Vom Ende der Landwirtschaft - Oliver Stengel - E-Book

Vom Ende der Landwirtschaft E-Book

Oliver Stengel

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Beschreibung

Um Klimakrise und Artensterben in den Griff zu bekommen, sind radikale Änderungen erforderlich. Etwa die halbe Erde müsse dazu der Natur zurückgegeben werden, fordern Experten. Doch wie soll das gehen? »Indem wir die Landwirtschaft abschaffen!«, sagt Oliver Stengel, denn industriell betrieben, stellt diese ein riesiges Umweltproblem dar. Er entwirft eine provokante Zukunftsvision, in der Lebensmittel und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse aus dem Labor kommen – nicht als unappetitlicher Brei, sondern wie frisch vom Feld. Auf Äckern und Weiden darf sich dann die Natur wieder ausbreiten.

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Oliver Stengel
Vom Ende derLandwirtschaft
Wie wir die Menschheit ernähren unddie Wildnis zurückkehren lassen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2021 oekom, Münchenoekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Uta RugeKorrektorat: Maike SpechtSatz: Ines Swoboda, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-723-5
Vorwort
Einleitung
Die Erde 3.0 und der Flaschenhals
Die neue Erde
Der kosmische Flaschenhals
Kapitel 1
Die Landwirtschaftliche Revolution
Die Disruption der Steinzeit und der Natur
Eine sterbende Welt
Kapitel 2
Die Postlandwirtschaftliche Revolution
Der Planet ohne Weiden
Der Planet ohne Felder
Kapitel 3
Natur: Entfremdung und Relaunch
Homies, Zauberer und Propheten
Demontagestopp am Raumschiff Erde: Ökomodernismus
Antworten auf Kritiken
Resümee
Nach dem Flaschenhals
Über den Autor
Danksagung
Anmerkungen
Literatur

Vorwort

Jede Revolution beginnt im Kopf. Sie beginnt mit der Vorstellung, dass etwas anders sein könnte – anders, als man es bisher gesehen und erlebt hat, anders, als es bisher gelehrt und praktiziert wurde. Diese neue Vorstellung kann anders sein, sie kann zusätzlich aber auch besser sein. Sie ist besser, wenn sie Probleme zu lösen verheißt, die bisher nicht gelöst werden konnten. Ist das der Fall, entfaltet die neue Vorstellung eine revolutionäre Kraft. Und diese Kraft wird umso größer, je mehr Menschen zur selben Einsicht gelangen.
Um eine Revolution geht es in diesem Buch. Es geht um eine Vorstellung, die mit menschlichen Praktiken und Lehren bricht, die seit ungefähr 12.000 Jahren bestehen. Es geht um die Hinterfragung von etwas, das seit Tausenden von Jahren als selbstverständlich und alternativlos galt und darum auch nicht hinterfragt wurde. Und es geht darum zu zeigen, dass und wie es anders sein könnte. Auch geht es darum, Probleme zu lösen, die mit der hergebrachten Anschauung und Methodik entstanden und immer größer wurden – und in den nächsten wenigen Jahrzehnten womöglich so groß werden, dass sie eine globale Krise auslösen können, wie sie Vormenschen, Frühmenschen und anatomisch moderne Menschen noch nicht erlebt haben.
Und es geht um viel mehr als das – zum Beispiel um Ihre Ernährung und um die Welt, in der Sie oder Ihre Kinder einmal leben werden.
Oliver Stengel, Bochum, Sommer 2020
Einleitung
Die Erde 3.0 und der Flaschenhals
Milliarden Jahre in der Zeit und Milliarden Lichtjahre im Raum scheinen eines zu lehren: Nachhaltigkeit ist schwierig und entscheidend, sie ist eine Prüfung und universell. Was ist damit gemeint? Gehen wir Milliarden Jahre in der Zeit zurück und dringen anschließend Milliarden Lichtjahre in den Weltraum vor, findet sich die Antwort.
Sie beginnt mit einer großen, ultrakalten Wasserstoffwolke. In ihrer Nähe explodierte vor etwa fünf Milliarden Jahren ein uns unbekannter Stern. Ohne ihn wären wir nicht hier. Sein Tod ermöglichte neues und schließlich unser Leben: Die Materie, aus der wir größtenteils bestehen, stammt von diesem Stern. Seine Explosion setzte viele chemische Elemente des Periodensystems frei. Sie durchdrangen und reicherten die Wasserstoffwolke an, in der auch schwere Elemente wie Gold oder Blei waberten. Diese entstanden bei einer anderen Explosion, ausgelöst durch eine Kollision zweier Neutronensterne.
Eine Region in dieser Wolke zog sich durch die Schwerkraft zusammen. Das sich verdichtende Gas heizte sich auf, wie sich Luft in der Luftpumpe erwärmt, wenn sie zusammengedrückt wird. Die Hitze in der Wolke wurde schließlich so groß und die Atombewegungen so schnell, dass eine Kernfusion zündete: Wasserstoffatome verschmolzen miteinander zu Helium, und dabei wurde Energie frei. Das war die Geburt der Sonne. Aus sich ineinander verhakenden, miteinander verklumpenden Staubteilchen des übrigen Materials wuchsen kleine Brocken, die weiteren Staub aufnahmen und zu immer größeren Brocken anschwollen, in die weitere Brocken krachten. Nach Millionen von Jahren formierte sich die Erde – eine tosende Hölle, die nur aus brodelnd heißem, flüssigem Gestein bestand. Als ihre Oberfläche abkühlte und Kruste wurde, kollidierte Theia, ein marsgroßer Planet, mit der Erde, und die tosende Hölle der Vorzeit war nur eine Spielwiese im Vergleich mit dem Inferno, das nun folgte.

Die neue Erde

Die spannendste Geschichte der Erde ist die Erde selbst, und in den folgenden vier Milliarden Jahren machte unser Planet drei große Transformationen durch – derart große, dass man von drei verschiedenen Planeten sprechen kann: In ihrer ersten Phase war die Erde wüst und leer. Sie bestand aus geschmolzenem Gestein, das abkühlte und an der Oberfläche fest wurde. Und sie bestand aus Wasser, das in Asteroiden und Kometen enthalten war, die auf der Erde einschlugen, und das dann als Dampf in die Atmosphäre aufstieg und abregnete. Die Erde hatte damals eine Physiosphäre, sie bestand rund eine Milliarde Jahre lang aus nichts als toter Materie. Das war, könnte man sagen, die Erde 1.0.
Diese Materie veränderte sich qualitativ und wurde lebendig: Aus im toten Gestein enthaltenen und vom Wasser gelösten Stoffen entwickelten sich die ersten einzelligen Lebewesen. Langsam füllte sich die Erde mit Kreaturen – zunächst in den Ozeanen, dann an Land. Und obwohl die Kontinente drifteten, sich die Atmosphäre wandelte, Eiszeiten kamen und gingen, Arten entstanden und schwanden und sich das Gesicht der Erde jedes Mal veränderte, lässt sich all dies in das zweite große Kapitel der Erde einordnen: die Erde 2.0. Sie hatte eine Physio- und eine Biosphäre – eine dünne Schicht an der Oberfläche des Planeten, die aus Lebewesen und allem besteht, was sie hinterlassen haben. Eine dieser Hinterlassenschaften ist Erde. Denn Erdboden bildete sich erst mit den Landpflanzen, die als Moose und Flechten den nackten Küstenfels besiedelten. Sie verrotteten Schicht auf Schicht, und daraus wurde fruchtbarer Erdboden, der sich mit den ins Hinterland kriechenden Pflanzen ausbreitete.
Einmal entstanden, blieb die Biosphäre – wenngleich reduziert – sogar erhalten, als sich die Erde zwischenzeitlich im Cryogenium für einige Millionen Jahre in einen Schneeball verwandelte. Rund 3,5 Milliarden Jahre dauerte dieser zweite große Abschnitt der Erdgeschichte. Etwas Gewaltiges musste geschehen, damit er endete.
Es geschah der Mensch. Als Homo erectus hinterließ er noch wenig Spuren, obwohl er lernte, Feuer und Sprache zu gebrauchen, zwei Millionen Jahre lang über große Teile der Erde wanderte und sich dabei an unterschiedliche Ökosysteme anpasste. Homo erectus lebte in Afrika, Asien und Europa. Homo sapiens besiedelte dagegen alle Kontinente mit ihren tropischen und arktischen Regionen, Küsten und Wüsten, Tälern und Gebirgen. Er passte sich aber nicht nur an unterschiedlichste Umwelten an, sondern auch die unterschiedlichsten Umwelten an sich. Diese Doppelleistung unterscheidet ihn von allen anderen Kreaturen der Erde, und schließlich wurden seine Spuren sogar aus dem Weltraum sichtbar. Was ihn vom Homo erectus unterschied und auszeichnete, war ein größeres Hirnvolumen, und aus mehr Gehirn folgte ein größerer planetarer Impact.
Durch sein Gehirn konnte der Mensch nun wissen, dass er weiß; Tiere wissentlich überlisten und zähmen und einsperren und das gefährlichste aller Raubtiere werden; die Erde erkunden und enträtseln; in jeden ihrer Winkel eindringen, Wälder roden und urbar machen, fruchtbare Landschaften in Halbwüsten und Halbwüsten in Wüsten verwandeln, Flüsse stauen, begradigen, vergiften und wieder renaturieren, Städte bauen, verwalten, zerstören und neu erschaffen; Technologie entwickeln und weiterentwickeln, Landschaften mit Burgen, Straßen, Schienen, Telegraphenmasten, Stromtrassen und Windrädern anreichern, tiefe Stollen und lange Tunnel durch Erdkruste und Berge graben, den Meeresboden mit Tausenden Kilometer langen Kabeln bedecken; Unmengen Fische aus den Meeren holen und Unmengen Kunststoffe in die Meere leiten, aus Kunststoffen und anderen Stoffen eine Vielzahl von Artikeln schaffen, die die Anzahl der natürlichen Arten um ein Vielfaches übersteigen. Kurz: Menschen begannen eine neue Erdsystemsphäre zu erschaffen. Neben der Physio- und Biosphäre entwickelte sich nun eine Technosphäre. Mit jeder Sphäre wurde der Planet komplexer, und mit der Entstehung der Technosphäre begann der jüngste, der erstaunlichste und der dritte große Abschnitt der Erdgeschichte – die Erde 3.0. Sie begann sich vor etwa 12.000 Jahren zu formieren. Mit dem Beginn der Landwirtschaftlichen Revolution.
Denn zur Technosphäre zählt all das, was von Menschenhand gemacht wurde und den Planeten überzieht, z.B. Ackerland, Bewässerungskanäle, Höfe, Zuchttiere, Weiden und Almen; Städte und Straßen, Start- und Landebahnen, Steinbrüche, Schuttberge und Mülldeponien; Schiffe, U-Boote, Häfen, Docks, Seemauern, Leuchttürme, Polder, künstliche Inseln, Schiffswracks und versunkene Städte; Bergwerke, U-Bahn-Schächte, Kanalisationen, unterirdische Bunkeranlagen. Die Technosphäre gliedert sich folglich in eine ländliche, eine urbane, eine marine und in eine unterirdische Komponente.
Zur Technosphäre zählen aber auch Dinge wie Tongefäße und Pergamentrollen, Roboter und Supercomputer, Haferkekse und Furzkissen. Die Diversität der Technosphäre ist grandios: »Wenn wir die Technofossilien nach paläontologischen Kriterien klassifizieren, dann übertrifft ihre Vielfalt den heutigen Artenreichtum und geht weit über die Vielfalt der geologischen Fossilien hinaus und könnte sogar die biologische Vielfalt der gesamten Erdgeschichte noch übertreffen.«1 Selbst Berge zählen zur Technosphäre, wenn sie künstliche sind: Die jüngsten »Berge« der Erdgeschichte sind Halden, die zwar vielerorts aufgeschüttet wurden, in besonderer Dichte jedoch im Ruhrgebiet zu finden sind. Dessen sechzig Halden sind aus aufgeschüttetem Abraumgestein entstanden, das Bergleute aus unterirdischen Kohlestollen an die Erdoberfläche befördert haben. Dieses künstliche »Gebirge« ist mit seinen bis zu 200 Metern hohen Bergen zwar eher niedrig, jedoch haben sie diese Höhe in unnatürlich kurzer Zeit erreicht: Während Gebirge wie die Alpen oder der Himalaja jedes Jahr rund zwei Millimeter emporwachsen und für 200 Meter 200.000 Jahre benötigen, wuchsen die Berge des Ruhrgebiets in nur 200 Jahren, d. h. 1.000-mal schneller, auf dieses Niveau an. Umgekehrt werden natürlich gewachsene Berge in den USA (vor allem im Appalachen-Gebirge) entnatürlicht, indem ihre Gipfel gesprengt und abgetragen werden, um die Kohleflöze im Berg kostengünstig abbauen zu können. Auf diese Weise werden die rund 400 Millionen Jahre alten und durchschnittlich 900 Meter hohen Berge binnen weniger Wochen um bis zu 120 Meter reduziert.
Die Masse aller von Menschen gemachten und genutzten Dinge auf der Welt wiegt schätzungsweise dreißig Billionen Tonnen. Den größten Anteil am Gewicht der Technosphäre haben ihre urbanen Artefakte – und zu ihnen zählen auch die Industrieberge zwischen Duisburg und Dortmund. Den größten Raum nimmt jedoch die ländliche Technosphäre ein. Denn Ackerfläche zählt ebenso zu ihr, wie Forst- und Weideflächen.
Der Planet ist heute ein vollkommen anderer, als er das die vorangegangenen 3,5 Milliarden Jahre war. In diesem unvorstellbaren Zeitraum bestand er aus einer Physio- und einer Biosphäre. Vom Weltraum aus betrachtet, unterschied sich die Erde 2.0 von der Erde 1.0 durch eine weithin sichtbare neue Farbe: Grün. Grün ist die Farbe des Lebens. Die Erde 3.0 unterscheidet sich, vom Weltraum aus betrachtet, dagegen durch neue, künstliche Formen, durch quadratische oder kreisrunde Ackerflächen sowie nachts durch künstliche Lichter, die von Städten, Straßen und Schiffen ausstrahlen. Es sind die Formen und Lichter der Technosphäre.
Seit der Entdeckung der Jebel-Irhoud-Menschen gehen Anthropologen davon aus, dass Menschen, die anatomisch fast wie wir Heutigen aussehen, seit rund 300.000 Jahren auf der Erde leben. Aber erst in den letzten 12.000 Jahren – d. h. in den letzten vier Prozent ihres Daseins – haben sie eine neue Erdsystemsphäre geschaffen, die geologisch relevant ist und die Natur zunehmend verdrängt. Aus physio- und biosphärischen Bestandteilen haben Menschen die Technosphäre erschaffen, und diese nimmt immer mehr Fläche auf dem Planeten ein. Die meiste von Menschen in ihrer Geschichte verbrauchte Energie wurde in den letzten vier Prozent ihrer Existenz und hier zur Schaffung ebendieser Technosphäre aufgewendet.
Innerhalb dieser vier Prozent ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine weitere Veränderung eingetreten: Mehr Menschen verfügten nun über mehr Kaufkraft und konsumierten mehr Ackerfrüchte, Fleisch, Fisch, Energie, Autos, Papier und andere Dinge. Sie setzten mehr Baustoffe, Düngemittel, Insekten- und Unkrautvernichtungsgifte ein, emittierten mehr Abgase und produzierten mehr Müll als je zuvor, sodass die Beeinträchtigungen der Ökosysteme weltweit immer größer wurden. Die letzten siebzig Jahre (bzw. 0,02 Prozent des menschlichen Daseins) gehen sogar als die »Große Beschleunigung« in die Geschichte ein: Beschleunigt haben sich seitdem (und seit den 1990ern abermals) die Umgestaltung der Physio- und Biosphäre in Artefakte der Technosphäre und damit der Energie- und Ressourcenverbrauch.2 Die planetaren Veränderungen sind so einschneidend, dass über den Anbruch eines neuen geologischen Zeitalters – des Anthropozän – diskutiert wird und die Diskussion dahin tendiert, seinen Beginn auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zu datieren.3 Homo erectus lebte viel länger auf der Erde als der Homo sapiens. Aber er lebte nur im Pleistozän. Dagegen lebte Homo sapiens im Pleistozän, Holozän und begründete das Anthropozän.
Die Dominanz und weitere Expansion der Technosphäre ist allerdings zu einem Problem geworden, das die Zukunft vieler Arten, aber auch die der menschlichen Zivilisation4 negativ beeinflusst.
Was bevorstehen könnte, offenbart ein Rückblick: Die Osterinsel wurde durch eine Gruppe Polynesier vor rund 800 Jahren besiedelt. Die Gruppe wurde numerisch größer, und innerhalb von 200 Jahren, so belegen es Pollenanalysen in Strandablagerungen, verschwand der Palmwald, der zuvor mehrere Millionen Bäume umfasst hatte. Der Verlust des Palmwaldes, der die Kulturpflanzen vor dem ständig wehenden Wind und vor Austrocknung geschützt hatte, führte zu einer umfangreichen Bodenerosion. Analysen der Samen zeigen zudem, dass die Palmnüsse allesamt von der Pazifischen Ratte angenagt waren, welche die Polynesier aus ihrer alten Heimat mitgebracht hatten. Zur Zeit der Rodung könnten zwei bis drei Millionen Ratten auf der Insel gelebt haben. Sie hatten keine natürlichen Feinde, fraßen die am Boden liegenden Palmsamen und verstärkten dadurch die Entwaldung der Insel.
Auf der Osterinsel ist es recht kühl und trocken. Sie ist klein und liegt isoliert weitab im Meer. Nur wenige Nährstoffe kommen über die Atmosphäre oder durch Vulkanasche zu ihr. Der Boden der Insel war darum rasch ausgelaugt. Als die Bäume gerodet wurden, schritt die Erosion voran. Als Ratten zudem die Baumsamen fraßen, war ein Kollaps nicht mehr zu vermeiden. Das Ökosystem kippte, die Menschen aber konnten in dieser Situation nicht tun, was Menschen in solchen Situationen immer schon taten: fliehen, nomadisieren, dem Problem ausweichen, einen neuen, noch unverbrauchten, lebensfreundlichen Ort finden und sich dort niederlassen. Oder: Nachbarn überfallen, totschlagen und ausrauben.5
Die Bewohner der Osterinsel saßen auf ihrem Eiland fest, umgeben von Tausenden Kilometer Ozean in jeder Richtung. Vielleicht stiegen manche Verzweifelte in Boote und versuchten neues Land zu finden. Wahrscheinlich starben sie. Jene, die blieben, starben ebenfalls: Die Anzahl der Insulaner schrumpfte um 75 Prozent von etwa 10.000 auf ca. 2.500 Seelen.6
Die Geschehnisse der Osterinsel wurden schon oft als Gleichnis für die Menschheit gebraucht: Die Polynesier haben ihre Insel umgestaltet und deren Biosphäre verdrängt. Und genau dies macht die Menschheit mit ihrem Planeten. Wie die Polynesier können die Menschen nicht fliehen, und wie die Polynesier müssen sie die Rückwirkungen ihrer Einwirkungen auf ihre Umwelt über sich ergehen lassen. Wie bei den Polynesiern könnte dies einen Populationseinbruch der Menschheit nach sich ziehen.

Der kosmische Flaschenhals

Und das bringt uns zu den Aliens. Genauer gesagt, zu außerirdischen Zivilisationen, d. h. zu Exozivilisationen. Das mag Ihnen nun als ein schrulliger Exkurs erscheinen. Doch was sich auf der Osterinsel bzw. mit der Entstehung der Technosphäre auf der Erde ereignete, dürfte sich viele Male auch auf anderen Planeten abgespielt haben. Dafür gibt es gegenwärtig natürlich keine empirischen Beweise, aber eine Reihe logischer Indizien.
Zunächst zeigt die bisherige Entdeckung Tausender Exoplaneten, dass erdähnliche Planeten keine Seltenheit sind und die Wahrscheinlichkeit darum hoch ist, dass sich in der Vergangenheit des Universums zahlreiche exoplanetare Zivilisationen entwickelt haben: Ungefähr 300 Milliarden Sonnen befinden sich allein in unserer Galaxie, und die NASA schätzt auf Grundlage der bisherigen Planetenentdeckungen, dass um jeden sechsten Stern ein erdähnlicher Planet wandert.7 Hat auch nur ein Prozent von ihnen Leben hervorgebracht und eine Biosphäre, sind das ca. fünfzig Millionen biosphärische Planeten. Entwickelte sich auf nur einem Prozent dieser fünfzig Millionen Planeten eine Zivilisation, wären das 500.000 Zivilisationen. Existierten von diesen in der Gegenwart noch ein Prozent, wären es 5.000 Zivilisationen – und diese Zahlen gelten nur für die Gegenwart und die Milchstraße. Im Universum befinden sich jedoch noch über eine Billion weitere Galaxien, von denen unsere bei Weitem nicht die größte ist.
Es ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit: Laicht ein weiblicher Kabeljau fünf Millionen Eier, ist die Wahrscheinlichkeit nahe null Prozent, dass aus einem bestimmten Ei ein geschlechtsreifer Fisch wird. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass aus dem gesamten Laich ein oder zwei ausgewachsene Fische hervorgehen, beträgt fast hundert Prozent. Es ist folglich, wenngleich der Beweis noch aussteht, irrational, nicht mit Exozivilisationen zu kalkulieren. Anders formuliert: Eines der größten Wunder im Universum wäre die Nichtexistenz von Aliens.
Und bei allen Unterschieden, die sie im Vergleich mit unserer Zivilisation hätten, teilten die meisten von ihnen eine Gemeinsamkeit mit uns: Sie gingen aus einer Biosphäre hervor, die sie nach und nach in eine Technosphäre umgestaltet haben. Jeder Planet, der eine Zivilisation hervorgebracht hat, durchläuft zwangsläufig drei Phasen: Planet 1.0 (Physiosphäre), Planet 2.0 (Physio- und Biosphäre), Planet 3.0 (Physio-, Bio- und Technosphäre).8
Aus der Umgestaltung von Planet 2.0 in 3.0 resultieren negative Wirkungen auf die Umwelt. Von ihnen greifen wiederum negative Rückwirkungen auf die jeweilige Zivilisation über und zwingen sie zu Anpassungsleistungen. Es spricht sogar einiges dafür, dass diese Anpassung vielen Exozivilisationen nicht glückte – und damit wären die Ereignisse auf der Osterinsel kein nur auf der Erde vorkommendes Phänomen, sondern ein kosmischer Flaschenhals, in den die meisten Exozivilisationen in ihrer Entwicklung geraten.
Dieser vielleicht kühn klingenden These liegt eine nüchterne Annahme zugrunde, nämlich die, dass die uns bekannten Naturgesetze im gesamten Universum gültig sind. Und dann geht die Argumentation recht schnell: Jede Zivilisation ist zunächst wie ein Parasit. Sie kann nur von der Physio- und Biosphäre ihres Planeten leben und sich dabei entwickeln. Während die Bevölkerung einer Zivilisation numerisch wächst, verbraucht sie die Ressourcen ihres Planeten. Denn junge und wachsende Zivilisationen müssen auf das zurückgreifen, was sie auf ihrem Planeten vorfinden – z. B. Biomasse. Sie gibt es zwingend auf jedem habitablen Planeten, der eine Zivilisation hervorgebracht hat, da eine intelligente Spezies (wie alle komplexeren Organismen) nur aus einer bereits vorhandenen Biosphäre hervorgehen kann. Auf der Erde basiert Biomasse auf Kohlenstoff, einem im Universum häufig vorkommenden Element. Und auf Kohlenstoff basierende Biomasse eignet sich auf der Erde wiederum als Lieferant pflanzlicher und tierischer Nahrung oder, in Form von Holz oder verrotteter Biomasse (Erdöl, -gas, Kohle), als Bau-, Brenn- und Leuchtstoff. Je mehr davon benötigt wurde, um Bedürfnisse der aufstrebenden menschlichen Zivilisation zu befriedigen, und je mehr Menschen Teil dieser Zivilisation wurden, desto gravierender wurden die Auswirkungen auf die Umwelt.
Auf vielen anderen Planeten sollte dieser Entwicklungsprozess ähnlich verlaufen: Junge Zivilisationen wachsen auf Kosten der Physio- und Biosphäre ihres Heimatplaneten. Solange hinreichend Ressourcen zur Verfügung stehen und das Bewusstsein für die ökologischen Auswirkungen von deren Verbrauch begrenzt ist, geschieht es einfach. Eine Zivilisation braucht wahrscheinlich viel Zeit, bis sie von selbst erkennt, dass sie die Ressourcen ihres Planeten übernutzt oder sein globales Ökosystem schädigt. Dies setzt nämlich umfangreiche Kenntnisse über den Mutterplaneten voraus.
»Die schiere Möglichkeit«, so die Ökonomin Lisa Herzog, »dass die Spezies Mensch zu einer Bedrohung für das Ökosystem insgesamt werden konnte, wäre für klassische liberale Denker wie John Locke oder Adam Smith kaum vorstellbar gewesen.« Damals, so Herzog weiter, konnte sich kein liberaler Denker je vorstellen, dass es einst »Aufgabe der Menschheit sein konnte, sich um die Erde als Ganzes zu kümmern […]. ›Die Erde‹ war für die meisten Menschen sowieso eine vollkommen abstrakte Vorstellung.«9 Um ihren Planeten und dessen Begrenztheit zu erfassen, benötigte Homo sapiens ungefähr 299.950 Jahre. Erst in den 1970ern begann diese Erkenntnis kollektiv zu reifen. Viel früher hätten sie es nicht wissen können, denn ihnen fehlten die Technologie und das Wissen, um zu erkennen, wie groß und ergiebig die Erde ist und dass ökologische Schwellenwerte in ihrer Biosphäre versteckt sind.
Jede Zivilisation im Universum verändert durch den Verbrauch der Ressourcen ihres Planeten die Umwelt und Lebensbedingungen ihres Planeten, und Naturgesetze verlangen, dass jede aufstrebende Zivilisation ein »Feedback« ihres Planeten erhält. Zivilisationen und Planeten können sich im Normalfall nicht getrennt voneinander entwickeln; sie verändern sich gegenseitig, und das Schicksal einer Zivilisation hängt davon ab, wie sie die Ressourcen ihres Planeten nutzt, welches Feedback sie bekommt und wie sie darauf reagiert.
Wie kann sie darauf reagieren? Logisch betrachtet, sind folgende Möglichkeiten die wahrscheinlichsten:
Reaktion 1: Die Zivilisation nimmt das Problem nicht wahr, wenn es eingetreten ist, und reagiert nicht. Dieser Fall tritt vor allem ein, wenn sich die ökologischen Veränderungen lange schleichend vollziehen (wie die Bodenerosion, die Verknappung einer Ressource, das Artensterben oder das sich wandelnde Klima auf der Erde) und keine Erfahrungen mit den Vorgängen vorhanden sind. Sobald ein ökologischer Schwellenwert überschritten ist (auf der Erde z. B. eine Erwärmung um über zwei Grad Celsius), eskalieren die Veränderungen.
Reaktion 2: Die Zivilisation nimmt das Problem wahr. Sie reagiert, doch falsch. Die Maya erkannten, dass sich Trockenperioden mehrten und dehnten – und wurden aktiv: Sie opferten dem in Wasserlöchern hausenden Regengott Chaac das Blut vieler Menschen (oft das von Kindern), um als Gegenleistung Regen und Fruchtbarkeit zu erhalten. Blut war bei den Maya u. a. ein Symbol für Fruchtbarkeit: Berührte es den Boden, erwuchs daraus Leben. Stets gibt das jeweilige Weltbild die Mittel vor, mit denen eine Zivilisation Probleme zu lösen versucht.
Reaktion 3: Die Zivilisation nimmt das Problem wahr, kennt die angemessene Lösung, reagiert aber zu langsam. Womöglich gibt es in ihr gegenläufige Interessenfraktionen, wodurch eine effektive Umsetzung hinausgezögert oder vereitelt wird. Es kann aber auch sein, dass die Dynamik der Veränderungen groß ist und die Reaktion der Zivilisation in Relation dazu zu langsam ist.
Reaktion 4: Die Zivilisation erkennt das Problem, kennt die angemessene Lösung und setzt sie spät, aber nicht zu spät um. Schäden und Verluste entstehen. Sie werden umso größer, je mehr Zeit die Umsetzung der geeigneten Mittel und die Entfaltung ihrer Wirkung benötigte. Letztlich kann sich die Zivilisation jedoch erholen und hat die richtigen Lehren gezogen.
Reaktion 5: Die Zivilisation erkennt das Problem, kennt die angemessene Lösung und setzt sie rasch um.
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Bevölkerung die Interaktion zwischen ihrer aufstrebenden Zivilisation und ihrem Planeten schadlos übersteht, ist also eher gering. Hoch ist sie nur, wenn die Populationsgröße der Bevölkerung, gemessen an der ökologischen Tragfähigkeit ihres Planeten, gering ist.
Was bedeuten nun die fünf Reaktionspfade für das Schicksal der jeweiligen Zivilisation? Frank et al. leiteten vier mögliche Szenarien her, die bei einer zivilisatorischen Entwicklung auftreten können – gleich ob sie sich auf der Erde oder auf einem anderen Planeten vollzieht. Entscheidend ist, dass sich Zivilisation und Planet gegenseitig beeinflussen:10
Szenario 1: Absterben. Die Bevölkerung und der Zustand ihres Planeten wandeln sich sehr schnell. Zunächst steigt die Bevölkerung an und sinkt dann rapide, da die sich verändernden Umweltbedingungen das Überleben erschweren. Schließlich wird ein stabiles Bevölkerungsniveau erreicht, das mit der ökologischen Kapazität des Planeten harmoniert. Die Zivilisation hat nun deutlich weniger Mitglieder.
Szenario 2: Kollaps ohne kollektiv veränderte Verhaltensweise. Sowohl die Bevölkerung als auch die Ökosysteme wandeln sich rapide, bis die Bevölkerung einen Höhepunkt erreicht hat und dann rapide abnimmt. Die Zivilisation bricht zusammen, ihre Spezies stirbt jedoch nicht aus und kann sich erholen. Kann sie sich erholen, sind Oszillationen möglich: Die Zivilisation durchlebt das Auf und Ab mehrmals, bis sie die richtigen Schlussfolgerungen zieht – oder endgültig scheitert.
Szenario 3: Kollaps trotz kollektiv veränderter Verhaltensweise. Die Bevölkerung nimmt zu und die ökologische Tragfähigkeit ab, die Zivilisation erkennt, dass sie ein Problem verursacht, und ergreift Maßnahmen. Die Entwicklung scheint sich für eine Weile zu stabilisieren, doch stellt sich die Reaktion als zu spät heraus, und die Bevölkerung bricht letztlich zusammen. Sie handelte richtig, aber zu spät.
Szenario 4: Nachhaltigkeit. Bevölkerung und Umweltbelastung steigen, aber schließlich kommen beide zu konstanten Werten ohne katastrophale Auswirkungen. Dieses Szenario tritt auf, wenn die Bevölkerung erkennt, dass sich ihre Entfaltung negativ auf den Planeten auswirkt, und rechtzeitig vom Verbrauch von Ressourcen mit hohem ökologischen Impact auf Ressourcen mit geringem Impact umschaltet oder ihren Verbrauch hinreichend reduziert. Die Zivilisation kann nun fortdauern und sich entwickeln.
Die Reaktionsmöglichkeiten (1) und (2) sind mit den ersten beiden Szenarien kompatibel. Reaktionsmöglichkeit (3) passt zum dritten Szenario und aus den Reaktionsmöglichkeiten (4) oder (5) folgt letztlich der nachhaltige Entwicklungspfad:
Reaktion (R)
Szenario (S)
1Zivilisation handelt nicht
1  Absterben2  Kollaps ohne Wandel
2Zivilisation handelt falsch
3Zivilisation handelt richtig, aber zu spät
3  Kollaps trotz Wandel
4Zivilisation handelt richtig, aber spät
4  Nachhaltigkeit – entweder nach vorangegangenen Schäden (R 4) oder ohne sie (R 5)
5Zivilisation handelt richtig
Tabelle 1   Junge Zivilisationen entwickeln sich auf Kosten ihrer Biosphäre. Je größer ihre destruktiven Einwirkungen auf die natürliche Umwelt ihres Planeten sind, desto mehr ist die Entwicklung der Zivilisation gefährdet. Sie hat nun verschiedene Möglichkeiten, auf die Vorgänge zu reagieren (R), und ihre jeweilige Reaktionsweise beeinflusst ihre künftige Entwicklung (S).
Eine Zivilisation kann theoretisch auch einen kombinierten Entwicklungspfad einschlagen und zunächst nicht (R 1) oder falsch reagieren (R 2), dann angemessen, aber entweder zu spät (R 3) oder spät (R 4).
Wie auch immer, aus den Optionen folgt, dass eine sich nachhaltig entwickelnde Zivilisation möglich ist. Daraus folgt aber auch, dass eine nachhaltige Entwicklung nicht selbstverständlich ist und das Risiko des Scheiterns groß. Darum sprechen Frank et al. auch von einem kosmischen Flaschenhals der zivilisatorischen Entwicklung: Die meisten Exozivilisationen bleiben in ihm stecken. Passiert eine Zivilisation den Flaschenhals, kann ihre technische und kulturelle Weiterentwicklung voranschreiten. Das verleiht dem Studium und der Herausforderung einer nachhaltigen Entwicklung eine neue Bedeutung. Denn die ökologischen Anpassungsprobleme, vor denen die Menschheit steht, sind folglich mitnichten ungewöhnlich, sie werden unter den Exozivilisationen eher die Norm sein. Wir Menschen wären demnach also nicht über die Maßen närrisch, weil wir unseren Planeten ruinieren und unsere Entwicklung riskieren. Wir befänden uns lediglich in einem bestimmten Entwicklungsstadium – dem »Anthropozän« –, das sich seiner Logik nach auch woanders ereignet (hat).
Gleichwohl könnte die Menschheit in diesem Stadium bzw. im Flaschenhals stecken bleiben – und das implizierte ein großes Maß an Leid. Wie aber könnte sie das vermeiden? Das ist das eigentliche Thema dieses Buches.
Und das sind die wichtigsten Thesen dieses Buches: Der wichtigste Grund, weshalb die Menschheit in den Flaschenhals geraten ist, sind die negativen Effekte der Landwirtschaftliche Revolution. Ihre Produkte – die Land- und Viehwirtschaft – haben am meisten zu den globalen Umweltveränderungen der letzten Jahrtausende beigetragen, und zusammen mit dem Klimawandel ist dies noch heute so. Der vielversprechendste Ausweg ist demnach die post-Landwirtschaftliche Revolution, d. h. das Ende der klassischen Land- und Viehwirtschaft. Die gute Nachricht lautet: Sie hat bereits begonnen – und sie ist nur Teil eines noch größeren, sie integrierenden Prozesses. Die schlechte Nachricht lautet, dass sie zu spät begonnen haben oder sich zu langsam vollziehen könnte.
Ich meine, dass von der globalen Land- und Viehwirtschaft die gravierendsten Nebeneffekte ausgehen, die die Menschheit in den Flaschenhals gezwängt haben. Warum aber ist das so? Die Frage ist wichtig genug, um sie genauer zu untersuchen. Möchte man nämlich ein Problem lösen (z. B. wie die Menschheit den Flaschenhals passieren könnte), müssen zunächst die wichtigsten Faktoren identifiziert und überzeugend begründet werden, die das Problem verursacht haben (hier: die Land- und Viehwirtschaft), bevor eine Lösung abgeleitet werden kann (hier: die Postlandwirtschaftliche Revolution).
Dieses Vorgehen führt uns zunächst in die Zeit der Landwirtschaftlichen Revolution.
Kapitel 1
Die LandwirtschaftlicheRevolution
Mit der Landwirtschaftlichen Revolution veränderte sich die Welt. Genauer: die natürliche Umwelt und die soziale Welt der Menschen. Erst mit der Einführung landwirtschaftlicher Praktiken konnten verschiedene Zivilisationen entstehen, die im Verlauf von Jahrtausenden anfingen, sich allmählich zu einer menschlichen Zivilisation zu vereinheitlichen – ein Prozess, der gegenwärtig andauert. Und auch die globale Umwelt wurde durch die Landwirtschaft zunehmend vereinheitlicht: Terrestrische Ökosysteme wurden vereinfacht, weltweit wurden die gleichen Nutztiere gehalten und dieselben Nutzpflanzen angebaut – und selbst diese Arten wurden überall biologisch neu gestaltet. Vor 12.000 Jahren setzten eine gesellschaftliche und eine ökologische Transformation ein, die mit dem brachen, was Millionen Jahre davor natürlich, normal und vertraut gewesen war. Die Landwirtschaftliche Revolution war der Beginn der Erde 3.0, und sie hob die Menschen auf das zweite Level ihrer Existenz, indem sie sie von den Jägern und Sammlern der Steinzeit zu Bauern eines neuen Zeitalters machte. Für den Anthropologen Carel Schaik und den Historiker Kai Michel ist dieser Übergang als »die größte Verhaltensänderung zu bezeichnen […], die je eine Tierart auf diesem Planeten vollzogen hat«.11

Die Disruption der Steinzeit und der Natur

Schon einmal, vor Jahrhunderttausenden, waren Menschen disruptiv, als sie ein neues Werkzeug erfanden: die Fackel. Sie war nicht nur ein wirksames Mittel, um Tiere auf Distanz zu halten, sie konnte auch als Waffe eingesetzt werden, mit der man Tiere in eine bestimmte Richtung treiben und in Fallen locken konnte. Mit der Fackel veränderte der Mensch seine Stellung in der Natur, da er nun etwas nutzen konnte, wovor alle Tiere Angst hatten. Zuvor mussten Menschen jedoch ihre eigene Urangst vor dem Feuer überwinden, und dabei halfen ihnen vermutlich ihre Neugier sowie ihre noch größere Angst vor den sie ständig bedrohenden Raubtieren. Wie auch immer: Mit der Fackel wurden Menschen von Gejagten zu Jägern. Wo Menschen mit Fackeln waren, mussten Tiere weichen. Auch brannten Menschen nun Flächen ab, damit jene Pflanzen besser wuchsen, die sie sammelten. Aborigines legten schon vor Zehntausenden Jahren Flächenbrände im australischen Outback, um anschließend verbranntes Fleisch aufzusammeln. Indianer brannten jahrtausendelang regelmäßig die Prärie ab, damit dort keine Bäume wachsen, stattdessen aber Bisons weiden konnten, die sie dann (u. a. mit Fackeln) jagten. Mit Fackeln gestalteten schon Menschen der Steinzeit Landschaften nach ihren Bedürfnissen.
Mit der Nutzung des Feuers veränderten sie aber nicht allein ihre Stellung in der Natur und natürliche Landschaften, auch ihr Sozialleben wandelte sich: Feuer spendete Licht, weshalb sich die Wachzeiten der Menschen verlängerten. Nun konnte man sich im Dunkeln noch um ein Feuer versammeln, anstatt sich bei Anbruch der Dämmerung zum Schlaf zusammenzukauern. Feuer spendete Wärme, und ohne die Zähmung des Feuers wäre es Homo erectus und nach ihm Homo sapiens nicht möglich gewesen, Afrika zu verlassen und kühlere Breitengrade jenseits der Tropen und Subtropen zu bewohnen. Mit der Fackel veränderte der Mensch folglich auch seine Stellung in der Welt, denn mit ihr konnte er sich globalisieren.
Und doch waren diese damaligen Disruptionen bloß ein laues Vorspiel.

Die Disruption der Steinzeit

Die zweite Disruption des Menschen stellte alles zuvor Gewesene in den Schatten. Formal steht sie für den Übergang vom Paläolithikum zum Neolithikum, d. h. von der Alt- zur Neusteinzeit. Diese Bezeichnungen jedoch sind fade und werden dem Umfang des tatsächlichen Übergangs nicht gerecht. Faktisch vollzog sich mit der zweiten Disruption eine gewaltige Transformation, die angemessener hervorgehoben wird, wenn man vom Ende der Steinzeit und vom Beginn eines neuen menschlichen Zeitalters, der Agrarzeit, spricht – oder eben vom Ende der Erde 2.0 und dem Anbruch einer neuen irdischen Epoche, der Erde 3.0. Denn der Mensch wandelte sich in der Agrarzeit vom Jäger zum Terraformer und vollbrachte, was in den 560 Millionen Jahren davor keine Lebensform auf der Erde vollbracht hatte: Er gestaltete die Erde neu, sodass sie zunehmend besser an seine Bedürfnisse angepasst war. Damit schuf er eine Technosphäre.
All dies begann mit der Landwirtschaft. Denn die Landwirtschaft begann mit der Zerstörung von allem, was dort wuchs, wo das Land bewirtschaftet werden sollte. Wo der Acker werden und bleiben sollte, musste Natur weichen und durfte nicht mehr zurückkehren. Auf diesen heute liebevoll »Kulturlandschaften« genannten Flächen begann vor ungefähr 12.000 Jahren die großräumige Umgestaltung der Biosphäre, die im Grunde eine große ökologische Vereinfachung ist: Die Landwirtschaft vereinfacht Ökosysteme, indem sie natürliche und artenreiche biologische Gemeinschaften durch einfache, vom Menschen geschaffene Landschaften ersetzt, in denen in der Regel nur eine Pflanzenart wachsen soll – und selbst die wurde von Menschen geschaffen. Auch Weideland wurde nun eine vereinfachte Landschaft, dazu geschaffen, nur eine Tierart zu nähren – und auch diese wurde vom Menschen kreiert.
Vermutungen über jene Gründe, die Menschen dazu bewogen haben, eine Landwirtschaft einzuführen und Landschaften zu vereinfachen, gibt es mehrere: Der besondere Geschmack von Brot12 oder die den Geist überwältigende Wirkung von Bier,13 die wohl beide schon vor dem systematischen Anbau von Getreide genossen wurden, zählen ebenso dazu wie die These von der Überjagung. Gleich, welcher Kontinent oder welche Insel von Menschen besiedelt wurde: Sie brachten Fackeln, Speere und knurrende Mägen mit, und kurze Zeit nach ihrer Ankunft begannen die großen und essbaren Tierarten auszusterben.14 Auch der Wunsch, ein leichteres Leben zu führen, ist als Grund für die Landwirtschaftliche Revolution genannt worden. Anstatt ihren Nahrungsmitteln hinterherzuwandern, bauten Sammler selbige fortan vor ihren Hütten an (Pflanzen), sperrten sie in Pferche (Tiere) und wurden nun sesshafte Bauern. Komfortmäßig war die Landwirtschaft jedoch ein deutlicher Rückschritt.
Argumente dafür nennt Samuel Bowles: Die frühen Bauern waren kleiner und kränklicher als Jäger und Sammler, da ihre Ernährung einseitiger war und überdies in Ermangelung ausgereifter Werkzeuge härter erarbeitet werden musste. Nicht zuletzt waren die Ernten weniger produktiv. Die späteren Bauern bauten ausschließlich neu gezüchtete Pflanzensorten an, welche die Natur so nicht hervorgebracht hatte. Diese waren das Resultat jahrtausendelanger künstlicher Selektion durch den Menschen. Die frühen, ursprünglichen, unveränderten Sorten jedoch hatten einen erheblich geringeren Ertrag pro Sameneinheit. Außerdem waren die Verluste bei der Lagerung damals hoch und betrugen etwa zehn Prozent bei Getreide und mindestens doppelt so viel bei Maniok und Knollenfrüchten.15 »Entgegen früherer Annahmen«, so der Politologe und Direktor des agrarwissenschaftlichen Programms der Yale University, James Scott, »ähneln die Jäger und Sammler – auch in den marginalen Refugien, die sie heute noch bewohnen – mitnichten den ausgemergelten, kurz vor dem Hungertod stehenden Desperados der Folklore. In Wirklichkeit waren Jäger und Sammler nie in so guter Verfassung – was ihre Ernährungsweise, ihre Gesundheit und ihre Muße angeht. Ackerbauern hingegen sahen niemals so schlecht aus – was ihre Ernährungsweise, ihre Gesundheit und ihre Muße betrifft.«16 Unter- oder fehlernährt, konnten die frühen Bauern ihre Populationen darum in den ersten Jahrhunderten nach der Landwirtschaftlichen Revolution noch nicht mehren.
Da die Landwirtschaft innerhalb weniger Jahrtausende an mindestens sieben verschiedenen Orten in Süd-, Mittel- und Nordamerika sowie in Afrika, im Nahen und Fernen Osten und auf Papua-Neuguinea unabhängig voneinander eingeführt wurde, gab es womöglich unterschiedliche Gründe für die Einführung landwirtschaftlicher Praktiken.
Ein Motiv dürfte aber in jedem dieser Fälle eine Rolle gespielt haben: der Wunsch, ein sichereres Leben zu führen. Die einigermaßen gesicherte Verfügbarkeit einer oder zweier wilder Spezies, die für das Überleben der Menschen wichtig waren, sollte das Hungerrisiko und die Unsicherheit reduzieren.17 Weniger Risiko, mehr Sicherheit – dafür konnte man dann auch Mehrarbeit in Kauf nehmen, und es ist eine Verkehrung der Geschichte, dass die Land- und Viehwirtschaft heute für beides steht: für Risiko und Unsicherheit.
Interessanter als die Gründe für die Landwirtschaftliche Revolution, sind darum ihre Folgen – und die betrafen einmal das Sozialleben und die Gesellschaft, zum anderen die Natur. In beiden Fällen waren die disruptiven Umwälzungen so beträchtlich, dass die Bezeichnung »Revolution« für den Übergang vom Sammeln und Jagen zur Landwirtschaft fürwahr angemessen ist.
Mit diesem Übergang erfolgte nämlich eine gleich dreifache Disruption der Vergangenheit. Diese zeigte sich im Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit und vom Leben in der Natur zum Leben außerhalb der Natur auf künstlichen Inseln sowie später vom Leben in Gemeinschaften, in denen alle Mitglieder einander vertraut waren, zum Leben in Gesellschaften, in denen so unübersichtlich viele Menschen zusammenlebten, dass man einander meistens fremd blieb. Außerdem mussten die neuen Gesellschaften anders organisiert werden, um das geordnete Zusammenleben vieler möglich machen zu können. Mit der neuen Lebensweise entstand ein neuer Menschentypus, der sich radikal vom vorherigen unterschied. »Wenn wir«, so der Historiker Alfred Crosby, »aus unserer heutigen Perspektive die Sumerer [die den Ackerbau vermutlich als erste einführten] mit den Jägern und Sammlern vergleichen, die vor oder auch nach ihnen gelebt haben, werden wir feststellen, daß zwischen diesem allerersten Kulturvolk und jedweder Art von Steinzeitmenschen ein größerer Unterschied besteht als zwischen den Sumerern und uns. Wenn wir Jäger und Sammler betrachten, sehen wir Menschen vor uns, die zutiefst ›anders‹ sind.«18 Im heutigen Irak, wo die Sumerer lebten, wurden die Lebensweise und Mentalität der Steinzeit zerstört und durch etwas qualitativ anderes ersetzt. Menschen bauten nun Häuser und Dörfer, erfanden Töpfe und Teller, das Alphabet, religiöse Systeme, die Metallurgie, Rechtsprechung, Berufe und vieles mehr, das heute noch Bestand hat. Zugleich legten die Sumerer die ersten Anthrome an, d. h. menschengemachte Lebensräume.
Als Bauern lebten sie nun ganzjährig auf künstlichen Inseln, denn das bäuerliche Leben wurde ja erst durch die Ausgrenzung der wild wachsenden Natur möglich. Die Bauern, so der Historiker Yuval Harari, »fällten Bäume, gruben Kanäle, legten Äcker an, bauten Hütten, pflügten Ackerfurchen und pflanzten Obstbäume in ordentlichen Reihen. Dieser künstliche Lebensraum war nur für die Menschen und ›ihre‹ Pflanzen und Tiere bestimmt und wurde oft mit Hecken und Mauern umzäunt. Die bäuerlichen Familien taten alles, um Unkraut oder Wildtiere fernzuhalten.«19 Und das war keine leichte Arbeit, im »Vergleich zum Sammeln und Jagen ist der Getreideanbau Schwerstarbeit, die legendäre Kainsarbeit ›im Schweiße des Angesichts‹. Roden, Unkraut jäten, Steine vom Feld auflesen, Düngen, Bewässern und Pflügen […] nach der Ernte mussten sie das Getreide dreschen, mahlen und sieben, bevor sie es mit Wasser zu Brei verrühren oder als Teig zu Fladen backen konnten.«20 Beschwerlich setzte damals in zunächst geringem Ausmaß die Umgestaltung der Erde nach den Bedürfnissen der Menschen ein.
Waren das Beackern der Felder und das Halten von Tieren schon nicht einfach, lagen die eigentlichen Schwierigkeiten jedoch woanders: Man musste einen Teil der Ernte zurücklegen, um im nächsten Jahr säen zu können, und es musste dafür gesorgt werden, dass niemand diese Reserve angriff. Außerdem musste man gesetzlich regeln, wer die Eigentumsrechte an der Ernte besaß – obwohl jeder in den sozialen Verhältnissen zuvor das Recht zum Sammeln hatte und an sich nehmen konnte, was er fand. Es war also weniger schwierig, die Landwirtschaft zu erfinden als vielmehr die Gesellschaft, die sie möglich machte.
Um die Landwirtschaft zu erfinden, musste man lediglich aus Wildgräsern Samenkörner schütteln, mit simplen Werkzeugen in den Boden einarbeiten und vier bis fünf Vollmonde abwarten. Die eigentlichen Schwierigkeiten traten beim systematischen Großanbau, bei der Pflege der Felder und vor allem nach der Ernte auf: Es musste Privatbesitz in Form von Ernteerträgen, Vieh und der eigenen Wohnung eingeführt und abgesichert werden. Letzteres gleich doppelt: zum einen juristisch, gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft, damit sie sich unverdienterweise nicht nahmen, was andere erarbeitet hatten. Zum anderen militärisch, gegenüber den Räubern anderer Gemeinschaften – und Räuber gab es damals so zahlreich wie nie zuvor. Denn Bauern ziehen Räuber an, und aus Bauern werden Räuber.
Homo erectus und Homo sapiens sammelten Nahrung, wanderten dabei umher, verließen Afrika und breiteten sich aus. Sie taten dies 2,3 Millionen Jahre lang, und Hunderte Millionen Menschen lebten so in diesem Zeitraum. Dann führten einige Menschen die Landwirtschaft ein – und nach nur fünf Jahrtausenden gründeten sich erst Städte und dann Riesenstädte wie Alexandria, Rom oder Babylon. Während die menschliche Geschichte zuvor wenige bedeutsame Ereignisse kannte – eines von ihnen war die Nutzbarmachung des Feuers – und wie ein langer, ruhiger Fluss durch die Zeit mäandrierte, glichen die Jahrtausende nach den ersten Stadtgründungen einem rasenden, wilden, gurgelnden Fluss mit Untiefen, Stromschnellen, Schluchten und Wasserfällen. Kurz: Die Geschichte wurde nun ein Abenteuer. Und sie wurde auf neue Weise grausam. Grausam war sie zuvor gewesen, wenn Raubtiere wehrlose, verängstigte Menschenkinder fraßen. Grausam wurde sie nun, weil sich Menschen gegenseitig überfielen.
Das taten Menschen zwar schon als Jäger und Sammler. Die Mortalitätsrate durch Überfälle, Konflikte oder Kriege zwischen Stämmen lag im präkolumbianischen Amazonien bei etwa dreißig Prozent der Gesamtbevölkerung. Das bedeutet, dass damals jeder dritte Mensch erschlagen, erwürgt, vergiftet oder ertränkt wurde. Die Gründe für die Gewaltausbrüche wiederholten sich: Rache (z. B. für Frauenraub), Wiederherstellung der Ehre, Territorialansprüche und Eifersucht.21 Im Allgemeinen konnten sich Stämme aber aus dem Weg gehen, wenn sie mobil waren und das Gebiet groß und fruchtbar genug war, um ausweichen zu können.
Nun aber wurden die Menschen bäuerlich, sesshaft und konnten einander nicht mehr ausweichen. »Die Menschen hatten sich seit jeher bekämpft, doch in den bäuerlichen Gesellschaften waren mehr Menschen beteiligt und die Waffen tödlicher, da die Kämpfer sich mit Metallspeeren, Kampfwagen und Belagerungsmaschinen ausrüsteten.«22