Voll Dampf: Fiktionale Steamgeschichten - Torsten Küper - E-Book

Voll Dampf: Fiktionale Steamgeschichten E-Book

Torsten Küper

0,0

Beschreibung

Der Dampf, der das Land beherrscht, der Rauch, der uns am Leben hält, die Reise, die uns beherrscht. Ob Entdecker oder Detektiv, ob Industriemagnat oder Reporter, ob Soldat oder Forscher, ob mit Zeppelin oder Eisenbahn unterwegs, entdecke an ihrer Seite, dass auch in deinen Adern Dampf fließt! Bereise eine Welt voller fiktionaler und dampfender Abenteuer! Mit Geschichten von: Frank Hebben, Thorsten Küper, Matthias Falke, Peter Hohmann, André Wiesler, Achim Zien, Peer Bieber, Marco Ansing und Jan-Tobias Kitzel

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 264

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Torsten Küper - Valerius von Arbogast und sein fabelhafter Krakun
Frank Hebben - Schwarzfall
Matthias Falke - Die spektakuläre und heldenmütige Entführung der originalgetreuen Lokomotive Emma
Andre Wiesler - Mach mal Dampf
Peter Hohmann - Träum weiter
Marco Ansing - Volldampf zu den Sternen
Achim Zien - Ein Gott über den Wolken
Jan-Tobias Kitzel - Blechschicksal
Peer Bieber - Natürliche Auslese

Voll Dampf

Fiktionale Steamgeschichten Herausgegeben von AndréSkora und Ingo Schulze

© 2014 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

© aller Geschichten bei den jeweiligen Autoren

Covergestaltung: Christian Günther www.cyberpunk.de

Lektorat:Michael Quay, Moritz Mehlem

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-944729-44-2

Ein Vorwort der Raum – Zeit – Kapelle Drachenflug

Es ist ein nebeliger grauer Tag in Arnheim. Im Hinterzimmer eines Clubs sitzen wir Drachenflieger an einem ramponierten Tisch. Um uns herum ein Berg aus Instrumenten, Koffern und unserem Bühnenbild. Wir sehen alle ein wenig zerknittert aus, denn wir haben die Nacht zum Teil auf der Autobahn zum Teil mit dem Tragen und Ein- und Ausladen unserer Instrumente verbracht.

Ich trage bereits meine Bühnenkleidung, auch, wenn ich einige Accessoires in dem Chaos noch nicht gefunden habe. Meine mit diversen Schlüssellöchern und Messingbeschlägen ausgestattete Gitarre liegt vor mir auf dem Tisch. Ihr Elektronikfach ist offen und meine Finger stecken tief in ihren Gedärmen. Ich versuche zwischen den Kabeln nach dem Plektrum zu fummeln, dass vor ein paar Minuten dort hineingerutscht ist. Da wir endlich alle zusammen sitzen, und die Fummelei noch etwas dauern kann, überlege ich, was noch wichtig war: „Ach, was mir noch einfällt: Wir haben die Ehre ein Vorwort zu einer Steampunk – Kurzgeschichtensammlung schreiben zu dürfen! Sie heißt ‚Voll Dampf‘. Marco ist auch dabei. Zwei von den anderen Geschichten hab ich Euch geschickt!“

„Stimmt.“ meint Evie, „Der Krakun und Schwarzfall.“ Sie guckt von Ihrem Kaffee auf und zwischen den Beinen des riesigen Tintenfisches, den Sie an ihrem Hut befestigt hat hindurch. „Und hast Du schon was überlegt?“, fragt sie.

Ich verneine: „Naja, erst fand ich gut was ich geschrieben hatte. Es ist aber eher so eine Art Manifest herausgekommen. Außerdem wollten wir es ja als Band zu Papier bringen. Zusammen.“

„Schreiben wir einfach: Steampunk bedeutet, sich zum einen kreativ entfalten zu können und zwar ganz egal in welche Richtung, es passt ja irgendwie immer. Das Tolle daran ist ja gerade, dass es keine Regeln oder Richtlinien gibt die einen einschränken. Form-, Farb- und Klangtechnisch lässt sich da so viel machen und kombinieren, dass die Möglichkeiten von dem, was umsetzbar ist, nie ausgeschöpft sein werden“, sagt Wiba, die neben dem Tisch auf unserer großen schweren Holzkiste sitzt und dabei ist, unter Zuhilfenahme eines winzig kleinen Spiegelchens, das sie auf die Rückseite ihres Handys geklebt hat, sich Tachenuhrzahnräder mit Mastix in die Augenwinkel zu kleben.

Sie trägt ein blaues Korsett mit Zombiewackelbildern, und ziemlich viel Spitze. Dazu Strumpfhosen die dazu einladen, mit einem Kugelschreiber darauf Tic - tac - toe zu spielen.

„Das ist zu Allgemein und hat eigentlich nichts mit einem Vorwort zu tun, es geht darum Lust und Freude auf die Geschichten machen“, meint Natalia, die als Einzige von uns neben dem Tisch steht und, während sie spricht, mit einem kupferbeschlagenem Bambusstock Tanzbewegungen in Zeitlupe übt. Ihr weites, hellblaues, viktorianisches Kleid wirbelt dabei umher und nimmt mir die Sicht auf mein Elektronikfach.

„Aber Wiba hat Recht: Steampunk bietet unendliche kreative Möglichkeiten. Wir können uns in den Zeitgeist der Vergangenheit hineinfühlen, eine visionäre Zukunft oder phantastische Welten erschaffen - und sogar alles gleichzeitig. Wir erschaffen eine eigene Mode, einen Lebensstil, der größtenteils sogar alltagstauglich ist. Im besten Fall können wir den Alltag sogar durch unsere Fantasien verändern und neu beleben“, meint Evie und fixiert wieder ihre Kaffeetasse. Ich bin ein wenig eifersüchtig, denn ich habe meinen Kaffee während des Werkelns vom Tisch gekickt, und vermute, dass es zu lange dauert, neuen zu besorgen. „Also“, meine ich leicht genervt: „Sagt mal, glaubt ihr, wir können ein Vorwort schreiben, wenn ihr immer nur irgendwelche Thesen in den Raum stellt? Es geht hier um Literatur! Um Geschichten!“

Evie fährt ungerührt mit monotoner Stimme fort: „In Deutschland ist Steampunk als literarisches Genre noch relativ neu und schafft Raum für Experimente. Abgesehen von bekannten Plots und Storylines in dampfbetriebenen Settings wird es (hoffentlich) Unerhörtes geben, Utopisches. Unsere moderne Welt ist in Aufruhr, unsere Technikverliebtheit hat uns nicht das beschert, was wir uns davon erhofft hatten. Bietet der Aufruf zum Selbermachen, zum Recyclen/Upcyclen, zum Produzieren langlebiger Geräte einen Ansatz zu einer neuen Bewusstheit?“

Es herrscht Schweigen. Mein Gehirn rattert. Nur Natalias Stock tackert auf den Boden. „Du hast dich vorbereitet“, stelle ich fest und beobachte wie der Kaffee in Evies Tasse bebt. Die Tür fliegt auf. Künstler und Musiker einer anderen Band drücken sich an uns vorbei, stolpern über Natalies Stock, klettern über unsere Kisten, fluchen. Ich habe ein wenig Angst um unser Equipment, während Wiba mit einem perfekten Strich ihres Kajals ein kompliziertes Muster an ihrem Auge beendet. Die Truppe greift sich Bier. Ich habe Schatten auf meinem Gekabel und nutze so die Zeit zum Nachdenken. Die Tür knallt zu, Putz fällt von der Decke, in Evies Kaffee und mein Elektronikfach. Stille.

Evie fährt fort: “Steampunks sind Macher. Und sie kommunizieren gerne, was sie machen. Außerdem lassen sie sich gerne unterhalten, und sie brauchen dazu weder ein Multiplexkino mit 3DSurround-Action, sondern vielleicht nur eine gute Geschichte. Das einseitige Konsumieren von Entertainmentfertigkost ist nicht mehr zeitgemäß, Steampunk bringt uns zurück zum aktiven Miteinander.“

Ich springe auf: „Genau! Sie brauchen eigentlich nichts. Und wisst ihr, wer am allerwenigsten braucht um fremde Welten zu schaffen?“ Ich sehe die anderen nacheinander an. Evie und Wiba schauen leicht genervt und machen mit ihren Blicken klar, dass sie nun nicht mit dem Raten beginnen werden. Natalia kneift die Augen zusammen, grummelt und macht eine Bewegung mit ihrem Stock, der meine Nasenspitze um einen halben Millimeter verfehlt. „Na die Autoren!“, rufe ich überschwänglich. „Von allen Künstlern, die sich mit dem Thema Steampunk beschäftigen, haben die Autoren die meisten Freiheiten. Sie müssen sich keinen Einschränkungen der Realität unterwerfen, keinen physikalischen Beschränkung bei dem Bau von Skulpturen oder Gadgets, keinen finanziellen Mitteln wie beim Dreh von Filmen. Nicht einmal Lagerplatz für Dampfmaschinen wird benötigt! Die Welt entsteht direkt im Kopf des Autors, wird zu Papier gebracht und von jedem Leser in eigenen Farben ausgemalt.“ Während meiner Ausführungen kommt ein Engländer in roter Uniform, langem weißen Bart und Tropenhelm herein, turnt um uns herum zu dem Bier, sieht mich an und schüttelt den Kopf. Er geht wieder hinaus. Mein Stehen ist mir plötzlich sehr unangenehm. Ich setze mich hin.

„Wie auf dem Aethercircus. Die Lesungen der Autoren sind immer gut besucht, obwohl noch so viel anderes läuft, aber sie können die Leute leicht in die Welt führen, die sich auch in ihren eigenen Köpfen befindet. Und obwohl man sich auf eine Reise in ferne Welten begibt, hat man dabei die Möglichkeit sich zu entspannen. Man kann sich auf alles einlassen. Es gibt kein richtig oder falsch. Steampunk Geschichten sind wie ein Traum!“

„Genau“, setze ich mein Referat mit neuem Eifer fort, „Aber es ist nicht immer nur leichter Stoff: Die Gesetze der Physik werden auf den Kopf gestellt oder auf raffinierteste Art und Weise pervertiert. Maschinen werden geliebt, vergöttert und gehasst. Sie beherrschen und werden beherrscht. Macht, Religion, Politik und Liebe sind die großen Themen die hier aufeinandertreffen, genauso wie die kleinen Geschichten des Schicksals in einer Dystopie, die von der Unterdrückung durch ein totalitäres Regime handelt, oder einen Krimi im Film Noir Stil. Einige Autoren lassen sogar historische Geschehnisse oder Persönlichkeiten in anderem Kontext auftreten. Oft ist man sich nicht sicher, ob man sich in der Zukunft, der Vergangenheit oder gar einer vollkommen anderen, fremden Welt befindet. Auch die Gesellschaft kann so anders als alles vorher Gekannte sein. Voller bizarrer Werte und Normen! Und wenn man jetzt noch bedenkt, dass an diesem Kurzgeschichtenband richtig viele Autoren mitgewirkt haben, die alle ihre eigenen Welten erdacht haben ... “

Die Tür geht auf. Mir wird bewusst, dass ich wieder stehe und sich meine Hände in der Luft befinden. Ein netter Niederländer fragt uns sehr freundlich, in fast perfektem Deutsch, ob wir mit unserem Streit fertig wären und ob wir so nett wären, endlich unser Konzert zu geben.

Wir greifen panisch unsere Instrumente. Ich hänge mir die Kabel um den Hals. Meine rechte Hand greift den Verstärker. Auch Evie ist mit ihren Instrumenten voll beladen. Wiba zieht den Wagen hinter sich her und Natalia greift sich sehr undamenhaft fluchend das Bühnenbild.

Während wir mühevoll den Krempel die kleine Treppe vor der Bühne hochschaffen, fällt mir ein: „Sagt mal, hat irgendeiner von euch sich Notizen gemacht, was wir im Vorwort erwähnen wollen?“

„Wir hatten ja keinen Stift und keine Zettel!“ meint Natalia. Wiba ruft, während sie sich mit dem Wagen auf den Stufen abkämpft: „Ach, eigentlich haben wir ja nur gesagt, dass es beim Steampunk keine Regeln gibt und man so sein kann, wie man will! Ich hoffe, die Steampunk-Szene bleibt immer so offen und bunt wie sie sich derzeit entwickelt. Gerade das ist ja das Spannende, bringt sie voran und wird sie aufrecht erhalten.“

Ich habe das Gefühl, dass Irgendetwas an Wibas Zusammenfassung nicht stimmt, brauche aber meine Energie um den Verstärker auf die Bühne zu wuchten. Dabei verheddere ich mich etwas in den Kabeln und stolpere darüber mitten auf die Bühne. „In jeder guten Steampunk Geschichte hätte es mit Sicherheit einen Vorhang vor der Bühne gegeben“, murmele ich in meinen Bart und blicke in einige amüsierte Gesichter im Publikum. Wir bauen unsere Instrumente auf. Natalia raunt mir zu: „Autoren brauchen eigentlich nur einen Stift und einen Zettel!“ Die Worte wirken noch nach, als ich auf unsere Instrumente und Kabel blicke, die nun zwar alle fertig aufgebaut sind, deren Gewicht ich aber noch in den Schultern spüre. Wir legen los. Nach den ersten Tönen des ersten Liedes fällt etwas aus meinem Elektronikfach auf den Bühnenboden. Stimmt. Da war was. „Sie brauchen nur Stift und Zettel um den Leser in die wundervollsten Welten zu versetzten! Steampunkautoren sind Magier“ schießt es mir durch den Kopf. Die anderen blicken mich an, denn ich bin ein wenig aus dem Takt gekommen. Schnell beschließe ich, dass es doch toll ist, Musik zu machen und schwöre mir mehr Kurzgeschichten zu lesen. Ich atme tief ein. Ich lächle. Wir haben einen wunderbaren Abend und ein schönes Konzert.

Thorsten Küper

Valerius von Arbogast und sein fabelhafter Krakun

Die Welt unter uns, ein zu Kristall erstarrter Traum aus Mondlicht. Monolithen aus blauem Kristall trieben auf einem Ozean aus schwarzem Glas. Die Eisberge spiegelten sich in den stets gleichmütigen Augen des Krakun. Er hing seinen alten Gedanken nach und scherte sich wenig um das Hier und Jetzt.

«Sind das nicht wundervolle Menschen, Captain Shaffer?», fragte ich.

Die tanzenden Paare auf dem transparenten Boden des Ballsaals drehten lächelnd ihre Runden im Dreivierteltakt eines Wiener Walzers. Schwebend, fünfhundert Fuß über dem eisigen Meer.

Was sich hier oben auf der Empore abspielte, entging ihrer Aufmerksamkeit. Nach sechs gemeinsamen Tagen an Bord war selbst der Krakun in seinem Zwanzigtausend-Gallonentank zu einem vertrauten Anblick geworden. Noch am ersten Reisetag hatten sich die Herren die Nasen am Glas plattgedrückt wie zehnjährige Flegel an der Schaufensterscheibe eines Bonbonladens in London. Derweil klammerten sich Gattinnen oder Konkubinen an ihre Arme und suchten mit Unbehagen, aber gleichermaßen fasziniert, den Blick des Krakuns. Wenn eines seiner Tentakel gegen das Glas schnellte, kreischten sie vergnügt und genauso verschreckt, als wäre er ihnen damit direkt unter die weiten Röcke gefahren.

Und wie sie mit offenen Mündern dagestanden hatten, bei unserer großen magischen Revue am gestrigen Abend. Der Ballsaal und das Innere des Tanks, nur erleuchtet von einem nebulösen blauen Lichtschein, von dem einige argwöhnten, er sei elektrischer Natur gewesen. Ich hatte den berühmten Westinghouse so etwas raunen hören. Aber viel mehr noch als das Licht hatten die feinen Damen und Herren die Schwärme roter und blauer Fische in ihren Bann geschlagen. Sie umkreisten den Krakun in einem einzigartigen Ballett, ordneten sich wenig später zu geometrischen Formen an und dann … ja, auf dem Höhepunkt der Revue, hatten sie sich vor dem atemlosen Publikum zu menschlichen Gesichtern formiert. Gesichter zusammengesetzt aus hunderten kleiner Fischleiber. Gesichter, deren Münder sich bewegten, als schienen sie zu sprechen.

Ich hatte nicht hören können, ob Westinghouse auch dabei spekuliert hatte, es möge Elektrizität dahinter stecken. Aber sein heruntergeklappter Kiefer war mir nicht entgangen.

Auch gestern hatte unsere Revue nicht ihre Wirkung verfehlt. Valerius von Arbogast und sein fabelhafter Krakun. Krakun - Es klang wie eine exotische Schreibweise des Wortes Kraken und die Damen und Herren der guten Gesellschaft begehrten alles Exotische.

Das Jahr 1872 war noch jung und ich spürte, es würde ein großartiges Jahr für uns werden. Nun, zumindest hatte ich das vor wenigen Stunden noch so empfunden.

«Arbogast, ich frage Sie erneut. Wo ist Charles Darwin?»

Der Lauf von Captain Shaffers neunschüssigem LeMat Revolver an meiner Stirn, war so eisig, wie der Nordatlantik über dem die Celeste durch die Polarluft dieser klaren Nacht pflügte. Die Narben auf der linken Wange ließen seine Züge noch entschlossener aussehen. Dieser Mann scheute sich nicht, Konsequenzen zu ziehen.

Mit einer vagen Geste meiner Hand deutete ich hinunter in den Ballsaal, die Stirn theatralisch in Falten gelegt. «Nun, vor einem Augenblickwar es mir, als sähe ich ihn dort unten. Nicht unter den Tänzern. Er ist so ernsthaft, dieser Charles Darwin. Er sollte sich gelegentlich einer gewissen Leichtigkeit des Seins hingeben.»

«Darwin ist seit sechs Stunden unauffindbar.» Shaffer verstärkte den Druck auf meine Stirn. Unwillkürlich wie mir schien, genau wie das leichte Zittern seines Handgelenkes. «Wir haben Kabinen und Laderäume durchsucht, selbst die Maschinendecks und Kohlebunker. Er ist nicht mehr an Bord, oder jemandem ist es gelungen, ihn auf eine Art und Weise zu verstecken, wie es nur ein Magier tun könnte. Ein Magier wie Sie, Arbogast.»

«Nicht Magier, Captain Shaffer. Meine Finger wären viel zu ungeschickt für einen Bühnenzauberer. Ich denke, selbst einige ihrer Heizer beherrschen bessere Kartentricks als ich. Ich bin nur Illusionist, ein Konstrukteur, eher noch Geschichtenerzähler, aber kein …»

Shaffers scharfe Stimme durchschnitt den Raum. Die beiden Matrosen und der erste Offizier Farnsworth, die einen Ring um mich bildeten, schreckten zusammen. «Ich warte auf ihre Antwort, Arbogast. Darwin suchte mich heute auf der Brücke auf und er verschwand nur wenig später.»

Kurz wich Shaffers Blick ab, richtete sich auf den Krakun, der in diesem Moment die Augen geschlossen hatte. Er schilderte mir eine Geschichte, die für mich im besten Fall wie ein Schauerroman, eher aber doch wie die Ausgeburt eines kranken Geistes klang. Eine Geschichte, in der es um ihn und Sie, den bekannten Illusionisten Valerius von Arbogast und seinen Krakun ging.»

In gespielter Überraschung riss ich die Augen auf. «Darwin spricht über mich? Einen wenig bekannten Bühnenmagier? Das ist zu viel der Ehre. Es wäre wohl eher an mir, seine wissenschaftlichen Leistungen zu preisen. Wer bin ich schon, dass ein Darwin über mich berichtet?»

«Er behauptete, Sie zu kennen, Arbogast. Unter anderem Namen. Dass Sie einen Teil seiner Arbeit gestohlen hätten. Und dass der Krakun kein Krakun sei.»

«Xenophobie, Captain Shaffer. Selbst ein Wissenschaftler wie Darwin kann sich also demnach davon nicht freisprechen. Mag sein, dass meine Krake einen alten Mann geängstigt hat.»

«Ich habe viel von der Welt gesehen, Arbogast. Ich bin zur See gefahren, war sogar Fischer. Kraken haben keine zwölf Arme, Kraken haben keine vier Augen», sein Adamsapfel hob sich, als er schluckte. «Kraken lesen keine Bücher.»

«Ich bitte Sie Shaffer, wie kommen Sie auf die Idee, er würde lesen?» Ich deutete auf das Podest vor dem Tank, darauf die aufgeschlagene reich illustrierte Ausgabe von Jerseys Handbuch für Luftschifffahrer. «Er schaut sich nur die Bilder an.»

«Arbogast, bei ihrer Revue gestern haben Sie Dinge vorgeführt, die ich mir beim besten Willen nicht erklären konnte. Eines weiß ich zumindest. Es gibt keine Lichtquelle in ihrem Tank. Er ist nicht mit den Generatoren der Celeste verbunden. Und was da mit diesen Fischschwärmen vor sich ging ... ich finde keine vernünftige Erklärung dafür. Irgendwelche Drähte hätten wir gesehen. Ich stand direkt daneben. Aber da war nichts. Und wie waren Sie in der Lage, die Szenen zu zeichnen, an die einige Gäste aus dem Publikum dachten, als sie von Ihnen aufgefordert wurden, sich an einen bedeutsamen Moment ihres Lebens zu erinnern?»

Shaffer war nicht der Erste, den mein Gedankenlesetrick irritierte. Aber der Erste, der jemals tatsächlich auf die Idee kam, es könnte mehr als eine Illusion gewesen sein. Anscheinend waren wir besonders gut gewesen am gestrigen Abend, der Krakun und ich. Eine abwiegelnde Geste meiner Hand. »Ich bitte Sie, Captain Shaffer. Ein erfahrener Soldat wie Sie, ehemaliger Seemann, jetzt Captain eines Luftschiffes. Ein Mann der Technologie. Sie werden doch nicht billige Jahrmarkttricks für etwas Reales halten?»

Ich plauderte einfach zu gern. «Woher wissen Sie, dass ich Soldat war?», fragte Shaffer nun noch misstrauischer als vorher.

Zeit für eine kleine Improvisation. «Ihr amerikanischer Akzent, der LeMat Revolver, die Schrapnellnarbe an ihrer Wange und ich wette, ihr linker Unterschenkel liegt auf irgendeinem Acker bei Gettysburgh. Sie waren zweifellos im Sezessionskrieg.»

Kurz hatte ich ihn aus der Fassung gebracht. Aber nur einen Moment. «Sie haben für Westinghouse das Bild zweier Züge skizziert, die aufeinander zurasen. Wie konnten Sie wissen, dass er ausgerechnet daran denkt?»

«Shaffer, denken Sie logisch.» Ich zwinkere ihm unter dem Lauf der Waffe zu. «Westinghouse sah als junger Mann, wie zwei Züge kollidierten, und kam auf die Idee einer Luftdruckbremse für die Eisenbahn. Hat ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Woran wird er sonst denken? Meinen Sie ernsthaft, ein Gentleman wie er stellt sich in einem solchen Moment vor, wie seine reizende Gattin unter der Tournüre ausschaut?»

«Westinghouse sagte, Sie hätten die Szene so präzise wie eine Fotografie skizziert. Und die Dame, die an dieses Picknick am Fluss dachte.»

»Shaffer, so nehmen Sie doch Vernunft an.» Ein Schmunzeln umspielte meine Mundwinkel. «Dieser Trick basiert allein auf meiner Wirkung auf Frauen. Sie empfand eine gewisse Vorliebe für mich und wollte mich nicht bloßstellen. Sie hat gelogen.»

«Sie hat geweint, als Sie ihr die Kohlezeichnung überreichten. So als hätten Sie in ihren Kopf geschaut.»

Ich hob die Schultern. «Vielleicht waren Sie zu lange unter Männern, Shaffer. Alle Frauen und vor allem ihre Herzen ticken im gleichen Takt.»

«Es gibt Zeugen unter der Mannschaft, die beobachtet haben, dass Sie kurz vor seinem Verschwinden mit Darwin gestritten haben.»

«Eine bedeutungslose Zwistigkeit, eine wissenschaftliche Diskussion, bei der ich ohne Zweifel unterlegen war. Mag sein, dass ich ein wenig grimmig ob meiner eigenen Unzulänglichkeit wirkte.»

«Wir haben Sie in Darwins Kabine gestellt und ich glaube, Sie waren dort, weil Sie das hier gesucht haben.» Shaffer zog mit der freien Hand einen kleinen Ledereinband aus der Innentasche seiner Uniform. «Darwin hat mir das überbringen lassen, nur wenige Augenblicke, nachdem ich ihm empfohlen habe, sich zurückzuziehen und auszuruhen. Mein Fehler ihn nicht sofort ernst zu nehmen. Aber ich habe es überflogen, Arbogast. Und es gibt alte Aufzeichnungen darin, die der Geschichte entsprechen, die mir Darwin kurz geschildert hat. Falls er wirklich geisteskrank war, dann schon seit sechs Jahren. Damals war er zumindest noch kein verwirrter alter Mann.»

Ich starrte das Buch an. Bedauerlicherweise war Shaffer tatsächlich im Besitz dessen, was ich gesucht hatte. «Wie dumm von mir, es nicht sofort bei Ihnen zu suchen, Captain Shaffer.»

«Sie geben es zu?»

Das Wasser im Tank geriet in Bewegung, als der Krakun sich rührte. Seine vier Augen betrachteten uns gerade noch desinteressiert, im nächsten Augenblick öffnete sich schon eine schwarze Blüte sich ausbreitenden Gallensaftes in dem gläsernen Behältnis.

Die Wolke aus Verdauungssekret verhüllte das Antlitz des Krakuns. Reste blauer und roter Fische trieben darin. Die Schwärme, die wir bei der Revue nutzten, dienten ihm danach stets als Speisung.

Doch gestern war er noch nicht satt gewesen. Etwas Größeres schälte sich aus der Schwärze, sich um die eigene Achse drehend stieß es gegen das Glas, trieb von dort nach oben, zwei staunende Augen auf uns gerichtet. Obwohl von den Verdauungssäften des Krakuns bereits angegriffen, war es doch noch ein erkennbares und auch bekanntes Gesicht, dessen Züge wir alle aus Büchern und Zeitungen kannten. Der Kopf des Charles Darwin blickte vorwurfsvoll von der Wasseroberfläche auf uns herab.

Die Matrosen stöhnten auf, Farnsworth wendete sich ab. Lediglich Shaffer starrte mit bleicher Miene auf das Haupt des berühmten Naturforschers, bevor er nach Sekunden des Begreifens ein atemloses «Mein Gott!» hervorstieß.

Resignierend faltete ich die Hände vor dem Bauch, mir durchaus bewusst, dass mir der Krakun soeben einen kleinen Streich gespielt hatte. Er liebte das, doch ließ sein Gefühl für den rechten Zeitpunkt oft zu wünschen übrig. Seufzend stellte ich fest:

«Wie mir scheint, hat meine Glaubwürdigkeit gerade erheblich gelitten.»

*

Niemand im Ballsaal hatte bemerkt, dass sich die Plattform mit uns und dem Tank darauf nach unten senkte, dabei die Ebene, auf der die Bühne lag, passierte und dann auf Höhe des Frachtdecks stehen blieb. Das Orchester übertönte das Zischen und Rasseln der riesigen dampfbetriebenen Winde, die stark genug war, um ganze Theaterkulissen mit einem kompletten Schauspielensemble darauf zu bewegen. Einer der Matrosen hatte mir vor Tagen stolz erklärt, man habe damit sogar einen Elefanten für eine der ersten Aufführungen der gerade so populären Oper Aida nach oben transportiert. Ihn und mehr als 30 Komparsen.

Shaffer war sicherlich nicht in Stimmung für einen Ball oder eine Oper. Noch immer hielt er den Revolver auf mich gerichtet, genauso wie sein erster Offizier Farnsworth. Seine andere Hand hielt den Griff eines unauffälligen Messinghebels an der Wand.

Die Ladeluke stand weit offen unter dem Tank des Krakuns. Darunter nichts weiter als tiefe Finsternis und eisige Luft, die an unseren Körpern emporkroch.

Ich setzte ein charmantes Lächeln auf. «Zuweilen ist der Humor meines zwölfarmigen Begleiters gewöhnungsbedürftig, Shaffer.»

Der Captain fixierte mich. «Es ist ihre Entscheidung, Arbogast. Sie werden mir jetzt die Wahrheit sagen.» Eine Kopfbewegung in Richtung des Hebels. «Oder ich öffne die Halterung. Wir sind 600 Fuß hoch. Ich glaube kaum, dass ihr zwölfarmiger Freund den Aufschlag überleben würde und falls doch, so bezweifele ich, dass ihm die Temperaturen desNordatlantiks zusagen werden. Denn das ist kein Krake und offenbar legt er ja Wert auf eine beheizte Umgebung.»

«Wie es scheint Shaffer, sind Sie nun am Zug und noch dazu am längeren Hebel. Sagen Sie, wäre es möglich, uns zuvor einen Tee bringen zu lassen. Es ist sehr …»

«Reden Sie, Arbogast», bellte Shaffer. «Und hören Sie endlich auf, den Komödianten zu geben. Eine Rolle, die einem Mörder nie gut ansteht.»

Wenigstens auf den Luxus eines Sitzplatzes wollte ich nicht verzichten, reinigte eine Holzkiste mit einer Hand vom Staub und nahm darauf Platz.

«Kennen Sie Darwins Buch ‹Über die Entstehung der Arten?›»

Shaffer nickte knapp.

«Sehen Sie, man sagt, diskutiere nie mit einem Priester über die Evolutionstheorie, aber ich sage Ihnen, diskutieren Sie erst recht nicht mit Darwin darüber.» Darwins Schädel blickte mich noch immer, oben im Tank treibend, vorwurfsvoll an. «Ich bin 1856 von Irland nach England gegangen. 1863 wurde ich Darwins Assistent. Er arbeitete an einem neuen Buch, aber parallel dazu widmete er sich einer Forschungsarbeit, für die er mich als Gehilfen engagiert hatte. Ich baute Apparaturen und Tanks, bei seinen Aufzeichnungen assistierte ich ihm under betraute michmit der Überwachung einiger Experimente an Fischen, Ratten und kleinen Vögeln.»

«Wissen Sie, diese Tätigkeit gestaltete sich schwierig, denn Darwin war nicht gerade offen mir gegenüber. Seine Versuchsanordnungen empfand ich zuweilen als bizarr. Doch die Resultate waren selbst für Darwin so verstörend, dass er mir den Hintergrund seiner Forschungsarbeit – von der übrigens niemand erfahren durfte – eines Abends offenbarte. Ich glaube, er war zu diesem Zeitpunkt zutiefst verängstigt.»

«Und was hat das alles mit dem Krakun zu tun?» Es war das erste Mal, dass sich der Erste Offizier zu Wort meldete, nachdem er mich gemeinsam mit den beiden Matrosen in Darwins Kabine gestellt und aufgefordert hatte, ihm unauffällig zu folgen.

«Nun, es hing offenbar mit der Expedition der Beagle zusammen. Als Darwin 1836 zurückkehrte, brachte er nicht nur die Erkenntnisse mit, die er dann zur Transmutationstheorie, oder wie man jetzt neumodisch sagt, Evolutionstheorie, zusammenfasste. Sondern auch noch einen Fund, den er für sich behielt, den er vor der Welt verbarg und, wie er mir in dieser Nacht im Jahr 1863 gestand, in einen Tresor einschloss, um ihn vor allem vor sich selbst zu verstecken. Sie hatten im Wasser vor Galapagos etwas gefunden. Nicht besonders tief. Etwas, das er als einen Mechanismus bezeichnete, der etwas enthielt. Etwas, das nicht in sein Weltbild passte.»

«Den Krakun», Shaffer deutete mit der Waffe auf den Tank.

Ich nickte. «Nun ja, nicht in dieser Form und auch nicht diesen, aber grundsätzlich ja.»

«Was ist das für ein Wesen?»

«Darwin war das Genie.» In einer ratlosen Geste zeigte ich auf den Kopf im Tank. «Wenn nicht mal er es erklären konnte, sollten Sie von mir erst recht keine Antwort erwarten. Sein Ursprung lag für uns im Dunklen und Darwin offenbarte niemals die genaue Position des Fundortes. Den Mann, der damals bei ihm und offenbar für ihn getaucht war, muss er wohl bestochen haben und, wie er mir sagte, sei der nun schon seit Jahren tot. Wir würden die Stelle wohl kaum wiederfinden und ich denke, das ist gut so. Ich weiß zwar viel über dieses Wesen, aber es ist für mich dennoch genau so ein Rätsel wie für Darwin. Nicht wahr, alter Freund?» Ich griff in meine Innentasche, Shaffer und der erste Offizier zielten. «Nein, keine Waffe, nur ein altes Hausmittel. Sie gestatten?» Kurz prostete ich Darwin mit der Taschenflasche zu. Sie enthielt irischen Whiskey und ich nahm einen Schluck Erleichterung und Erinnerungen aus ihr. «Ich trinke auf Charles Darwin. Du hättest mir nicht folgen sollen, alter Mann. Und es war dumm, sich so nah an den Tank zu stellen. Aber feige warst du ja nie, Charles.»

«Sie haben ihn ermordet», stellte Shaffer kühl fest.

Den Whiskey noch immer im Mund winkte ich ab, schluckte langsam und entgegnete heiser. «Nein, habe ich nicht. Die Tentakel meines Begleiters sind äußerst geschickt und schnell und unglaublich stark noch dazu. Sie ahnen nicht, wie froh ich bin, dass er das, was er mit Darwin getan hat, nicht mit mir getan hat, als ich ihn zum ersten und einzigen Mal im Schach besiegt habe. Damals war er wohl berauscht durch ein Dutzend Kugelfische.»

«Sie behaupten, die Kreatur hat ihn getötet?» Farnsworth betrachtete das Wesen im Tank. Man sah ihm an, dass er nicht an seiner Gefährlichkeit zweifelte.

«Mein Freund hatte zuviel Angst vor Charles Darwin, um Gnade walten zu lassen. Nicht nach all der Zeit im Labor.»

«Diese Experimente. Worum ging es?», forderte Shaffer zu erfahren. «Ich konnte Darwins Aufzeichnungen nicht ganz nachvollziehen. Er schrieb etwas von Kontrolle.»

«Kontrolle ist die Leine am Hals eines Hundes, aber das geht über Kontrolle hinaus.» Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. «Darwin verfügte über eine Art Behälter. Darin acht von ihnen. Acht nur ein paar Inch große Krakune, aber so fremdartig, dass sie Darwins Bild einer sich langsam entwickelnden Welt ins Wanken brachten. Schon als er sie das erste Mal sah. Als er sich irgendwann um 1860 entschloss, den Tresor wieder zu öffnen und sie näher zu untersuchen, hoffte er wohl auf eine einfache Antwort, die ihn beruhigen würde.»

«Sie sagten, er fand die Tiere 1836.» Den Kopf zur Seite geneigt überlegte Farnsworth. «Wenn er sie so lange weggeschlossen hat, dann hätten sie längst tot sein müssen.»

Ich nickte. «Ja, nur eines von vielen Geheimnissen, die unsere Krakune umgeben. Der Behälter allein könnte Generationen von Archäologen und Ingenieuren beschäftigen, aber Darwin ging es um ihre Anatomie, ihren Stoffwechsel und später vor allem um ihre Fähigkeiten. Er wählte den ersten und begann. Und als der zu groß geworden war, tötete er ihn und weckte den nächsten.»

«Und bei diesen Versuchen ist er auf etwas gestoßen, nicht wahr?»

Ich verschloss die Taschenflasche, steckte sie zurück in meine Weste. «Nach einer gewissen Lebensspanne von einigen wenigen Wochen begann jeder Krakun kleine Ableger zu werfen. Sie starben sehr schnell, trieben dann im Wasser. Es war mehr ein Zufall, als eines der kleinen Aquarien zerbrach, in den wir den ersten Krakun zeitweise setzten. Die Katze trank von der Wasserlache.»

«Und starb?», wollte der erste Offizier wissen.

«Nein. Nichts dergleichen. Aber als wir dem Krakun im Rahmen eines Experimentes die Nahrung entzogen, geschah etwas Ungewöhnliches.»

Die Männer lauschten mir gebannt, wie es sonst mein Publikum tat. Ich war ein guter Erzähler, nur war diese Geschichte keine erfundene. «Die Katze begann dem Krakun Fische zu bringen.»

Shaffer runzelte die Stirn. «Ich bin nicht sicher, ob ich das verstehe.»

«Das waren wir auch nicht. Aber Darwin hatte einen Verdacht und wir gaben anderen kleinen Tieren die noch lebenden Ableger mit ins Wasser. Ein einziger reichte. Nur Millimeter groß. Und sie alle fütterten den Krakun. Wir nannten sie Diensttiere. Darwin und mir missfiel der Begriff Sklaventiere, obwohl er naheliegender gewesen wäre.»

«Wollen Sie damit sagen, dass der Krakun diese Tiere seinem Willen unterworfen hatte?»Farnsworthmusterte mich unwillig. «Das setzt doch eine gewisse Intelligenz voraus.»

«Viel mehr als das. Es setzt einen steuernden Einfluss auf das Gehirn eines völlig anderen Lebewesens voraus. Etwas, das selbst wir als Menschen nicht zu tun in der Lage sind.»

Shaffer nickte. «Es ist genau das, was ich in Darwins Aufzeichnungen gelesen habe. Und darüber sind Sie beide in Streit geraten, nicht wahr?»

«Darwin tötete die Krakune. Einen nach dem anderen. Jeden ließ er etwas weiter wachsen. Und ihre Intelligenz steigerte sich ganz offensichtlich mit der Größe. Wir stellten sie vor Aufgaben und beobachteten, wie sie ihre Diensttiere strategisch einsetzten, um alle Hindernisse zu überwinden. Der vorletzte Krakun schien uns bereits überlegen zu sein – und er hat tatsächlich versucht, zu fliehen. Durch die Wasserleitung. Aber wir haben ihn vorher getötet. Uns blieb nichts anderes übrig. Und genau das wollte Darwin auch mit dem letzten tun.»

«Den Sie gestohlen haben», ergänzte Shaffer.

«Ihn zu töten, hätte bedeutet, eine einzigartige Chance zu vergeben. Der Krakun in den richtigen Händen wäre ein unglaublich mächtiges Werkzeug.»

Der Captain nickte. «Denn er kann Menschen kontrollieren, wenn man ihnen seine Ableger einflößt, nicht wahr?»

Sicherlich war mein Schmunzeln in dieser Situation etwas unangebracht. «Das und viel mehr. Wissen Sie, was Darwins größte Furcht war? Er hat es mir einmal verraten. Der Krakun passte nicht in die Entwicklungsgeschichte. Es war, als wäre er als erster da gewesen, als würde er über allen anderen Wesen stehen. Darwin fürchtete, er habe Gott entdeckt.»

«Er hielt dieses Ding für Gott?», empörte sich Farnsworth.

«Zumindest argwöhnte Darwin, dass die Krakune einen Einfluss auf die Entstehung der Arten gehabt haben könnten. Und damit wären Sie fast gottgleich, oder?»

«Arbogast, ich habe genug gehört.» Shaffers Hand griff erneut nach dem Hebel. «Ich kann nur vermuten, dass Sie bereits jetzt Passagiere unseres Schiffes mit Ablegern infiziert haben. Und deswegen bleibt mir nur eines. Ich beende das jetzt.»

«Ich verstehe, Captain. Ich sehe meine Einschätzung ihrer Person war richtig. Sie sind ein prinzipientreuer Mann. Und ich respektiere das.» Den Sitz meiner Kleidung korrigierend, erhob ich mich, faltete die Hände hinter dem Rücken. «Wir akzeptieren ihr Urteil, Captain Shaffer. Vielleicht sollte ich sagen: Walten Sie ihres Amtes?»

Irritiert von meiner Reaktion suchte Shaffer den Blick seines ersten Offiziers. Der nickte ihm bestätigend zu.

Also umfasste der Captain der Celeste den Hebel fester und … nichts geschah.

Shaffers Gesicht gefror zu einer bleichen Totenmaske. Sein Offizier begriff ebenso schnell und auch er wurde blass. Mit zitternder, zu einem Krächzen verkümmerter Stimme sprach Shaffer aus, was er schon vor Minuten hätte ahnen müssen: «Ich kann es nicht.»

«Natürlich nicht Shaffer. Ich habe tausende von Ablegern im Trinkwassertank der Celeste ausgesetzt. Sie, ihre Mannschaft, sämtliche Passagiere …»

Der Matrose stürzte plötzlich los in Richtung des Hebels.

«Tun Sie das nicht!», brüllte ich.