Vogelmenschen - Mara Schmiedinghoff - E-Book

Vogelmenschen E-Book

Mara Schmiedinghoff

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Beschreibung

»Der Vogel schraubte sich an den anderen Fliegern vorbei bis über die Spitze des Hochhauses hinaus in den Himmel, bevor er in einen rasanten Sturzflug überging. Innerhalb von Sekunden hatte er die halbe Distanz zum Boden überbrückt und sauste auf den Parkplatz zu. Ich war derartig fasziniert von diesem Anblick, dass ich beinahe zu spät verstand, dass ich angegriffen wurde.« Etwas Neues schleicht durch das Naturschutzgebiet von Feldberg. Etwas, das selbst die Werwölfe in die Flucht schlägt. Und so ist es für Oberhexe Sandra mal wieder vorbei mit dem ruhigen Kleinstadtleben. Statt gemütlich hinter der Verkaufstheke ihres Bücherlädchens Kaffee zu trinken, muss sie mit ihren magisch begabten Freunden auf Monsterjagd durch den Wald stiefeln. Statt eines Monsters findet sie einen Magier mit Gedächtnislücken, dessen Geschichte weitere Rätsel aufgibt. Seine Spur führt Sandra schließlich zu einem Wohnturm voller Vogelmenschen – und die sind leider gar nicht gut auf den Hexenrat zu sprechen.

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Vogelmenschen
Impressum
Prolog
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Vogelmenschen

Ein Urban-Fantasy-Roman von Mara Schmiedinghoff

Eisermann VerLag

Für Elisabeth

die jeden so geliebt hat, wie er war.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96173-145-9

E-Book-ISBN: 978-3-96173-196-1

Copyright (2022) Eisermann Verlag

Lektorat: Bettina Dworatzek

Korrektorat: Daniela Höhne

Buchsatz & Umschlaggestaltung: Grit Richter, Eisermann Verlag

unter Verwendung der Bilder: Stockfoto-Nummer: 572951767

von www.shutterstock.com

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

Eisermann Verlag ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH,

Gröpelinger Heerstr. 149, 28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Dafür, dass es das erste Date seines Lebens war, lief es verdammt gut. Sie hatten den Picknickkorb auf der Lichtung zurückgelassen und jagten sich nun in Wolfsgestalt gegenseitig durch den Wald. Es war ein wundervoller Herbsttag. Überall um sie herum strahlte das Laub in warmen Farbtönen, und die Sonne brachte Ginas glattes, fast schwarzes Fell zum Glänzen. Stefans Lefzen verzogen sich zu einem recht unwölfischen Grinsen, als er sich die Reaktion seiner neuen Freunde an der Uni vorstellte, wenn er ihnen die Wahrheit über sein Treffen mit Gina erzählt hätte. Wir gehen picknicken, aber die meiste Zeit werden wir wohl damit verbringen, uns gegenseitig anzuspringen und in Laubhaufen zu schubsen. Doch so etwas war natürlich nicht möglich. Die Gesetze des Rats legten seit der Zeit der Hexenverbrennungen strenge Kriterien fest, damit ein Mensch ohne übernatürliche Fähigkeiten für eine Einweihung auch nur infrage kam. Umso besser, dass seine (hoffentlich) zukünftige Freundin selbst eine Werwölfin war. Jetzt gerade wurde sie langsamer und drehte sich zu ihm um, um ihn zärtlich mit der Nase anzustubsen. Sein Herz machte vor Überraschung und Freude einen Sprung. Ein Glück nur, dass er in Wolfsgestalt nicht rot werden konnte. Was sollte er denn jetzt machen? Sie sah ihn irgendwie erwartungsvoll an. Ob er einfach mal probehalber zurückstubsen sollte? Vorsichtig streckte er die Schnauze aus. Nein, es lief nicht einfach nur gut. Dieser Moment war perfekt.

Und dann war er mit einem Schlag vorbei.

Gina zuckte mit gesträubtem Fell zurück, aufgeschreckt von dem Schrei, der nicht weit von ihnen entfernt aus dem Wald drang. Es war kein Aufschrei, wie ihn Menschen aus Überraschung, Schrecken oder Schmerz ausstießen. Dieser Schrei zog sich in die Länge, schien gar nicht mehr aufhören zu wollen. Zuerst glaubte Stefan, die Stimme eines Mannes zu erkennen, in der unendliche Angst und gleichzeitig unendliche Wut mitschwangen. Doch je länger er hinhörte, desto unsicherer war er sich, ob derartige Laute nicht eher von einem gequälten Tier stammen mussten. Ginas Körpersprache hatte sich komplett verändert. Sie duckte sich und fletschte die Zähne. Er nahm den beißenden Geruch ihrer Angst wahr und spürte, wie sein Fell sich aufrichtete. Dann war es vorbei, ebenso unerwartet, wie es angefangen hatte. Der Schrei verstummte, als hätte jemand den Stecker aus einem Lautsprecher gezogen. Stefan grub seine Krallen in den Boden und konzentrierte sich darauf, tief und ruhig zu atmen, bis sein rasender Herzschlag sich allmählich normalisierte. Anschließend nahm er seine menschliche Gestalt an.

»Ich gehe nachschauen, was da vorne los ist«, sagte er zu Gina, die mit eingezogenem Schwanz zwischen die Bäume starrte. »Lauf zurück zu unseren Sachen. Wenn ich nicht in einer Viertelstunde zurück bin, rufst du Jo oder die Polizei. Okay?«

Die Wölfin wandte sich zu ihm um und senkte zustimmend den Kopf. Dann strich sie an seinen Beinen entlang und verschwand in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Stefan blieb allein zurück. Nach kurzem Überlegen ließ er sich wieder auf vier Pfoten sinken. Falls gerade ein Verbrechen passiert war, trieben sich der oder die Täter wahrscheinlich noch am Tatort herum, und in dem Fall war es besser, nicht auf den ersten Blick als Zeuge erkennbar zu sein. Trotz des trockenen Laubs, das den Boden bedeckte, verursachte er kaum ein Geräusch, während er sich mit wachsam gespitzten Ohren vorwärts pirschte. Er witterte in der kalten Herbstluft nach dem Geruch von Menschen, aber der Wind stand zu ungünstig. Die Stimme hatte geklungen, als käme sie ganz aus der Nähe. Also müsste er eigentlich gleich da sein.

Der Wind drehte. Und tatsächlich, da war der Geruch eines Mannes. Eines Mannes, der Angst hatte. Große Angst. Ob er sich zurückverwandeln und rufen sollte? Der Mann schien allein zu sein, zumindest konnte Stefan keine weiteren Menschen riechen. Allerdings nahm er etwas anderes wahr, einen Geruch, den er nicht einordnen konnte. Sein Fell sträubte sich, ohne dass er sich erklären konnte, warum. Etwas an diesem Geruch ließ in seinem Unterbewusstsein alle Alarmglocken läuten. Es ist böse. Renn weg! Er musste sich zwingen, weiter eine Pfote vor die andere zu setzen, zumal der Geruch immer intensiver wurde. Sei nicht albern, schalt er sich selbst. Ich habe noch nie von Werwölfe fressenden Monstern gehört. Im nächsten Augenblick zuckte er zusammen, als es in den Baumkronen raschelte, und er erstarrte endgültig. Erst jetzt wurde ihm klar, warum der Geruch, der schon seit einer Weile in der Luft hing, so schnell so viel deutlicher wurde. Er bewegte sich nicht einfach darauf zu. Es kam gleichzeitig in seine Richtung. Sein Blick schnellte zu den Baumwipfeln empor, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Ast unter dem Aufprall von etwas Schwerem auf und ab federte, nur ein paar Meter von ihm entfernt. Etwas sprang in atemberaubender Geschwindigkeit von einer Baumkrone in die nächste. Stefans Wolfsaugen sahen schlechter als seine menschlichen, weshalb er nur erkannte, wie graues oder grünes Fell aufblitzte und ein langer Schwanz im Sprung ausbalancierend durch die Luft peitschte. Dafür hörte er umso deutlicher den dumpfen Aufprall, mit dem das Wesen am nächsten Baumstamm landete. Es musste mindestens so groß sein wie er, wenn nicht größer. Und es verströmte eine Aura, eine Mischung aus seinem Geruch und reiner Magie, die Stefan vor unerklärlichem Entsetzen aufwinseln ließ. Es war jetzt direkt über ihm. Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte der Gedanke durch sein Bewusstsein, ob Gina bereits dabei war, Hilfe zu rufen. Dann übernahm sein Instinkt vollständig die Kontrolle, und er war nur noch ein Tier, das um sein Leben rannte.

1

Aus dem Wald

»… auf einmal kam er aus dem Wald geschossen«, setzte Gina Stefans Bericht fort. »Er sah aus, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Ich hatte die Picknicksachen schon zusammengepackt, und bin hinter ihm her zum Auto gehetzt. Wir sind zu Jo gefahren, sobald er sich zurückverwandelt hatte. Und die meinte dann, dass wir sofort zusammen hinfahren und die Sache klären sollten, aber nur mit ausreichender Verstärkung.«

Besagte Jo war die Leitwölfin des einheimischen Werwolfsrudels und meine beste Freundin. Im Augenblick saß sie direkt neben Gina auf dem Sofa in meiner Wohnung. Ich hatte den dreien eine große Kanne Kakao zur Beruhigung gekocht und mich mit Notizbuch und Stift zu ihnen gesetzt, um Stefans Bericht gleich mitschreiben zu können. Es passierte nicht oft, dass die Werwölfe Angst vor etwas hatten. Jo musterte ihre beiden Schützlinge mit besorgt gefurchter Stirn.

»Ich kann den Geruch sogar jetzt noch an Stefan wahrnehmen. Was auch immer dieses Wesen ist, ich halte es für zu gefährlich, als dass ich es länger als unbedingt nötig in meinem Revier haben will.«

Ich nickte ernst. Als Oberhexe von Feldberg, unserer kleinen, größtenteils von Naturschutzgebiet umgebenen Heimatstadt, empfand ich das Problem ganz genauso. Außerdem half mir heute Jos Nichte Mia in meiner Buchhandlung aus. Ich konnte mir also durchaus ein, zwei Stunden für einen dringenden Einsatz freinehmen.

»Du hast recht. Es wird am besten sein, wenn wir das Problem gleich in die Hand nehmen. Gebt mir ein paar Minuten Zeit, um alles Nötige zusammenzusuchen, dann können wir von mir aus los. Gehen wir zu viert oder hast du noch mehr Werwölfe eingeplant?«

»Stefan hat vorhin mit seinem Vater geschrieben. Für einen einzelnen Eindringling brauche ich nicht gleich das ganze Rudel. Aber Markus wird am Waldrand zu uns stoßen, und ein paar andere halten sich bereit, für den Fall, dass etwas schiefgeht.«

»Das klingt gut.«

Ich stand auf, um mir vom Garderobenhaken meine Umhängetasche zu holen, ohne die ich so gut wie nie das Haus verließ. Diese Angewohnheit ist nicht ungewöhnlich für Hexen aus dem Zirkel der Alchemisten. Wir können mit unseren Fähigkeiten zwar mächtige Gegenstände erschaffen, aber solange wir diese nicht bei uns tragen, sind wir unfähig, spontan Magie zu wirken. Darum überlegte ich nun genau, was ich alles zu unserer Expedition in den Wald mitnehmen sollte. Zunächst sammelte ich Anguis ein, die sich auf dem Fensterbrett sonnte. Auf den ersten Blick wirkte sie wie eine magische Peitsche, der ein begabter Seher vielleicht noch ihre Fähigkeit angesehen hätte, Magie zu binden. Sobald sie sich bewegte, wurde jedoch ihre zweite Natur als künstlicher Körper eines Schlangengeistes sichtbar. Ich hatte sie vor Jahren als mein Meisterstück erschaffen, um meine Ausbildung beim Hexenrat abzuschließen. Seitdem war sie meine treue Begleiterin. Nachdem sie ihren Sonnenplatz mit einem unwilligen Zischeln aufgegeben und sich verborgen unter meinem langen Sweatshirt um meine Hüfte gewickelt hatte, lotste ich die drei Werwölfe ins Erdgeschoss. Mia reckte neugierig den Kopf, als wir die Buchhandlung betraten. Jo blieb bei ihr stehen, um ihr die Lage zu erklären, während ich durch die Tür hinter der Ladentheke in mein Arbeitszimmer verschwand. Seit dem Brandanschlag im Frühling hatte ich ein Unverwundbarkeitsamulett für Notfälle in meiner Schreibtischschublade liegen. Je nach Wucht des Angriffs ließ die Wirkung zwar bereits nach kurzer Zeit nach, dennoch konnte ein solcher Schutz im Ernstfall über Leben und Tod entscheiden. Ich schickte Gina und Stefan in den Keller, um Schutzamulette für sich selbst und Stefans Vater Markus auszusuchen, und fügte dem Sammelsurium in meiner Tasche einen mit Sehermagie aufgeladenen Kristall hinzu. Jo trug mit der Jacke, die ihre Schwester ihr geschenkt hatte, bereits ihren persönlichen Schutzzauber bei sich.

Als wir alle so weit waren, verabschiedeten wir uns von der besorgt dreinschauenden Mia. Zum Glück war sie weniger abenteuerlustig als die jungen Werwölfe und damit einverstanden, auf die Buchhandlung aufzupassen. So machten wir uns zu viert auf den Weg Richtung Naturschutzgebiet. Der Wald begann gleich am Ende der Fußgängerzone, an der mein Haus lag, also gingen wir zu Fuß. Markus war bereits da und scharrte mit seinen glänzenden Markenschuhen unruhig auf dem Kiesweg herum, als wir ankamen. Er nickte mir ernst zu, begrüßte Jo und seinen Sohn mit einer Umarmung und nahm mit einem Stirnrunzeln die Kette entgegen, die Gina ihm hinstreckte. Während die beiden Jungwölfe uns tiefer zwischen die Bäume führten, ließ er sich noch einmal die Details der unheimlichen Ereignisse des Nachmittags erklären. Wir liefen eine ganze Weile, immer weiter weg von den üblichen Wanderrouten, was mich sehr beruhigte. Wenn es zu einem Kampf kam, würden wir so keine unnötige Aufmerksamkeit erregen und keine Nichthexen gefährden. Darauf hatte ich gehofft, schließlich war auch Stefans und Ginas Werwolfsdate nicht gerade für die Augen von Ausflüglern bestimmt gewesen, die zufällig vorbeiliefen. Nach einer Weile wurden Stefans und Ginas Schritte langsamer. Unsere Gespräche senkten sich erst zu einem Flüstern und verstummten schließlich ganz. Stefan deutete nach vorn, wo sich zwischen den Bäumen eine Lichtung erahnen ließ.

»Da haben wir gepicknickt. Aber die Stelle, an der ich das Monster gesehen habe, ist noch ein Stück weiter links von uns.«

Jo reckte den Kopf und witterte. »Ich rieche nichts Ungewöhnliches. Du, Markus?«

Ihr Stellvertreter verneinte. Ich zog den Seherkristall aus meiner Tasche und bedeutete Stefan, seine Hände darauf zu legen.

»Ruf dir das Wesen, das du gesehen hast, so gut du kannst, ins Gedächtnis. Seine Gestalt, seinen Geruch, seine Aura.«

Stefan schauderte, schloss jedoch gehorsam die Augen und konzentrierte sich. Einige Sekunden lang warteten wir alle gespannt, dann begann der Kristall in einem dezenten orangefarbenen Licht zu glühen.

»Bingo. Also ist es noch in der Nähe.«

Ich nahm den Stein wieder an mich und ging einige Schritte weit in die Richtung, in die Stefan gezeigt hatte. Das Leuchten wurde heller. Um ganz sicher zu gehen, machte ich die Gegenprobe und lief Richtung Wiese, bis sich der Kristall verdunkelte. Danach ließ ich mir von den Werwölfen Rückendeckung geben, während ich mich langsam entlang der Spur des unbekannten Wesens vorantastete. Anfangs war es eine mühselige Aufgabe, im Zickzack zwischen den Bäumen umherzustapfen und dabei ständig darauf zu achten, ob der Kristall in meiner Hand heller oder dunkler wurde. Nach einer Weile entwickelte ich ein Gefühl dafür, in welche Richtung wir uns bewegen mussten. Die Stimmung wurde zusehends angespannter, nicht zuletzt, weil die Werwölfe weiterhin nichts wahrnehmen konnten, was sich von den üblichen Geräuschen und Gerüchen des Waldes unterschied. Markus verwandelte sich schließlich und lief in Wolfsgestalt neben mir her, um einen möglichen Angriff schneller abwehren zu können. Er blieb so dicht neben mir, dass wir beinahe zusammenstießen, als ich abrupt stehenblieb.

»Was ist los?« Jo trat zu mir und schaute auf meine Hände. »Warum flackert das Teil auf einmal?«

Ich musterte den Seherkristall nicht weniger verdutzt als sie. »Wenn ich das wüsste. Er scheint sich mit sich selbst uneins zu sein. Moment mal. Hört ihr das auch?«

Jo nickte stumm und deutete mit dem Kopf auf ein Grüppchen niedriger Tannen schräg vor uns. Alle fünf lauschten wir mit angehaltenem Atem. Keine Frage. Da näherte sich uns etwas oder jemand, dem es egal war, ob das Knacken zerbrechender Zweige seine Ankunft verriet. Knurrend sprang Markus auf das Dickicht zu, nur um im nächsten Augenblick mit einem Winseln zur Seite auszuweichen, als ein mannshoher abgebrochener Baumstamm auf ihn zugesegelt kam. Ich reagierte nicht ganz so schnell wie er und konnte nur mit einem Aufschrei die Arme hochreißen, bevor der Stamm dank des Amuletts um meinen Hals wenige Zentimeter vor meinem Gesicht abprallte und auf dem Boden zerbarst. Der Seherkristall in meiner Hand hatte weniger Glück als ich. Er geriet zwischen den Baumstamm und den Schutzzauber, der meinen Körper umgab, und brach mit einem hellen Klirren auseinander. Glitzernde Fragmente regneten auf den Waldboden. Fluchend hastete ich drei Schritte rückwärts, während ich Anguis von meiner Hüfte riss. Um mich herum knurrten jetzt vier Werwölfe in voller Verwandlung. In Lauerstellung beobachteten wir, wie die mit Nadeln bewachsenen Äste zur Seite gedrückt wurden – und dahinter ein zerrupft aussehender Mann in Hemd und Krawatte zum Vorschein kam.

»Oh. Ähm. Entschuldigung. Ich wollte nicht …« Er gestikulierte in Richtung des zersplitterten Baumstamms. »Ihr Wolf hat mich erschreckt.«

Markus stieß ein langes, bedrohliches Grollen aus. Ich starrte den Kerl fassungslos an. Dann schlugen der Schreck und das Adrenalin, das die unerwartete Attacke freigesetzt hatte, plötzlich in Wut um.

»Sie wollten das nicht?!«, schrie ich ihn an. »Das Ding hätte uns umbringen können! Sie können doch nicht einfach so Bäume durch die Gegend schmeißen, nur, weil Sie etwas erschreckt hat! Haben Sie den Verstand verloren?«

Er runzelte die Stirn, als müsste er ernsthaft über diese Frage nachdenken. Schließlich zuckte er mit den Schultern und sah dabei so verloren aus, dass ich meinen Ton wieder mäßigte.

»Wer sind Sie denn überhaupt?«

»Das wüsste ich selbst gern. Ich glaube, ich bin ein Magier. Zumindest habe ich vorhin Telekinese verwendet, und das bedeutet wohl, dass ich ein Magier bin, nicht wahr?«

»M-hm. Zumindest nach der Definition des Hexenrats.«

»Hexenrat? Ach ja, genau, ich weiß, was das ist. Ich glaube, den Rat mag ich.«

»Na, das ist ja schön«, murmelte ich wenig euphorisch. »Sie haben eben gesagt, dass Sie nicht wissen, wer Sie sind. War das metaphorisch gemeint oder können Sie sich wirklich nicht erinnern?«

»Letzteres. Ich kann mich an gar nichts erinnern, außer daran, dass ich seit etwa ein, zwei Stunden durch diesen Wald laufe.«

Eine einfachere Erklärung wäre auch zu schön gewesen. Andererseits wurde ich ja nicht gewählt, um mich um die einfachen Dinge des Lebens zu kümmern.

Ich setzte ein beruhigendes Lächeln auf und streckte dem Fremden die Hand hin.

»Mein Name ist Sandra Erl, für Mithexen Sandra. Ich bin die Oberhexe von Feldberg. Feldberg ist die Stadt, in deren Naturschutzgebiet wir uns gerade befinden. Haben Sie … Darf ich Du sagen?«

Er nickte schüchtern.

»Hast du hier zufällig ein auffälliges Tier bemerkt? Säugetierähnlich, ungute magische Aura, springt von Baum zu Baum?«

»Nein, gar nichts. Ist so etwas in der Nähe? Dann will ich erst recht weg von hier!«

Ich nickte nachdenklich. »Wahrscheinlich ist es sowieso besser, wenn wir dich zur nächsten Polizeiwache bringen. Ohne den Kristall wird sich nichts mehr finden lassen. Aber du darfst der Polizei nicht erzählen, dass du ein Magier bist. Bist du dir dessen bewusst?«

Er nickte erneut, diesmal entschieden. »Aber natürlich. So weit geht meine Amnesie nun auch wieder nicht.«

Wie sich herausstellte, hieß unser verwirrter Unbekannter Mike Gerhard und war seit vier Jahren offiziell bei der Polizei als vermisst gemeldet. Marina, meine Augen und Ohren bei der Feldberger Polizei, war gerade nicht im Dienst. Doch zum Glück war Mike so nett, mich mit in den Warteraum zu nehmen, in dem ihn eine Polizistin mit Pferdeschwanz über seinen Fall aufklärte. Wie es aussah, arbeitete der Magier bei einem Immobilienbüro in Fähringen, der an Feldberg grenzenden Großstadt. An einem Nachmittag vor vier Jahren war er nach Feldberg gefahren, um einem Kunden ein Einfamilienhaus zu zeigen. Sein Chef erklärte später der Polizei, Mike habe ihn nach der Führung von seinem Handy aus angerufen und berichtet, der Kunde habe sich zum Kauf entschlossen. Sein Mitarbeiter sei bester Laune gewesen, er habe alles andere als den Eindruck von jemandem gemacht, der weiß, dass etwas Ungewöhnliches bevorsteht. Am Ende des Telefonats erklärte Mike, er wolle sich jetzt eine Kleinigkeit zum Mittagessen besorgen und im Anschluss nach Fähringen zurückfahren. Der Besitzer einer Dönerbude in der Innenstadt bestätigte, dass Mike sich gegen zwei Uhr mittags eine Falafeltasche zum Mitnehmen gekauft hatte. Danach wurde er von niemandem mehr gesehen. Jetzt erinnerte ich mich wieder an die Geschichte, die damals in Feldberg ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erregt hatte. Die Nichthexen der Stadt waren damals mehrheitlich davon ausgegangen, dass es in ihrem schönen Städtchen ohnehin keine Schwerverbrecher gebe, und dass dieser Fähringer wohl einfach durchgebrannt sei, wie es die Leute nun einmal hin und wieder taten. Der Fähringer Hexenrat war anderer Meinung gewesen. Zwischenzeitlich gab es sogar eine Theorie, der Fall könnte mit irgendeiner Art von Racheaktion für den Schwarzmarktboss Dominik Yaris zusammenhängen, den der Rat wenige Monate zuvor gefangengenommen hatte. Die Spekulationen führten ins Leere. Am Ende war ein eigenständiger Suchtrupp der Fähringer hier aufgekreuzt, was meinem Vorgänger Carlos überhaupt nicht gefallen hatte. Wenn ich mich richtig erinnerte, war es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihm und der Ehefrau des Vermissten gekommen, einer eingeweihten Nichthexe, die in ihrer Verzweiflung alle und jeden beschuldigte, zu wenig für die Rettung ihres Mannes zu tun. Worum war es in dem Streit noch gegangen?

»Sie haben Herrn Gerhard also bei einem Spaziergang gefunden?«, unterbrach die Polizistin meine Gedanken.

»Hm? Ja, genau. Mitten im Naturschutzgebiet.«

»Soso.« Die Beamtin musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Sind Sie dieses Jahr nicht schon mal zufällig beim Spazierengehen über eine Leiche gestolpert?«

»Ich gehe eben viel spazieren«, erwiderte ich schulterzuckend und machte mir in Gedanken eine Notiz, bei der nächsten Gelegenheit meine Polizeiakte frisieren zu lassen. Ich blieb noch eine Weile bei Mike und leistete ihm Gesellschaft. Irgendwann wurden die Blicke der misstrauischen Beamtin jedoch so deutlich, dass ich es für besser hielt, mich freiwillig nach draußen zu verziehen. Dort hielt ich mich knapp außer Sichtweite der Fenster der Polizeiwache und rief von der Mündung einer Seitengasse aus Mia an, um ihr zu sagen, dass sie den Laden ruhig schließen konnte, ohne auf mich zu warten. Dann lehnte ich mich an eine Hauswand und wartete, während nach und nach die Straßenlaternen angingen. Schließlich fuhr ein Auto mit Fähringer Kennzeichen vor, aus dem eine sichtlich aufgelöste Frau in die Wache stürzte. Durch die erleuchteten Fenster beobachtete ich, wie sie dem verunsichert dreinschauenden Mike um den Hals fiel und sich überschwänglich bei sämtlichen Polizisten auf der Wache bedankte. Das nahm eine Weile in Anspruch, sodass ich die beiden, als sie schließlich Arm in Arm nach draußen traten, bereits bei ihrem Auto erwartete.

»Frau Gerhard?« Ich setzte mein vertrauenswürdigstes Lächeln auf und streckte ihr eine Hand entgegen. »Mein Name ist Sandra Erl, ich bin die zuständige Oberhexe. Haben Sie einen Moment Zeit?«

Sie musterte mich kritisch, ohne meine Hand zu ergreifen. »Oh. Gut zu wissen, dass dieser Stümper weg ist. Was wollen Sie denn wissen?«

Ich biss mir auf die Unterlippe, um eine scharfe Entgegnung zu unterdrücken. An den Streit hatte ich mich also richtig erinnert.

»Frau Gerhard, jetzt wo wir wissen, wo Ihr Mann aufgefunden wurde … Haben Sie vielleicht eine Idee, wie er in das Naturschutzgebiet gelangt sein könnte? Gibt es irgendeine persönliche Verbindung, die ihn veranlasst haben könnte, diesen Ort freiwillig oder unfreiwillig aufzusuchen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er geht gern in der Natur spazieren, aber das war es auch schon. Er war so gut wie nie in Ihrem Dorf, solange er nicht beruflich dort hinmusste. Und das kam höchstens ein- bis zweimal im Jahr vor. Sie sollten sich also lieber fragen, warum seine Entführer sich diesen bestimmten Ort ausgesucht haben.«

»Seine Entführer? Ich erinnere mich gar nicht daran, dass es damals Anhaltspunkte für ein Verbrechen gab.«

Mikes Gattin schnaubte verächtlich. »Ihr Vorgänger hat sich ja geweigert, das Offensichtliche anzuerkennen. Dabei waren die Anzeichen doch überdeutlich. Wenn meinem Schatz bloß ein Dachziegel oder etwas Ähnliches auf den Kopf gefallen wäre, hätte man ihn gefunden. Und mit gewöhnlichen Angreifern wäre er fertig geworden. Er gehört zu diesen … Wie nennen Sie das noch? Die Mächtigsten von Ihrem Verein, bei denen sich alles Zauberpotenzial auf eine Fähigkeit konzentriert?«

»Es heißt magisches Potenzial, und die Gruppe, von der Sie sprechen, sind die Reinen.«

»Ach ja, genau. Jedenfalls gehört er zu diesen Reinen und wäre, wenn nötig, spielend mit jedem Angreifer fertig geworden. Also handelt es sich bei den Tätern um Hexen, und bei der Tat um eine Entführung. Oder wie würden Sie es nennen, wenn man jemanden gegen seinen Willen verschwinden lässt und er erst Jahre später wieder auftaucht?«

»Er hätte aus eigenem Antrieb untertauchen können. Zum Beispiel aufgrund privater Probleme oder einer psychischen Störung, die nie diagnostiziert wurde.«

Sie schaute mich an, als wäre ich ein verwahrlostes Kind, das sie gerade grundlos angepöbelt hatte. »Mein Mike hat keine Probleme. Außer vielleicht diesen Typen von Ihrer Truppe, die alle Jubeljahre mal bei uns auftauchen und ihn zuschwallen, er sollte sich mehr in seinen Zirkel einbringen.

Dabei hat er sich schon als Junge für ein Leben in der normalen Welt entschieden. Wenn Sie also ernsthaft daran interessiert sind, die Schuldigen zu finden, suchen Sie gefälligst in Ihren eigenen Reihen. Ich wäre Ihnen sogar sehr dankbar, wenn Sie das für uns täten.«

Der letzte Satz klang ein wenig freundlicher als der Rest ihrer Tirade und ließ eine ansonsten gut verborgene Verletzlichkeit durchschimmern. Also verkniff ich mir ein weiteres Mal den Kommentar, dass ich sie selbst ebenfalls zu Mikes potentiellen Problemen zählte. Stattdessen rang ich mir ein dünnes Lächeln ab.

»Ich werde sehen, was ich tun kann. Mike ist ein Reiner, sagten Sie? Dann hat er also keine besondere Beziehung zu Geistern oder Tierwesen, die in seiner Nähe auftauchen?«

»So etwas ist meines Wissens noch nie passiert. Er ist tierlieb, das schon, aber eher in Bezug auf die üblichen Haustiere.«

»Vielen Dank, das wäre es jetzt fürs Erste. Bestimmt möchten Sie Ihr Wiedersehen in Ruhe zu Hause feiern. Eine letzte Frage hätte ich allerdings.« Ich wandte mich an Mike. »Hättest du etwas dagegen, wenn ich einen Seher einschalte? Ich kenne da jemanden mit einer speziellen Gabe, er könnte dir vielleicht dabei helfen, deine Erinnerungen wiederzufinden. Er lebt seit seiner Heirat sehr zurückgezogen, aber er ist der Beste, wenn es darum geht, vergangene Ereignisse zu rekonstruieren. Wenn er es will, sieht er die Vergangenheit von allem, was er berührt, egal ob Lebewesen oder Gegenstand. Wenn ich ein paar Tage Vorlaufzeit bekomme, könnte ich ein Treffen arrangieren.«

Mike, der während des gesamten Gesprächs kein Wort gesagt hatte, strahlte mich dankbar an. »Das wäre wahnsinnig nett von dir. Es ist furchtbar, sich nicht an das eigene Leben erinnern zu können. Wenn du den Mann überreden kannst, unterhalte ich mich nur zu gerne mit ihm.«

2

Das Gegenteil von willkommen

Da im Leben aber nur wenige Dinge so einfach sind, wie man sie sich am Anfang vorstellt, weigerte Leo Marle sich konsequent, meine Anrufe entgegenzunehmen. Am ersten Abend redete ich mir noch ein, es sei vielleicht schon zu spät, um ans Telefon zu gehen, oder er sei möglicherweise ausgegangen. Als ich am darauffolgenden Tag zu verschiedenen Tageszeiten immer wieder bei ihm anrief, musste ich schließlich akzeptieren, dass er meine Anrufe bewusst ignorierte. Am späten Abend versuchte ich es ein letztes Mal. Zu meiner Überraschung kam ich diesmal durch, auch wenn am anderen Ende statt einer Begrüßung nur abwartendes Schweigen zu hören war.

»Hallo, Leo!«, plapperte ich schnell los, bevor er es sich anders überlegen konnte. »Hier ist Sandra vom Rat. Hör zu, ich weiß, dass es mit dir und uns in letzter Zeit nicht sonderlich gut gelaufen ist. Aber ich rufe auch nicht wegen einer Ratsangelegenheit an, sondern wegen jemandem, der dringend deine Hilfe braucht. Er hat nichts mit dem Rat zu tun, so wie du. Es wäre wirklich -«

Aufgelegt. Frustriert knallte ich das Telefon zurück auf die Ladestation. Allmählich wurde es mir zu bunt. Dem früheren Leo hätte es gar nicht ähnlich gesehen, einen derartigen Zickenkrieg zu veranstalten. Sicher, er hatte sich entschlossen, dem Hexenrat und dem Zirkel der Seher den Rücken zu kehren, was ihm einige Seher bis heute übelnahmen. Trotzdem hätte er wenigstens kurz mit mir reden können, und sei es nur, um zu sagen: Nein, tut mir leid. Da halte ich mich raus.

Außerdem hätte er mich gut genug kennen sollen, um zu wissen, dass ich mir eine solche Behandlung nicht gefallen lassen würde. Ich hatte zwar weder seine Handynummer noch seine Mailadresse, aber ich wusste, wo er wohnte. Wenn ich persönlich vor ihm stand, würde er mit mir reden müssen. Heute Abend war es bereits zu spät, um zu ihm zu fahren und ein Gespräch zu erzwingen, aber morgen begann mein freies Wochenende.

Das Wetter schien auf meiner Seite zu sein, als ich mich am Samstagmorgen auf den Weg machte. Der Himmel war von einem strahlenden Blau, dekoriert mit einigen zarten Federwölkchen. Ich musste gut eine halbe Stunde lang mit dem Auto fahren, bis ich schließlich auf den Parkplatz vor dem Wolkenkratzer bog, der sich mitten im Nirgendwo zwischen Feldern und Wäldern in den Himmel reckte. Er gehörte offiziell zu einem der Dörfchen rund um Feldberg, war aber bewusst außerhalb der Sichtweite jeglicher menschlicher Zivilisation gebaut worden. Das Gebäude war relativ neu. Es war Anfang der Neunzigerjahre als Crowdfunding-Projekt entstanden, lange bevor der Begriff sich in der Alltagssprache einbürgerte. Offiziell hatten sich mehrere Familien aus Enttäuschung über die Kommerzialisierung des Wohnungsmarkts zu einem alternativen Wohnprojekt zusammengeschlossen. Inoffiziell lebte, liebte, lachte, flog und brütete hier Deutschlands zweitgrößte Kolonie von Vogelmenschen. Als ich aus dem Wagen stieg, konnte ich sehen, wie einige von ihnen am Himmel ihre Kreise zogen. Sie flogen hoch genug, um als Falken oder Milane durchzugehen, aber ich wusste, dass sie in Wirklichkeit viel größer waren. Vogelmenschen glichen in ihrem Körperbau Steinadlern, von denen sie sich nur anhand ihres individuell gemusterten Gefieders und ihres Schnabels unterschieden. Letzterer erinnerte in seiner Form an den eines Tölpels, des Vogels, von dem sie auch ihr Kolonieverhalten übernommen hatten. Ich blieb einen Moment lang stehen, um das Schauspiel über mir zu bewundern. Wie elegant sie sich in der Luft bewegten! Ein Mitglied der Kolonie fesselte meine Aufmerksamkeit besonders. Sein oder ihr Gefieder glänzte in einem edlen Rotbraun, von dem sich an den Flügelrändern pechschwarze Schwungfedern abhoben. Der Vogel schraubte sich an den anderen Fliegern vorbei bis über die Spitze des Hochhauses hinaus in den Himmel, bevor er in einen rasanten Sturzflug überging. Innerhalb von Sekunden hatte er die halbe Distanz zum Boden überbrückt und sauste auf den Parkplatz zu. Ich war derartig fasziniert von diesem Anblick, dass ich beinahe zu spät verstand, dass ich angegriffen wurde.

Erst als die riesige Gestalt kurz über meinem Kopf abbremste und ihre ausgestreckten Krallen knapp über meinen Scheitel hinweg zischten, fuhr ich zusammen und duckte mich instinktiv weg. Der Vogel schickte mir einen wütenden Schrei hinterher, als ich einige Schritte zurückstolperte, zog sich in einem Bogen einige Meter in die Höhe und ging erneut zum Angriff über. Diesmal konnte ich mich nur retten, indem ich mich flach auf den Boden warf, um dann sofort wieder aufzuspringen und loszurennen. Mir war klar, dass ich auf der freien Fläche um das Gebäude herum keine Chance hatte. Ich musste weg, irgendwohin, wo ich Äste oder ein Dach über mir hatte, irgendetwas, das mich vor einer weiteren Attacke aus der Luft schützen würde. Mein Auto! Hastig wechselte ich die Richtung und stürzte, Haken schlagend, Richtung Parkplatz. Schrilles Kreischen durchschnitt den Himmel über mir. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie ein pechschwarzer Schatten sich aus dem Schwarm der Vogelmenschen löste und ebenfalls zu mir herabgeschossen kam. Ich machte einen Satz nach links, um ihm auszuweichen, und bemerkte zu spät, dass mein erster Angreifer erneut von vorne auf mich zugerast kam. Ich erstarrte vor Schreck. Es war zu spät, um auszuweichen. Ein Windstoß und dunkle Federn streiften meine Wange, als der schwarze Vogel mich überholte, um schützend seine Schwingen vor mir auszubreiten. Der Rotbraune konnte gerade noch eine Kollision vermeiden, indem er trudelnd abdrehte.

»Lauf!«, zischte der schwarze Vogel, während er über meinen Kopf hinweg zur Verfolgung ansetzte. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ohne weiter darauf zu achten, was sich hinter meinem Rücken abspielte, brachte ich die letzten Meter bis zu meinem Wagen hinter mich. Erst, als ich die Tür hinter mir zugezogen hatte und mich völlig außer Atem in den Fahrersitz drückte, fiel mir auf, dass ich gerade zum ersten Mal in meinem Leben einen Gestaltwandler in voller Verwandlung sprechen gehört hatte. Auch wenn es nur ein Wort gewesen war, musste die Fähigkeit meines Verteidigers selbst für einen Reinen außergewöhnlich stark ausgeprägt sein. Es konnte sich bei ihm also nur um den Anführer der Kolonie handeln, einen relativ jungen Mann namens Aaron Seehoff. Wir waren uns erst einmal bei meiner Ernennung zur Oberhexe begegnet, weshalb ich mich lediglich an sein ungefähres Aussehen und seinen festen Händedruck erinnerte. Ich drehte den Kopf, um durchs Fenster nach ihm zu suchen, und entdeckte ihn in Bodennähe. Wenig überraschender Weise hatte er den Kampf bereits so gut wie für sich entschieden. Aaron schwebte direkt über dem rotbraunen Vogel und zwang diesen so zur Landung. Mit einem letzten zornigen Schrei gab der unterlegene Vogelmensch schließlich nach und faltete seine Schwingen auf dem Rücken zusammen. Dann erstarrte er und schaute einige Sekunden lang konzentriert ins Leere, bis sein Körper langsam menschliche Gestalt annahm. Aaron brauchte weniger lange für die Verwandlung. Das verschaffte ihm den Vorteil, in dem hitzigen Wortgefecht, das nun entbrannte, als Erster zu Wort zu kommen. Sein Gegenüber war zu einer hübschen Frau Ende dreißig geworden, die demonstrativ die Arme vor der Brust verschränkte und noch drohender zu mir hinüber starrte, als es mit Raubvogelaugen möglich gewesen wäre. Ihre Haut war deutlich heller als Aarons, die fast so dunkel schimmerte wie sein Gefieder, und ihre Haare waren glatt statt gekräuselt. Trotzdem war ihren Gesichtszügen auf den ersten Blick anzusehen, dass die beiden Verwandte sein mussten. Ich konnte nicht hören, worüber sie stritten, aber sie kamen dabei in meine Richtung. Da ich nicht wusste, ob ich das Auto gefahrlos verlassen konnte, öffnete ich erst einmal nur die Tür einen Spalt weit. So konnte ich Gesprächsbereitschaft signalisieren, mich jedoch auch innerhalb einer Sekunde wieder verbarrikadieren, falls es nötig werden sollte. Allmählich waren die beiden nahe genug bei mir, dass ich verstehen konnte, was sie sagten.

»… hätte schon aufgepasst, dass ihr nichts Schlimmes passiert«, fauchte die Frau gerade.

»Ach ja?«, gab Aaron ungehalten zurück. »Für mich sah es eher so aus, als würdest du ihr im nächsten Moment ins Gesicht fliegen. Das hätte die Situation für Leo nicht besser gemacht.«

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass du sie auf einmal mitten in meine Flugbahn scheuchst! Außerdem hätten ein paar Kratzer ihr sicher nicht schaden können. Hast du gesehen, wie sie zu uns hochgegrinst hat? Wie kann sie es überhaupt wagen, einfach kackdreist auf unser Territorium zu marschieren, als würde ihr hier alles gehören, während ihre Leute -«

»Das wissenwir doch gar nicht.«

»Du vielleicht nicht. Aber ich bin gestern mit den anderen über das halbe Bundesland geflogen. Nicht einmal Thalia konnte ihn finden, und die ist mehr Seherin als irgendetwas anderes. Und wer kann einen Seher noch mal am besten täuschen? Ach ja, andere Seher. Die zufällig Leos einzige Feinde sind.«

»Moment mal«, mischte ich mich ein, wofür ich die Tür noch ein vorsichtiges Bisschen weiter öffnen musste. »Dürfte ich wissen, was hier eigentlich los ist? Aaron, ich hatte bis eben keine Ahnung, dass deine und meine Leute ein Problem miteinander haben. Ich bin eigentlich nur hier, weil ich mit Leo sprechen möchte.«

Die Frau fuhr zu mir herum und starrte mich an, als hätte sie gerade ein Gespenst gesehen. Ich hob in einer beschwichtigenden (und vielleicht ein wenig schützenden) Geste die Hände. »Ich habe schon verstanden, dass das Ganze irgendetwas mit ihm zu tun hat. Aber dürfte ich erst einmal wissen, was passiert ist, bevor ich wieder attackiert werde?«

»Leo ist verschwunden«, erklärte Aaron, bevor seine Verwandte etwas sagen konnte. »Und wir haben Grund zu der Annahme, dass der Seherzirkel aus Feldberg dahintersteckt.«

Ach du liebe Güte. »Davon wusste ich nichts. Aber ich glaube nicht, dass unsere Seher jemanden angegriffen haben. Ich kenne den Zirkel in Feldberg, das sind alles freundliche und friedliche Menschen.«

»Ach, auch Theo Berger?«, erkundigte die Frau sich zynisch.

Na gut, der vielleicht nicht. Ich hatte mir selbst mehr als einmal gewünscht, die Seher hätten ein weniger radikal denkendes Oberhaupt gewählt. Aber in der aktuellen Situation konnte ich das schlecht zugeben.

»Theo mag in einigen Punkten ein wenig eigen sein, aber ich bin mir sicher, dass genau wie die restlichen Seher keinem anderen Menschen etwas antun könnte.«

»Und was ist mit dem, was er meinem Mann angetan hat? Nach der Sache mit dem Diadem hat er die anderen Seher gegen Leo aufgehetzt, und jetzt wechselt die Hälfte von ihnen die Straßenseite, wenn Leo ihnen über den Weg läuft.«

»Das ist nun wirklich schon ewig her, und die Verhandlungen sind damals insgesamt nicht optimal gelaufen. Wenn ich mich richtig erinnere, kamen die Anfeindungen zu der Zeit von beiden Seiten. Aber wenn es Sie beruhigt, werde ich Theo zur Rede stellen und ihn fragen, ob er etwas von Leo – Ihrem Mann?«

Sie nickte.

»Ob er etwas von Ihrem Mann gehört hat. Der Hexenrat ist gerne bereit, bei der Suche zu helfen. Seit wann wird er denn vermisst?«