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Es bleibt chaotisch: Voll verrückt – Umzugschaoten setzt die erfolgreiche Reihe um Alexander Humbolt fort und stürzt ihn dieses Mal beim Renovieren einer alten Villa in die skurrilsten Situationen. Als Maike und Alex vollkommen unverhofft ein etwas baufälliges Haus in Tübingen erben ahnen sie noch nicht, dass ihnen die Renovierung der »Villa Mimmi« alles abverlangen wird. Erneut stürzen sich die beiden mit Leib und Seele in ein neues Abenteuer und lassen sich weder von motorradfahrenden Biker-Omis noch von paragrafentreuen Bauamtsinspektoren von ihrem Ziel abbringen. Morsche Terrassen, irre Handwerker und tierische Untermieter sorgen auf dem Weg ins eigene Traumhaus ebenso für Überraschungen wie unfreiwillige Volksfestbesuche und Kletterpartien auf regennassen Dächern.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Heiko Kohfink
Voll verrückt – Umzugschaoten
Impressum
Copyright © 2022 Heiko Kohfink
Tolino media ISBN: 9783819404511
Verfasser: Heiko Kohfink
Uhlandstr.7, 72124 Pliezhausen
Kontakt: https://www.heiko-kohfink.de
Covergestaltung: Constanze Kramer, coverboutique.de
Bildnachweise: ©aleksangel – stock.adobe.com
©Pents Photo, ©David Pereiras – shutterstock.com
©photkas, ©Elnur, ©agencyby – depositphotos.de
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Heiko Kohfink
Zu diesem Buch: Als Maike und Alex vollkommen unverhofft ein etwas baufälliges Haus in Tübingen erben ahnen sie noch nicht, dass ihnen die Renovierung der »Villa Mimmi« alles abverlangen wird.
Erneut stürzen sich die beiden mit Leib und Seele in ein neues Abenteuer und lassen sich weder von motorradfahrenden Biker-Omis noch von paragrafentreuen Bauamtsinspektoren von ihrem Ziel abbringen.
Morsche Terrassen, irre Handwerker und tierische Untermieter sorgen auf dem Weg ins eigene Traumhaus ebenso für Überraschungen wie unfreiwillige Volksfestbesuche und Kletterpartien auf regennassen Dächern.
Heiko Kohfink, 1967 in Reutlingen geboren, ist Techniker und lebt mit seiner Frau, die ebenfalls schriftstellert, in der Nähe seiner Heimatstadt.
Inspiriert durch das Lesen, das schon immer eine seiner größten Leidenschaften war, hat er sich vor einigen Jahren ans Schreiben gewagt. Dabei zählen vor allem Science-Fiction und Fantasy, aber auch Humor zu seinen bevorzugten Genres.
Wenn er nicht gerade vor dem Bildschirm sitzt und über neuen Buchprojekten brütet, verbringt er gerne Zeit mit seinen beiden Söhnen. Er unternimmt lange Spaziergänge in den Streuobstwiesen seiner Heimat, liest viel oder bringt mit seinem oft sehr speziellen Humor seine Familie an den Rand der Verzweiflung.
Für all diejenigen, die noch an das Gute im Menschen glauben. Halten wir weiter daran fest, auch wenn es uns oft nicht leicht gemacht wird!
Eins, zwei, Polizei
»Bitte weitergehen«, rief der Polizist. »Es gibt hier nicht das Geringste zu sehen!«
Das konnte man meiner unbescheidenen Meinung nach so nicht stehen lassen. Auch die Gruppe von fünf Passanten und vor allem der alte Mann, der sich schon seit einer Stunde auf seinen Spazierstock stützte und mit blitzenden Augen das Spektakel verfolgte, sah das vollkommen anders.
»Nicht das Geringste zu sehen?«, wiederholte er schallend lachend den letzten Kommentar des Ordnungshüters. »Ja bringt man euch denn auf der Polizeischule heute gar nichts mehr bei? Das ist hier besser als der langweilige Tatort gestern im Fernsehen und das lasse ich mir nicht entgehen.«
Energisch fuchtelte er mit seinem Stock in Richtung des zweiten Streifenpolizisten, der bislang nichts gesagt hatte, dem Hieb jedoch gekonnt auswich.
»Holla, guter Mann«, stieß er aus, »immer vorsichtig mit der Gehhilfe. Nicht dass ich Sie am Ende noch wegen Tätlichkeiten einbuchten muss.«
»Na, eingesperrt gehört ja wohl eher dieser Irre da«, konterte der Alte und ließ erneut ein gackerndes Lachen hören, das mich spontan zum Grinsen brachte. Der Mann hatte mit seiner Einschätzung ja nun nicht vollkommen unrecht. Wenn ich die letzten Stunden Revue passieren ließ, dann musste ich ihm sogar in Bezug auf den Tatort zustimmen. Der war, verglichen mit diesem Tohuwabohu hier, nun wirklich was zum gemütlich dahindämmern gewesen.
Angefangen hatte die Geschichte vor einer Woche, als mich Maike fragte, ob ich beim Umzug ihrer Tante Klara helfen könnte. Wobei der Begriff in deren Fall etwas irreführend war – fluchtartiger Wohnungswechsel wäre wohl angebrachter gewesen. Das Weite suchte Klara vor ihrem »Noch-Ehemann« Klaus, den sie vor knapp einem Jahr über ein Internetportal kennengelernt und vor nicht einmal zwei Monaten reichlich überhastet geheiratet hatte. Zumindest, wenn man mich fragte. Aber das tat natürlich mal wieder keiner.
Da war bei der Mittvierzigerin wohl Torschlusspanik ausgebrochen, denn sie stürzte sich Hals über Kopf in das Ehe-Abenteuer, um nicht länger allein sein zu müssen. Tante Klara hasste Einsamkeit, wie mir Maike versicherte. So war Tantchen direkt nach den Flitterwochen bei ihrem Internetschwarm eingezogen. Und nun ergriff sie bereits wieder die Flucht. Eine Zeitraffer-Ehe wie im Bilderbuch.
Wobei ich sie gut verstehen konnte. Mit Klaus hätte ich es ebenfalls nicht lange ausgehalten. Eher so überhaupt nicht. Abgesehen davon, dass ich auf Frauen stehe, was meine Freundin Maike, die momentan neben mir auf der Ladepritsche des Kleintransporters saß, sicher bestätigen konnte.
Kennengelernt hatte ich den blauen Klaus, wie ich den verschrobenen Kerl seither nannte, bei seiner Hochzeit mit Klara. Standesamtliche Heirat und danach eine Feier mit den Freunden. Wobei die Partygäste in erster Linie von der Frischvermählten gestellt wurden. Schon als der Bräutigam die Tür des Fachwerkhauses in bester Esslinger Wohnlage in den Weinbergen öffnete, fühlte ich mich spontan ins Jahr 1985 zu Marty McFly und seinem Freund Doc Brown zurückgebeamt. Unbekannt? Zurück in die Zukunft? Macht nichts, Maike kannte den Film ebenfalls nicht, aber nachdem wir ihn im Anschluss an diese denkwürdige Feier zusammen ansahen, erkannte auch sie gewisse rein äußerliche Ähnlichkeiten zwischen Klaus und Doc Brown.
Schlohweiße Haare, die wie bei einem Igel nach allen Seiten abstanden. Im Gegensatz zu dem etwas verwirrt aussehenden aber grundsympathischen Erfinder aus dem Film waren bei Klaus die weißen Stoppeln mit Gel in Form gebracht worden. Da zitterte kein einziges Härchen in der lauen Nachtluft. Darunter ein ausgemergeltes käsiges Gesicht, aus dem uns weit aufgerissene Augen mit einem extrem verstörenden Ausdruck musterten. Ein psychisch labiler Lemming mit akutem Suizidpotenzial, der kurz vor der Arschbombe von einer hundert Meter hohen Klippe in die unter ihm tosende Meeresbrandung starrte, sah sicher nicht panischer aus der Wäsche, beziehungsweise aus dem Fell. Der viel zu große weiße Anzug schlotterte um seine schlaksige Figur. Ich hatte noch nie zuvor ein Kleidungsstück gesehen, das weiter von einer Maßanfertigung weg war als dieser Zwirn. Und auch mit der überdimensionalen knallblauen Fliege konnte Klaus an diesem Abend meiner Meinung nach nicht punkten, obwohl diese sogar blinkte. Ja, richtig gehört, es war ein mit LED-Lämpchen bestückter Halsschmuck, der sich da um seine dürre Kehle wand. Voll abgefahren!
»Seid ihr Freunde von Klara?«
Wie war er da nur draufgekommen? Schon dieser kurze Satz, den er mit kaum hörbarer brummiger Stimme herauspresste, machte mir eines deutlich: Der Kerl da vor uns würde es nie in die Top Ten meiner Freundesliste schaffen. Bevor ich einen entsprechenden Kommentar äußern konnte, knuffte mich Maike in die Seite und strahlte den Hungerhaken freundlich an.
»Fast richtig, sie ist meine Tante. Hallo und herzlichen Glückwunsch.«
Auch ich fühlte mich zu einem »Gratuliere« genötigt, obwohl ich von seinem schrill leuchtenden LED-Neonhalsschmuck minimal abgelenkt war. Da musste mein Gehirn erst mal neu durchstarten. Was uns da den Eingang versperrte, hatte ich so nicht erwartet.
»Wollt ihr reinkommen?«
Nö, eigentlich würde ich lieber gleich wieder ...
»Ja, gerne«, unterbrach Maike meine Überlegungen, die zu einem vollkommen anderen Ergebnis geführt hätten. Die weiß-blaue Erscheinung machte indes keine Anstalten den Eingang freizugeben. Er stand da, als müsse er einen Edelklub vor dem Eindringen zweier Obdachloser beschützen: Ey - Ihr kommt hier ned rein! Maike startete einen neuen Anlauf.
»Würdest du uns denn reinlassen?«
Wenn nicht ist das auch nicht schlimm. Dann gehen wir eben wieder, schoss es mir erneut durch den Kopf.
»Ja, ähh, klar, kommt doch ...«
Er beendete seinen Satz mit einem undeutlichen Brummeln, blieb aber noch immer stehen. An dem gab es kein Vorbeikommen, das war mal sicher. Ohne massive Gewaltandrohung würde er den Durchgang wohl nicht freigeben. Und eigentlich wollte ich da auch gar nicht mehr rein. Klara, die plötzlich mit einem freudigen Aufschrei hinter dem Türsteher die Treppe herablief, sich an ihrem Klaus vorbeidrückte und Maike überschwänglich umarmte, bereitete diesem doch insgesamt sehr zähen Party-Start ein jähes Ende.
»Oh, schön, dass ihr da seid«, rief sie und drückte auch mich fest an sich. »Du musst Alex sein. Nett, dass wir uns endlich mal kennenlernen. Maike hat ja schon so viel von dir erzählt. Die übrigen Gäste sind fast alle da, dann können wir ja das Buffet eröffnen.«
Klara war nett, das war mir nach Sekunden klar. Wie sie allerdings an so einen Unsympath wie Klaus geraten konnte, blieb rätselhaft. Immerhin: Essen klang gut. Ich beschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen, und drückte dem Hausherren mit leichtem Bedauern unser Geschenk in die Hand. Eine in goldenes Geschenkpapier eingeschlagene nagelneue Espressomaschine. Schade, die hätte ich gerne behalten.
Dann schob ich ihn mitsamt dem Paket vor mir her in einen Seitenflur und die Treppe nach oben war frei. Klara und Maike liefen vergnügt hinauf und ich folgte ihnen. Zurück blieb – im Halbdunkel des Flures, der nur durch das stete Aufblitzen der LED-Fliege beleuchtet wurde – der Hausherr mit dem großen glänzenden Geschenk. Als ich den ersten Stock erreichte und mich zu ihm umwandte, stand er immer noch da und starrte uns mit einem Blick hinterher, der Norman Bates, Hannibal Lecter oder dem Joker das kalte Grauen über den Rücken gejagt hätte. Der hatte ganz eindeutig nicht mehr alle Latten am Zaun, das war für mich in diesem Moment offensichtlich.
Auf dem Weg nach oben kamen wir am ersten Stock vorbei, der noch im Rohbauzustand war. Unverputzte Wände, Estrich und Baufassungen an der Decke versprühten den Charme eines Gefängnisses, als wir Maikes Tante eine weitere Etage hinauf folgten und schließlich im zugegebenermaßen riesigen Dachgeschoss ankamen. Sie drückte uns einen Begrüßungssekt in die Hand und neugierig sah ich mich um. Auch hier war Baustelle angesagt, was Klara mit entschuldigender Miene kommentierte.
»Klaus arbeitet noch an dem Haus. Aber er denkt, er wird dieses Jahr alles fertig bekommen.«
»Hat er Hilfe?«, wollte Maike wissen.
»Nein, niemand. Er sagt, was man nicht selbst macht, wird nur gepfuscht. Und die Handwerker würden sowieso immer zu viel verlangen.«
»Und wann hat er mit der Renovierung begonnen?«, hakte ich nach.
»Vor zwanzig Jahren.«
»Pfffff«, zischte der Schluck Sekt, den ich gerade aus meinem Glas genippt hatte, im hohen Bogen wieder heraus und verteilte sich als Sprühregen über dem Estrich. Ich japste und versuchte zu atmen, was mir mit Kohlensäure in der Nase nicht wirklich gut gelang. Zwanzig Jahre? Echt jetzt? Da war das Haus ja direkt nach der Renovierung schon wieder hoffnungslos veraltet.
»Entschuldige«, wandte ich mich an Klara, »tut mir leid mit dem Sekt auf dem Fußboden.«
»Nicht schlimm, ist ja noch Estrich.«
Da hatte sie natürlich auch wieder recht. So gesehen war es nicht verkehrt in einem Rohbaudachgeschoss zu feiern.
»Und dieses Jahr will Klaus fertig werden?«, brachte ich unser Gespräch wieder auf den Bauherren zurück. »Weiß er, dass nur noch sechs Monate davon übrig sind?«
Klara nickte. »Ja, klar. Aber er ist ein schneller Handwerker. Und er kann sämtliche Arbeiten allein machen. Wände verputzen, Boden legen, Sanitär, Elektro, alles kein Problem, sagt er.«
Boah, das haut niemals hin, typischer Fall von Selbstüberschätzung, meldete sich Hasenfuß, meine innere Stimme. Die gab ihre Einschätzungen zwar oft zu den unmöglichsten Zeitpunkten bekannt, hatte aber meist recht. Und in diesem Fall stimmte ich ihr zu einhundert Prozent zu.
»Na, wenn du denkst«, meinte ich an Klara gewandt. »Könnte aber vielleicht etwas knapp werden. Hat er wenigstens das ganze Baumaterial schon da?«
»Bestellt er direkt nach unseren Flitterwochen.«
»Oh schön«, strahlte Maike, »wo fahrt ihr denn hin?« Sie war eindeutig froh, das Thema wechseln zu können. Ihre Tante ganz offensichtlich nicht. Klaras Miene verfinsterte sich. Die Hochzeitsreise schien sich als Ausweichgesprächsthema nur bedingt zu eignen.
»Nach Freudenstadt«, murmelte sie. »Die Eltern von Klaus wohnen dort und haben da eine Ferienwohnung. Die bekommen wir für zwei Wochen zum Freundschaftspreis.«
Maike lief rot an. Sie dachte vermutlich dasselbe wie ich. Und auch meine innere Stimme war wieder einmal überlaut zu hören. Glücklicherweise nur von mir.
Boah, Flitterwochen in Freudenstadt! Das sind ja mindestens eineinhalb Stunden Fahrstrecke. Und dann auch noch eine Ferienwohnung der Familie ... ob die wohl irgendwie mit Dagobert Duck verwandt sind?
Wir vertieften das Gespräch nicht weiter und sowohl Maike als auch Klara schienen darüber nicht unglücklich zu sein. Der Blick, den mir meine Freundin zuwarf, sprach jedenfalls Bände. Wir nahmen am Tisch Platz und Klara verschwand, um weitere Gäste zu begrüßen.
»Wenn du auf die Idee kommst, in den Flitterwochen nach Freudenstadt zu fahren, dann lasse ich mich im Anschluss sofort wieder von dir scheiden«, raunte Maike mir zu. »Oder vielleicht sogar schon vorher.«
Das konnte ich jetzt echt verstehen, obwohl es im Schwarzwald zu dieser Jahreszeit sicher ganz nett war. Da nett aber bekanntermaßen die kleine Schwester von Scheiße war, nickte ich verständnisvoll und schwieg. Ein gewisser Hang zur Sparsamkeit wurde mir von meinen Freunden ja durchaus bescheinigt. Doch wenn an diesem Abend einer mit den Schotten verwandt war, dann handelte es sich da mit Sicherheit um den Bräutigam.
Der erste Eindruck täuscht ja manchmal, aber auch während der wenigen kurze Gespräche, die ich mit dem wortkargen farblosen Igel im Anschluss noch führte, wurde ich nicht mit ihm warm. Und spätestens als der blaue Klaus nach dem etwas minimalistisch gehaltenen Buffet das Karaoke-Wettsingen mit einer extrem abgedrehten Aufführung des Songs »We are the Champions« meiner Lieblingsband Queen eröffnete, war für mich klar, dass er wirklich ein echtes Problem hatte.
Er hüpfte wie ein Gummiball auf der kleinen Bühne herum. Dazu brüllte Klaus ins Mikro, dass der Verstärker blechern schepperte. Er verausgabte sich dermaßen, dass seine Fliege sich vom Hals löste und quer durch den Raum schoss, wo sie aufspritzend in der Bowleschale auf dem Buffet landete. Dort sank sie langsam zu Boden, wo sie weiterhin still vor sich hin blinkte. Notwasserung geglückt, konnte man sagen. Das Teil war sogar wasserdicht. Respekt!
Auf jeden Fall war die Bowle spätestens jetzt endgültig von meiner Getränkeliste gestrichen. Und auch Maike sah so aus, als ob ihr spontan der Appetit auf das vor ihr stehende Glas mit der rötlichen Brühe vergangen wäre. Konnte ich ihr nicht verdenken. Bowle war eh noch nie so mein Ding gewesen und seit der letzten Weihnachtsfeier mochte ich sie überhaupt nicht mehr. Da war Meister Rauschenhofer – dem Leiter der Werkstatt, in der ich arbeitete – die Einnahme einiger Gläser Weihnachtspunsch nicht gut bekommen. Zu seiner Ehrenrettung musste man sagen, dass der streng abstinent lebende Mann nicht ahnte, dass die Azubis den Punsch mit Wodka versetzt hatten. Bei Bowle wusste man eben nie, was wirklich drin war und meist hatte man noch nicht mal den Hauch einer Ahnung, wo der Kater herkam, mit dem man morgens aufwachte.
Der Gesang unseres Gastgebers riss mich aus den Gedanken. Klaus kreischte ins Mikrofon, dass die Wände wackelten. Irritierte Blicke, welche sich die überwiegend von Klara eingeladenen Gäste zuwarfen, schienen den Entertainer nur noch mehr anzustacheln. Die Lautstärke steigerte sich zum großen Finale hin bis zur Schmerzgrenze. Sozusagen von der Kreissäge zum Düsenflugzeug. Defekte Trommelfelle? Einhundert Prozent. Getroffene Töne? Ausbeute null Komma null. Der letzte Takt verklang, der fliegenlose Klaus schmiss sich auf die Bretter, die in diesem Fall mit absoluter Sicherheit nicht die Welt bedeuteten, und blieb schweratmend auf dem Rücken liegen. Ich sah mich verstohlen um, konnte aber nirgendwo einen Defibrillator entdecken. Der hätte jetzt bestimmt nicht geschadet. Hatte damals bei Opa Werner im Schwimmbad ja auch Wunder gewirkt. Geschockte Ruhe kehrte ein, während die Gäste noch einzuordnen versuchten, was da gerade stattgefunden hatte. Mit diesem Auftritt war für mich der Abend jedenfalls endgültig gelaufen. Das vollkommen unmelodische Gekrächze zu meinem all-time-favourite Lieblingssong war sozusagen die Kirsche auf der vierstöckigen Hochzeitstorte.
Und nun, kaum sechs Wochen später war ich hier und half Tante Klara beim Auszug. Oder zumindest war das der Plan, mit dem mein Arbeitskollege und bester Freund Mike, Maike und ich heute Morgen in einem unserer Werkstatttransporter aufgebrochen waren, um als Umzugshelfer nach Esslingen zu fahren. Allzu lange hatte die traute Zweisamkeit schon mal nicht gedauert. Doch es wunderte mich ehrlich gesagt mehr, dass Klara es überhaupt bis jetzt ausgehalten hatte.
Als wir am Umzugsort ankamen, wartete bereits ein weiteres Pärchen vor ihrem Auto. Die beiden kannte ich von der Hochzeitsfeier. Die hatten neben uns gesessen und waren offensichtlich genauso schockiert wie ich über den Auftritt, bei dem sich Freddie Mercury sicher noch immer im Grab rumdrehte. Auf jeden Fall waren sie mir sofort sympathisch gewesen.
Ganz im Gegensatz zum blauen Klaus, der bei unserem Eintreffen wie ein gefangener Tiger auf dem Balkon herumlief und argwöhnisch zu uns heruntersah. Ein mir unbekannter, schwarz gekleideter junger Mann stand neben ihm und rauchte. Wenn ich es auf diese Entfernung richtig sah, handelte es sich dabei nicht um eine Filterzigarette.
»Na, der pfeift sich aber schon früh eine Tüte rein, oder?«, meinte Mike und bestätigte damit meinen Verdacht.
Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein zusätzlicher Helfer?«
»Das ist mein Zeuge«, kreischte in diesem Moment Klaus in unsere Richtung. »Ich habe nämlich einen Beobachter. Jawohl!«
»Aha, jetzt wissen wir das auch«, meinte Maike. »Zum Helfen ist der Kerl dann schon mal nicht da. Wozu in aller Welt braucht man denn bei einem Umzug einen Zeugen?«
In diesem Moment kam Klara an und parkte vor unserem Transporter. Sie wohnte bereits seit einer Woche bei ihrer Schwester, was bei dem Gemütszustand von Klaus sicher nicht die schlechteste Idee gewesen war. Wir begrüßten uns herzlich und stiegen die Treppe hinauf zur Eingangstür, die ihr Kurzzeit-Ehemann mit einem seltsam entrückten Grinsen auf dem Gesicht widerstandslos öffnete. Der Umzug konnte beginnen und voller Tatendrang stürmten wir Bates-Motel. So der Plan, leider war eine halbe Stunde später schon wieder Schluss, denn die umzuziehenden Möbel gingen uns aus. Ein Esstisch mit vier Stühlen, zwei Zimmerpflanzen und eine Kommode waren bis dahin unsere Ausbeute. Und obwohl Klara das ganze Haus absuchte, wobei sie den schmächtigen Klaus immer wieder zur Seite schieben musste, da er ständig versuchte, sich ihr in den Weg zu stellen, fehlte vom Rest ihrer Einrichtung jede Spur. Wir zogen uns zum Transporter zurück und hielten Kriegsrat.
»Ich verstehe nicht, was Klaus mit meinen Möbeln gemacht hat«, jammerte Klara. »Er kann sie doch unmöglich alle allein weggeschafft haben.«
»Was fehlt denn?«, wollte Mike wissen.
»Na, das ganze Schlafzimmer ist weg«, überlegte Klara, »der Fernseher, die Waschmaschine, der Trockner, mein Kleiderschrank mit Inhalt und die vielen Umzugskartons, die ich bisher nicht ausgeräumt habe. Und jede Menge Pflanzen. Das war alles vorgestern noch da, als ich bei ihm war, um einige Kleider zu holen.«
»Hm, du hast recht«, dachte ich laut nach. »Weggeschafft hat er das bestimmt nicht allein.«
»Und Freunde hat er keine. Habt ihr ja gesehen, bei der Feier. Da war ja noch nicht einmal seine Familie dabei. Ich bin ratlos.«
Eine Weile saßen wir schweigend da und hingen unseren Gedanken nach. Das schien sich heute jedenfalls zum kürzesten Umzug zu entwickeln, bei dem ich je geholfen hatte. Schließlich stupste Mike mich an und sprang von der Ladefläche.
»Komm mal mit«, meinte er, »mir ist da vorhin was aufgefallen. Das möchte ich gerne mal kontrollieren. Hast du einen Meterstab dabei?«
»Klar. Müsste vorne im Handschuhfach liegen. Aber wofür brauchen wir den? Ist doch nichts mehr da, zum Ausmessen.«
»Laber nicht rum. Hol den Zollstock und komm ...«
Ich verstand zwar wieder mal nur Bahnhof, befolgte aber die Anweisungen Mikes und kurz darauf stürmten wir das Erdgeschoss, in dem die Bauarbeiten noch immer auf dem Stand von vor sechs Wochen waren. Klaus stellte sich uns wie schon vorher in den Weg, doch nachdem ihm Mike ein unfreundliches »verzieh dich, du Spargel!« entgegengezischt hatte, machte er widerwillig Platz. Wir traten ein und standen in einem Raum, dessen Rückwand mit Rigipsplatten verkleidet war. Mike schnappte sich meinen Meterstab, faltete ihn auseinander und begann, den Abstand zwischen Wand und Fenster zu messen. Dann öffnete er Letzteres, beugte sich hinaus und ich hörte ihn ein erfreutes »Hab ich´s mir doch gedacht« ausstoßen. Er wandte sich mir mit einem so glücklichen Ausdruck im Gesicht zu, als hätte er eben einen Goldschatz entdeckt.
»Ja und?«, fragte ich. »Was hast du dir gedacht?«
»Der Abstand hier drin vom Fenster bis zur Rückwand beträgt einen knappen Meter.«
»Das ist schön. Und weiter?«
»Draußen sind es über zwei. Konnte ich nicht so richtig messen, da der Zollstock zu kurz ist.«
»Und du meinst ...?«
»Genau das«, grinste er. »Entweder hat dieses Haus eine verdammt dicke Rückwand ...«
»... oder wir haben das mysteriöse Verschwinden von Klaras Möbeln aufgeklärt«, beendete ich seinen Satz. »Gut gemacht, Holmes!«
Mike deutete eine Verbeugung an. »Ich danke Ihnen, Watson! Doch jetzt sollten wir den anderen unseren Fund mitteilen.«
Nur zehn Minuten später stürmte eine aufgebrachte Klara durch die Haustür, nur um erneut von Klaus am Betreten des Zimmers gehindert zu werden. Er krallte sich mit beiden Händen in den Türrahmen und gab wirklich alles, um ihr den Eintritt zu verwehren. Der wusste, dass seine kleine »Möbel-Versteck-Aktion« aufgeflogen war. Wie er sich so an den Holzrahmen klammerte, erinnerte er mich spontan an eine strubbelige weiße Katze, die in die Badewanne gesteckt werden sollte. Er wehrte sich bis zuletzt, jedoch erfolglos. Denn Klara war sauer – sehr sauer sogar!
Sie packte ihren Kurzzeitehemann am Oberkörper, riss ihn wie eine morsche Tür aus dem Rahmen und stellte ihn einfach im Flur ab. Während sie mit forschen Schritten den Raum betrat, hinter dessen Rückwand ihr Eigentum verborgen lag, änderte Klaus seine Taktik und beschloss »tote Ente« zu spielen. Er fasste sich an die Brust, wo Klara ihn gepackt hatte. Dann stöhnte er auf und sackte in sich zusammen.
»Sie hat mich zu Boden gestoßen«, jammerte er. »Sie hat mir die Rippen zerquetscht. Ich kann nicht mehr atmen.«
»Ich rufe sofort einen Krankenwagen!«, stieß der Zeuge aus, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, und zückte sein Handy.
»Und ich rufe die Polizei«, konterte Klara. »Von diesem Affentheater habe ich jetzt echt die Schnauze voll.«
Und so standen wir eine halbe Stunde später wieder draußen am Transporter und warteten, dass der Umzug weitergehen konnte. Dummerweise glaubten die beiden Beamten, die mittlerweile aufgetaucht waren, zwar unsere Version der Geschichte, wollten Mike und mich aber nicht so ohne Weiteres die Wand einreißen lassen.
»Beschädigung von Eigentum«, knurrte der Streifenbeamte, der mir spontan sehr bekannt vorkam. »Das Haus gehört diesem Herren, der momentan von den Sanitätern behandelt wird. Da können wir leider nichts machen.«
»Ja, richtig, Karsten«, bestätigte sein Kollege. »Wir glauben Ihnen ja. Aber trotzdem können wir nicht zulassen, dass Sie die Wand einreißen. Dazu müssen Sie sich eine richterliche Anordnung holen.«
»Ah, Kommissar Karsten«, dachte ich, während sich einige Schweißtropfen auf meiner Stirn bildeten, »hoffentlich erkennt der mich nicht.«
Immerhin hatte uns der Zufall letztes Jahr beim Sandklauen auf der Schwäbischen Alb zusammengeführt. Was ich allerdings nur unter Protest und auf Anweisung meines Altgesellen Knut Bäuerle, genannt Knuddel, gemacht hatte. Der Polizist musterte mich und zog irritiert die Augenbrauen hoch. »Kennen wir uns?«
»Äh, nein«, stammelte ich, »glaube nicht. Aber ich habe ein miserables Gedächtnis, was Gesichter angeht.«
Na, er offensichtlich auch, meinte Hasenfuß, was in dem Fall ein großes Glück für uns ist. Sanddiebstahl erhöht unsere Glaubwürdigkeit im Moment sicher nicht gerade.
Bevor sich der Beamte noch weitere Gedanken in meine Richtung machen konnte, unterbrach uns glücklicherweise das laute Jammern von Klaus, der auf einen Sanitäter gestützt die Treppe herab wankte.
»Oh, mir geht es ja so schlecht«, stöhnte er. »Klara hat mir die Rippen gebrochen. Jetzt muss ich in die Notaufnahme. Aber das wird noch Folgen haben. Ich verklage euch alle.«
Den letzten Satz rief er laut in Richtung seines schwarz gekleideten Kumpels, der wieder einmal auf dem Balkon stand und bestätigend nickte: »Hab alles gesehen. Ich bin nämlich der Zeuge.«
»Ja, das wussten wir bereits«, gab Mike zurück, »aber schön, dass du es noch mal erwähnt hast.«
Der Kerl auf dem Balkon ging nicht darauf ein. Vielmehr war er mit seinem Auftritt so zufrieden, dass er sich eine Belohnung gönnte. Er zog seine tütenförmige Zigarette von vorhin heraus und zündete sie an.
»Wie blöd kann man sein?«, flüsterte ich in Mikes Richtung. »Der zieht sich allen Ernstes 'nen Joint rein, während die Polizei dabei zusieht?«
»Ja, ich denke auch, dass unser sogenannter Zeuge nicht gerade einen IQ von einhundertvierzig hat ...«
»Eher so gegen Null«, meinte Maike. »Damit dürfte er auf gleicher Höhe mit einem Brot liegen und das ist für das Backwerk eigentlich eine Beleidigung.«
Die Beamten waren mittlerweile ebenfalls auf den zufrieden vor sich hin paffenden Mann aufmerksam geworden.
»Schau mal Karsten, der Typ da auf dem Balkon. Raucht der einen Joint?«
»Glaube schon«, antwortete der Angesprochene, »los, komm Peter, den schnappen wir uns. Dieser Einsatz hier wird zusehends absurder, meinst du nicht auch?«
Peter nickte und die beiden Streifenpolizisten machten sich auf, dem nichts ahnenden Umzugsbeobachter einen Besuch abzustatten. Sie passierten den noch immer vor sich hin jammernden blauen Klaus, der in winzigen Schritten die Treppe herunterschlich. Da diese ziemlich eng war, ließ sich ein leichter Körperkontakt nicht vermeiden und Klaus schrie schmerzerfüllt auf.
»Aua, ahhh, tut das weh«, plärrte er los. »So passen Sie doch auf. Mir wurden von meiner Frau schließlich mehrere Rippen gebrochen!«
»Ich hab dir bisher überhaupt nichts getan, aber das kann ja noch kommen«, stieß Klara neben mir aufgebracht aus. »Du bist ein psychopathisches Weichei und ich lasse mich von dir scheiden.«
»Oh, Hilfe«, entgegnete ihr Noch-Ehemann mit flehendem Blick in Richtung der beiden Beamten, die bereits einige Stufen zum Haus hinauf zurückgelegt hatten. »Sie können doch jetzt nicht einfach weggehen. Beschützen Sie mich vor dieser wildgewordenen Furie. Die ist gemeingefährlich.«
Dann fing er wieder an zu stöhnen, ihm wackelten die Knie und er brach elegant auf einer der Stufen zusammen. Ohne sich dabei zu verletzen, versteht sich. Die beiden Beamten blieben unschlüssig stehen. Doch ihre Irritation währte nur kurz, denn nun erschien der Notarzt oben am Hauseingang.
»Mann, nun stellen Sie sich mal nicht so an«, rief er Klaus zu. »Ihnen fehlt nicht das Geringste. Und die Kollegen nehmen Sie nur auf Ihren ausdrücklichen Wunsch hin mit ins Krankenhaus. Auch wenn es vollkommen unnötig ist, denn Sie sind kerngesund!«
»Also, also«, kam es empört von Klaus, »das ist ja wohl eine Unverschämtheit. Sie verklage ich ebenfalls, darauf können Sie sich verlassen.«
»Ja, klar«, erwiderte der Notarzt und lief kopfschüttelnd an allen vorbei zu seinem Fahrzeug. »Nur zu. Für solche Simulanten wie Sie ist mir meine Zeit echt zu schade.«
»Sperrt den Psychopaten am besten gleich ein«, meldete sich der alte Mann am Straßenrand zu Wort, der die Geschehnisse höchst interessiert verfolgte. »Der terrorisiert die Nachbarschaft mit seinen Spleens, seit er hier eingezogen ist. Zwanzig Jahre bastelt er nun schon an dieser Hütte rum – zwanzig Jahre! Können Sie sich das vorstellen? Jeden Samstag hämmert und bohrt dieser grenzdebile Verrückte ab sieben Uhr morgens in seiner Ruine, als wäre er auf eine Goldader gestoßen. Das ist ein komplett Irrer.«
Ich war geneigt, ihm zuzustimmen. Statt in der Notaufnahme konnte der Sanka den blauen Klaus auch gleich in einer geschlossenen Abteilung abliefern. Da war der vermutlich besser aufgehoben als im Krankenhaus. Und vielleicht gab es dort ja ebenfalls etwas zu renovieren?
Während der Notarzt kopfschüttelnd in sein Fahrzeug einstieg und losfuhr, zerrten die beiden Rettungskräfte ihren noch immer vor sich hin stöhnenden Patienten von den Treppenstufen hoch. Nach der Ansage des Mediziners nun deutlich unsanfter als zuvor.
»Autsch, so passen Sie doch auf«, kam es postwendend von Klaus.
»Ja, ja, ist ja gut«, konterte einer der beiden Sanitäter merklich aufgebracht. »Sie haben schon gehört, was der Arzt gesagt hat? Ihnen fehlt nichts.«
»Der hat ja keine Ahnung«, erwiderte der Angesprochene. »Woher soll der denn wissen, wie es mir geht?«
»Berufserfahrung?«, rief Mike vergnügt.
»Zwölf Semester Medizinstudium?«, kam es von mir.
»Vielleicht ist er auch nur intelligenter als du«, brüllte der alte Mann von gegenüber und fuchtelte mit seinem Stock in der Luft herum. »Aber das ist ja wohl nicht so schwer. Du Blindgänger gehörst eingesperrt.«
»Sie verklage ich ebenfalls«, kreischte Klaus, bevor sich die Türen des Krankenwagens hinter ihm schlossen. »Darauf können Sie sich verlassen.«
»Schön«, meinte Mike lachend. »Dann lohnt sich das mit dem Verklagen ja wenigstens. Vielleicht findet er einen Anwalt, der so 'ne Art Zehnerkarte im Angebot hat.«
Der Krankenwagen fuhr los. Ohne Blaulicht und Sirene. Gut so, das Martinshorn hätte auch nur unnötig von dem nächsten Event abgelenkt, das in diesem Moment auf dem Balkon hoch über der Zuschauermenge stattfand. Dort wurde dem laut protestierenden Zeugen von den beiden Polizisten klargemacht, dass es sich beim Rauchen eines Joints in der Öffentlichkeit um eine »mindergeniale« Idee handelte. Sekunden später erschienen die drei am oberen Ende der Treppe und begleiteten den sich windenden schwarz gekleideten Mann zu ihrem Fahrzeug. Er durfte hinten Platz nehmen, wo die ungefilterte Esslinger Stadtluft zusätzlich durch ein weitmaschiges Gitter vor den Scheiben gesiebt wurde.
»Tut mir leid, dass wir wegen der Möbel nichts für Sie tun konnten«, meinte »Kommissar« Karsten bedauernd in Klaras Richtung, bevor sie losfuhren. »Aber ich denke, eine richterliche Anordnung zur Herausgabe ihrer Habseligkeiten sollte in Anbetracht der geistigen Verfassung ihres zukünftigen Ex-Mannes kein Problem darstellen. Im Übrigen kann ich Sie zu ihrem Entschluss, sich scheiden zu lassen nur beglückwünschen. Schönen Tag noch.«
Damit brauste auch das Polizeiauto davon und Ruhe kehrte ein. Die Zuschauer verließen ebenfalls den Tatort, nachdem nun tatsächlich nichts mehr zu sehen war. Zurück blieben eine traurige Klara und vier arbeitslose Umzugshelfer.
»Das wird schon«, tröstete Maike ihre Tante. »Sei erst mal froh, dass du hier weg bist.«
»Das war auf jeden Fall der kürzeste Umzug, bei dem ich je dabei war«, versuchte ich es mit einem Scherz. »Und gleichzeitig der Kurioseste.«
Und tatsächlich: Klara lächelte.
»Da hast du wohl recht«, schniefte sie. »Und wenn es wieder weitergeht, dann helft ihr doch noch einmal, oder?«
»Worauf du dich verlassen kannst«, brummte Mike, »Aber jetzt gehen wir erst mal irgendwo etwas essen. Die Umzieherei macht ganz schön hungrig.«
Nachts im Flur
Nur sieben Tage später – ich kam gerade von der Arbeit nach Hause – klingelte mein Handy. Den Klingelton »we are the champions« fand ich seit Tante Klaras Umzug allerdings nicht mehr so richtig klasse. Musste ich mal umstellen. Ächzend rappelte ich mich vom Sofa hoch, auf dem ich es mir vor einer Minute gemütlich gemacht hatte. Maikes Nummer leuchtete im Display auf. Das war unerwartet. Sie wollte dieses Wochenende ihre Eltern in Berlin besuchen und befand sich, soweit ich wusste, gerade auf dem Weg dorthin. Hoffentlich war nichts passiert?
»Hallo, Schatzi«, fragte ich, »alles klar bei dir?«
»Nein, eigentlich nicht.«
Oha, das hörte sich wirklich nicht gut an. Wenn Maike so traurig klang, dann war etwas nicht in Ordnung. Sonst war sie eine richtige Frohnatur und normalerweise durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Mir schwante Böses.
»Ist was mit deinen Eltern?«
»Nein, ich bin gar nicht nach Berlin gefahren.«
»Bist du nicht?«
Ein Schluchzen drang aus dem Handy.
»Maike, was ist denn los um Himmelswillen?«
Zunächst blieb sie mir die Antwort schuldig. Dann, nach einer kleinen Weile schniefte sie. »Ich bin in Konstanz.«
»Was machst du denn in Konstanz?«
Ehrlich gesagt blickte ich noch nicht zur Gänze durch.
»Oma Mimmi ist tot.«
Aha, nun ging mir ein Licht auf. Oma Mimmi wohnte schon seit vielen Jahren am Bodensee. Mit Maike zusammen hatte ich die rüstige Mittneunzigerin im Frühjahr besucht und sie auf Anhieb gemocht. Die alte Frau war geistig voll auf der Höhe und wir unterhielten uns super. Ihr Lieblingsthema war dabei gewesen, dass wir jungen Leute so schnell wie möglich zusammenziehen und heiraten sollten. Vor allem über Letzteres hatte ich bisher nicht nachgedacht. Schließlich war ich mit Maike ja noch nicht wirklich lange zusammen. Und an eine gemeinsame Wohnung verschwendete ich momentan ebenfalls nicht allzu viele Gedanken. Das musste man sich leisten können und Wohnraum war in unserer Region knapp und astronomisch teuer. Bei Maikes und meinem Gehalt hätte es allenfalls für einen Tiefgaragenstellplatz gereicht, ganz sicher jedoch nicht für eine Wohnung. Doch Oma Mimmi war von ihrer Meinung nicht abzubringen. In diesem Punkt war sie stur und vielleicht auch ein bisschen antik. Doch durfte man das nicht sein, mit vierundneunzig Jahren?
»Oh, das tut mir leid. Wie ist es denn passiert?«
»Sie ist wohl gestern Abend ins Bett gegangen und einfach nicht mehr aufgewacht. Und da ich als einzige Verwandte ganz in der Nähe wohne, haben die Nachbarn heute Morgen angerufen. Ich bin gleich losgefahren und kümmere mich um alles, bis meine Eltern aus Berlin da sind.«
»Na, wenn dein Papa so fährt, wie nach Österreich, dann müssten sie ja bald bei dir eintreffen.«
Das Schluchzen wurde von einem leisen Kichern unterbrochen.
»Idiot.«
»Ich weiß, du sagst es mir ja oft genug.«
»Das tut so gut, deine Stimme zu hören.«
»Dito. Soll ich zu dir nach Konstanz kommen?«
»Nein, nett, dass du fragst, aber das ist nicht nötig. Ich wollte nur Bescheid geben und mit dir reden.«
Wir unterhielten uns noch einige Minuten und beendeten schließlich das Gespräch, da ein Nachbar von Oma Mimmi vorbeikam. In der folgenden Woche fuhr ich zur Beerdigung an den Bodensee, die im allerkleinsten Kreis stattfand. Einige Nachbarn und Maikes Eltern waren da. Und ein professioneller Trauerredner, der von Mimmi noch zu Lebzeiten beauftragt worden war. Die Rede hatte die alte Dame selbst verfasst, wie er gleich zu Beginn klarstellte. Sie sprühte vor Witz, Ironie und aus jeder Zeile schien uns Oma Mimmi augenzwinkernd zuzulachen. Als schließlich die letzten Takte des Liedes »Always Look on the Bright Side of Life« verklangen, das selbstverständlich ebenfalls von ihr persönlich ausgewählt worden war, verließ ich Hand in Hand an Maikes Seite mit einem eigenartig beschwingten Gefühl die Trauerhalle. Bestattungsfeiern hatte ich mir immer zutiefst traurig und melancholisch vorgestellt. Nichts von dem traf auf das eben Erlebte zu.
»Wenn ich irgendwann mal sterbe, dann will ich auf jeden Fall auch so eine ähnliche Feier, wie deine Oma Mimmi«, flüsterte ich Maike zu.
Sie lächelte mich aus tränenschweren Augen an.
»Ich auch.«
Während der kommenden Tage sah ich Maike nicht. Ich fuhr wieder zurück nach Reutlingen und sie blieb mit ihren Eltern am Bodensee um den Haushalt aufzulösen und sich um Oma Mimmis Angelegenheiten zu kümmern. Weitere zwei Wochen später klingelte eines schönen Abends erneut mein Handy. Wobei schön in Zusammenhang mit der aktuellen Wetterlage maßlos übertrieben war.
Ein Sommergewitter braute sich draußen zusammen und das war nicht von schlechten Eltern. Während ich den Anruf entgegennahm, schlenderte ich an die breite Fensterfront meines kleinen Einzimmerappartements im vierten Stock und blickte hinaus auf die schwefelgelben Wolken, die sich über der Schwäbischen Alb bereits zu imposanten Wolkengebilden zusammenballten. Lange würde es wohl nicht mehr dauern, bis es zu regnen begann. Doch in Anbetracht der schwülen Hitze, die schon seit Tagen über der Stadt hing, freute ich mich auf eine kleine Abkühlung. Endlich mal schlafen, ohne dass einem die kurze Pyjamahose bereits wieder an den Beinen klebte, nachdem man gerade erst aus der kalten Dusche gestiegen war, hatte schon was.
»Hallo, Alex.«
»Hallo, Maike. Wie geht es dir denn heute?«
»Viel besser. Ich habe mich langsam an den Gedanken gewöhnt, dass Oma Mimmi jetzt an einem schöneren Ort ist.«
Ja, das hoffte ich auch. Wobei das sicher nicht so einfach war, wenn man bedachte, wo die rüstige und offensichtlich schwerreiche Dame in den letzten Jahren logiert hatte. Die freistehende Villa direkt am See mit Blick auf die Mainau war meiner Meinung nach selbst im Jenseits nicht leicht zu toppen. Wenn ich auch nicht wusste, wie es da so zuging.
»Und wann kommst du wieder heim?«
»Ja, lustig, dass du fragst«, kam die Antwort. »Eigentlich wollte ich gerade wissen, wie schnell du hier sein kannst. Es hat sich nämlich was sehr Seltsames ergeben.«
»Aha, und was?«
»Der Notar, der morgen das Testament eröffnet, hat darum gebeten, dass du ebenfalls anwesend bist.«
»Äh, aber der kennt mich doch gar nicht.«
»Na denkst du, er kennt mich?«
»Immerhin gehörst du zur Familie. Da ist es ja schließlich selbstverständlich, dass du dabei bist.«
»Auf jeden Fall hat er uns heute angerufen und gemeint, es wäre zwingend notwendig, dass ein gewisser Alexander Humbolt bei der Testamentseröffnung anwesend ist. Und außer dir kenne ich keinen, der so heißt.«
»Na dann«, murmelte ich, »und wann soll ich dort sein? Und wo ist überhaupt dort?«
»Morgen um acht. Am besten fährst du gleich los.«
»Äh, hallo und wohin?«
»Konstanz? Das Haus von Oma Mimmi? Du erinnerst dich an unseren Besuch im Frühjahr?«
»Ja, klar. Aber ich muss doch morgen zur Arbeit.«
»Boah, Alex. Die kommen sicher auch mal einen Tag ohne dich aus, oder? Sei nicht immer so kompliziert. Und bring deinen Ausweis mit. Also, ich mache jetzt Schluss, Mom möchte irgendetwas von mir. Bis später dann. Lieb dich.«
Noch während meiner Erwiderung wurde die Verbindung unterbrochen und ich stand im dunkler werdenden Wohnzimmer da. Na, das waren ja mal Neuigkeiten. Die Gedanken rasten. Wieso sollte ich bei dieser Testamentseröffnung dabei sein? Schließlich hatte ich die alte Dame nur einmal getroffen. Da würde sie mir ja wohl kaum direkt ihr gesamtes Vermögen vermachen, nur weil sie mich so sympathisch fand, oder?
Doch immer ein Schritt nach dem anderen. Ich kramte die Reisetasche heraus, packte meine Siebensachen zusammen und vergewisserte mich nochmals, dass der Perso auch wirklich im Geldbeutel steckte. Dann riss ich die Tür auf, trat in den dunklen Flur und prallte auf ein Hindernis.
»Hey, äh Tag Alex« nuschelte es. Meine Hand glitt suchend über die Wand neben der Tür und fand den Lichtschalter. Selbstverständlich war mir vorher schon klar, zu wem der Schatten, der nun einige Schritte zurückgetorkelt war, gehörte. Als das Flurlicht aufflammte, wurde der Verdacht zur Gewissheit. Manfred Schlägler, Nachbar und Nervensäge, stand vor mir.
»Mensch Manni, was soll denn das?«
»Äh, ah, äh Alex ... Was meinst du?«
»Wieso stehst du spätabends im dunklen Flur genau vor meiner Tür? Da kann man ja einen Herzinfarkt bekommen.«
»Äh, denkst du echt?«
Er wurde blass und fasste sich an die Brust. Wohl, um zu kontrollieren, ob seine Pumpe noch arbeitete. Ganz offensichtlich hatte er meinen letzten Kommentar grundlegend falsch verstanden.
»Manni, nicht du. Ich!«
»Ach so ...«
Ich war verwirrt und leicht genervt. Manni nicht, der wirkte nur erleichtert, dass er dem Sensenmann noch mal von der Schippe gesprungen war. So wie es aussah, machte er sich wieder einmal nicht allzu viele Gedanken darüber, ob sein Verhalten vielleicht irgendwie komisch rüberkommen könnte. Aber das war ich mittlerweile von ihm gewohnt und so wandte ich mich meiner Tür zu, um sie abzuschließen. Als ich mich erneut umdrehte, stand Manni noch immer an derselben Stelle und kratzte sich am Kopf. Ich vermutete, dass ihm das beim Denken half, während er versuchte, Informationen zu verarbeiten. Bei seiner Prozessorleistung konnte das wieder einmal dauern, doch im Moment wollte ich nicht warten.
»Kann ich vielleicht irgendwas für dich tun?«
Das schien der richtige Ansatz gewesen zu sein, denn schlagartig hellte sich sein Gesicht auf. Was man vom Wetter draußen nicht behaupten konnte – es fing an, zu regnen. Super! Und der Wagen stand fünfzig Meter entfernt auf dem Parkplatz. Da war mir eine erfrischende Dusche ja schon mal sicher. Gut auch, dass der einzige Schirm in meinem Besitz im Kofferraum auf mich wartete. Da war er bei einer Ausfahrt zwar grundsätzlich an der richtigen Stelle, momentan aber nutzte er mir dort überhaupt nichts.
»Ja, äh, gerne«, bestätigte Manni. Dieses Mal verstand er mich auf Anhieb. Wunderte mich nicht wirklich, schließlich kam das Verb helfen in Sätzen, in denen er auch Alex verwendete häufig vor. Um nicht zu sagen immer.
»Der Fernseher geht nicht mehr«, legte er erleichtert los. »Und du weißt doch, heute Abend kommt Police Academy auf RTL und das wollen wir auf keinen Fall verpassen.«
Nein, wusste ich bis gerade eben nicht. Und es interessierte mich auch nicht sonderlich. Bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, wies er mit dem Finger auf seine offenstehende Eingangstür, in der nun seine Frau Maggy stand.
»Oh hallo, Maggy«, grüßte ich freundlich, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie sagte nie etwas. Doch sie nickte mir zu – der Gruß war also angekommen. Von ihrer Schweigsamkeit hätte sich Manni eine Scheibe abschneiden können. Aber das war ein Wunschtraum, der wohl nie in Erfüllung gehen würde.
»Ja, du, da kann ich nicht viel machen«, erwiderte ich und deutete auf das Unwetter, das draußen tobte. »Das liegt bestimmt an dem Gewitter. Da kommen die Satelliten nicht durch.«
»Wieso, fliegen die denn durch das Gewitter durch? Ich dachte immer, die drehen sich um die Erde.«
»Äh, nein«, erwiderte ich etwas irritiert. »Ich meine ja nur, dass die Strahlen der Satelliten nicht durch die elektrisch aufgeladenen Wolken durchkommen. So ganz genau kann ich dir das auch nicht erklären.«
Der Manni, der verblüffte mich doch immer wieder. Und er brachte mich regelmäßig durcheinander.
Wenn das Unwetter noch stärker wird, dann kommen wir auch nicht mehr zum Wagen durch, meldete sich Hasenfuß. Ganz egal, ob sich die Satelliten um die Erde drehen, durch die Wolken fliegen oder sonst was machen. Nun lass den Schlägler stehen und geh, oder willst du zum Auto schwimmen?
Nein wollte ich tatsächlich nicht. Aber ich konnte doch den mit traurigem Hundeblick zu mir herschielenden Manni nicht einfach so im Stich lassen.
»Kanns mir ja mal kurz ansehen«, murmelte ich resigniert, stellte meine Reisetasche ab und folgte Dr. Kranz in seine Wohnung. Dabei fiel mir etwas ein, was mich zum Nachdenken brachte.
»Sag mal Manni, hast du nicht damals, als ich kochen wollte, schon einmal Police Academy angesehen?«
Manfred nickte eifrig. Er mochte nicht der Allerschnellste sein, doch sein Erinnerungsvermögen verblüffte mich stets aufs Neue. Wie auch jetzt.
»Ja, genau«, antwortete er. »Du wolltest Kabelsalat machen. Hab immer noch nicht rausgefunden, was da reinkommt.«
Ganz ehrlich Leute, Spiegel braucht kein Mensch, um zu wissen, dass man feuerrot anläuft – die heißen Ohren genügen vollkommen. Wieso konnte sich Doktor Kranz nur alles merken, was ich irgendwann mal rausgehauen hatte. Ich nahm mir vor, in Zukunft vorsichtiger mit meinen Äußerungen zu sein, wenn er in der Nähe war.
»Ja, du äh, komplizierte Sache.«
Schnell wandte ich mich dem eigentlichen Problem zu und machte nach kurzem Suchen ein loses Kabel am Receiver aus, das die Verbindung zum Fernseher unterbrach. Das Bild erschien und Maggy stieß von ihrem Lieblingsplatz auf dem Sofa ein begeistertes Glucksen aus. Sie richtete sich merklich auf und ich fühlte mich wie in einer Zeitschleife gefangen. Hier grüßte zwar kein Murmeltier, aber diese Situation kam dem Erst-Anschluss von Mannis Satellitenanlage schon verdammt nahe.
»Ja, und was ist nun mit Police Academy?«, hakte ich nach. »Habt ihr das damals verpasst?«
»Nöö, haben wir nicht«, grinste Manni, »aber wie gesagt: Heute kommt es auf RTL.«
»Ja, und?«
»Na, vielleicht ist es ein anderer Film.«
»Achso, es ist der zweite Teil, richtig?«
»Nö, ist der Erste.«
»Manni, es ist Police Academy. Wenn es der gleiche Teil ist, warum soll es dann ein anderer Film sein?«
»Na, er läuft doch auf RTL.«
»Ja, und?«
»Mensch, Alex«, stöhnte er. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er nicht verstand, wie jemand so begriffsstutzig sein konnte. »Damals kam er auf Sat.1 und heute auf RTL ...«
»Ich, äh«, stotterte ich und beschloss, dass Kapitulation in diesem Fall die beste Option war, mit einigermaßen unbeschädigtem Verstand aus Mannis Wohnung zu entkommen. Verstehen konnte ich die Gedankengänge von Doktor Kranz momentan jedenfalls nicht. War aber auch gar nicht notwendig. Ich stammelte hastig eine Verabschiedung, trat den Rückzug an und befand mich Sekunden später aufatmend im Flur. Das Licht ging aus und ich tappte verwirrt durch die Dunkelheit auf meine Tasche zu. Unvermittelt flammte die Flurbeleuchtung wieder auf und Siggi, ein weiterer Nachbar und bester Freund von Manni, stand vor mir in seiner geöffneten Wohnungstür.
»Oh hallo, Alex« grüßte er, »sag mal, warum stehst du denn vor meiner Bude im dunklen Flur? Da kann man ja einen Herzinfarkt bekommen!«
Grenzkonflikt
So schnell es ging, stürmte ich ins Treppenhaus und rannte die Stufen hinunter. Im Moment wollte ich nur noch raus hier. Doch als ich die Haupteingangstür öffnete, sah ich mich der nächsten Herausforderung gegenüber. Diesmal nicht geistiger, dafür aber körperlicher Natur. Es goss mittlerweile wie aus Kübeln und bei diesem Wetter war ich sicher bis auf die Knochen durchnässt, bis ich bei meinem Renault ankam. War bestimmt nicht gerade witzig, mit klatschnassen Klamotten die nächsten Stunden im Auto zu verbringen. Ein alternativer Fluchtweg musste her.
Ich stürmte wieder ins Treppenhaus, hastete in die Tiefgarage hinab und lief auf das Rolltor zu. Als ich beinahe dort war, kam draußen eine dunkle Limousine um die Kurve gebrettert, deren Scheinwerfer grell aufgeblendet waren. Sie schlingerte die leicht abschüssige Rampe herab und stoppte mit quietschenden Bremsen vor der Zugangssäule. Das konnte nur Doktor Ludwig sein, der im obersten Stockwerk des Hochhauses das Penthouse bewohnte. Mit einhundert Quadratmetern mehr als meine kleine Bude. Mindestens! Gigantische Aussicht inklusive. Ja, Vorstand musste man sein, da lagen die Geldsorgen hinter einem.
Doktor Ludwig streckte die Hand aus dem Seitenfenster und aktivierte das Tor. Ich rannte hin und rief ihm eine Warnung zu, doch da war das Fenster schon wieder oben. Bei dem prasselnden Regen hätte er vermutlich eh nichts gehört. Laut knarrend setzten sich die Torsegmente in Bewegung. Ich fuchtelte mit den Armen und versuchte, unseren Vorstand zu warnen, doch er öffnete das Fenster nicht mehr. Dafür nickte er mir durch die nasse Windschutzscheibe freundlich zu, was ja dann irgendwie auch wieder sehr nett von ihm war. Nicht das, was ich bezweckt hatte und sicher nicht sonderlich hilfreich für ihn, aber immerhin entgegenkommend.
Apropos entgegenkommend: Das Tor war noch nicht einmal vollständig oben, als er Gas gab und in die Garage einfuhr. Der wollte wohl so schnell wie möglich ins Trockene. Ich sprang nach hinten aus dem Weg, da von meiner Position aus gut zu sehen war, was kommen würde. Unser Vorstand ahnte nichts. Ganz sicher dachte er im Moment auch nicht an die zwei E-Bikes, die auf dem Dachträger seiner Limousine montiert waren. Mit lautem Knall blieben die Fahrräder am Tor hängen und wurden unter protestierendem Kreischen mitsamt dem Dachgepäckträger nach hinten weggerissen.
Das hätte für ihn sicher besser laufen können. Doch da das Tor nun schon mal offen war, hob ich meine Reisetasche über den Kopf und spurtete los. Doktor Ludwig stieg leise fluchend aus seiner Limousine und starrte geschockt auf den vollkommen verbogenen Dachträger und die kaum weniger deformierten Fahrräder. Gegen das, was da momentan im strömenden Regen vor der Garage lag, hatte Henrys Bike damals nach seinem unfreiwilligen Kontakt mit der Straßenlaterne noch richtig gut ausgesehen.
»Das sieht bestimmt schlimmer aus, als es ist«, rief ich dem etwas verdattert dreinblickenden Doktor Ludwig aufmunternd zu.
Dann lief ich durch den Regen zu meinem eigenen Wagen, der zehn Meter entfernt auf dem geschotterten Parkplatz auf mich wartete. Den Elementen ausgesetzt, aber unüberdacht. Kein Problem also, falls mir irgendwann einmal einfallen sollte, ebenfalls Fahrräder auf dem Dach zu montieren. Und Doktor Ludwig, der währenddessen versuchte, seinen Fahrradschrott aus der Tiefgarageneinfahrt zu bergen, hatte schließlich seit dem Schraubendreher im Autodach hinreichend Erfahrung mit Reparaturen im KFZ-Bereich sammeln können. So ein Schadensfall war doch sicher bei einer Vorstandslimousine im Leasing inklusive, oder?
Stunden später erreichte ich Konstanz. Die ganze Fahrt über hatte es weitergeschüttet. Ich kam mir zwischendurch so vor, als wäre ich in einem Schiff und nicht mit einem Auto unterwegs. Mittlerweile war es stockfinster und auch hier goss es wie aus Kübeln, aber das Ziel war beinahe erreicht. Nun musste nur noch Oma Mimmis Villa gefunden werden und dann konnte ich Maike endlich wieder in die Arme schließen. Natürlich war ich neugierig auf den Notartermin am nächsten Morgen, aber in erster Linie freute ich mich auf meine Freundin. Ein Blick aufs Navi genügte, um ... ja, um was? Auf dem Display stand zu lesen: »Akku leer. Handy wird in den Sleepmodus versetzt«. Der Bildschirm wurde schwarz, das kleine Mistding fuhr herunter und setzte mich orientierungslos in dieser fremden Stadt aus.
»Verdammter Mist, echt jetzt?«
Natürlich antwortete es nicht. War mit leerem Akku ja auch schwer. Dafür hatte ich Hasenfuß. Bei meiner inneren Stimme konnte ich mich immer drauf verlassen, dass sie einen mehr oder weniger hilfreichen Kommentar abließ.
Tja, das kennen wir ja schon vom Skifahren, meldet er sich, vielleicht solltest du dir mal ein neues Handy kaufen, das nicht immer genau dann ausgeht, wenn man es am dringendsten braucht?
Gut, diesmal war der Tipp eher von der Sorte »momentan wenig hilfreich«. Die Idee, ein neues Smartphone anzuschaffen hatte jedoch was. Und außerdem war ich ja wenigstens schon am Zielort angekommen. Wie schwer konnte es sein, die richtige Straße zu finden? Eine halbe Stunde später konnte ich auch diese Frage beantworten: Verdammt schwer!
Mittlerweile war ich bereits dreimal über eine Brücke gefahren, an die ich mich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Die hatte es doch bei unserem Besuch im Frühjahr nicht gegeben, oder? Während ich noch darüber nachdachte, ob es ratsam wäre, erneut zu wenden und in die andere Richtung zu fahren, schälte sich vor mir ein Grenzposten aus der Dunkelheit. Jetzt war es amtlich: Bei dieser Straße handelte es sich definitiv nicht um die richtige. Also wieder umdrehen und zurückfahren. Doch leider bot sich hier keine Wendemöglichkeit.
Daher fuhr ich kurz entschlossen mit geöffnetem Seitenfenster langsam durch die beleuchtete Zollstation und stoppte pflichtbewusst neben dem Grenzposten. Ein Beamter in Schweizer Uniform öffnete das Fenster, gähnte herzhaft und rieb sich die Augen. Er warf einen mäßig interessierten Blick in meinen Wagen und winkte mich durch. Vermutlich fragte er sich, wieso er länger als unbedingt notwendig das Fenster seines trockenen und sicher auch warmen Grenzerhäuschens aufmachen sollte.
Ich fuhr langsam an einem Schild vorbei, das Einreisende in der Schweiz begrüßte und darauf aufmerksam machte, dass hier auf den Autobahnen nicht schneller als einhundertzwanzig Stundenkilometer gefahren werden durfte. Na ja, hatte ich jetzt eigentlich auch nicht vor. Auf einem unbeleuchteten Parkplatz direkt hinter der Grenze wendete ich und fuhr zurück. Schlechte Sicht und der noch immer andauernde Starkregen sorgten dafür, dass ich kurz auf die Gegenfahrbahn ausweichen musste. Was kein Problem darstellte, schließlich war der Gegenverkehr hier mitten in der Nacht äußerst überschaubar.
Der Grenzbeamte, der die Sicherheit der deutschen Seite überwachte, machte einen aufgeweckteren Eindruck als sein Schweizer Kollege. Vielleicht hatte er sein Schläfchen schon beendet, oder seine Schicht eben erst begonnen. Argwöhnisch marschierte er aus der Grenzstation und bedeutete mir, das Fenster herunterzukurbeln. So gesehen, hätte ich es auch gleich offenlassen können.
»Guten Abend.