Vom Ende eines Sommers & Weißdornzeit - Melissa Harrison - E-Book

Vom Ende eines Sommers & Weißdornzeit E-Book

Melissa Harrison

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Beschreibung

Eine packende Erzählung über das Erwachsenwerden und eine bewegende Geschichte über Liebe, Familie, Freundschaft und Verlust – zwei unvergessliche Romane von Melissa Harrison in einem Band! »Vom Ende eines Sommers« England in den 1930-Jahren: Die vierzehnjährige Edie Mather lebt mit ihrer Familie auf Wych Farm im ländlichen Suffolk. Das Leben auf dem Land ist hart, die Schatten von Weltwirtschaftskrise und Erstem Weltkrieg hängen über der verarmten Gemeinde. Als die Journalistin Constance Fitz Allen aus London anreist, um eine Kolumne über und Lobrede auf das Landleben zu schreiben, empfindet Edie von Anfang an Bewunderung für die extrovertierte Frau in Männerhosen. Doch die junge Reporterin aus der Großstadt will nicht nur dokumentieren, sie will missionieren. Und sie bringt politische Ideen mit, die bald zu einem Flächenbrand in ganz Europa führen. Atmosphärisch und bildstark erzählt ›Das Ende eines Sommers‹ vom Erwachsenwerden und ist zugleich packendes Zeitportrait und eine Verneigung vor der Schönheit der Natur. »Weißdornzeit« Das Schwarz des Himmels geht in Blau über, der Duft des Weißdorns liegt in der Luft und die ersten Vögel singen, als es auf einer Landstraße zu einem schrecklichen Unfall kommt – und die Schicksale von vier Menschen kollidieren. Howard und Kitty sind nach dreißig gemeinsamen Jahren in London in das kleine Dorf Lodeshill gezogen. Während Kitty glücklich zu sein scheint, sehnt Howard sich nach dem pulsierenden Leben in der Metropole zurück. Der Einzelgänger Jack war einst ein Rebell, der seit jeher nur eines will: in Freiheit leben. Mit seinem Rucksack macht er sich auf den Weg Richtung Norden. Jamie ist vor neunzehn Jahren in Lodeshill geboren. Seine Kindheit hat er damit verbracht, mit seinem Großvater angeln zu gehen und durch die Wälder zu streifen; heute träumt er davon, der dörflichen Enge zu entkommen. Es sind vier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch das gleiche suchen: einen Platz im Leben.

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Seitenzahl: 732

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über die Bücher

Eine packende Erzählung über das Erwachsenwerden und eine bewegende Geschichte über Liebe, Familie, Freundschaft und Verlust – zwei unvergessliche Romane von Melissa Harrison in einem Band!

»Vom Ende eines Sommers«

England in den 1930-Jahren: Die vierzehnjährige Edie Mather lebt mit ihrer Familie auf Wych Farm im ländlichen Suffolk. Das Leben auf dem Land ist hart, die Schatten von Weltwirtschaftskrise und Erstem Weltkrieg hängen über der verarmten Gemeinde.

Als die Journalistin Constance Fitz Allen aus London anreist, um eine Kolumne über und Lobrede auf das Landleben zu schreiben, empfindet Edie von Anfang an Bewunderung für die extrovertierte Frau in Männerhosen. Doch die junge Reporterin aus der Großstadt will nicht nur dokumentieren, sie will missionieren. Und sie bringt politische Ideen mit, die bald zu einem Flächenbrand in ganz Europa führen.

Atmosphärisch und bildstark erzählt ›Das Ende eines Sommers‹ vom Erwachsenwerden und ist zugleich packendes Zeitporträt und eine Verneigung vor der Schönheit der Natur.

»Weißdornzeit«

Das Schwarz des Himmels geht in Blau über, der Duft des Weißdorns liegt in der Luft und die ersten Vögel singen, als es auf einer Landstraße zu einem schrecklichen Unfall kommt – und die Schicksale von vier Menschen kollidieren. Howard und Kitty sind nach dreißig gemeinsamen Jahren in London in das kleine Dorf Lodeshill gezogen. Während Kitty glücklich zu sein scheint, sehnt Howard sich nach dem pulsierenden Leben in der Metropole zurück. Der Einzelgänger Jack war einst ein Rebell, der seit jeher nur eines will: in Freiheit leben. Mit seinem Rucksack macht er sich auf den Weg Richtung Norden. Jamie ist vor neunzehn Jahren in Lodeshill geboren. Seine Kindheit hat er damit verbracht, mit seinem Großvater angeln zu gehen und durch die Wälder zu streifen; heute träumt er davon, der dörflichen Enge zu entkommen. Es sind vier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch das gleiche suchen: einen Platz im Leben.

© Melissa Harrison

Über die Autorin und den Übersetzer

Melissa Harrison ist Schriftstellerin, Kritikerin und Kolumnistin, u.a. für The Times, die Financial Times und den Guardian. Für ihren hochgelobten Roman ›Vom Ende eines Sommers‹ (DuMont 2021) erhielt sie den European Union Prize for Literature 2019.

Werner Löcher-Lawrence geboren 1956, ist als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autor*innen zählen u.a. John Boyne, Meg Wolitzer, Patricia Duncker, Hisham Matar, Nathan Englander, Nathan Hill und Hilary Mantel.

Melissa Harrison

Vom Ende eines Sommers & Weißdornzeit

Zwei Romane in einem Band

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Vollständige E-Book-Ausgabe der auf Deutsch im DuMont Buchverlag erschienenen Werke ›Vom Ende eines Sommers‹ (© 2021) und ›Weißdornzeit‹ (© 2022)

E-Book 2024

DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Die englischen Originalausgaben erschienen 2018 unter dem Titel ›All Among the Barley‹ (© Melissa Harrison, 2018) und 2015 unter dem Titel ›At Hawthorn Time‹ (© Melissa Harrison, 2015) bei Bloomsbury Publishing, London

© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence

Illustrationen in ›Weißdornzeit‹: © Lucy Fitzmaurice

Covergestaltung der abgebildeten Einzelromane: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverillustration ›Vom Ende eines Sommers‹: What to Look for in Summer by Charles Tunnicliffe © Ladybird Books Ltd., 1960

Coverillustration ›Weißdornzeit‹: The Farm by Charles Tunnicliffe © Ladybird Books Ltd., 1958

Satz: Angelika Kudella, Köln

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-7558-1048-3

www.dumont-buchverlag.de

Melissa Harrison

Vom Endeeines Sommers

Roman

Aus dem Englischen vonWerner Löcher-Lawrence

Die Vergangenheit ist nicht tot, sondern lebt in uns weiter und wird auch in der Zukunft noch da sein, die wir heute gestalten helfen.

Prolog

LETZTE NACHT LAG ICH wieder wach und musste an den Tag denken, da ich in Hulver Wood in die Jagd geriet. Ich war noch ein kleines Mädchen, es war Dezember wie heute, und ich hatte mich hinaus in den eiskalten Nachmittag gewagt, um ein paar grüne Zweige für das Haus zu schneiden. Keiner von den anderen machte sich viel aus Schmuck, aber ich liebte es, wie das Licht des Feuers auf den glänzenden Stechpalmenblättern spielte, die ich über den Kamin im Wohnzimmer hängte.

Der Frost hatte die Ackerfurchen verhärtet, und an den Rändern der Felder wuchs blasiges, undurchsichtiges Eis aus den Wagenspuren. Ich hatte einen Sack und eine Gartenschere dabei, und meine kalten, steifen Finger steckten in einem Paar alter Arbeitshandschuhe meines Bruders. Eine weiße Eule begleitete mich, etwa auf Kopfhöhe flog sie auf der anderen Seite der Hecke. Vielleicht hoffte sie darauf, dass ich eine warmblütige Kreatur daraus hervorscheuchte.

Es war ein trüber Nachmittag in Hulver Wood, nicht ein Vogel war zu hören. Ich drang tiefer und tiefer in den Wald vor, blieb bei einem Stechpalmendickicht mit blutroten Beeren stehen und bewegte die Zehen in meinen Stiefeln auf und ab, um gegen die schmerzende Kälte der Erde anzukämpfen.

Ganz in der Nähe wurde ein Jagdhorn geblasen, der Ton schnitt durch die Dezemberluft. Mit klopfendem Herzen stopfte ich die stachligen Blätter in den Sack und verknotete ihn notdürftig. Aber die Jäger waren schon viel zu nahe, ich sah sie oben von der Böschung von The Lottens auf mich zuströmen, die Hunde vorweg und voller Begeisterung hinter ihnen die rosa und rot gekleideten Reiter, die ihre Pferde mit donnerndem Hufschlag vorantrieben.

»Weg da! Weg!«, schrie der Hundeführer, als die kläffende Meute den Wald erreichte. »Himmel noch mal, Mädchen, verschwinde!«

Aber ich erstarrte und zitterte am ganzen Leib, als sich die Hunde wie anbrandendes Wasser um mich sammelten, bevor meine Beine mich davontragen konnten.

I

ICH HEISSE EDITH JUNE MATHER und wurde nicht lange nach dem Großen Krieg geboren. Mein Vater besaß sechzig Morgen Land, die Wych Farm, die nicht weit von hier liegt, glaube ich. Vor ihm beackerte mein Großvater Albert das Land und vor ihm dessen Vater, der noch mit Ochsen pflügte und die Saat mit der Hand ausbrachte. Ich möchte mir gern vorstellen, dass mein Bruder Frank oder vielleicht einer seiner Söhne heute die Farm betreibt. Ich war mein Leben lang nicht mehr dort, und wegen all der Dinge, die damals geschehen sind, habe ich nie etwas darüber in Erfahrung bringen können.

Ich war ein merkwürdiges Kind, das sehe ich heute – ganz sicher nach den stoischen, alltagsorientierten Maßstäben der Bauersleute dort. Ich vertiefte mich lieber in Bücher, als dass ich mit anderen Kindern spielte, und wurde oft von meinen Eltern gescholten, weil ich die mir aufgetragenen Dinge nur halb erledigte, abgelenkt durch die reichere, lebendigere Welt in meinem Kopf. Und manchmal redete ich, ohne es zu wollen, laut mit mir selbst, für gewöhnlich, um einen unliebsamen Gedanken oder eine ungute Erinnerung loszuwerden. Vater tippte sich dann mit dem Finger an den Kopf und meinte, ich sei »nicht ganz bei Trost«, nur aus Spaß, da bin ich sicher, aber vielleicht hatte er ja, im Nachhinein betrachtet, recht.

Ich war dreizehn Jahre alt damals, 1933, als unsere Gegend von der berühmt-berüchtigten Dürre heimgesucht wurde. Sie kam auf leisen Sohlen: Die Heuernte verlief noch bestens, und als die Schober gefüllt waren, freute sich mein Vater, weil er wusste, das Heu war trocken und würde nicht verderben, was bedeutete, dass die Pferde genug Futter hatten, um über den Winter zu kommen, und wir nichts zukaufen mussten. Aber ohne jeden Regen trockneten die Felder aus, und bis August war selbst der Pferdeteich beim Haus zu einem zähen, grünen Schlammloch geworden. Ich weiß noch, wie John Hurlock, der sich um unsere Pferde kümmerte, eimerweise Quellwasser zu Moses und Malachi schleppte, wenn sie um drei Uhr vom Feld kamen. Als wäre es gestern gewesen, sehe ich, wie gierig und laut die großen Pferde tranken und wie John am Ende die Eimer neu füllte, um Wasser über ihre zuckenden Flanken zu gießen und den weißen Schweiß aus ihrem kastanienbraunen Fell zu waschen. Oh, meine geliebten Tiere, wie sie es vermisst haben müssen, in den kühlen Teich zu steigen und dort ihren Durst zu löschen.

Frank war da schon sechzehn und arbeitete wie ein Erwachsener auf dem Hof mit. Vater baute mittlerweile genauso auf ihn wie auf John. Meine Schwester Mary hatte im Frühjahr ihren Clive geheiratet und bereits einen kleinen Jungen. Einmal in der Woche spannte Mutter unser Pony Meg an und fuhr mit einem Brot oder Pudding hinüber nach Monks Tye, auf der Farm sahen wir jedoch herzlich wenig von meiner Schwester. Und ohne Mary fühlte ich mich in einem seltsamen Schwebezustand, wie in Wartestellung für das, was als Nächstes kommen sollte, wobei ich nicht hätte sagen können, was das sein sollte. Es war ein bisschen wie beim Versteckenspielen, wenn man darauf wartet, gefunden zu werden, das Spiel aber schon viel zu lange dauert.

Natürlich bedeutete die Trockenheit, dass die Weizenernte litt, pro Morgen gab es kaum sechzehn Scheffel.

»Im nächsten Jahr lassen wir Seven Acres brach liegen«, sagte Vater, als John und Doble, unser Stallarbeiter, zum Essen hereinkamen, nachdem das letzte Korn eingebracht war. Es war kein Erntefest, aber es gab Ale, Schinken und einen Boiled-Butter-Pudding, und Mutter hatte aus ein paar Gerstenähren einen kleinen Mann geformt und auf den Küchentisch gelegt. Frank, der mir gegenübersaß, hob bei Vaters Worten alarmiert den Blick. Die Männer nahmen ihre Plätze ein, und John sagte, dass Seven Acres schon im Jahr zuvor brach gelegen habe.

»Willst du mir sagen, wie ich den Hof zu bewirtschaften habe?«, fragte Vater, aber John antwortete nicht. Mutter setzte sich, ich murmelte ein Gebet, und wir begannen zu essen.

Der Herbst jenes Jahres war der schönste, an den ich mich erinnern kann. Vier Wochen über die Erntezeit hinaus blieb das Wetter gut, und nur langsam verließ die Sommerwärme die Erde.

Im Oktober färbten sich die Bäume auf dem Hof gleichsam über Nacht in flammendes Orange, Rot und glänzendes Gold. Es ging kaum ein Wind, um das Laub herunterzublasen, und so bedeckten Wälder und Dickichte das Land wie Kostbarkeiten. Auf den mächtigen Hecken lagen feine Bartflechten um wie ins Bunt hineinemaillierte Hagebutten und Schlehen. Die Erlengehölze entlang des sich dahinwindenden River Stound waren voller Wettersterne und Pfifferlinge, und es roch intensiv nach herbstlicher Fäule. Über Long Piece und The Lottens bot der Himmel ein strenges, äquinoktiales Blau mit Kiebitzschwärmen, die ihre breiten schwarzweißen Flügel aufblitzen ließen.

In der Morgendämmerung versilberte Tau die Spinnenfäden zwischen den Grashalmen, sodass die Pferde Pfade auf den Weiden hinterließen wie langsame Boote auf stehendem Wasser. Überwinternde Drosseln pickten die Beeren von den Wegesrändern, und nachts empfingen die vier großen Ulmen, nach denen der Hof benannt war, die Kaltwetterversammlungen der Krähen.

Der Tau befeuchtete auch die Stoppeln auf den ausgedörrten Feldern und bedeckte sie mit einem höhnischen Grün, das Großvater an die Rasseschafe denken ließ, die einst auf ihnen überwintert hatten.

»Die Wolle lohnt dieser Tage den Aufwand nicht«, sagte Vater. »Ich hab’s dir doch erklärt.«

»Mir gefällt es nicht, gutes Futter zu vergeuden«, sagte der alte Mann und pochte mit seinem Stock auf den Boden, »und das tun wir damit.«

Das Jahr ging weiter, und die Herbststürme rissen das Laub von den Ästen unserer Ulmen, bis sie kahl und nackt dastanden. Ich las Das Mitternachtsvolk und verbrachte meine Tage damit, so zu tun, als wäre ich Kay Harker und durchlebte imaginäre Abenteuer mit Rittern, Schmugglern und Straßenräubern, Rollicum Bitem Lightfoot, dem Fuchs, und einem so furchterregenden Hexenzirkel, dass ich das Buch am Ende in einen Futtersack wickelte und unter der Miste versteckte für den Fall, dass sie aus den Seiten hervorbrechen und mich holen wollten – so tief war ich mittlerweile in meine Fantasie eingetaucht.

Vater schickte Doble mit einer Hippe los, die Hecken um das zu stutzen, was sie über den Sommer zugelegt hatten. Stück für Stück arbeitete Doble sich voran und sandte von überall Rauchsäulen in den Winterhimmel. Ein paar Meilen entfernt in Stenham Park gab es eine Fasanenjagd, und Vater und John waren Treiber. Vier brachten sie mit zurück, dazu noch zwei Hasen, die sie auf dem Rückweg beim Hulver Wood geschossen hatten.

Ende November droschen wir das Korn. Ich wurde im Morgengrauen vom Lärm der Maschine geweckt und sah aus meinem Fenster, wie sich das riesige, seltsame Ungetüm über den Zufahrtsweg auf den Hof zubewegte. Der Maschinist thronte darauf, gefolgt von seinen bunt zusammengewürfelten Helfern. Die Räder schienen fast noch die Hecken zu überragen, und ich war froh, dass es nicht geregnet hatte. Einmal war das Ding im Matsch stecken geblieben, und es hatte bis zum Nachmittag gedauert, es wieder freizubekommen. Darauf war ein raues Wortgefecht zwischen Vater und dem Fahrer darüber entbrannt, wer für die verlorene Zeit zu zahlen hatte.

Unten kochte Mutter Tee und briet Speck.

»Ich warte seit einer halben Stunde auf dich, Kind. Schneide Brot für die Drescher, unsere Männer haben schon gegessen. Und wasch dir das Gesicht.«

Ich holte zwei Laibe aus der Vorratskammer. Sie waren rund und fest und in weißen Stoff gewickelt. Mutter bekam das Brot nie so locker hin, wie sie wollte, und gab dem Ofen die Schuld, aber ich mochte, wie es an den Backenzähnen klebte und einem das Gefühl gab, gut genährt zu werden. Vater sagte immer wieder, Mutter solle den Ziegelofen benutzen, doch sie meinte, der sei altmodisch und schmutzig und koste sie zu viel Zeit.

Als das Frühstück fertig war, ging sie zur Hintertür, wischte sich die Hände an der blauen Schürze ab, die sie immer umgebunden hatte, und rief den Maschinisten und seine Leute. Sie nahmen die Mützen ab, als sie hereinkamen, und setzten sich etwas scheu an den Küchentisch. Ihre Fremdheit und ihre ungewohnte Art zu reden schüchterten mich ein, und so nahm ich mein Marmeladenbrot und ging damit nach draußen.

Doble war in der Scheune und bereitete alles vor, und der Terrier, den die Drescher mitgebracht hatten, jagte um seine Füße herum nach Ratten. Die Schober waren bereits von ihrer Heuabdeckung befreit, und Vater und John standen neben der Maschine, um zu sehen, ob die Trommel auf der richtigen Höhe war. Frank war auf den ersten Schober geklettert und warf die Garben auf die Plattform hinunter, sein Atem stieg weiß in die Morgenluft. Wie ich mir wünschte, dort oben bei ihm stehen und mit ihm die Garben nach unten werfen zu dürfen, aber auch wenn ich beim Heumachen, Unkrautbeseitigen und Aufstellen der Garben auf dem Feld half, blieb das Dreschen doch Männersache.

Während ich mich also stattdessen über meine Hausaufgaben beugte und den Geruch klammer Bücher, von Tinte und Kreide einatmete, schrumpften die Getreideschober draußen stetig weiter. Nachmittags um vier ging ich wieder hinaus. Die Maschine rasselte und lärmte noch immer, und die Männer bedienten sie, als wäre sie eine Art heidnische Gottheit. In der Scheune türmte sich das frische gelbe Stroh, es gab Säcke mit Spreu und Saatkorn und zwei Haufen des wertvollen Getreides, das auf den Lastwagen des Händlers wartete, der es bald schon holen würde.

»Was für ein Durcheinander, was für ein heilloses Durcheinander«, murmelte Doble vor sich hin. Er sammelte die Hölzer und Latten ein, die er »Sprossen« nannte und mit denen das Stroh oben auf dem Korn gehalten worden war. Doble hasste es, wenn in der Scheune Unordnung herrschte, ganz so, als wäre das Lagern des Korns eine Zumutung und nicht ihr eigentlicher Zweck.

Ich ging die Katzen suchen, weil ich das Gefühl hatte, mich nützlich machen zu sollen, und sie würden sicher gebraucht werden, um die Mäuse aus der Scheune zu halten, bis der Lastwagen kam. Nibbins, die Matriarchin, schlief im Stall, aber ihre erwachsenen Jungen, wild und unberechenbar, wie sie waren, konnte ich nirgends finden. Ich klatschte in meine kalten Hände in ihren rauen Wollhandschuhen, und Nibbins hob den Kopf, sah mich an, rührte sich aber nicht vom Fleck. Sie wusste ohne Frage, dass der kleine Terrier wieder auf dem Hof war.

»Noch einen Tag«, sagte Mutter im Haus. Sie sah müde aus, mehr noch als sonst. »Das sagt dein Vater.«

»Nur zwei Tage?«, fragte ich, nahm meinen Ranzen vom Rücken und hängte ihn hinten über einen Küchenstuhl. »Behalten wir etwas über? John sagt, Weizen bringt oft zu Beginn des Sommers einen besseren Preis.«

»Nein, dein Vater will alles dreschen lassen. Es ist bloß … nun, es ist nicht sonderlich viel. Und so spart er Lohn, nehme ich an.«

Weihnachten kam und ging weit ruhiger als gewohnt, jetzt, wo Mary nicht mehr im Haus war. Wie immer brachte John zwei riesige Eschenholzbündel, die er in der Milchkammer hatte trocknen lassen, und Mutter entzündete sie mit einem Holz, das sie vom letztjährigen Feuer aufbewahrt hatte. Aber wir hatten keine grünen Zweige, um das Haus damit zu schmücken.

Die Felder ruhten wie immer bis zum Pflug-Montag, der in diesem Jahr auf den 8.Januar fiel. Schnee hatte es keinen gegeben, aber der Boden war gefroren. Es war nicht nass, was ein Segen war, denn ein nasser Winter setzte allen hart zu, besonders wenn der Weg ins Dorf so vermatschte, dass er unpassierbar wurde.

Das Licht verblich nachmittags um drei, und die Nächte waren kalt und lang. Nach einigen Tagen im neuen Jahr gingen mir die Bücher aus, und trotz Mutters schlimmen Warnungen vor einer Lungenentzündung ging ich, während sie buk, hinaus, um mir die Bäume anzusehen.

Die Stelle, wo die beiden Wiesen an Crossways grenzten, war lange ein ganz spezieller Ort für die Kinder der Mathers gewesen: ein enger Kreis verkrüppelter Eichen, die, wie Vater sagte, vor vielen Jahrhunderten aus einem Baum im Unterholz entstanden waren. Was sie für uns so magisch machte, waren die mächtigen Feuersteine, die sie mit ihren Wurzeln umschlossen und die geradezu aus ihren knorrigen Stämmen herauszuwachsen schienen. Einer war ein sogenannter Hexenstein mit einem Loch in der Mitte, der bei weitem größte seiner Art auf unserem Land. Als ich noch wirklich klein war, glaubte ich, die uralten Eichen hätten die Feuersteine aus der Erde geholt und zeigten sie uns aus irgendeinem rätselhaften Grund. Damals zählte ich diese Bäume zu meinen engsten Freunden.

Natürlich gab es eine Vielzahl alter Geschichten über den Ort: dass es ein Feental sei und jedes Pferd, das hier vorbeigeführt werde, ihre Musik hören könne und hinunter in ihre Silbersäle gelockt werde. Dass hier eine sächsische Königin in einer lange versiegten Quelle getauft worden sei, die alle Erde von den Eichenwurzeln gespült habe. Und dass es zunächst nur eine Eiche gegeben habe, die vom Teufel mit einem Schlag in sechs geteilt worden sei, vor Wut, weil er einen Sensen-Wettstreit mit Beowa verloren habe, den wir John Barleycorn, also Gerstenkorn, nannten. Ein Stamm enthielt ein paar Glieder einer Eisenkette, die sich tief in die Rinde gegraben hatten. Als ich noch klein war, hatte Frank mir gern damit Angst gemacht, dass er mir erklärte, da sei ein Mörder angekettet worden und gestorben und zur Wintersonnenwende kehre sein Geist zurück, dürfe sich aber pro Jahr nur einen Hahnenschritt weiter auf den Friedhof zubewegen. Was natürlich kompletter Unsinn war. An der Eiche waren bloß eine Weile lang Tiere festgemacht worden.

Generationen von Mathers hatten als Kinder unter den Bäumen gespielt: Vater und seine jüngeren Brüder und ohne Zweifel auch Großvater und seine Geschwister. Frank und sein Freund Alfred Rose schlugen hier ihr Lager auf, wenn sie Cowboy und Indianer spielten, und Mary und ich hatten zwischen den Wurzeln Kaufladen gespielt, Bücher gelesen oder waren einfach hierhergeflohen, um den anderen zu entkommen. Nicht lange, bevor sie heirateten, fand ich heraus, dass Mary auch mit Clive hergekommen war, als er ihr den Hof gemacht hatte. Ich hatte Mühe, ihr das zu vergeben.

Ich war seit fast einem Monat nicht mehr bei den Eichen gewesen und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie da allein in der Kälte standen. Für mich waren etliche der Bäume auf unserem Land lebendige Wesen, was bedeutete, dass sie über ihre eigenen Gedanken und Gefühle verfügten. Die große Eiche am Weg zum Beispiel liebte mich und grüßte mich herzlich, wenn ich an ihr vorbeikam. Dabei wollte sie immer wissen, wie es mir ging und was ich im Schilde führte. Und die vier starken, schützenden Ulmen um unser Haus mochten mich von meinen Geschwistern am liebsten, Alfred Rose dagegen nicht.

Ich legte eine Hand auf den Stamm jeder einzelnen Eiche und sagte leise »Hallo«, stand eine Weile in ihrem Kreis, froh, sie in ihrer Wintereinöde getröstet zu haben, und spürte, wie sich ihre Einsamkeit löste.

Die Bäume mochten einsam sein, aber ich hätte niemals zugestimmt, dass ich es auch war. Einsamkeit war etwas, das alte Leute befiel, aber ich war jung und hatte meine Familie um mich, und so konnte es sie für mich nicht geben.

Als ich klein war und mir noch ein Bett mit Mary teilte, bat ich sie manchmal, mir vor dem Einschlafen Geschichten zu erzählen: die von den Bällen, die einst in Ixham Hall veranstaltet worden waren, von dem Mädchen aus dem Dorf, von dem es hieß, dass es mit Zigeunern weggelaufen sei, oder auch meine Lieblingsgeschichte, die vom Ende des Großen Krieges. An jenem Wintertag auf unser ödes, lehmiges Land hinauszusehen, ließ mich erneut daran denken.

Ich nehme nicht an, dass sich Mary tatsächlich an all die Einzelheiten der Geschichten erinnerte, die sie mir erzählte. Aber über die Jahre schmückte sie ihre Erinnerungen mehr und mehr aus, und sie bekamen ihren festen Platz in unserem Leben, sodass es mit der Zeit war, als erinnerte ich mich ebenfalls an sie. So beschrieb sie mir, wie sie und Frank, als er noch ein Baby gewesen war, eines Nachmittags bei Doble in der Scheune waren. Frank quengelte, und Doble wiegte ihn auf einem Heuballen, während sie auf dem Dreschboden mit ihren Klammerpuppen spielte. Nach einer Weile blickte sie auf den Hof hinaus und sah einen fremden Mann die Pferde hereinbringen: einen Mann in Uniform, der die Zügel hielt und die müden Tiere auf den Hof führte. »Schau, Doble, ein Soldat!«, rief sie, und er schrie auf und rannte zum Scheunentor, aber es war nicht sein Sohn Tipper, sondern John Hurlock, der Horseman, und Doble stand mit hängenden Armen da und schluchzte wie ein Kind.

Der Krieg musste seit Wochen vorbei sein, wobei Mary sich nicht erinnern konnte, davon gehört zu haben – oder von den Waffenstillstandsfeiern, die es, wie ich annehme, im Dorf gegeben hatte. Und Doble musste wissen, dass sein Sohn tot war, von einer Granate in den Dreck Flanderns geschmettert. Ich denke, es war Johns Anblick, in Uniform, ohne Tipper und Onkel Harry. John war unser einziger Überlebender, ein Mann aus einem anderen County. Sonst war der Wych Farm niemand geblieben.

Natürlich fasste Doble sich wieder und holte Baby Frank und Mary, und auch Vater und Großvater kamen, von wo immer sie gearbeitet hatten, um John zu Hause willkommen zu heißen. Mary erzählte mir, wie der arme Doble Johns Hand umfasste, sie schüttelte und gar nicht wieder aufhören wollte. Und dann kam der Teil, wie John die Pferde in den Stall brachte, wie er darauf bestand und darum bat, eine Weile mit ihnen allein gelassen zu werden. Er sagte zu Vater, dass er seit seiner Einberufung vor zwei Jahren ständig an diesen Moment habe denken müssen.

Wer in der Geschichte fehlt, ist Mutter. John muss vom Bahnhof in Market Stoundham direkt zu den Pferden aufs Feld gegangen sein. Und wenn sie auf dem Feld waren und Vater auf dem Hof, wird Mutter mit ihnen gearbeitet haben, denn genau das tat sie, die selbst Tochter eines Horsemans war, während der langen Kriegsjahre. Und so stelle ich mir, wenn ich an das Ende des Krieges denke, im Unterschied zu Mary etwas vor, was ich nicht gesehen habe und wovon ich mir auch kein genaues Bild zu machen verstehe: John, wie er in seiner verdreckten Uniform über die schweren Erdklumpen steigt, während meine Mutter den Pflug hinter den sich plagenden Pferden führt. Wie sie ihn sieht, die Pferde zügelt und Worte hin- und herfliegen, die ich nicht hören kann, so sehr ich mich auch anstrenge.

II

CONSTANCE FITZALLEN KAM fünf Monate später auf den Hof, auf einem leuchtend roten Fahrrad. Es war ein Tag im Juni, trocken und warm, und wir waren beim Heuen.

Wir waren jedes Jahr die Ersten im Tal, die ihr Heu machten. Für gewöhnlich begannen wir am 6.Juni damit, es sei denn, es war ein Sonntag. Großvater behauptete, die erste Juniwoche sei immer trocken. Früher einmal hatten die Hullets, die mehr Land in Südlage besaßen, sogar noch drei Tage vor uns angefangen, aber mittlerweile stand ihr Haus mitsamt den Nebengebäuden leer, der Obstgarten war verlassen und das Dach der alten Scheune aus schwarz gestrichenem Holz halb eingestürzt.

Unser kleiner Traktor, der Fordson, stammte von den Hullets. John sagte, der Bauer habe ihn neu gekauft, als seine Pferde an die Front geschickt wurden. Aber nach ein paar ersten Versuchen benutzten wir ihn nur selten, denn unsere Erde war zu schwer und Benzin zu teuer. Wie die meisten Bauern der Gegend mähten wir unsere Wiesen mit einer von Pferden gezogenen Mähmaschine. Das ging so seit der Zeit, als die Männer Gras und Korn noch mit Sensen geschnitten hatten. Wir hatten eine Zinkenegge, um die Erdbrocken zu zerkleinern, eine Sämaschine und einen roten Albion-Mähbinder, auf den wir uns zur Erntezeit verließen. Alles wurde von den Pferden gezogen. Vater hatte die Maschinen direkt nach dem Krieg gekauft, da er, wie viele andere auch, glaubte, dass die Preise weiter hoch bleiben würden.

Ich durfte nicht mithelfen, die Mähmaschine mit dem langen Sichelmähwerk vorzubereiten, und ihr auch nicht zu nahe kommen, wenn sie im Einsatz war. Stattdessen war es meine Aufgabe, nach dem Wetzstein zu sehen, falls er John auf dem rüttelnden Sitz der Maschine aus der Tasche fiel, und auf seinen Ruf hin die Vögel zu vertreiben, Rebhühner oder auch Lerchen, die im hohen Gras brüteten und sich nicht wegbewegen wollten. Tags zuvor erst waren wir auf das Nest eines Wachtelkönigs mit drei dunkel gefleckten Eiern gestoßen. John hatte gesagt, die Mutter würde nicht zurückkommen, das täten sie nie, und so nahm ich die Eier vorsichtig mit und schob sie unter eine unserer Hennen, damit die sie ausbrütete.

Mein Blick fiel auf Constance, als wir am Ende des Rains kehrtmachten. Sie hatte ihr Fahrrad ans Tor gelehnt und saß auf der obersten Stange. Sie trug eine weite Hose, die unten von Fahrradklammern zusammengehalten wurde, ein Männerhemd mit aufgekrempelten Ärmeln und keinen Hut. Mit einer Hand schützte sie die Augen vor der Morgensonne und lächelte. Es ist alles so lange her, und doch werde ich ihren Anblick niemals vergessen.

John erblickte sie im gleichen Moment wie ich. Ich sah es an der Haltung seines Rückens, wenn er sich auch sonst nichts anmerken ließ. Moses und Malachi marschierten stetig weiter, die Mähmaschine surrte, und der süße Duft des geschnittenen Grases umhüllte alles. Als wir uns dem Tor näherten, sprang Constance herunter, und ich fragte mich, ob sie und John sich kannten, doch sie rief meinen Namen, nicht Johns.

»Edith? Du bist Edith, oder? Hallo, ich bin Constance FitzAllen. Man hat mir gesagt, dass ihr beim Heumachen seid.«

Ich weiß noch, dass ich dachte, wie groß sie doch sei, sicher die größte Frau, die ich je gesehen hatte. Sie streckte mir ihre Hand entgegen, und nach einem kurzen Zögern schüttelte ich sie. Ihre war größer als meine und stark wie die von Frank, aber ohne dessen Schwielen. Meine eigene Hand war heiß und verschwitzt, und ich wünschte, ich hätte daran gedacht, sie mir am Rock abzuwischen. Constance lächelte noch immer.

»Ich habe im Dorf gehört, dass ihr schon angefangen habt, und bin gleich hergeradelt«, sagte sie. »Aber ich verspreche, ich komme euch nicht in die Quere.«

»Ja, natürlich«, sagte ich idiotischerweise, hatte ich doch keine Ahnung, was sie meinte. John hatte die Pferde bereits wieder gewendet und fuhr von uns weg die Wiese hinauf. Ich hoffte, er würde sich keine Klinge an einem Stein kaputtmachen oder einen Vogel erwischen. Ich konnte Frank nirgends entdecken. Ich nahm an, dass er die nächste Wiese schon von Hand angefangen hatte oder aber bei den Schweinen war. Unsere Sau stand kurz vorm Ferkeln.

»Das ist also John«, sagte Constance und legte die Hand erneut über die Augen. »John, der Pferdezauberer. Wie wundervoll! Du musst mich ihm vorstellen.«

»Er ist … Er wird nicht gestört werden wollen«, gelang es mir hervorzubringen.

»Natürlich! Natürlich! Ich meine auch nicht jetzt. Heute Abend vielleicht oder morgen. Es ist reichlich Zeit. Kann ich mein Rad hier stehen lassen, oder ist es im Weg? Danke. Sag, Edith, du hast gerade die Schule beendet, stimmt’s? Wirst du sie nicht vermissen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste, im September würde ich es bedauern, Miss Carter nicht wiederzusehen, die mir ein paar ihrer eigenen Bücher geliehen hatte, aber ganz allgemein war es eine Erleichterung, nicht wieder in die Schule zu müssen. Ich hatte dort keine speziellen Freundinnen gehabt, die ich vermissen würde. Die anderen Kinder wussten alle, dass ich klug war, was mich in Verbindung mit meinen mangelnden Fähigkeiten bei den Spielen auf dem Schulhof zur missachtetsten, unbeliebtesten Schülerin gemacht hatte. Ich hatte mir alle Mühe gegeben, mich nicht daran zu stören und mir zu sagen, dass ich sowieso lieber für mich war. Aber wenn ich ehrlich war, hatte es nie aufgehört, mir wehzutun. Manchmal, als ich noch jünger gewesen war, hatte ich mir vorgestellt, geheime Kräfte zu besitzen, und so getan, als verfluchte ich die anderen Kinder und ein Blick von mir würde genügen, sie mit Eiterbeulen und Krankheit zu überziehen.

Mit vier wäre ich beinahe an Diphtherie gestorben und musste Wochen im Bett verbringen, mit nichts, was mich zu sehr hätte aufregen können, nicht mal Büchern, und Mutter behauptete immer, dass ich danach ein anderes Kind war. Sie glaubte, dass ich durch meine Krankheit nur mehr eine schwache Konstitution besaß, weswegen mir verboten wurde, mich an gröberen Spielen zu beteiligen oder wild herumzurennen. Stattdessen blieb ich während der Pausen in der Klasse, las oder ging allein über den Schulhof, um frische Luft zu schnappen. Als jüngstes Kind bei uns zu Hause und ohne direkte Nachbarn, wie sie die Leute im Dorf hatten, gewöhnte ich mich an das Alleinsein, nehme ich an.

Constance lief langsam am Rand der Wiese entlang, und ich folgte ihr. Ich hatte das Gefühl, sie zu kennen, aber vergessen zu haben, wer sie war. Vielleicht hatte Mutter mir erzählt, dass sie kommen würde, und ich hatte nicht richtig zugehört. Woher kannte sie mich, und was um alles in der Welt wollte sie von mir?

»Was kommt als Nächstes? Mehr Schule vielleicht? Wie ich höre, bist du ziemlich intelligent.« Sie pflückte eine rosa Heiderose aus der Hecke, roch an ihr und begann, sie schnell und geschickt zwischen den Fingern herumzuzwirbeln, erst in die eine, dann in die andere Richtung, bis das Bild gänzlich verwischte.

»Miss Carter, meine Lehrerin, wollte, dass ich ebenfalls Lehrerin werde. Aber Vater sagt, ich werde hier gebraucht.«

»Ah, natürlich, natürlich. Ich habe mich jedenfalls im Dorf eingemietet, in Elmbourne«, sagte Constance leichthin und als müsste es erklärt werden. »Ich dachte, einen Monat, vielleicht länger. Alle sind so herzlich, obwohl ich sagen muss, dass meine Unterkunft etwas … karg ist.«

»Im Gasthof?«, sagte ich. Meines Wissens gab es allein im Bell & Hare Zimmer zu mieten, hauptsächlich für Geschäftsreisende, wobei es nicht völlig unmöglich war, dass jemand hier Urlaub machen wollte. Aber eine Frau in Hosen, und dazu ganz allein? Was das für ein Gerede geben würde.

»Oh, nein, ich wohne über dem Stoffladen, bei einer Witwe, MrsEleigh.« Es war, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Ich hatte ihr geschrieben. Es ist alles ganz ordnungsgemäß. Aber wir werden sehen. Vielleicht ist es nicht das Richtige für mich. Vielleicht ist sie nicht die Richtige.«

Sie drehte sich zu mir um und grinste übers ganze Gesicht. Ich war verwirrt, lächelte aber zurück. Ich konnte nicht anders.

»Warum sind Sie hier?«, platzte es aus mir heraus, und ich spürte, wie ich rot anlief. »Ich … entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein.«

Sie lachte nur. »Oh! Schon gut. Ich bin die, die sich entschuldigen sollte, Edith. In den letzten paar Tagen habe ich mich so daran gewöhnt, dass die Leute im Dorf bereits wissen, was ich mache, dass ich dachte, es sei auch bis hierher schon durchgedrungen. Ich verfasse eine Studie über das Leben auf dem Land, die Folklore, das Handwerk und Kunsthandwerk, die Dialekte, Kochrezepte – diese Dinge. Der Krieg – nun, mit ihm hat sich alles zu ändern begonnen, meinst du nicht auch? Und es ist eine so fürchterliche Schande, was alles vergessen wird. Ich möchte es bewahren für zukünftige Generationen, oder doch wenigstens etwas davon. Wir müssen Orte wie diesen hier unbedingt feiern.«

Ich merkte mir das, um später darüber nachzudenken. Es war das erste Mal, dass ich jemanden solche Dinge sagen hörte. Das erste Mal, nehme ich an, dass mir ein kurzer Blick auf meine kleine Welt von außen gewährt wurde – als etwas, das bemerkenswert war und sich änderte. Es verunsicherte mich ein wenig, aber da war auch noch etwas anderes, etwas Interessantes, und es gefiel mir, wie eine Erwachsene angesprochen zu werden. Das hatte noch niemand getan.

»Meinen Sie … Sie schreiben ein Buch? Sind Sie eine Schriftstellerin?«

»Oh, nein. Nun, ich würde mir gerne vorstellen, eine zu sein, eines Tages.« Das klang fast schon kokett, was mir merkwürdig unangenehm war. »Ich habe mal etwas Kurzes für Blackwood’s geschrieben und eine Anfrage von einer Wochenzeitschrift bekommen. Eines Tages … ja, so etwas wie ein Buch, wenn es möglich ist. Und keine dieser Elegien auf eine verlorene Welt! Nein, die Engländer sind bereits viel zu verliebt in die Vergangenheit. Ich will etwas Praktischeres, etwas, das einen Unterschied macht. Wir müssen unser Land ganz neu aufbauen, das ist mein Gefühl. Es zurück auf den richtigen Kurs bringen. Meinst du nicht auch?«

John wendete die Pferde am anderen Ende der Wiese. Die Sonne funkelte auf den Messingteilen des Geschirrs, und ich hörte ihn fluchen, als ein Rebhuhn gackernd unter Moses’ Hufen aufflatterte.

»Jedenfalls bin ich deswegen hier – um alle deine Geheimnisse zu erfahren!«

Sie hakte sich bei mir unter, und ich sah, dass die Heiderose, die sie gepflückt hatte, zwei ihrer fünf rosa Blütenblätter verloren hatte.

»Und jetzt erzähl mir alles übers Heuen«, sagte sie.

Ich liebte unsere beiden Wiesen, Great Ley und Middle Ley, und es tat mir immer ein wenig leid, wenn sie gemäht wurden. Im April und Mai schoss das Gras in die Höhe und war voller Butterblumen, Sauerampfer und Bocksbart. Später dann kamen die Schmetterlinge, Schlangen und Grashüpfer, und im August schwebten nachts die winzigen grünen Sternchen der Glühwürmchen darüber. Wir düngten die Wiesen nie. Sie waren so satt, so verlässlich, dass wir sie sogar manchmal im September noch einmal mähten, je nachdem, wie viel nachgewachsen war.

Es war natürlich wundervoll zu sehen, wie sich der große Heuboden füllte, und zu wissen, dass John selbst im tiefsten Winter süßes Futter herausschneiden konnte. Aber nach dem Mähen sahen die Wiesen so nackt und kahl aus, wenn die langen Grasschwaden gewendet und eingebracht worden waren. Jedes Jahr wieder wünschte ich mir, dass wir das Gras, wenn es so schön hoch stand, weiterwachsen lassen könnten.

Natürlich war das ein dummer Wunsch, das war mir klar. Die ungemähten Wiesen der Hullets waren alles andere als ein Paradies. Disteln und Bärenklau wuchsen mannshoch, und Dornenbüsche und Gestrüpp wucherten Jahr um Jahr weiter in sie hinein. Eulen und Turmfalken jagten in ihnen, und Füchse und Dachse bahnten sich Wege durch das wirre Gras, das für Kinder wie mich und Frank bald schon undurchdringlich geworden war. Der Hof der Hullets war ein Beweis dafür, dass die Natur gezähmt werden musste und ohne die richtige Pflege verdarb.

»Das Land ist wie eine Frau, John«, hatte ich meinen Vater einst sagen hören. »Vielleicht liebst du es, aber es muss produktiv sein. Es tut ihm nicht gut, so lange brach zu liegen.«

Ich konnte mich noch an das erste Jahr erinnern, in dem der Hof der Hullets nicht mehr bewirtschaftet wurde. Ich kann damals erst sieben oder acht gewesen sein, und auch wenn ich kaum etwas über die Hullets wusste und warum sie plötzlich verschwunden waren, war mir doch klar, dass ihre Wiesen weiterwachsen würden, und ich konnte nicht anders, ich musste hin zu ihnen. In den Wochen, nachdem unsere gemäht worden waren und bevor die Schule wieder anfing, lief ich hinüber, legte mich ins hohe Gras mit seinen fedrigen Samenköpfen und las Little Black Sambo oder Bevis, dem der Einband fehlte, und Franks Exemplar der Schatzinsel, bis Knie und Ellbogen vom Gras zu sehr juckten. Irgendwann hörte ich Mutter verzweifelt nach mir rufen, aber ich hatte ein Buch schon immer nur dann zugeklappt, wenn ich einen Satz mit sieben Wörtern fand – damit der Farm oder meiner Familie nichts Schlimmes zustieß. Und so dauerte es etwas, bis ich antwortete. Oft versteckte ich mich zu Hause, um zu lesen, weil von uns erwartet wurde, auf dem Feld zu helfen, wenn keine Schule war, und unsere Zeit nicht mit Bücherlesen zu verschwenden. Und am nächsten Nachmittag lag ich wieder in einer der Wiesen, genoss ihre üppige, unbeschnittene Wildheit und vernachlässigte meine Pflichten. Ich konnte nicht anders.

»Ich hätte nicht übel Lust, sie selbst zu mähen«, murmelte Vater mehr als einmal. »Wir könnten das Futter brauchen.«

»George, das darfst du nicht«, sagte Mutter. »Was, wenn es verkauft ist? Wir können uns das Heu nicht einfach so nehmen, das weißt du.«

Aber es wurde nicht verkauft, und wenn Vater nach jenem ersten Jahr auch kein Auge mehr auf das Land warf, gewöhnten wir uns doch alle nicht ganz daran, dass es brach lag.

Ich ging mit Constance bis zur Spitze der Great Ley, wo eine tiefe Eichen- und Ahornhecke eine Grenze zu den Kornfeldern und weiter hinten der Farm der Hullets bildete. Das Dickicht war voller Rufe frisch geschlüpfter Vogeljunger und der Himmel ein festes, blaues Gewölbe, an dem, unsichtbar für uns, Lerchen sangen. Schweiß perlte auf meiner Stirn, obwohl Constance die Hitze kaum zu spüren schien, und das Surren der Mähmaschine in der Ferne schwoll nicht an und ab, weil es vom Wind verweht wurde – es ging keiner –, sondern es war allein die Entfernung zu uns. Ich berührte den Wetzstein in der Tasche meines Rocks und spürte seine raue Oberfläche auf meinen Fingerspitzen mit den weit heruntergebissenen Nägeln.

Constance stellte Fragen, und ich beantwortete sie. Aber gleichzeitig versuchte ich immer noch zu verstehen, was diese merkwürdige Frau hier bei uns auf der Farm machte und was es zu bedeuten hatte. Würde sie den ganzen Sommer bleiben? Jeden Tag zu uns herauskommen? Was würden Vater und Mutter davon halten? Und was hielt ich eigentlich davon?

»Ich nehme an, die Weizenernte ist die Hauptsache, nicht das Heu«, sinnierte sie. »Wie schade, dass die alten Traditionen nicht weitergeführt werden, wie die Wahl eines Erntegottes. Ruft ihr noch laut, wenn die letzte Garbe geschnitten wird?«

»Ob wir laut rufen?«

»Ja, wer die letzte Garbe schneidet, verkündet es allen, oder?«

Ich überlegte. Es war, wie ich feststellte, bereits so, dass ich sie nicht enttäuschen wollte. Mehr noch, ich wollte, dass sie mich mochte, und ihr bereitwilliges Lächeln gab mir das Gefühl, dass sie es womöglich tat.

»Ich … ich weiß nicht. Ich glaube nicht, aber ich kann John fragen. Vielleicht weiß er, was Sie meinen. Oder Großvater.«

»Oh! Lebt dein Großvater mit auf dem Hof bei euch, Edith?«

»Oh, ja. Vaters Vater. Haben Sie ihn im Haus nicht gesehen?«

»Himmel, nein, ich hatte ja keine Ahnung. Nein, nur deine Mutter, aber die hat mich nicht hereingebeten. Da war ein etwas altmodisch gekleideter älterer Mann, der den Hof gefegt hat, aber das kann er nicht gewesen sein, oder?«

»Nein, das war Doble. Den haben wir schon immer.«

»Euer Großknecht?«

»Nein, er kümmert sich nur um die Ställe. Sein Sohn Tipper war unser Großknecht, aber der ist im Krieg gestorben. John hat gesehen, wie er getötet wurde«, sagte ich unnötigerweise.

Ich hatte nur eine etwas unklare Vorstellung vom Krieg. Damals war ich noch nicht geboren, und als Bauer hatte Vater nicht hin gemusst. Aber obwohl John nie davon sprach, wussten wir Kinder doch alle von dieser einen Sache, und sie faszinierte uns mehr, als sie sollte. Es war im Übrigen allein der Güte Vaters zu verdanken, dass der alte Doble nach Tippers Tod wieder bei uns arbeiten durfte. Es gab viele junge, gesunde Männer, die nur zu gern seine Stelle eingenommen hätten und ins Cottage gezogen wären. Aber die Dobles gab es schon seit Ewigkeiten auf der Wych Farm, genau wie die Mathers und die Lyttletons in Ixham Hall, denen wir Pacht zahlten. So waren die Dinge nun mal.

»Er ist ein wunderbares Beispiel – Doble, meine ich. Eine Art Archetyp, in den alten Kleidern. Ich glaube, er hatte die Hose am Knöchel mit einer Schnur zugebunden!«

Wenn es so war, musste er Spreu gehäckselt haben oder auf Rattenjagd gewesen sein, aber es schien keinen Grund zu geben, das zu erklären. Oft machte er sich eine Art Umhang aus alten Säcken. Das taten fast alle, wenn es regnete.

»Es ist so traurig, sich vorzustellen, dass Leute wie er verschwinden«, fuhr Constance mit einem dramatischen Seufzer fort. »Die Landflucht, weißt du. Bald schon wird es den echten Bauern nicht mehr geben und kaum einen, der daran erinnert, dass es ihn hier mal gab.«

»Würden Sie meinen Großvater gerne kennenlernen?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. Etwas an der Art, wie sie über Doble sprach, war mir unbehaglich, wobei ich nicht hätte sagen können, was es war.

»Oh ja! Sehr. Heute sind es vor allem die Alten, die die Weisheit noch bewahren, meinst du nicht?«

Ich fragte mich, was Vater dazu sagen würde. Ich liebte ihn sehr, wie es Töchter nun mal tun, und dankte ihm für seine Zuneigung wie ein Welpe, der nichts als gefallen will. Gleichzeitig aber wusste ich, dass er nicht vollkommen war, so leicht reizbar, wie er reagierte, wenn Dinge gegen seine Autorität gingen, ja, er konnte auch launenhaft sein. Aber die Farm war eine große Verantwortung, und so war das kaum überraschend. Insgeheim fühlte ich, dass ich ihn verstand, selbst wenn er außer sich geriet. Vielleicht sogar besser, als Mutter es tat.

Constance stand da und sah auf das nächste Feld hinaus, das wir Crossways nannten. Das Korn darauf war noch kaum kniehoch und sah dünn aus, und ich wusste, wenn es nicht bald regnete, würde die Ernte wieder schlecht ausfallen. Seven Acres auf der anderen Seite der Farm lag brach, wie von Vater angeordnet – worüber nicht gesprochen wurde. Natürlich wusste sie davon nichts.

Frank überprüfte die Fallen im Graben auf der Seite von Middle Ley, wo die Wiese an Hulver Wood angrenzte. Er richtete sich auf, als er uns kommen sah, und legte die Hand gegen die Morgensonne über die Augen. Der Holunder war in voller Blüte und reckte die cremefarbenen Dolden zum Himmel. Tief im dichten Laub lärmten Ringeltauben.

»Ist das dein Vater?«, fragte Constance und hob den Arm, um zu winken. Es war keine so komische Frage. Frank war für seine siebzehn Jahre groß und breit und trug eine lange Hose. Seit kurzem rasierte er sich, wenn auch noch etwas unbeholfen.

»Nein, das ist Frank, mein Bruder«, sagte ich, als wir näher kamen. »Frank, das ist Constance …«

»Constance FitzAllen«, rief sie, trat zu ihm und pumpte seine Hand heftig auf und ab. »So, da haben wir also den rechtmäßigen Erben! Ich bin hier, um all Ihre Geheimnisse zu erkunden, wie Sie wahrscheinlich längst gehört haben.«

Frank sagte nichts, sondern sah nur zwischen uns beiden hin und her. Ich stellte fest, dass ich ihm unerklärlicherweise nicht recht in die Augen sehen konnte.

»Geheimnisse?«, sagte er endlich.

»Nun, ja: ihre Landweisheiten und Gebräuche. Aber ich fürchte, ich halte Ihre Schwester von ihren Pflichten ab.«

Sie stand mit den Händen in den Taschen da, ganz entspannt und mit einem Lächeln. »Es tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Wahrscheinlich doch«, sagte er. »Sie ist anfällig für so etwas.«

Ich nahm den Wetzstein aus der Tasche und gab ihn ihm.

»Constance würde gern Großvater kennenlernen. Kannst du mich auf der Great Ley vertreten? Ich glaube, John hat bereits einen Vogel aufgescheucht.«

»Nett, Sie kennenzulernen, Miss FitzAllen.« Frank nickte mir zu. »Diese Karnickel sind eine echte Plage. Ich werde Doble sagen, er soll ein paar Schwefelkartuschen besorgen«, sagte er.

Wir hatten ein altes Fachwerkhaus mit einem langen, leicht durchhängenden Strohdach, kleinen, tief liegenden Flügelfenstern und einem gemauerten Kamin, an dem ein Herd und eine mächtige Feuerstelle hingen, in die – wenn man wusste, wo man nachsehen musste – geheimnisvolle runde Muster gekratzt waren, die wir »Hexenzeichen« nannten. Vor vielen Hundert Jahren waren sie mit Zirkeln eingraviert worden. Unten waren die Böden aus gelben, in einem Fischgrätmuster angeordneten Ziegeln. Im Wohnzimmer lagen ein paar abgetretene türkische Teppiche darauf. Oben im Haus gab es breite Dielen aus Ulmenholz. Hinauf gelangte man über eine steile Treppe mit schmalen Stufen, die in einer halben Drehung aus der Küche nach oben führte. Vor ihr hing ein schwerer verblichener Vorhang, damit es nicht so zog. Der Herd wurde mit Kohlen befeuert, wir hatten einen Siebzig-Liter-Kupferkessel für Heißwasser und eine Pumpe am Wasserbecken hinten, aber keinen Strom oder gar einen Kühlschrank. Einmal in der Woche wuschen wir uns in einer Badewanne aus Zink, und es gab ein Außenklo mit einer Dose Keating’s Powder, um die Fliegen zu verscheuchen. Unsere Farm war zugig und marode, und in den fünf langen Jahrhunderten, die es sie gab, hatte sich wenig daran verändert – ganz sicher nicht die Erde, die Großvater unseren »nährenden« Ton nannte, der Mensch wie Tier erschöpfte und unsere Mutter fluchen ließ. Aber trotz allem wuchs ich dort glücklich auf, denn ich liebte unser Land so sehr, jeden Zentimeter davon, nicht zuletzt, weil ich nichts anderes kannte.

Es war niemand auf dem Hof, und ich sah, dass Pony und Wagen weg waren. Die Hintertür war geschlossen und Mutter nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war sie Mary besuchen, oder vielleicht war auch Doble mit dem Wagen unterwegs, und sie arbeitete im Gemüsegarten oder sah bei den Obstbäumen nach den Bienen.

Ich bat Constance, an der Tür zu warten, weil ich Großvater nicht mit einer Fremden im Haus überraschen wollte. Ich nehme an, ich sorgte mich, was er von ihr denken würde. Ich wusste es ja selbst kaum.

Er saß in einem der Ohrensessel im Wohnzimmer, was bedeutete, dass er uns draußen gehört haben musste. Als ich hereinkam, wandte er mir sein Gesicht mit den tief eingefallenen Augenhöhlen zu.

»Nun, Kind?«

Er klang neugierig, nicht scheltend, und ich ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter, damit er wusste, ich war da.

»Sie heißt Constance FitzAllen, und sie wohnt im Dorf«, sagte ich. »Sie ist hier, um alles über die Landarbeit zu erfahren, und, na ja, wie es früher ging.«

»Sie war schon vor etwa einer Stunde hier, richtig? Deine Mutter hat sie abblitzen lassen.«

»Hat sie das?«

»Oh ja. Das hat sie. Hinausgeworfen hat deine Mutter sie. Sieht ganz so aus, als hätte die Frau ihre eigenen Ideen. Bring sie herein.«

Ich fand Constance beim Hinterhaus, wo sie in unseren Kupferkessel linste, der gerade leer war. »Es ist so schade, dass ihr nicht mehr eure eigene Butter und euren eigenen Käse macht«, sagte sie. »Das habe ich deiner Mutter vorhin schon gesagt. Wir müssen die alten Fertigkeiten unbedingt erhalten.«

Das also hatte Mutter gegen sie aufgebracht. »Ich … ich stelle Sie jetzt Großvater vor, wenn Sie mögen«, sagte ich.

»Oh, ja bitte! Was für eine Freude. Ja, bring mich zu ihm!«

Großvater war aufgestanden und stützte sich auf seinen Stock. Ich hatte vergessen, ihr zu sagen, dass er blind war, doch ich konnte zu meiner Erleichterung sehen, dass sie es gleich begriff.

»MrMather, mein Name ist Constance, Constance FitzAllen. Es freut mich wirklich, Sie kennenzulernen«, sagte sie und nahm seine Hand. »Ich danke Ihnen sehr, dass Sie Zeit für mich haben.«

Im Haus sprach sie leiser, und sie wirkte kleiner und vielleicht auch sanfter.

»Schon gut, Missy«, sagte er. »So setzen Sie sich doch. Edith, mach uns einen Tee, ja? Deine Mutter ist mit Doble ins Dorf gefahren. Sie wird frühestens in einer Stunde zurück sein.«

Leise bewegte ich mich durch die Küche, stellte den Kessel mit Wasser auf den Herd und nahm Teekanne und Tassen von der Anrichte. Ich gab mir alle Mühe zu hören, was die beiden redeten, vernahm aber nur ein leises Murmeln. Ich schnitt ein paar Scheiben vom Ingwerkuchen, fand drei saubere Teller und war leicht verärgert, dass ich Mutter spielen musste und nicht mitbekam, worüber sie sich unterhielten. Längst hatte ich das Gefühl, dass Constance mir gehörte, nicht Großvater oder sonst jemandem auf der Farm.

Ich stellte das Tablett auf den kleinen Tisch aus Walnussholz neben Großvaters Sessel, und schon nahm Constance den Deckel von der Teekanne, sah hinein und begann, einzuschenken.

»Ja, das waren schwere Jahre. Schwere Jahre«, sagte Großvater. »So etwas werden wir nicht wieder erleben, Gott sei gedankt.«

»Im Dorf sagen sie …«

»Das jetzt? Das ist nichts, was sich mit harter Arbeit nicht wettmachen lässt, lassen Sie sich das gesagt sein.«

Großvater hatte die Farm während der von den alten Männern im Dorf »Jahre des Niedergangs« genannten Zeit Ende des letzten Jahrhunderts betrieben, und auch wenn er nicht oft darüber sprach, wussten wir doch, dass die Disteln auf Seven Acres und Far Piece mannshoch gewuchert und seine zwei Brüder verzweifelt und halb verhungert nach Neuseeland ausgewandert waren, wo sie, wie wir manchmal spekulierten, vielleicht noch lebten. »Kauf nichts und verkauf nichts!«, sagte Großvater zuweilen zu seinem Sohn und pochte mit dem Stock auf den Boden.

Constance griff nach Großvaters Tasse samt Untertasse und schien sie ihm geben zu wollen, stellte sie dann aber zurück und sah mich an. Ich nahm die Tasse, stellte sie auf die Lehne des Sessels und führte seine Hand zu ihr hin. Durchs offene Fenster war das ferne Surren der Mähmaschine auf der Great Ley zu hören.

»Danke, Edith«, sagte er.

Ich schenkte mir meinen eigenen Tee ein, nahm ein Stück Kuchen und setzte mich auf den Platz beim Fenster. Dort saß ich am liebsten, weil ich gern auf den Hof hinaussah und mich so wie im Herzen der Farm fühlte. Ich sah hinaus und stellte mir vor, wie sich Felder und Wege von uns zu anderen Farmen, zu Wäldern und Dörfern erstreckten. So schrieb ich auch unsere Adresse in meine Notizbücher, ich begann mit »Wych Farm« und endete mit »Universum«. Wie ich jetzt jedoch dasaß, fühlte ich mich ausgeschlossen, als wäre ich wieder ein Kind, obwohl ich doch mittlerweile vierzehn war und die Schule beendet hatte.

»Was für ein köstlicher Kuchen, Edith«, sagte Constance strahlend. »Ist das ein Rezept von deiner Mutter?«

»Oh, nein, den kaufen wir im Dorf«, sagte ich. »Aber … Mutter macht ihren eigenen Honigkuchen«, fügte ich rasch hinzu und wurde rot. »Und wir wecken natürlich ein und kochen Marmelade, ich helfe dabei, und wir backen. Mutter hält nichts von gekauftem Brot.«

»Es gibt hier in der Gegend aber keine Mühle mehr, oder?«

»Es ist eine Schande, dass wir die Mühle in Elmbourne verloren haben. Eine große Schande«, sagte Großvater. »Tja, das haben wir der Bahn zu verdanken. Unser Korn wird jetzt mit einem Lastwagen abgeholt und bis nach … nach … nun, mein Sohn kann Ihnen das alles erklären. Ada kauft ihr Mehl im Dorf, und wer weiß, wer den Weizen dafür angebaut hat, oder wo! In solchen Zeiten leben wir.« Er pochte ganz leicht mit dem Stock auf den Boden.

»Ich nehme an, Sie haben unzählige Ernten eingebracht, Mr Mather?«

»Das habe ich.«

»Es muss Ihnen Sorge bereiten zu sehen, wie sich alles ändert.«

»Mir Sorge bereiten? Nein, das tut es nicht. Wir brauchen Veränderung. Wir brauchen sie unbedingt! Ich habe nicht mehr so gearbeitet wie mein Vater, und George arbeitet nicht mehr wie ich. So ist es nun einmal. Man darf nicht stehen bleiben, nicht, wenn man weiterkommen will.«

Ich lächelte in mich hinein. Constance irrte sich, wenn sie glaubte, er wäre jemand, der die gute, alte Zeit pries und sich gegen das Neue wandte.

»Was ist mit den Pferden?«

»Nun, was meinen Sie?«

»Heute werden meist Traktoren benutzt. Ich habe einen Artikel darüber in einer Zeitschrift gelesen.«

»Wir haben einen Fordson«, warf ich ein. »Er steht in der Scheune.«

»Oh, die sind gut auf leichter Erde, aber hier bei uns taugen sie nichts. Das haben wir herausgefunden. Nein, Motoren werden niemals die Pferde ersetzen«, sagte Großvater.

Franks Freund Alf aß an dem Tag bei uns zu Abend. Er war am Nachmittag zu Fuß herübergekommen, um Frank auf unserem Land zu helfen. Die beiden waren die ganze Schulzeit über in dieselbe Klasse gegangen, waren gemeinsam Eier suchen gewesen und hatten mit ihren Schleudern Spatzen gejagt. Jetzt waren sie siebzehn und Männer, hatten die Kinderspielchen hinter sich gelassen und spielten stattdessen Darts im Bell & Hare, gingen mit Alfs vier Frettchen auf Kaninchenjagd und halfen sich von Zeit zu Zeit gegenseitig bei der Farmarbeit.

Ich kannte Alf und seinen älteren Bruder Sidney schon mein ganzes Leben lang. Sid stotterte leicht und litt unter einer Lähmung, die ihn beim Sprechen den Kopf scharf nach links ziehen ließ, was sein Aussehen verdarb. In Alf dagegen war ich als kleines Mädchen leicht vernarrt gewesen. Er war ein netter Kerl, alle sagten das. Etwas größer als Frank und nicht so stämmig, mit dunklem Haar und dunklen Augen. Ich glaube nicht, dass ihn irgendjemand als gut aussehend bezeichnet hätte, aber er hatte ein angenehmes Gesicht. Und er war witzig. »Alfie Rose könnte ein nasses Huhn zum Lachen bringen«, sagte Mutter manchmal. Er lächelte viel und hatte gute Zähne, wusste mit Leuten umzugehen und war allgemein beliebt. Er war nicht unbedingt der Klügste, doch das machte nichts. Er war das, was die alten Männer im Dorf »behände« nannten, worauf es auf einer Farm weit mehr ankam.

Als er die Schule verließ, war von meiner kindlichen Vernarrtheit nichts mehr übrig, hatte ich doch größere Lieben erlebt – Percy Bysshe Shelley und John aus Der Kampf um die Insel. Oder auch Miss Carter, meine Lehrerin. Und doch musste da noch etwas in mir sein, das er mit seinem weltlicheren Blick erkennen konnte, denn warum sonst verhielt er sich so, als hätte ich noch immer ein Auge auf ihn? Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm die Überzeugung nehmen sollte.

Nach dem Essen trug ich die Teller ins Hinterhaus, um abzuwaschen. Frank und Vater waren mit Doble in die Scheune gegangen, weil sie nach etwas sehen wollten, John und Mutter saßen noch am Tisch und sprachen über Malachi, der am Morgen ein Eisen verloren hatte. Mutter war die einzige Person, mit der John über die Pferde redete, hatte sie mit ihnen doch, während er an der Front gewesen war, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gepflügt, geeggt und Furchen gezogen, obwohl sie sich auch um Mary kümmern musste und dann auch noch Frank kam. Manchmal fragte ich mich, ob sie jenen Tagen nachtrauerte.

Alf schlich sich nahe hinter mich an die Spüle. Plötzlich spürte ich seinen warmen Atem im Nacken und schreckte zusammen.

»Kann ich etwas tun? John ist im Stall.«

Ich fühlte seine Hände auf meinen Hüften.

»Bitte, lass mich, Edie«, murmelte er, fuhr mit den Händen weiter vor und ließ sie nach oben wandern. Ich spürte, wie mir sein Ding unten auf den Rücken drückte.

Es kommt mir heute seltsam vor, aber ich empfand rein gar nichts, wann immer Alf Rose mich berührte, obwohl ich doch für gewöhnlich schnell reagierte und alles überdachte. Ich überlegte, ob ich sauber war oder ob ich, so aus der Nähe, vielleicht nach Schweiß roch. Die Möglichkeit quälte mich in jenen Jahren sehr. Ich fragte mich, was ich sagen und tun sollte, was von mir erwartet wurde und was andere Mädchen taten, und manchmal nachts drohte mich die Sorge aufzufressen, in was für Schwierigkeiten ich käme, wenn jemand das mit Alf herausfand. An jenem Abend dort an der Spüle konnte ich uns eher durch die Augen eines anderen sehen als durch meine eigenen: Alf, wie er sich an mich drängte, ich, die ich auf meine Hände im warmen, fettigen Wasser starrte. Natürlich war es ungeheuer schmeichelhaft, dass er mich so sehr mochte.

Dann wich er unversehens zurück, nahm einen Teller und ein Geschirrtuch, und ich drehte mich um und sah Mutter, die den Rest des Geschirrs für den Abwasch hereintrug.

»Oh, Alfie, bist ein guter Junge«, sagte sie.

III

MEIN TAGEBUCH JENES SOMMERS war ein grünes Silvine-Übungsbuch, eines von vieren, die mir Miss Carter am letzten Schultag geschenkt hatte, damit ich Gedichte verfassen, mich im Schreiben üben und lehrreiche Passagen aus Büchern kopieren konnte. Eine Zeitlang versuchte ich Verse zu schreiben, aber sie schienen mir schrecklich nachgemacht, schwächliche Abbilder von Shakespeare-Sonetten, von Gedichten John Clares und Keats’. Ich besaß eindeutig keine eigene Stimme, und so gab ich es schnell wieder auf und beschloss, die Bücher stattdessen als Tagebücher zu benutzen.

Und auch da versagte ich meiner Meinung nach, denn statt funkelnder Aphorismen, spannender Gespräche und politischer Neuigkeiten fand sich auf den Seiten Woche für Woche nur, dass ich zweimal täglich nach den Hühnern sah, meine übrigen Aufgaben eher widerwillig erfüllte, mich freute, wenn Mutter Marmeladenrollen buk, verdrießlich reagierte, wenn es Leber gab, gierig Bücher verschlang, pflichtbewusst betete, regelmäßig ausgescholten wurde, weil ich herumtrödelte, und einmal im Monat unter dem Fluch litt.

Hin und wieder versuchte ich etwas von meinen Zukunftsängsten zu Papier zu bringen, wahrscheinlich, um die schlimme Verschwommenheit meiner Gedanken zu klären. Aber auch wenn sich dadurch abzuzeichnen begann, was ich nicht wollte, wurde mir doch keineswegs klar, was ich denn nun tatsächlich vom Leben erwartete. Oder besser gesagt: was mir erlaubt und nicht erlaubt sein mochte. Ich wusste mit meinen vierzehn Jahren lediglich zu sagen, dass ich in irgendeiner Weise etwas in dieser Welt bedeuten wollte.

Über Alf Rose schrieb ich nichts in mein Tagebuch, und darüber bin ich froh, denn wer weiß, wo es jetzt ist, in wessen Händen. Aber über Connie habe ich geschrieben, und über alles, was damals geschah – soweit ich es verstand. Und eine kleine Weile zumindest, denke ich, half es.

Frank und ich wanderten flussaufwärts, einen ganzen Tag lang. Es war ein Montag, wie ich mich erinnere, da ich eigentlich Mutter hätte helfen sollen, aber Vater hatte uns frei gegeben, weil das Heu so gut wie eingebracht war und er sagte, dass wir hart gearbeitet hätten.

Mutter hatte eingewandt: »Montag ist Waschtag, da kann ich Edie nicht entbehren.« Wir waren auf der Great Ley, alle zusammen. Mutter und ich hatten kalten Tee und eine Fleischpastete mitgebracht und im Schatten der Eichenhecke eine Decke ausgebreitet. Doble, in Weste und Oberhemd, hatte Großvater über die Wiese geführt, damit er die Junisonne auf dem Gesicht spüren konnte. Nur John war nicht da, er holte Wasser für die Pferde.

Mutters Worte versetzten mir einen Stich. Ich hasste den Waschtag fast ebenso sehr wie sie, dazu kam, dass ich seit Wochen nicht mehr von der Farm heruntergekommen war. Ich sah Frank an, ob er mir nicht vielleicht helfen konnte, doch der starrte auf die Wiese hinaus, auf der das gemähte Gras zum Trocknen lag, dessen Farbe in der hellen Sonne bereits von Grün zu Gold wechselte. Es roch süß. Wahrscheinlich würde nur Frank einen freien Tag bekommen, dachte ich. Das war nicht fair.

Doble half Großvater auf den Segeltuchstuhl, während Mutter den Tee einschenkte. Vater und John wollten nach dem Essen die Middle Ley mähen, und wir würden das Gras mit den hölzernen Rechen zum Trocknen ausbreiten. Sonntag würden wir ausruhen, und am Montag, wenn Vater sagte, es ist trocken, würden die Männer es zum Hof bringen und den Schober füllen.

Vater legte sich auf die Decke und schob sich den Hut über die Augen.

»Du schaffst den Waschtag auch ein Mal allein, Ada«, sagte er. »Gott weiß, dass du es sowieso musst, wenn wir Edie erst verheiratet haben und sie nicht mehr hier ist.«

Und so machten Frank und ich uns am Montag auf den Weg, nachdem ich die Hühner versorgt und Mutter noch dabei geholfen hatte, die Betten abzuziehen. Sofort war es so, als wären wir wieder Kinder. Frank drehte sich um, als er das Tor zur Farm öffnete, und grinste mich an, und ich konnte nicht anders und grinste zurück. Warum, wusste ich nicht. Vielleicht, weil das alles so ungewöhnlich war, denn wenn wir nicht gerade auf demselben Feld arbeiteten, verbrachten wir kaum noch Zeit miteinander. Frank rannte den Weg hinauf, und ich rannte ihm hinterher. Wir jagten einander und lachten mit der Aussicht auf einen langen Tag am Fluss, unter blauem Himmel.