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Felicitas Gruber

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Beschreibung

Eine Rechtsmedizinerin, wie sie nur in diesem Buche steht

Der Herbst hält Einzug in München und bringt mit kräftigen Böen gleich drei Leichen auf Dr. Sofie Rosenhuths Seziertisch: Einen Selbstmörder, dessen Witwe erstaunlich wenig Trauer zeigt, eine Frau, in deren Brustkorb eine Glasfeile steckt, und einen Priester, der vom Turm der Mariahilfkirche in den Tod gestürzt ist. Die Rechtsmedizinerin glaubt, eine Verbindung zwischen den Fällen zu erkennen, doch ihr Ex, Hauptkommissar Joe, schaltet viel zu lang auf stur und ermittelt in eine ganz andere Richtung. Und da Joe sein Madl immer noch liebt, aber leider nur selten auf Sofie hört, muss sie am Schluss Kopf und Kragen riskieren, damit bei der Polizei was vorwärtsgeht …

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Seitenzahl: 330

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Der Roman

Die Auer Dult – dreimal im Jahr nicht nur für gstandene Münchner das absolute Highlight. Natürlich auch für Dr. Sofie Rosenhuth, die ein paar Meter weiter in Giesing dahoam ist, dem Viertel mit Herz und Biss. Hier war sie vor zehn Jahren glücklich verheiratet mit Joe, jetzt Hauptkommissar und eben nur noch Sofies Ex. Wenn’s so einfach wäre, denn Gefühle kann man bekanntlich nicht abstellen, gerade weil die beiden zusammenarbeiten müssen. Als innerhalb von vier Tagen zwei Leichen auf Sofies Obduktionstisch liegen und Fremdeinwirkungen nicht auszuschließen sind, ist schnelle Aufklärung angesagt. Zumal Polizeireporter Charly Loessl eine große Geschichte wittert und Sofie nicht nur deshalb nachstellt. Da kommt der kleine Murmel mit seinen braunen Knopfaugen gerade richtig in Sofies Leben: Der Mops ohne Heimat schenkt Sofie Wärme und verhilft ihr zu einem besseren Stand bei ihrer Chefin, die plötzlich dahinschmilzt. Das bremst allerdings nicht ihren Spürsinn: Als eine dritte Leiche auftaucht, stößt Sofie auf einen mysteriösen Fall, der vor dreißig Jahren nicht restlos aufgeklärt werden konnte …

»Regionalkrimis gibt’s viele. Aber nicht so einen – ein Krimi, der vor allem auch das Lebensgefühl an der Isar transportiert.«

Die Abendzeitung über »Die Kalte Sofie«

Die Autorinnen

Felicitas Gruber ist das Pseudonym der Autorinnen Brigitte Riebe und Gesine Hirsch. Zusammen schrieben sie bereits den Kriminalroman Die kalte Sofie, in denen Rechtsmedizinerin Dr. Sofie Rosenhuth aus München-Giesing ermittelt. Brigitte Riebe ist promovierte Historikerin und begeistert mit historischen Romanen seit vielen Jahren ihre zahlreichen Leserinnen und Leser. Gesine Hirsch ist Kunsthistorikerin und arbeitet als Producerin und Drehbuchautorin. Die erfolgreiche Serie Dahoam is Dahoam hat sie fürs Bayerische Fernsehen mitentwickelt. Beide Autorinnen leben in München.

FELICITAS GRUBER

Vogelfrei

Ein Fall für die Kalte Sofie

Originalausgabe 09/2014

Copyright © 2014 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion  |  Herbert Neumaier

Umschlaggestaltung  |  t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv  |  © Peter von Felbert/Look-foto

Foto mit Mops|  © Jody Trappe Photography/Flickr Open/Getty Images

Satz  |  Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ePub-ISBN 978-3-641-13261-3

www.diana-verlag.de

Für Noah

Ein Leben ohne Mops ist möglich,

aber sinnlos.

LORIOT

Prolog

München, 12. Juli 1984

Schwefelhimmel über der Stadt. Giftig gelb.

Jetzt ist der Junge froh um die dicken Steinwände der alten Garage, die innen alles kühl gehalten haben. Er schämt sich nicht einmal mehr für seinen stechenden Angstschweiß, denn der riecht wenigstens lebendig.

Der andere, den sie mitten in der Nacht mühsam auf den ausrangierten Autositz neben dem Manta gehievt haben, stinkt dagegen aasig.

Ein Fliegenschwarm umkreist ihn.

Vergeblich versucht der Junge, sie wegzuwedeln.

Dann macht er einen Schritt in Richtung Tür, weil er auf der Stelle rausmuss, rennen, alles hinter sich lassen – da spürt er die schwere Hand im Nacken.

»Mir tun den jetzt in den Karren – und dann ab!«, sagt der Alte.

Er hasst ihn dafür, mehr als sonst, doch er weiß, der Alte ist der Einzige, der ihm jetzt noch helfen kann.

»I pack die Schultern und du die Füß«, befiehlt er weiter. »Und dann drehn in Richtung Autotür.«

Ihn anfassen?

Alles in dem Jungen sträubt sich dagegen, aber er muss gehorchen, sonst kann er es vergessen, das schöne, sorglose Leben, das noch vor ihm liegen soll.

Unschlüssig packt er zu und greift gleich noch einmal nach.

Wie schwer der auf einmal ist – und wie entsetzlich steif!

Als wäre sein ganzer Körper mit Blei gefüllt.

Auch der Alte schwitzt zum Gotterbarmen. Ganze Bäche rinnen über sein breites Gesicht, er kneift die Augen zusammen und flucht.

»Langsam, Kruzifünferl! Und halt ihn fest, sonst fallt er uns noch runter – ja pass doch auf, du Depp!«

Der Tote liegt jetzt seitlich. Viel krustiges Blut klebt in seinenkurz geschnittenen semmelblonden Locken. Der ganze Schädel wirkt wie verrutscht.

»Der geht doch niemals für an Lebenden durch!«

»Des hättst dir früher überlegn sollen«, knurrt der Alte. »Mir setzen ihm dei Käppi auf, dann passt des scho – aber zuerst muss er nei!«

Inzwischen ist er ins Auto gekrochen und streckt von innen die Arme heraus.

»Schiabn!«, befiehlt er. »Da, her zu mir!«

Er wird sich gleich übergeben müssen, das ahnt er und spürt schon den säuerlichen Geschmack im Mund.

Mühsam beißt er die Zähne zusammen, während sie den steifen Körper ins Wageninnere bugsieren. Die Plastikhüllen, die sie vorsorglich über die Sitze des Manta gezogen haben, damit nicht alles versaut, machen es einfacher, weil der Tote so besser rutscht. Sie sind aber unendlich widerlich.

Abermals beutelt ihn heftiger Würgereiz.

Wenn er das hier übersteht, irgendwie, soll alles anders werden, das schwört er bei allen Heiligen.

Zu seiner Erleichterung klappt es schließlich.

Sperrig sitzt der Tote auf dem Beifahrersitz, alles andere als in natürlicher Haltung, aber er sitzt. Als der Junge den Gurt um ihn schlingt und einklicken lässt, spürt er abermals, wie kühl der Tote schon geworden ist.

»Kappi!«, fordert der Alte.

Er nimmt die blaue Kappe langsam von seinem Kopf und setzt sie dem anderen auf.

»Und jetzt die Garagentür auf!«

Der Junge zieht an der alten Mechanik. Als sich die Tür langsam hebt, fegt ihm ein Windstoß entgegen, der ihm den Atem nimmt.

Jetzt ist der Himmel draußen pechschwarz. Donnergrollen, die ersten grellen Blitze, glühend und unheimlich.

Alles in ihm wird klamm vor Angst.

»Da draußen …«, stößt er hervor. »Des is doch ned normal!«

»A Gewitter, sonst nix«, belfert der Alte. »Steig ei – oder brauchst a Extraeinladung?«

Der Junge reißt die Tür auf, lässt sich auf die Rückbank sinken. Macht sich ganz klein.

Da hat er früher immer im Familienmercedes gelegen, wenn sie in den ersten Morgenstunden nach Italien aufgebrochen sind, eingekuschelt in eine leichte Decke, seinen Teddy neben sich, eingeschläfert vom gleichmäßigen Surren des Motors und den gedämpften Stimmen der Eltern auf den Vordersitzen …

Wenn er die Zeit doch nur zurückdrehen könnte!

Aber die Mama ist tot, lange schon.

Und statt ihrer hockt auf ihrem angestammten Platz dieser unheimliche Kerl, der nun seine Kappe trägt.

Sie verlassen den Garagenhof.

Die Tegernseer Landstraße ist voll von Autos, die es alle eilig zu haben scheinen.

Am Sechzger-Stadion vorbei zucken grelle Blitze über den Himmel, gefolgt von lauten Donnerschlägen.

Der Manta erreicht die Grünwalder Straße.

»Wia a Weltuntergang«, murmelt der Alte, als der Himmel seine Schleusen öffnet und dicke weiße Hagelbrocken regnen lässt.

Auf der Straße herrscht Panik.

Keiner kümmert sich um die leblose Gestalt mit der Kappe auf dem Beifahrersitz.

Manche Autos bleiben stehen, die meisten kriechen im Schneckentempo voran, ein paar Lebensmüde jagen den Motor hoch und rasen, um irgendeinen Schutz zu erreichen.

Links von ihnen der Gebäudekomplex des Harlachinger Krankenhauses. Eine Tram kämpft sich auf den nassen Schienen in Richtung Grünwald.

Dann sind sie plötzlich ganz allein auf der schneeweißen Straße.

Während die Filmstadt Geiselgasteig links verschwindet, trommeln tennisballgroße Eisgeschosse auf das Dach – ohrenbetäubender Lärm, der im Gehörgang schmerzt.

Der Alte sagt etwas.

Nichts zu verstehen.

Der Junge auf der Rückbank schließt die Augen und versucht zu beten.

Draußen versinkt die Welt in Weiß – an einem warmen Abend mitten im Juli.

Stur hält der Alte weiter geradeaus.

Irgendwann werden die Hagelkörner kleiner, schließlich setzt strömender Regen ein, dicht wie ein Vorhang.

»Willst ned lieber anhalten?«, flüstert der Junge, denn die Straße vor ihnen ist übersät mit Blättern, Ästen und Eis.

»Wann solln mas sonst tun?«, knurrt der Alte und fährt weiter.

Das Flussufer ist nicht mehr weit, jäh nach unten abfallend wie kaum sonst wo in der Stadt.

Deshalb sind sie hier.

Als der Junge das Rückfenster runterkurbelt, weil er den Leichengeruch nicht länger aushält, hat er plötzlich Benzin in der Nase.

Kurz vor der »Grünwalder Einkehr« biegt der Alte in eine winzige Seitenstraße, schaltet den Motor ab und steigt aus.

Der Junge ihm hinterher.

Bis zu den Knöcheln stehen sie in einem Wall von grauweißen Hagelkörnern. Die Schuhe sind klitschnass, die Hemden kleben ihnen schon nach ein paar Augenblicken am Leib wie eine zweite Haut.

»Moanst, es geht trotzdem?« Mutlos schielt der Junge zum Himmel.

»Muass!« Das Gesicht des Alten ist wie aus Stein.

Gemeinsam stoßen sie den starren Körper auf den Fahrersitz.

Danach holt der Alte den Kanister aus dem Kofferraum und gießt das Benzin über den Toten.

»Fahr zur Hölle!«, murmelt er, während sie die Handbremse lösen, den Gang auskuppeln und den Manta ächzend zum Hochufer schieben, bis ganz vor zur Kante. »Scheißkarre, greisliche!«

Unter ihnen brodelt und gischtet die Isar mit weißen Schaumkronen, so wild und hoch wie sonst nur nach der Schneeschmelze.

Einen Moment lang will der Junge nur noch weg, doch der Zorn und die Enttäuschung in der Miene des Alten nageln seine Füße fest auf den durchweichten Boden.

»Also?« Keine Frage, sondern ein Befehl.

Er zieht sein Zippo aus der Hosentasche, das er noch vom Opa hat, der so gern Zigarillos mochte, knipst es an und wirft es schließlich durch einen Spalt im Fahrerfenster in den Wagen.

Ein letzter kräftiger Stoß, den sie dem Manta gemeinsam verpassen.

Dann rollt der Wagen den Abhang hinunter.

Es kracht und scheppert und donnert, als er gegen irgendein Hindernis prallt. So hat der Junge sich immer Krieg vorgestellt.

Er beugt sich weit vor, obwohl Angst ihm die Kehle zuschnürt.

Ein gleißender Feuerball, der zwischen den Bäumen aufsteigt, ist das Letzte, was er sieht.

1   Zweite Chance

1

Zweite Chance

Täuschte sie sich? Oder war es tatsächlich ein leiser Vorwurf, den Dr. Sofie Rosenhuth in Georges weiß-knöcherner Miene las?

Schmarrn!

Ein Skelett kannte keine Gefühle – und wenn doch, so hatte zumindest dieses Exemplar immer loyal zu ihr gestanden.

Trotzdem wandte Sofie ihrem stummen Zimmergenossen sicherheitshalber den Rücken zu, als sie sich ein weiteres Cantuccino aus dem bereits halb leeren Zellophansäckchen angelte und damit sämtliche Diätvorsätze endgültig über den Haufen warf.

Es knirschte zwischen ihren Zähnen, dann breitete sich das verführerische Aroma von Kardamom, Zimt, Nelken, Sternanis und Amaretto in ihrer Mundhöhle aus.

Genießerisch schloss Sofie die Augen.

Italien!

Grüne, sanft geschwungene Hügel. Knorrige Olivenbäume.Stolze Zypressen. Lauschige Pinienwäldchen. Ausgedehnte Orangenhaine. Beinahe überirdisch leuchtende Mohn- und Sonnenblumenfelder. Der einzigartige Duft nach wildem Fenchel, Thymian und Salbei.

Und dazu: Vor ihr der sonnenwarme, muskulöse Rücken ihres Ex, an dessen T-Shirt Sofie sich nur zu gern schmiegte – vor allem in den zahlreichen Kurven –, während er mit ihr auf seiner alten BMW 1000 durch die Toskana Richtung Adria knatterte.

Sosehr Sofie jede noch so flüchtige Berührung mit Joe genossen hatte, passiert war trotzdem nichts zwischen ihnen beiden in dieser Woche.

Und das war wahrscheinlich auch gut so.

Vorerst.

Hals über Kopf hatte sie sich vor über zehn Jahren in diesen verdammt gut aussehenden, charmanten Polizisten und dessen hinreißende braune Augen verliebt und nichts Besseres zu tun gehabt, als ihn auf der Stelle zu heiraten. Um es einige Jahre später bitter zu bereuen, als sie ihn mit diesem aufgetunten, brünetten Blunsenbummerl von der Verwaltung des LKA im gemeinsamen Ehebett erwischte.

Ebenso überstürzt hatte Sofie daraufhin die Flucht nach vorn ergriffen und eine Stelle als Rechtsmedizinerin in der Berliner Charité angenommen, ohne zu ahnen, dass es sie nach zwei Jahren wieder zurück nach München verschlagen würde – wenn auch nicht ganz freiwillig. Inzwischen war ihr längst klar, dass es um den Schlaganfall ihrer geliebten Ziehmutter und Tante Vroni Ilmberger, der zuliebe Sofie die Stelle im Institut für Rechtsmedizin in der Nussbaumstraße angenommen hatte, längst nicht so dramatisch stand, wie es zunächst ausgesehen hatte.

Mit einem Schlagerl nach Haus gelockt hatte sie ihre Nichte, nichts anderes!

Was Sofie ihr eigentlich hätte übel nehmen müssen. Denn ab sofort hatte Vroni jede nur denkbare Gelegenheit genutzt, um Sofie und ihre erste große Liebe wieder zusammenzubringen.

Die arme Tante hatte ja nicht ahnen können, dass der liebenswürdige Polizeireporter Charly Loessl ihrem Masterplan in die Quere kommen würde …

Vorübergehend jedenfalls.

Sofie öffnete die Augen und warf einen verstohlenen Blick auf die Seidenkrawatte in frechem Zyklam auf Seidengrau, die um Georges Vertebra prominens, den siebten Halswirbel am Ende der Nackenfurche, geschlungen war. Ein Geschenk von Charly.

Kein Zweifel.

Dieser vorwurfsvolle Blick aus leeren Augenhöhlen, dieses angedeutete breite Grinsen galten weniger ihrer hemmungslosen Schlemmerei. George – vorgeblich nur ein ausrangiertes lebensgroßes Skelett, mit dem Sofie seit ihrer Ankunft in der Nussbaumstraße das enge Kabuff teilte, das ihre reizende Kollegin Dr. Elke Falk ihr als Büroraum zugestanden hatte –, George, der seither Sofies treuer Zuhörer geworden war, der einzige Mann, dem sie stets blind vertraut hatte: George hatte die Seiten gewechselt!

Trotzig griff Sofie erneut nach dem Tütchen mit den italienischen Kalorienbomben.

Verliebt war ein großes Wort. Zu groß vielleicht.

Aber ja, dieser rätselhaft sanfte, humorvolle, aufmerksame Polizeireporter mit seinen exzellenten Manieren, seinen wunderbaren Picknickkörben und seinen nachdenklichen grüngrauen Augen war ihr unter die Haut gegangen.

Und vielleicht wäre auch mehr daraus geworden, wenn Joe nicht gewesen wäre. Joe, der Mitte September plötzlich in Sofies Wohnung in der Giesinger Zugspitzstraße gestanden und sie auf eine Spritztour an die Adria eingeladen hatte. Mit jenem lustigen nussbraunen Zwinkern, dem sie noch nie hatte widerstehen können – und das es so nur einmal auf der Welt gab.

Trotzdem hatte sie gezögert.

Zu Sofies Erstaunen hatte ihr Ex sein Versprechen jedoch gehalten und sie tatsächlich nicht angerührt – was sie zwischendurch fast bedauert hatte.

Gedankenverloren angelte sie nach dem letzten Cantuccino und geriet erneut ins Träumen.

Tante Vroni hatte schon recht. Die Sache mit Sofies Ex war noch lange nicht zu Ende.

Besser gesagt, sie fing gerade erst an.

Für morgen Abend waren Joe und sie in der kleinen Osteria am Alpenplatz verabredet. Und diesmal würde Sofie nicht Nein sagen, wenn Joe sie danach noch auf einen Kaffee in seine Wohnung einladen würde …

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und eine nur allzu bekannte frostige Stimme ertönte in Sofies Nacken.

2   Ganz nach Lehrbuch

2

Ganz nach Lehrbuch

Schütteres rötliches, da und dort bereits ergrautes Haar. Erste Anzeichen von Altersflecken an den Schläfen. Das Gesicht bläulich violett verfärbt, noch ungetrübte Hornhaut über den weit geöffneten Pupillen. Der Unterkiefer hing starr nach unten; aus dem rechten Mundwinkel zog sich eine ganz feine Speichelspur zum Kinn.

Was noch alles und nichts bedeuten konnte …

Sofie schätzte den hageren Mann, dessen vollständig bekleidete Leiche vor ihnen auf dem Sektionstisch lag, auf Ende fünfzig.

Spöttisch sah Elke Falk von der Kladde in ihrer Hand auf.

»Sie liegen mal wieder völlig daneben, liebe Frau Rosenhuth. Der Bursche, ein gewisser Manfred Groedinger, ist gerade mal siebenundvierzig Jahre. Aber vielleicht haben Sie bei der äußeren Leichenschau ja mehr Glück. Bin schon gespannt auf Ihre Expertise. Unser geschätzter Herr Moosbichler ist im Moment allerdings leider unabkömmlich oben in der Tox. Wenn ich Sie also bitten dürfte?« Frau Falk verzog das Gesicht. »Sie wissen ja, mein Handgelenk …«

Sofie seufzte und begann zunächst, den Körper des Mannes freizulegen. Gewissenhaft dokumentierte sie Kleidungsstück um Kleidungsstück, bevor sie es in einem Papiersack zur eventuellen späteren Untersuchung deponierte.

Von wegen Sehnenscheidenentzündung.

Die Falk – oder Frau Doktor Iglu, wie Sofie ihre frostige Kollegin im Stillen nannte – drückte sich doch nur zu gern vor jeder Art von körperlicher Betätigung.

Zumindest vor fast jeder.

Und blieb dennoch rank und schlank, im Gegensatz zu Sofie, die trotz intensiver Joggingeinheiten und eisernem Diätprogramm seit ihrer Rückkehr aus Berlin sage und schreibe fünf Kilo zugenommen hatte, zwei davon allein während ihrer Italientour mit Joe. Was sich leider auch an ihrem flaschengrünen Kittel bemerkbar machte, der sich seit Neuestem empfindlich um Brust und Hüften spannte. Wenn das so weiterging, würde sie sich wieder in dieses sackähnliche Ding bequemen müssen, das sie nach ihrem Geburtstag im Frühjahr mit Wonne in den hintersten Winkel ihres Kabuffs verbannt hatte …

Sag bloß, das wundert dich, mokierte sich ihre innere Stimme. Seit wann gelten Pizza und Spaghetti denn als Diät? Und wer hat sich erst vorhin gleich alle Cantuccini auf einmal reingeschoben? Na?

Sofie runzelte die Stirn.

Und wenn wir gerade schon dabei sind, fuhr die Stimme erbarmungslos fort, wann hast du denn das letzte Mal gesportelt, meine Liebe? Von guten Vorsätzen allein hat bekanntlich noch niemand abgenommen, wenn ich dich daran erinnern darf.

»Übrigens sehen Sie sehr erholt aus, Frau Kollegin«, schaltete sich nun auch noch Frau Falk beiläufig ein. »Die Bräune steht Ihnen wirklich ausgezeichnet. Und dazu diese leichte Fülle, die Sie sich im Urlaub zugelegt haben …«

Hatten sich heute etwa alle gegen sie verschworen?

Sofie lag bereits eine gesalzene Retourkutsche auf den Lippen – als sie stutzte.

Aus dem rot-weiß gewürfelten Hemd, das sie nun öffnete, ragte eine rotlederne, mit Strass besetzte Hundeleine, die um den Hals des Toten geschlungen war.

Angespannt entfernte Sofie die Leine und nahm die Halspartie in näheren Augenschein. Vorne, oberhalb des Kehlkopfes, sowie an beiden Seiten war deutlich eine horizontal verlaufende, tiefe Strangmarke zu erkennen, die seitlich zum Nacken hin symmetrisch anstieg. Die Breite, etwa ein Zentimeter, deckte sich mit der der Leine. Die Hautpartien entlang der Strangfurche waren rotbraun und trocken.

Kein Zweifel, der Mann hatte sich erhängt. Oder aber er war erhängt worden …

Elke Falk erwiderte Sofies grübelnden Blick mit einem hoheitsvollen Nicken.

»Ein geradezu lehrbuchhafter Fall von Strangulation durch Erhängen, Frau Rosenhuth. Ganz genau. Dafür sprechen der symmetrische Verlauf der eintourigen Furche, der höchste Punkt der Strangfurche im Nacken sowie die geweiteten Pupillen und die feine Speichelspur. Ein Suizid, wie er im Buche steht, wenn Sie mich fragen.«

Sofie zögerte, was Falk nicht entging.

»Oder sind Sie etwa anderer Meinung?«

»Ich halte Ihren Befund zumindest für – vorschnell, offen gestanden«, meinte Sofie nachdenklich, während ihr Blick über den Körper des Toten schweifte.

Die dunkelvioletten Leichenflecken waren bereits kräftig ausgebildet, vor allem an den Beinen und Händen. Sie gaben auf Druck nicht nach – klassische Anzeichen dafür, dass der Tod in aufrechter beziehungsweise hängender Position eingetreten und der Körper zumindest in den darauffolgenden Stunden nicht mehr bewegt worden war. Was tatsächlich nahelegte, dass Groedinger ohne Fremdeinwirkung gestorben war.

Und trotzdem – irgendetwas machte Sofie stutzig.

Falk deutete auf das aufgrund des Überangebots an sauerstoffarmem Blut livide, also lila verfärbte Gesicht des Toten.

»Einblutungen in Augenlidern und Bindehaut sowie der Hinterohrregion liegen nicht vor, müssen aber auch nicht immer vorhanden sein, wie Sie wissen sollten. Ebenso wenig Dunsung oder Stauungsblutungen der Gesichtshaut und der Augenbindehäute. Dennoch sprechen meines Erachtens alle Indizien dafür, dass Herr Groedinger sich erhängt hat, vor allem die völlig eindeutige Fundsituation. Und diese Einschätzung werden die inneren Befunde nur bestätigen. Glauben Sie mir!«

Schmallippig klopfte sie auf die Kladde in ihrer Hand.

»Tut mir ja leid für Frau Groedinger. Aber sie wird sich wohl oder übel damit abfinden müssen, dass ihr Mann seinem Leben auf diese Weise selbst ein Ende gesetzt hat.«

Sofie ging ein Licht auf.

»Das heißt, Sie waren am Fundort? Und haben den Freitod von Manfred Groedinger bereits als solchen rechtsmedizinisch beglaubigt?«

Falks empörter Blick über dem Mundschutz sprühte Funken.

»Selbstverständlich! Frau Groedinger hatte ihren Gatten heute früh um 6 Uhr 45 erhängt in seinem Arbeitszimmer gefunden und daraufhin die Polizei informiert. Da augenscheinlich eine nicht natürliche Todesursache vorlag, wollten die Beamten sicherheitshalber eine erste rechtsmedizinische Begutachtung der Leiche am Fundort. Und da Sie, verehrte Frau Kollegin, ja noch selig schlummerten …«

Und Sie wiederum Dienst hatten, ergänzte Sofie im Stillen.

Aber was half es schon, sich mit ihrer streitbaren Kollegin anzulegen?

»… habe ich mir die Sache vor Ort angesehen. Die Situation war eindeutig. Herr Groedinger baumelte an diesem Ding da« – Falk deutete indigniert auf die Hundeleine im Asservatenbeutel – »an einem Haken von der Decke, etwa fünfzig Zentimeter vom Boden entfernt. In unmittelbarer Nähe befand sich ein entsprechend hoher umgestürzter Hocker. Damit ließ sich der Hergang lückenlos nachvollziehen.«

»Und trotzdem liegt der Mann nun hier bei uns auf dem Seziertisch?« Eine gewisse Häme konnte Sofie sich nun doch nicht verkneifen.

Falk biss sich offensichtlich auf die Lippen und nickte äußerst widerwillig.

»Frau Groedinger glaubt nicht an einen Suizid und hat sofort die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Also lag eine Stunde später, zack!« – Falk schwenkte erneut die Kladde in ihrer Hand – »die Anordnung von ganz oben auf meinem Tisch. Aber bitte. Wenn der Staat zu viel Geld hat und solche überflüssigen Obduktionen auf Teufel komm raus bezahlen will – von mir aus!«

Im Gegenteil, dachte Sofie.

Jeder zweite Mord blieb unentdeckt, nur weil ein rechtsmedizinisches Institut nach dem anderen aus Kostengründen geschlossen wurde – das war Fakt. Frau Groedinger beziehungsweise die Staatsanwaltschaft schienen gute Gründe zu haben, in diesem Fall entgegen Elke Falks Überzeugung eine sofortige Obduktion anzufordern.

»Was macht Sie denn so sicher, dass keine Fremdeinwirkung oder Tötung vorliegt?«, platzte Sofie nun doch raus. »Der Körper weist keinerlei Selbstrettungsspuren auf. Nirgendwo sind Kratzer oder Schürfungen zu sehen. Groedinger hat also nicht den leisesten Versuch unternommen, im letzten Moment doch noch in die Schlinge zu greifen und sich zu befreien. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor?«

Für einen winzigen Moment wurde Dr. Falk unsicher, doch dann fasste sie sich schnell und zuckte scheinbar gleichmütig mit den Schultern. »Kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit fadem Lehrbuchwissen, liebe Frau Rosenhuth! Was wissen wir schon, was in Suizidenten vorgeht? Offensichtlich war der Mann wild entschlossen, sein Leben zu beenden. Im Übrigen sprechen ja genau diese fehlenden Schürfwunden und Kratzer auch gegen eine Einwirkung von außen. Meinen Sie nicht?«

Falks süßlicher Blick sprach Bände.

Sofie biss sich auf die Lippen. Was ließ sich schon dagegensetzen? Und vielleicht hatte die Falk ja sogar recht? Trotzdem …

In diesem Moment gab ihr Handy einen zarten Gitarrenton von sich.

Sofie errötete, entledigte sich hastig eines Gummihandschuhs, fummelte nach dem Handy in ihrer Hosentasche – und errötete noch heftiger, als sie verstohlen aufs Display sah.

Eine SMS von Charly!

Frau Falk musterte Sofie anzüglich.

»Ihr heißblütiger Kriminaler, vermute ich? Aber bitte, tun Sie sich keinen Zwang an, Frau Kollegin! Ich mach noch eben ein paar Fotos – und dann, würde ich vorschlagen, bringen wir die Sache schnell hinter uns und schauen uns das Ganze noch kurz von innen an.«

3   Skandal um Rosie

3

Skandal um Rosie

Kaiserwetter – so nennen die Münchner diese kostbaren Sonnentage, wenn ein samtener, tiefblauer Himmel sich wie ein makelloses Zelt über die Stadt spannt. Fast hätte man meinen können, es sei noch mitten im Hochsommer, wäre da nicht dieser kühle Lufthauch gewesen, der sich wie eine leise Vorahnung auf frostige, neblige Herbsttage in die laue Brise mischte. Vorerst aber ließ der Spätsommer Ahorn, Esche, Linde und Buche in einem letzten Feuerwerk erglühen und betupfte die grauen Straßen mit kräftigen Gelb-, Rot- und Orangetönen.

An Sofie glitt all diese Farbenpracht jedoch vorüber, ohne dass sie sie wirklich wahrnahm. Wieder und wieder ging sie in Gedanken die innere Leichenschau bei dem toten Manfred Groedinger durch. Die Befunde waren eindeutig gewesen: Fraktur des Zungenbeins. Einblutungen unter das vordere Längsband der Wirbelsäule, vorwiegend auf Höhe der unteren Bandwirbelscheiben aufgrund der Zugspannung auf den Bandapparat. Geringe Einblutung unter sowie entlang der Strangmarke. Nach Öffnung des Schädels deutlich abgeplattete Hirnwindungen, sehr deutlich hervortretende Kleinhirnmandeln sowie starke Kerbung der Uncusfurchen – das alles sprach auf jeden Fall dafür, dass Groedinger noch gelebt hatte, als die verhängnisvolle Hundeleine sich um seinen Hals spannte.

Und trotzdem schien es Sofie so, als hätten sie etwas Wesentliches übersehen. Jedenfalls sperrte sich irgendetwas in ihr nach wie vor vehement dagegen, Elke Falks Version von einem Suizid zu glauben.

Glauben heißt nicht wissen, Herzchen!, bemerkte ihre innere Stimme in leicht oberlehrerhaftem Ton. Du bist Naturwissenschaftlerin, vergiss das nicht! Da zählen objektivierbare Fakten. Und sonst nichts.

Als ob ich das nicht selbst wüsste, erwiderte Sofie unwirsch.

Ich mein ja nur, näselte die Stimme. Vielleicht kannst dus einfach nicht verzupfen, dass deine werte Kollegin zur Abwechslung auch mal recht hat?

Willst du damit etwa andeuten, ich sei genauso wie diese Bissgurkn?, fauchte Sofie. Unverschämtheit. Mir gehts nur …

… um die Wahrheit. Ich weiß, ergänzte die Stimme anzüglich. Sofie Rosenhuth, die Rächerin der stummen Toten. Die Knochenleserin. Die Rechtsmedizinerin mit dem geheimnisvollen siebten Sinn!

Mach dich nur lustig über mich! Sofie biss sich auf die Lippen. Obwohl – so unrecht hatte die Stimme gar nicht …

Nachdenklich rieb sie ihren rechten Nasenflügel. Da war es wieder, jenes typische Kribbeln, das nur dann auftrat, wenn sie auf einer heißen Spur war.

Oder war es diesmal einfach nur der Fahrtwind?

Anmutig schnurrte Dante, Charlys alter, bildschöner Jaguar, die Lindwurmstraße entlang und bog am Sendlinger Tor mit Schwung in die Blumenstraße ein. Schon oft hatte Sofie sich gefragt, wie eine Straße mit solch stur aneinandergereihten, unpersönlichen grauen Büro- und Wohngebäuden einen derart lieblichen Namen tragen konnte.

Doch zunächst ging es vorbei an der alten Hauptfeuerwache und dem legendären Marionettentheater von »Papa« Schmid und Franz Graf von Pocci. Als Kind war es für Sofie ein ganz besonderes Highlight gewesen, mit ihrer Tante Vroni und deren missratenem Sohn Alois, diesem Rotzlöffel, dort eine der verzaubernden Vorstellungen zu besuchen, die weit mehr waren als nur billiges Kasperltheater. Zusammen mit dem Kirchlein daneben wirkte der kleine Tempel mit seinen Säulen und Giebelchen auf der grünen Insel inmitten des rauschenden Verkehrs wie aus der Zeit gefallen.

Sofie stutzte und wandte sich an ihren Begleiter, der bislang dezent geschwiegen hatte.

»Sag amal, wohin kutschierst du uns eigentlich? Zum Viktualienmarkt?«

Wie immer fühlte es sich überaus wohlig an, neben diesem galanten, unaufdringlichen und dafür umso liebenswürdigeren Polizeireporter durch die Stadt zu brausen. So vertraut. So … geborgen.

Wenn es nach Sofie gegangen wäre, hätte die Fahrt ewig dauern können.

Charly Loessls Lippen umspielte ein rätselhaftes Lächeln, als Dante nun in die Corneliusstraße einbog.

»Lass dich einfach überraschen, Sofie. Aber ich glaube« – gekonnt umrundete der rote Jaguar das Rondell am Gärtnerplatz – »es wird dir sehr gefallen.«

Inzwischen lag das schwarzsilberne, bizarre Gebäude des Europäischen Patentamts linker Hand hinter ihnen. Dante steuerte nun die Corneliusbrücke an und überquerte die grün-silbern gleißende Isar.

Ein paar unermüdlich Sonnenhungrige aalten sich in den Auen und fingen die letzten Strahlen des Tages ein.

In der Ferne ertönte ein dumpfes Brausen, ein Mischmasch aus Disco- und Leierkastenmusik, untermalt von dem wuchtigen Geläut der Kirche Mariahilf.

Sofie grinste und fuhr sich durch die zerstrubbelten dunkelblonden Locken.

»Sag bloß, du fährst mit mir zur Dult? Auf ein Hendl oder einen Steckerlfisch?«

Was sie in der Tat überrascht hätte. Bislang hatte Charly Loessl eher einen Hang zu exquisiter französischer Küche gezeigt und zu Naschereien, die sie nur vom Hörensagen oder auch gar nicht gekannt hatte.

Doch Charly schüttelte stumm lächelnd den Kopf, ließ das Remmidemmi der Kirchweihdult rechts liegen und parkte Dante in einer stillen Seitenstraße.

Mit einer angedeuteten Verbeugung öffnete er Sofies Tür und half ihr, sich aus dem niedrigen grauen Ledersitz zu schälen. »Wir sind da!«

Verdutzt sah Sofie sich um.

ENDE DER LESEPROBE