht man echt kein Arzt sein. Und dann war da son Schlipsträger in Schwarz, der hat ihn mitgenommen. Entsorgt. Wie Schrott, nur ohne Recycling. Kommt in son Ofen, wird Asche, passt dann in eine Brötchentüte. Darüber kann man schon mal ins Grübeln kommen. Und, wisst ihr was? Manche denken: Das wars dann, mehr gibts nich, Seele und so. Das ist echt putzig, darüber könnte ich mich jetzt mit Hanno totlachen. Na ja, wenn er noch da wäre.
Die Woche, bevor er abgenippelt ist, haben wir noch Witze gerissen, Hanno und ich. Von wegen, ob er wohl in den Himmel kommt. Das fand er öde, zum Sterben langweilig. Was haben wir gelacht! Aber Hölle fand er auch nicht prickelnd: kannte er schon.
Hat echt Spaß gemacht, habe immer um ihn herum geputzt und hatte was zu blödeln. Dann gings auf einmal ganz schnell, bisschen Schnupfen, Fieber, Lungenentzündung. Das wars. Paar Tage und weg war er. Fix und alle bin ich nach Hause. War echt fertig. Gleich ins Bett gefallen, wollte nur noch schlafen.
Bin dann aufgewacht, weil BLUE wie am Spieß gebrüllt hat. Direkt an meinem Ohr. Scheiße, kann die laut schreien! Ich dachte als Erstes, jetzt hat die Kleine echt ‘n Rad ab, jetzt isses soweit. Die hat getobt und gebrüllt, hat immer dasselbe geschrien: Meine Puddings, meine Puddings, die schmeißt meine Puddings weg!
Ich bin mit einem Satz hoch, war wach wie sonst nur nach drei Tassen Kaffee, aber stark. Das war man auch gut so, weil BLUE jetzt komplett abgedreht is. Die hat gezittert, als ob sie ‘n Finger in der Steckdose hat.
BLUE ist so was wie meine kleine Schwester. Musste sehen, wie ich sie wieder runterkriege, die steckte in ‘ner first class Panikattacke, aber hallo: Marke „no exit“. Hab sie mir untern Arm geklemmt wie ‘n verschnürtes Paket, und sie ganz doll festgehalten. Hat erst gezappelt wie verrückt, dann langsam geschnallt, wo sie ist.
Dann musste ich erstmal peilen, was los war. Bin zu MIKE geschlurft, mit der Lütten unterm Arm, hab mich neben ihn aufs Sofa fallen lassen. Der wusste schon, was Sache ist:
Die Alte ist wieder da.
Um fünf Uhr morgens steht sie auf. Etliche Male war sie eingenickt und wieder hochgeschreckt, sie musste wachbleiben, verhindern, dass weitere Albträume über sie herfielen. Ihr Körper gab keine Ruhe, er fühlte sich an, als würde er einen Ameisenhaufen beherbergen. So ein Wuseln in ihr, mal hierhin, mal dorthin in heilloser Aufregung, wie auf der Flucht und nicht wissen, wohin. Um zwei Uhr dreißig hatte sie sich einen Kakao gemacht, sehr süß, sehr heftig, aber es nützte nichts. Sie blieb wach.
Im Osten erscheint ein blasser Streifen Licht, die ersten Busse fahren, es wird Tag. Ihr Körper zittert vor Kälte, mit Kaffee und Zigarette kauert sie sich auf die Schwelle zwischen Küche und Balkon. Sie will nicht daran denken, dass ihr der Sommer weggerutscht ist, in den Herbst gefallen wie Blätter in den Gully.
Ihre Gedanken fließen zurück, schließen an den Sommer an, den Tag der Abgabe. Sie erschrickt: Wo ist mein Abschlusszeugnis? Mein Diplom? Beim Hochschnellen kippt sie den Kaffeebecher um, fahrig drückt sie die Zigarette aus.
Auf ihrem Schreibtisch türmen sich Stapel mit Papieren: Prüfungsunterlagen, Notizen, Spickzettel. Alles noch da. Aber wo war das Zeugnis – hatte sie den Abschluss, oder nicht? Sie schiebt Papiere und Stapel beiseite und geht die Post durch: Krankenkasse, Studentenwerk, Arbeitsamt, Hausverwaltung.
Die rechte Schreibtischtür muss sie mit einem Schraubenzieher öffnen, wie immer fehlt der Schlüssel. Mit klammen Händen holt sie den roten Dokumentenordner heraus, schlägt ihn hastig auf. Sie zieht den Schreibtischstuhl heran, setzt sich vorne auf die Kante, beugt sich über den aufgeschlagenen Ordner: Universität Hamburg, Diplom, steht da fettgedruckt. Darunter eine Einskommadrei. Ausgeschrieben und in Ziffern.
Ihre Kehle wird eng, sie muss heftig schlucken, Erleichterung und Trauer drohen sie zu überfluten. Bloß nicht weinen; niemals. Schotten dicht, der Kanal bleibt zu.
Sie fängt an zu blättern. Jetzt will sie Genaueres wissen: Wie kommt denn der Sieberling auf die Einspunktdrei? Warum keine Null hinter dem Punkt? Sie reckt die Nase vor wie ein Spürhund, sucht in geduckter Haltung nach dem Gutachten ihres Professors. Ein Blatt nach dem nächsten zieht sie vorsichtig aus den Plastikhüllen, wie die da ‘reingekommen sind, weiß sie nicht.
Da ist das Abschlusszeugnis! Sieht auch nicht schlecht aus, aber das Gutachten ist ihr wichtiger, für die Diplomarbeit hat sie gelebt. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht: Sieberling hat geschnallt, was sie wollte. Und er hat es honoriert:
„Eine logisch-stringente Gedankenführung, beispielhaft klare sprachliche Formulierungen, eine in jeder Hinsicht gelungene Bearbeitung des Themas, jeder Aspekt wurde vorzüglich herausgearbeitet und materialreich belegt. Nirgendwo ein Ausbrechen in Plausibilitäten oder gar in ideologisch gefärbte Betrachtungen.“
Sie lehnt sich zurück, schließt erleichtert die Augen. Ihre Mühe war nicht umsonst. Jahre harter Arbeit liegen hinter ihr: neben dem Studium all die anstrengenden Jobs, mit denen sie sich über Wasser gehalten hat; die Nachtschichten im Schlachthof, zu gut bezahlt, um sie ausschlagen zu können. Nachts durchgearbeitet, tagsüber gleich weitergemacht, sie wollte es unbedingt schaffen.
Eine Weile hält sie das Zeugnis in ihren Händen. Sie fühlt sich nicht als Siegerin, der Triumph bleibt aus. Es wurde ihr nichts geschenkt.
„Umsonst ist der Tod“, sagt sie laut zum Schreibtisch und zieht ihm eine Fratze, er hatte ihrem Bruder gehört. Der hatte es auch geschafft. Bis er starb.
Sie zieht den Dokumentenordner zu sich auf den Schoß, rollt mit dem Stuhl ein Stück zurück, legt die Beine auf den Schreibtisch. Sie blättert weiter nach hinten, zu anderen Zeugnissen, und noch weiter zurück, in die Schulzeit. Da ist er: Herr Heintze. Herr Heintze, mit seiner korrekten Unterschrift, ihr Klassenlehrer in der Mittelstufe. Der war dagegen, dass Kinder wie sie ein Gymnasium besuchen. Dem würde sie gerne mit ihrer Diplomarbeit nachträglich eins auf den nackten Schädel geben.
Sie federt ein bisschen auf ihrem Stuhl herum, ihre Stimmung hebt sich. Letztlich hat sie dem alten Heintze ja eins ausgewischt mit ihrem Erfolg. Ihre Gedanken schwenken zu ihrer Musiklehrerin: Frau Rosenkötter, diese strenge, etwas unwirsche Frau, die sie nachmittags in die Schule bestellt hat; sie gegen den Willen der Eltern in Querflöte unterrichtet hat. Natürlich gehörte das Instrument der Schule, natürlich musste sie es abgeben, als Frau Rosenkötter nicht mehr da war.
Ganz hinten im Ordner findet sie den alten Kinderleseausweis von der Bücherhalle. Sie holt ihn aus seiner Plastikhülle und hält ihn sich für einen Moment an die Wange.
Sie weiß noch genau, wie es dort roch: trocken und staubig; der schöne Geruch hat sich bei ihr für immer eingenistet. Für einen Moment lässt sie sich hineingleiten in das warme Licht der Bücherhalle, in die friedliche Stille, unterbrochen nur von einem gelegentlichen Gemurmel am Informationstisch. Dort saß die freundliche Bibliothekarin. Viele Nachmittage hat Berit dort verbracht, in ihrer Grundschulzeit, als die Schule immer viel zu früh aus war.
Sie erinnert sich an weitere Menschen, die freundlich zu ihr waren, ihr neben dem Zugang zu Büchern und Wissen auch Essen zusteckten: mal ein belegtes Brötchen, mal ein Stück Topfkuchen.
Sorgfältig schiebt sie die Zeugnisse wieder in ihre Hüllen, stellt den Ordner zurück. Schlagartig spürt sie ihre Müdigkeit, die schlaflose Nacht hängt ihr bleischwer in den Knochen. Jetzt, im Hellen, könnte sie vielleicht ein bisschen schlafen, sich auf dem Küchensofa gemütlich einrollen.
Aber sie muss die Post lesen, die Sauerei auf dem Balkon beseitigen, sich einen neuen Kaffee kochen.
Das Leben im Griff behalten.
Die is so ein sturer Hund, man glaubt es nicht. Die hat uns einfach nich gehört! Wollten doch unser Leben nicht aufm Sofa verbringen! Mussten zur Arbeit, war unser Job. Na ja, ab und zu mal ‘n Bier trinken, rumhängen, ‘ne Runde zocken, muss auch mal drin sein, oder?
Aber nix da: Die Alte hatte sich voll breitgemacht und wir konnten nicht raus. Sind auf dem Sofa rumgehopst und haben geschrien: Hallo, wir sinds: MIKE! TOM! Haaallooo! Ey Alte, wir schmeißen hier den Laden!
Wir haben immer mitgeschnitten, was sie so gedacht hat, mussten ja informiert sein. Und wisst ihr was: Die dachte echt, wir sind son blödes Radio! Und sie selbst durchgeknallt. Na ja, ist ja auch nicht ganz falsch, oder? Normal ist das nicht. Aber was ist schon normal?
Hab in meinem ganzen Leben noch nix erlebt, was normal war, könnt ihr mir glauben. Aber richtig verrückt, das sind ganz Andere. Und wisst ihr, woran ich echt zu knacken habe: Die kommen damit durch. Als Normale.
Was meint ihr denn, warum BLUE son Theater macht? Sich nicht wieder einkriegt, wenn der Kühlschrank auch nur halb leer ist? Voll die Panik schiebt, wenn sie glaubt, es ist nix zu essen da? Kann ich euch sagen: Der Rabe hat sie hungern lassen.
Der Rabe, das ist die Mutter, schon bei dem Wort krieg ich grüne Punkte. Alle denken, das ist was Gutes, wollen alle haben. Wissen nicht, dass da was ganz anderes drinstecken kann. Jedenfalls bei uns. Wie bei diesen Pappfiguren in Mexico, wo Geschenke drin sind: schön gemacht, mit allem möglichen bunten Krams, sieht so richtig toll aus. Da soll man dann mit einem Stock draufhauen, das Ding kaputtschlagen, und dann fallen zur Belohnung die Geschenke raus. Aber bei uns, da kommen keine Geschenke raus. Auch, wenn Mutter draufsteht. Da kommt ein schwarzer Rabe raus und macht sich über dich her.
Und wenn BLUE mal versehentlich dachte, jetzt kriegt sie doch was ab beim Essen, dann war klar, der Rabe nimmt ihr den Teller wieder weg und sagt: „Du nicht.“
Deshalb muss unser Kühlschrank immer voll sein, logo.
Also MIKE und ich, wir haben zugeguckt, wie unsere Alte wieder Land gewinnt. Sie hat dann gecheckt, was mit ihren Freundinnen war, angerufen, sich getroffen und so. Hatte ja von nix ‘ne Ahnung, war ja vier Monate wech. Aber getan, als wüsste sie alles, kein Problem. Die hatte echt die Tour drauf, aus denen rauszukitzeln, was sie nich wusste. Haben die nicht gemerkt. Fiel nich auf, die haben alle gerne von sich erzählt. Unsere Alte hat nichts rausgerückt, nur so Luftnummern, ohne was drin. Die Frauen haben ‘n bisschen blöd geguckt, wenn sie sich nicht an etwas erinnern konnte. Aber dann hat sie nur gesagt: „Ach ja, stimmt“, und gut war.
Auch wenn ich stocksauer war, weil wir nicht mehr raus konnten, war es affengeil, ihr dabei zuzugucken, wie sie das jetzt hinkriegt. Besser als Kino!
Klar haben wir rumgemotzt über ihre Freundinnen, aber sie hat nur gegrinst, sogar laut gelacht über unsere Sprüche, und die wussten nicht, was los war. Sach ich lieber nich, was wir da so abgesondert haben, war nich nett, ehrlich nich.
Als dann MARA losgelegt hat, hätte die Alte echt schnallen müssen, dass es uns gibt. Hat sie aber nicht.
Es klingelt an der Tür. Sie schreckt hoch, hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und war eingenickt. Sie schält sich aus der warmen Decke, im Aufstehen fällt ihr Blick auf die Papiere. Sie hat sie wieder aus dem Ordner geholt, auf dem Küchentisch ausgebreitet, wollte die kostbaren Zertifikate schwarz auf weiß vor sich sehen. Sie nimmt die Diplom-Urkunde, gedruckt auf besonderem Papier, es hat Gewicht.
Erneutes Schnarren der Klingel: zwei, drei Mal hintereinander, da gibt jemand nicht auf.
Unwillig verlässt sie die Geborgenheit der Küche, macht sich auf den Weg zur Wohnungstür. Sie wappnet sich, ist vorsichtig: Wer weiß, wer da steht.
„Hi Berit, da bist du ja endlich!“
„Ach du bist es.“
Sie schließt kurz die Tür, um die Kette zu entriegeln, lässt zögernd die Freundin in die Wohnung, Agnes hat Sitzfleisch, sie wird so schnell nicht wieder gehen.
„Mensch, das sieht ja gut aus, mit den Regalen, tolle Idee!“ Agnes sieht sich um. Sie schiebt mit dem Handrücken die angelehnte Tür zum Schlafzimmer auf.
„Und das Orange, du bist ja mutig.“
In der Küche nimmt Berit schnell die Papiere vom Tisch, legt sie ins Regal, bevor Agnes danach greifen kann:
„Was hast du denn da?“
„Ach, nichts. Willst du Kaffee?“
„Gerne.“
Agnes schüttelt sich und lässt sich in den einzigen Sessel fallen, mit einem trockenen Knarzen gibt das Korbgeflecht nach: „Schön warm bei dir. Ah, bevor ich es vergesse: Ich hab dir was mitgebracht.“
Sie zieht eine Flasche Prosecco aus ihrer geräumigen Ledertasche, stellt sie mit schwungvoller Geste auf den Tisch.
„Danke nochmal für das Bett! Ist toll geworden, hast echt den Bogen raus mit dem Tischlern. Wurde schon vielfach bewundert.“
Sie steht mit dem Rücken zu Agnes, es dampft und gurgelt aus der Espressokanne. Fieberhaft überlegt sie: Bett? Was für ein Bett? Sie gießt den Kaffee ein, balanciert die kleinen Tassen vorsichtig zum Tisch, stellt Zucker dazu, legt zwei Löffel hin.
„Hauptsache, es gefällt dir.“
Berit setzt sich zurück auf ihr Sofa, schiebt Kissen und Decke beiseite. Die Aussicht auf ungestörte Stunden hat sich erledigt.
In ihrem Kopf plärrt das Radio: Wie die schon wieder aussieht, wie ‘n grauer Sack, die soll sich mal die Haare waschen, die stinkt.
Agnes kramt erneut in ihrer Tasche.
„Ich hab’ noch was für dich!“
Sie holt einen länglichen Briefumschlag hervor, wirft ihn auf den Tisch, sieht sie erwartungsvoll an. Berit hat keine Lust auf Überraschungen, zögerlich macht sie den Umschlag auf, zieht eine Konzertkarte heraus: Sergej Rachmaninov, Klavierkonzert No. 2 in C-moll, Musikhalle, erster Rang, zweite Reihe. Sie legt die Tickets zurück auf den Tisch.
„Das ist viel zu teuer!“
„Unsinn. Komm, lass uns mal den Prosecco aufmachen, ich hab Durst.“
Aufgeregtes Gequake in ihrem Kopf: Der Suffkopp macht einen auf spendabel, habn wir nich nötig, was soll das, was will die dafür, gib das zurück!
Berit macht den Prosecco auf, holt die Gläser aus dem Schrank.
Vier Stunden später schließt sie die Tür hinter Agnes und legt die Kette vor. Sie möchte nur noch schlafen. Ausgiebig lüftet sie die Küche, räumt die leere Flasche weg, wäscht die Gläser ab. Der Umschlag mit der teuren Konzertkarte präsentiert sich auf dem Tisch, sie will nicht hinsehen.
Irgendwann mal hatte sie der Freundin ihre Geschichte mit Rachmaninow verraten, und jetzt schenkt sie ihr diese Karte. Sie hätte das Geheimnis für sich behalten sollen, es gehört nur ihr allein.
Also, das Bett für den ollen Suffkopp hab ich gebaut, war nich schwer. Bau eben gerne was.
Nur dass die blöde Nuss son Getue gemacht hat: von wegen Geschenk und so. Das war Scheiße. Hat die Lütten aufn Plan gebracht: BLUE und noch ‘n paar andere. Sind fies draufgekommen, haben voll Panik geschoben. Dachten, jetzt gehts zur Sache: war ja ‘n Geschenk. Is nicht umsonst, wars nie. Die Kids hörten einfach nich auf mit dem Geflenne, war echt nich zum Aushalten!
MARA is ‘rumgetigert, voll auf Zinne, aggro bis zum Anschlag. Wollte die Kleinen fertigmachen, sollten aufhören mit Schreien. Hab mir MIKE geschnappt, haben dann zusammen die Lütten abgeschirmt. Klar, sind die uns mächtig aufn Zeiger gegangen. Aber MARA: die wollte denen das Licht auspusten. Totmachen. Son Scheiß geht gar nich.
Dann war auf einmal Zappen: MARA is rausgeschossen wie ne Rakete, musste los, war klar. Hat Berit ruckzuck weggehauen. Habs schon geahnt. MARA war schräg drauf, sah aus wie son Vampir, hatte schwarze und rote Blitze um sich herum, geladen bis zum Anschlag, die hätte als Strommast durchgehen können, aber ohne Isolierung. Ich hatte schon ‘n Auge draufgehabt, wusste, die is fällig, hält sich selbst nich mehr aus. Muss sich die Kante geben. Hat sich in ihre Nuttenkluft geworfen und is losgezogen.
In die Kneipe, Billard spielen mit son paar Spacken; die kannten sie schon. Nich um Geld, nee, die hat um sich selbst gespielt: Wenn sie verloren hat, is sie mit zu denen gegangen.
Konnten wir auch nichts machen.
Sie ringt nach Luft, zappelt um ihr Leben, keuchend befreit sie sich aus einer eisenharten Umklammerung. Sie war an einem hohen Bretterzaun entlanggerannt, hatte verzweifelt nach einem Durchschlupf gesucht. Es gab keinen, die Verfolger kamen näher und holten sie unabwendbar ein. Jemand griff nach ihr, packte sie, drückte ihr die Kehle zu.
Schweißgebadet wacht sie auf, ihr Herz rast. Noch gefangen in dem bösen Traum, wundert sie sich, warum sich der Schrecken nicht abnutzt: Jedes Mal hat er dieselbe Wucht, jeder Alb ein Klon des ersten.
Ein lautes Aufschnaufen dicht neben ihr schubst sie jäh in die Gegenwart. Sie wendet den Kopf und sieht einen Mann neben sich liegen. Er schnurgelt, er schnarcht, sein Mund steht offen, gibt den Blick frei auf gammelige Zähne. Angeekelt zuckt sie zurück, widerwillig guckt sie noch mal hin: Sie hat ihn noch nie gesehen, da ist sie sich sicher. Nicht jung, nicht alt, der Typ sieht fertig aus, verlottert. Eingewickelt in eine schmuddelige Decke, verströmt er die metallisch-schale Ausdünstung einer durchzechten Nacht, Schweißgestank sticht ihr in die Nase, der Geruch nach Sperma. Bloß nicht atmen.
Sie springt aus dem Bett, nackt sucht sie nach ihren Sachen und findet sie nicht. Wo ist sie hier überhaupt?
Das frühe Tageslicht dringt mühsam durch bläulich verschmutzte Fenster. Auf dem Tisch stehen leere Bierflaschen, eine umgekippte Wodkaflasche, Kippen in einem überquellenden Aschenbecher.
Sie weiß nicht, wie sie in diese Wohnung gekommen ist, sie weiß nur, dass sie schleunigst wegmuss.
Auf dem Fußboden verstreute Klamotten, sie zieht eine Tigerhose heraus, ein Top, bauchfrei mit Fransen, Unterwäsche findet sie nicht. Unter einer verbeulten Männerhose guckt ein Ärmel hervor, der zu einer Jeansjacke gehört, geschmückt mit Nieten und Ansteckern. Kurz atmet sie auf, als sie in den Taschen der Jacke ihre Schlüssel und das Portemonnaie entdeckt: Ihre Fahrkarte ist an ihrem Platz, Kleingeld, ein Zehn-Euro-Schein.
Die Tigerhose ist knalleng, sie muss sich auf den fleckigen Teppich legen, um sich hinein zu quetschen.
Schuhe! Wo sind die Schuhe? Mit dem Fuß schiebt sie gestreifte Boxershorts beiseite, Sockenknäuel in verblasstem Blau kullern ihr vor die bloßen Füße. Sie findet einen knöchelhohen Turnschuh in schwarz, er sieht aus, als würde er passen. Im Aufstehen entdeckt sie einen BH unter dem Tisch: ein winziges schwarzes Teil aus durchsichtiger Spitze. Sie stopft es in die Jackentasche. Hektisch sucht sie nach dem zweiten Schuh; sie findet ihn unter dem Bett, neben einem benutzten Präservativ und einem lockeren Haufen Staubflocken.
Mit den Schuhen in der Hand schleicht sie aus der Wohnung, lässt leise die Haustür hinter sich zuschnappen.
Im Treppenhaus zieht sie sich die Schuhe an, nimmt die Jacke vor der Brust zusammen, bevor sie auf die Straße tritt. Sie sieht sich um, diese Gegend kennt sie nicht.
In welche Richtung soll sie gehen? Horchend bleibt sie nach ein paar Schritten stehen: Irgendwo ist ein gleichmäßiges Rauschen zu hören, das Dröhnen einer mehrspurigen Straße, weiter entfernt eine Polizeisirene, dort muss es Busse geben, einen Bahnhof mit U-Bahn oder S-Bahn. Es ist schon hell, vielleicht zwischen sieben und acht, sie sieht eilige Passanten auf dem Weg zur Arbeit, schließt sich dem Strom der Bewegung an.
Zu Hause angekommen, zieht sie sich aus, wirft Tigerhose und Top in den Müll, nach kurzem Zögern folgt auch die Jeansjacke. Im Bademantel kocht sie sich einen Kaffee, nimmt das silberne Etui mit den Selbstgedrehten; es liegt noch auf dem Küchentisch, als sei nichts gewesen.
Im Kopf ist wieder das Radio an, irgendwie hat sich der Sender verstellt, eine hohe Stimme kreischt, sie soll gefälligst die Klamotten aus dem Müll holen! Kurzentschlossen nimmt sie die Turnschuhe, tritt den Mülleimer auf und wirft sie den anderen Sachen hinterher.
Lange lässt sie heißes Wasser über Kopf und Körper strömen, im dichten Dampf der Dusche bürstet sie sich ruppig von oben bis unten ab: Der ganze Dreck muss weg, sich schälen am liebsten, heraus aus ihrer schmutzigen Haut.
In frischer Kleidung, nach einem weiteren Kaffee und einer Zigarette, plant sie den vor ihr liegenden Tag. Auf dem Schreibtisch findet sie den gelbkarierten Schreibblock vom Tag zuvor, die anstehenden Punkte hatte sie nach Dringlichkeit aufgelistet. Erstens: Rückzahlung des Studienkredits, zweitens: Abflussrohr, Hausverwaltung anrufen. Bei Punkt drei wird ihr Puls schneller: „Promotion“ steht da.
Sie hat die Professorin noch im Ohr: Sie solle an ihre berufliche Zukunft denken, hatte ihr von möglichen Stipendien erzählt.
Zukunft! Sie fühlt die bedrohliche Ungewissheit, die in diesen zwei Silben mitschwingt. Wie oft ist sie davon ausgegangen, keine zu haben. Und jetzt will sie ihre Zukunft planen, als hätte sie eine; aus diesem kleinen Spalt zwischen Vergangenheit und Gegenwart herausklettern, ungeschützt auf offenes Gelände, Ansprüche haben an ihr Leben; wer ist sie denn, dass sie das dürfte? Ungeheuerlich erscheint es ihr, eine Provokation: Zukunft ist etwas, wovon sie nicht weiß, ob sie ihr zusteht.
Überleben kann sie, und planen, ihren Abschluss an der Uni hatte sie in allen Einzelheiten durchdacht. Bis dahin zu leben schien Sinn zu machen.
Der Gedanke an eine akademische Karriere macht ihr Angst, ihr Magen zieht sich schmerzhaft zusammen bei der Vorstellung, sich in etwas so Großes hineinzuwagen. Sie weiß doch, sie könnte es! Es wäre die nächste Mohrrübe vor ihrer Nase, die sie weiterziehen würde.
Ein Grund zum Leben.
Also das mit dem Sofa habt ihr ja geschnallt, oder? Da ham wir uns immer getroffen, MIKE und ich. Na ja, gelästert und so, geguckt, was die Alte macht: immer in ‘ner ersten Reihe. Hat die manchmal ein Scheiß gemacht!
Dann war da noch BLUE, das ist die, die den Knall mit dem Kühlschrank hat: muss immer voll sein. Und MARA: Habt ihr ja mitgekricht wie die drauf war. Echt ätzend. Mehr von uns gabs erstmal nich. Da warn schon noch ‘n paar mehr, konnten wir hören, aber gesehn ham wir die nich. Wollten wir auch gar nicht: Die hörten sich echt gruselig an. Ich mein, was machst du mit ‘nem Haufen Kids und alle komplett durchn Wind? Die immer nur wimmern? Oder schreien? Wussten wir auch nich. Die warn weiter hinten, in ‘ner ganz dunklen Ecke. Da wollt ich sowieso nich hin. MIKE hat auch gesagt: Lass mal. Sind zu viele.
Die nächste, die reingeschlappt is, war KATHARINA. Müsst ihr euch so vorstellen: Eine, die nur depri drauf is. Son nerviges Trauergespenst, ‘ne Mischung aus Moorleiche und Schleiereule oder so. Hart an ‘ner Grenze, echt. Die war neu. Na ja, neu is ja keiner bei uns, warn alle schon ewig da. Habn alle vor sich hin gekramt, habn gemacht, was gemacht werden musste. Und keiner hatte ‘n Schnall, dass die andern auch da warn.
KATHARINA kannten wir noch nich, sonst hätten wir gleich besser aufgepasst: Die wollte zurück zum Raben. War doch klar, was der Rabe wollte. Wollte keiner, nur Katharina. Die dachte immer noch, dass der Rabe die liebe Mama ist. Die wollte da unbedingt hin. Oder von ‘ner Brücke springen. War knapp, das eine Mal. Um ein Haar der Supergau, das wär’s dann gewesen.
Das hättet ihr sehen müssen! Da hing ich wie son Affe am Geländer, war die A7, konnte mich aufn letzten Drücker gerade noch hochziehen, mit einer Hand! Das war knapp, Mann ey, das war echt knapp! MIKE hätte das nich geschafft, der dünne Spaddel. Na ja, is ja auch nich sein Job. War echt voll auf der Autobahn, KATHARINA war ja nich blöd: war Raschaua oder so.
Wir hatten sie dann auf’m Schirm, habn Tag und Nacht aufgepasst: Wenn die zum Raben wollte, oder zur Autobahn, habn wir sie gleich weggeschubst. War leicht, die is fluffig, nich so dickbräsig wie unsere Alte. Die hatte das mit der Brücke gar nich mitgeschnitten, wusste von nix. War auch gut so, musste ja nich alles wissen.
Unter der unerledigten Post liegt ein prall gefüllter Umschlag, der Absender ist eine Stiftung. Jetzt fällt es ihr ein, im Mai wollte sie sich für ein Stipendium bewerben, hatte die Unterlagen schon vor der Prüfung angefordert. Sie reißt den Verschluss auf und zieht den Inhalt heraus, blättert noch im Stehen verschiedenfarbige Papiere durch, überfliegt die Seiten auf der Suche nach dem Bewerbungsschluss. Da steht es: nur noch eine Woche! Sie muss es schaffen.
Wenn bloß nichts dazwischenkommt.