Vom Hühnerstehlen und anderen Lausbubenstreichen - Klaudia Lehner - E-Book
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Vom Hühnerstehlen und anderen Lausbubenstreichen E-Book

Klaudia Lehner

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Beschreibung

1990 in einem Dorf im Kosovo: Fidaim ist zwölf Jahre alt, er lebt mit seiner Familie im bitterarmen Kosovo. Dort erlebt er eine glückliche, ereignisreiche Kindheit. Kein Tag vergeht, an dem Fidi nicht ein lustiger Streich einfällt. Liebend gerne ärgert er die strengen Lehrer, die zickigen Mädchen oder die Nachbarn. Hat er Hunger, ist kein Hahn, keine Gurke oder Tomate im Dorf vor ihm sicher. Immer wieder versteht er es, sich mit Charme, Klugheit und Witz aus der Affäre zu ziehen. Nach Kindheitserinnerungen des Fidi K.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Der Hühnerdieb

Schläge in der Schule

Der Rinderhirt

Fadil zu Besuch

Das Hochzeitsfest

Verliebt

Die Stöckelschuhe

Gemüsediebe

Der Geburtshelfer

Vermisst

Anleitungen zu den im Buch beschriebenen Bastelarbeiten

Über die Autorin

Impressum

Klaudia Lehner

Vom Hühnerstehlen

und anderen Lausbubenstreichen

Klaudia Lehner

Vom Hühnerstehlen und anderen Lausbubenstreichen

ENNSTHALER VERLAG STEYR

www.ennsthaler.at

Neuauflage 2025

ISBN 978-3-7095-0163-4

Klaudia Lehner • Vom Hühnerstehlen und anderen Lausbubenstreichen

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2025 by Ennsthaler Verlag, Steyr

Gesellschaft m.b.H. & Co KG, 4400 Steyr, Stadtplatz 26, Österreich

Satz: Ennsthaler Verlag, Steyr Umschlaggestaltung + Illustrationen: Alex Hofer Bastelanleitungen + Pläne: Klaudia Lehner

1990 in einem Dorf im Kosovo:

Fidaim ist zwölf Jahre alt, er lebt mit seiner Familie im bitterarmen Kosovo. Dort erlebt er eine glückliche, ereignisreiche Kindheit. Kein Tag vergeht, an dem

Fidi nicht ein lustiger Streich einfällt.

Liebend gerne ärgert er die strengen Lehrer, die zickigen Mädchen oder die Nachbarn. Hat er Hunger, ist kein

Hahn, keine Gurke oder Tomate im Dorf vor ihm sicher. Immer wieder versteht er es, sich mit Charme, Klugheit

und Witz aus der Affäre zu ziehen.

Nach Kindheitserinnerungen des Fidi K.

Der Hühnerdieb

„Wo steckt der Lümmel wieder? Ich finde ihn schon noch, aber dann kann er etwas erleben!“

Aufgebracht stürzt Nachbar Selatin wild herumfuchtelnd bei der Tür herein.

„Was brüllst du in meinem Haus so herum, Nachbar?“, schreit die Mutter im selben Ton zurück. 

„Dieser Halunke hat mir schon wieder einen Hahn gestohlen, meinen schönsten noch dazu, der ist mindestens 50 Dinar wert gewesen", fährt der Nachbar fort. 

„Verdächtigst du schon wieder meinen kleinen Jungen. Ich sag es dir zum letzten Mal Selatin, Fidaim tut so etwas nicht. Er ist ein anständiger Junge. Außerdem hast du noch nie einen Beweis für deine ständigen Anschuldigungen gehabt“, verteidigt sie ihren zwölfjährigen Sohn. 

„Ha, Beweise, dass ich nicht lache! Jeder im Dorf weiß, was für ein listiger Bursche dein Sohn ist. Außerdem ist er heute Mittag bei meinem Sohn gewesen. Vor dem Essen habe ich selbst die Hühner gefüttert, und mein Prachthahn ist noch da gewesen. Wenige Stunden später hat meine liebe Frau in der Nähe des Brunnens Federn gefunden, die eindeutig von unserem Gockel stammen. Ich habe ihn überall gesucht – er ist weg!“, wettert Selatin weiter. 

„Der Fuchs wird ihn geholt haben, deinen langbeinigen Schreihals! Und jetzt schau, dass er dir nicht auch noch die übrigen Hühner wegschnappt!"

Schön langsam verliert die Mutter ihre Geduld. 

Das war diese Woche bereits das dritte Mal, dass ihr Nachbar wütend ins Haus stürmte und Fidaim irgendetwas in die Schuhe schob. Aber so lässt sie niemanden über eines ihrer Kinder sprechen, alle neun hat sie anständig erzogen. 

Endlich trifft Fidaim im Wald beim Lagerplatz ein, seine beiden Cousins, die gleichzeitig auch seine besten Freunde sind, erwarten ihn schon sehnsüchtig. 

„Hast du einen erwischt?", fragt Bujar ungeduldig. 

"Was glaubst du denn? Dieser Schafskopf von Nachbar merkt aber auch gar nichts. Fast wäre mein Plan danebengegangen. Ich legte mich in der Nähe des Stalls ins hohe Gras auf die Lauer, da stolzierte auch schon der Hahn daher. Geduldig wartete ich darauf, bis er an mir vorbei war, richtete mich auf und mit einem Sprung packte ich ihn. Plötzlich hörte ich jemanden. Es ist Ali gewesen, er wollte Wasser vom Brunnen holen. Schnell steckte ich dem Hahn den Kopf unter den Flügel und stopfte ihn unter meinen Pulli. Ali wollte mir unbedingt seinen neuen Bogen zeigen, ich musste mit ihm ins Haus gehen. Ihr kennt ja Ali, wenn der etwas Neues hat, muss er es jedem zeigen. Der Dummkopf merkte nicht einmal, dass Federn unter meinem Pulli hervor zu Boden fielen. Also folgte ich ihm ins Haus. Im Vorhaus trafen wir auf seinen Vater. Mein Herz klopfte wie wild. Wenn der bemerkt hätte, dass ich seinen schönsten Hahn geklaut habe, hätte er mich windelweich geklopft." 

Mit offenen Mündern lauschen Fidis Freunde seiner Erzählung.

Luan ist etwas misstrauisch: „Und was hat der Hahn unter deinem Pullover gemacht?" 

„Nichts, du weißt ja, Hühner sind nicht gerade die Hellsten. Sobald es finster ist, glauben sie, es ist Zeit zum Schlafen.“

„Erzähl schon weiter!", drängt Bujar seinen Cousin. 

„Ich stand da so mit dem Nachbarn im Vorhaus und wartete auf Ali. Ganz höflich grüßte ich den Nachbarn. Gut, dass er sowieso nie mit mir redet. Er bemerkte Gott sei Dank nichts. Nachdem ich mir den Bogen angesehen hatte, habe ich endlich das Weite suchen können. Der Hahn wäre mir sonst sicher noch erstickt. So, jetzt wird es Zeit für unser Mahl! Komm her Bujar, halt den Hahn gut fest, damit ich ihn köpfen kann!“ 

Bujar kommt zögernd näher. Fidaim streckt ihm den wehrlosen Hahn entgegen.

„Jetzt nimm ihn schon, tu nicht so blöd, er wird dich schon nicht angreifen!"

Ungeschickt greift Bujar nach dem Hahn. 

„Ich habe ihn, du kannst auslassen!" Gerade als Bujar das sagt, beginnt der Hahn kräftig mit den Flügeln zu schlagen, der Junge erschreckt furchtbar und lässt ihn entwischen. Flügelschlagend hüpft der Hahn im Wald herum, die Buben hinter ihm her. 

„Verdammt noch einmal, nicht einmal einen Hahn kannst du halten, Mamasöhnchen!", schimpft Fid, während er dem Hahn hinterhereilt. Mit einem geschickten Sprung erwischt er ihn wieder. 

„Es tut mir leid, er hat mich in den Finger gepickt, darum habe ich ihn ausgelassen, ehrlich Fid!", jammert Bujar schuldbewusst. 

„Ja, ja, komm her und halt ihn jetzt fest, ich habe Mordshunger!"

Fid hält den Hahn mit der linken Hand fest und kramt mit der rechten nach seinem Taschenmesser. 

„Was? Du willst den Hahn mit dem kleinen Ding erledigen! Damit kannst du ihn höchstens kitzeln!", lästert Luan, als er Fidaims Messer sieht.

Die ohnehin nur fünf Zentimeter lange Klinge war ihm beim Zielschießen vor ein paar Tagen abgebrochen und obendrein komplett stumpf geworden. 

„Ach was, das wird schon gehen, ich halt einfach stärker nieder. Komm her, Bujar, sonst kriegst du nachher nichts ab! Du hast versprochen beim Schlachten zu helfen. Hast du das etwa vergessen?" 

„Ich habe ehrlich gesagt gar keinen Hunger mehr, außerdem schaut der Hahn ziemlich alt aus, der ist sicher zäh wie Rindsleder. Mein Finger tut mir auch schrecklich weh, ich kann ihn damit sicher nicht mehr festhalten, Luan soll dir helfen." 

„An Ausreden warst du noch nie verlegen, vergesst mich alle beide, ich köpf ihn halt allein."

Fidaim klemmt das geöffnete Messer zwischen seine Lippen, packt mit beiden Händen den Hahn und stellt ihn zwischen seinen Beinen auf den Waldboden. Ungläubig beobachten ihn seine Freunde von einer sicheren Distanz aus. Dann stellt er seine Füße auf die Läufe des Hahns, drückt seine Beine so weit zusammen, bis sich das Tier nicht mehr rühren kann. Mit der Linken schnappt er sich den Hals des Federviehs, greift mit der Rechten schnell um das Messer, zerrt den Hals etwas in die Länge und beginnt mit dem Messer zu säbeln.

Ein letztes Mal stößt das arme Tier einen krächzenden Laut aus. Blut färbt den Boden, endlich ist der Kopf ab. Fidi wirft den Schädel in die Büsche und lässt das Tier los. Es beginnt heftig mit den Flügeln zu schlagen. Kopflos irrt der Hahn durch die Bäume, bis er gegen einen kräftigen Stamm prallt und zu Boden fällt. Nach ein paarmal Zucken ist es still. Erst jetzt getrauen sich Bujar und Luan zum erledigten Hahn. 

„Na, ihr zwei Schisser, könnt ihr heute Nacht ohne Mami überhaupt einschlafen. Essen wollt ihr, aber die Drecksarbeit kann immer ich machen!"

Wütend schnappt Fidaim das Tier und sucht sich im Wald einen geeigneten Platz zum Häuten und Ausnehmen. In der Nähe des Baches wird er fündig. Er legt das ausgeblutete Tier auf einen flachen Stein, greift sich einen geeigneten Wetzstein und beginnt sein winziges Taschenmesser zu schärfen. Zufrieden mit der Schärfe der Klinge beginnt er geschickt die Haut vom Fleisch zu lösen. Mit sichtlich geübten Handgriffen entfernt er die Eingeweide. 

„Ich richte unsere alte Feuerstelle wieder her. Holz ist vom letzten Mal noch genug da", stellt Luan fest. Die Jungs verbringen viel Zeit in ihrem Lager im Wald. Ihr Einfallsreichtum beim Baumhäuserbauen ist nahezu grenzenlos. Immer größer und stabiler werden die Bauten. Am liebsten trainieren sie im Wald mit Pfeil und Bogen. Außer Bäume trafen sie zwar noch nie etwas, aber sie haben dabei riesigen Spaß. 

„Wo steckst du, Bujar? Ich brauch dich zum Auswaschen des Magens, nimm den neuen Topf mit her!“, schreit Fid zu seinem Freund hinüber, der gerade verkohltes Holz aus der Feuerstelle entfernt.  

Da Huhn nur sehr selten - und zumeist in sehr kleinen Portionen zu Hause am Speiseplan steht, hat der zwölfjährige Fidaim solchen Heißhunger darauf. Nur an besonderen Feiertagen wird ein Huhn, meist ein älteres Semester, geschlachtet und von seiner Mutter köstlich zubereitet. In dem kleinen Lehmhaus ist es üblich, dass die neun Kinder, Vater und Mutter kreisförmig auf einem Teppich sitzen. In die Mitte wird eine große Schüssel mit dem Essen gestellt. Zu Huhn gibt es immer leckeren, pappigen Paprikareis und frisches, ofenwarmes Maisfladenbrot. Wer beim Essen zu lange schaut, bekommt nichts ab. Fidi zögert nie lange, er ist nicht nur sehr still beim Essen, sondern auch noch dazu flink. Zum Schluss achtet er stets darauf, noch ein kleines Stück Fleisch zu erwischen, das er sich dann ganz langsam, Faser für Faser zwischen die Zähne steckt. Nach dem Essen verzichtet er auf schwarzen Tee, damit er möglichst lange den guten Geschmack des Fleisches im Mund behält.

Es ist kein Wunder, dass Fidi es jetzt fast nicht mehr erwarten kann, den Hahn im Kochtopf zu sehen. Nur ein paar Probleme haben die drei Freunde noch zu lösen: ihr gestohlener Topf ist viel zu klein, Luan konnte kein Öl auftreiben und Bujar hat das Salz zu Hause vergessen. 

„Verdammt noch einmal, das war das letzte Mal, dass ich eine Beute mit euch teile! Ihr seid wirklich zu blöd! Jetzt müssen wir das Fleisch in einer Wassersuppe essen, da werden wir bestimmt schön fett davon, ihr Schwachköpfe! Los Luan, halt den Topf, damit ich die zerlegten Teile hineingeben kann!" 

Endlich ist der Hahn zerlegt im Topf und das Feuer entfacht.

„Wo sollen wir die Haut mit den Federn verstecken?", fragt Luan. 

„Wir graben sie weit weg von unserem Lager ein, damit uns keiner verdächtigen kann. Los Luan, schau auf unser Huhn, rühr mit dem Stock öfter um, damit nichts anbrennt!" 

Fid hüpft sogleich auf, läuft Richtung Waldlichtung und beginnt unter einer großen Tanne, mit den bloßen Händen ein Loch zu graben. Der Boden ist von der anhaltenden Hitze sehr hart geworden, nur mit Mühe kommt er mit seiner Arbeit voran. Bujar hilft ihm die Haut und sämtliche Federn am Bachufer einzusammeln. Nachdem alle Beweisstücke unter der Erde sind, treten sie gemeinsam den Waldboden wieder fest und geben etwas Laub und ein paar Zweige darüber, damit man die Stelle nicht so leicht erkennen kann. Dann kehren sie zu ihrem Lagerplatz zurück. 

„Ihr habt aber lange gebraucht, das Fleisch ist schon fertig", empfängt Luan die beiden. 

„Der Boden war so hart, mir tun die Hände vom Graben weh, da kann ich eine Stärkung gut gebrauchen!"

Fidi nimmt den Topf vom Feuer. Gierig greift sich jeder sein erstes Stück. 

„Wie war das, hah? Zäh wie Rindsleder hast du gesagt und jetzt frisst du in dich hinein. Schmeckt dir wohl doch!", äfft Fidi Bujar nach. 

„Das Fleisch schmeckt so ganz ohne Salz zwar etwas fad, aber zart ist es, einfach unglaublich zart", muss Bujar zugeben, schmatzend greift er sich noch ein Stück.

„Nachbar Selatin füttert seine Hühner nur mit dem Besten, da bekommt sein Sohn Ali etwas Schlechteres zu beißen, so vernarrt ist der in seine Viecher. Uns soll es recht sein. Jetzt wissen wir ja, wo wir uns das nächste Huhn holen werden. Ha! Ha!"

Fidaim verschluckt sich fast vor lauter Lachen und seine Freunde stimmen in sein Gelächter ein.

Nachdem der Hahn gänzlich verspeist ist, wäscht Bujar den Topf im Bach aus und versteckt ihn anschließend wieder im Baumhaus. 

„Gib mir meinen Bogen und den Köcher mit den Pfeilen herunter, ich habe Lust zu schießen!", ruft Fidi zu seinem Cousin hinauf. Die beiden anderen Buben schließen sich ihm sofort an und ab geht es mit wildem Geschrei in den Wald.

Vor Einbruch der Dunkelheit kehren die drei Buben zum Baumhaus zurück. Wendig klettert Luan die Strickleiter empor und verstaut Pfeil und Bogen im Baumhaus. Von oben kann er die Waldlichtung erkennen. Plötzlich schreit er ganz aus dem Häuschen:

„So ein Mist! Kommt schnell herauf! Das müsst ihr euch selbst ansehen. Bei der Tanne sind Krähen, ich glaub, die haben die Haut ausgegraben. Diese Biester! Was sollen wir denn jetzt machen?" 

„Wieder eingraben natürlich, sonst findet bestimmt jemand die Federn und bringt uns damit in Verbindung", antwortet Bujar ängstlich. 

„Ich will mir den Platz zuerst einmal anschauen, ich glaube nämlich, ich habe da eine gute Idee“, sagt Fidi geheimnisvoll und sammelt sämtliche von ihnen sauber abgenagten übrig gebliebenen Knochen des Hahnes ein. Sie laufen hinüber zur Waldlichtung und verscheuchen die Krähen. 

„Welche Idee hast du denn gehabt? Sag es uns Fid!", will Bujar ungeduldig wissen. „Jetzt erzähl doch schon!" 

„Ihr zwei tretet das leere Loch wieder zu und ich verteile die Knochen zwischen den Federn! Na, nach was sieht das dann wohl aus, Luan?", will der gewiefte Bub wissen. 

„Als hätte ein Raubvogel ein Huhn zerlegt?“, ratet dieser.

„Bingo! Habichte hinterlassen so ein Schlachtfeld, das habe ich zu Hause schon einmal gesehen. Wenn jemand die Federn findet, wird er sofort denken, dass es ein Habicht gewesen ist und nicht wir", erklärt der listige Junge stolz. 

„Du bist genial!“, lobt Luan seinen Cousin. 

„Kommt, wir laufen schnell nach Hause, bevor es ganz dunkel ist! Wir treffen uns morgen in der Früh!" Schnell verabschieden sich die drei voneinander und laufen ins Dorf zurück. 

Nach einer halben Stunde kommt Fidaim bei seinem Elternhaus an.

„Endlich bist du da, du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du am Sonntag so spät nach Hause kommst, du musst morgen zeitig auf", ermahnt Fids Vater seinen Sohn, als dieser bei der Haustür hereinschleicht. 

„Deine Mutter hat dir etwas vom Abendessen aufgehoben, geh zu ihr in die Küche. Du kannst ihr gleich beim Kneten des Brotteiges helfen, deine Schwestern sind zu schwach dafür.“ 

„Ist gut, Papa." 

In der Küche sitzt seine Mutter auf einer umgedrehten Getränkekiste, Sessel gibt es nur wenige in der ärmlich eingerichteten Lehmhütte. Die Mutter bereitet gerade den Teig für das Fladenbrot am kommenden Morgen. Sie blickt hoch zu ihrem Sohn und begrüßt ihn mit einem Lächeln:

„Gut, dass du da bist. Dort in der Schüssel ist dein Abendessen und dann hilfst du mir bitte beim Kneten, du bist so viel stärker als ich. Meine Hände schmerzen vom Wäschewaschen." Fid schnappt sich die zwei Tomaten und das Brot, das seine Mutter für ihn beiseitegestellt hat und isst genussvoll, so als hätte er seit Stunden nichts in den Magen bekommen. Nach dem letzten Bissen beginnt er den Teig zu kneten. Das ist eine schweißtreibende Arbeit, müssen doch zwei Kilo Mehl, Wasser, Milch, Öl, Salz und Hefe gut durchgemischt werden, bevor der Teig über Nacht unter einem Tuch ruhen muss. 

„Jetzt hätte ich es doch glatt vergessen. Selatin ist heute wieder bei uns gewesen. Er hat dich gesucht. Ihm fehlt sein größter Hahn und er verdächtigt natürlich dich. Ich habe ihn aus dem Haus gejagt. Du würdest doch nicht unseren Nachbar bestehlen, oder mein Sohn?" Sie streichelt ihm dabei liebevoll übers Haar. 

Fidaim antwortet ihr wie beiläufig:

„Was der immer hat. Ich habe heute einen Habicht über dem Dorf kreisen sehen, vielleicht hat sich der den Hahn geschnappt. Zu Mittag habe ich seinen Gockel jedenfalls noch gesehen, da bin ich bei Ali gewesen." 

Damit ist für die Mutter die Sache endgültig erledigt und sie hat keinen Zweifel an der Unschuld ihres Sohnes. 

Am nächsten Tag kommt Nachbar Selatin um die Mittagszeit zum Haus der Familie K. Im Gemüsegarten trifft er auf Fidaims Mutter. 

„Was hat Fidaim heute wieder getan, Nachbar?“, begrüßt sie ihn unfreundlich. 

„Nichts, ich wollte mich bloß entschuldigen. Meine Frau hat heute Morgen beim Holzsammeln im Wald die Überreste unseres Gockels gefunden. Ein Habicht dürfte ihn gestern erwischt haben. So etwas passiert wirklich selten, darum habe ich deinen Sohn verdächtigt." - Selatin bekommt diese Worte sichtlich schwer über die Lippen. Er war sich so sicher gewesen, dass der listige Nachbarsjunge hinter dem Verschwinden seines Prachthahns steckt. Nun geht er mit gesenktem Kopf nach Hause und füttert erst einmal seine übrigen Hühner.

 

Schläge in der Schule

So wie alle Kinder aus dem Dorf gehen Fidaim, Luan und Bujar jeden Morgen zu Fuß drei Kilometer zur Schule. Einen Schulbus gibt es nicht, ja nicht einmal ein Fahrradbesitzer ist im kleinen Ort ansässig. Der einzige Mann, der eines besessen hatte, ist vor einem Jahr weggezogen. 

Nach einem köstlichen Frühstück, bestehend aus Maisfladenbrot, Tomaten und gegrilltem Paprika, seiner Leibspeise übrigens, macht sich Fidi auf den Weg zur Schule. Am Hausbrunnen warten schon seine zwei Cousins Bujar und Luan auf ihn.

„Na, du bist heute schon wieder spät dran“, begrüßt ihn Bujar und deutet dabei vorwurfsvoll auf seine Uhr. 

„Ich habe nun einmal keine Uhr und in der Schule gehen wir so früh ja sowieso keinem ab", erwidert Fid verschlafen. 

„Ich muss aber noch die Mathehausübung abschreiben, also los jetzt!", drängt Luan.

Sein Cousin ist so ziemlich der Schlechteste in der Klasse. Er hat jeden Morgen Stress beim Abschreiben. Im Laufschritt geht es zur Schule. Tragen muss keiner viel, weil sie jeweils nur ein Heft, einen Kugelschreiber, einen Bleistift und ein Lineal besitzen. Nach und nach treffen sie auf immer mehr Kinder. Sie alle haben sich viel vom Wochenende zu erzählen. Plötzlich entdeckt Fidi Valbona, sie geht neben seiner Lieblingscousine Taibe. 

„Schaut einmal, da vorne ist Valbona, ist die wieder hübsch heute! In ihrem grün-weiß-gelb-gestreiften Pulli schaut sie aus wie eine Biene", schwärmt Fidaim verliebt.

Immer wenn er das Mädchen sieht, bekommt er ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend. Leider ignoriert sie stets seine Annäherungsversuche. Sie ist zwar nett zu ihm, aber das ist sie nun einmal zu allen Jungs aus der Klasse und das ist ihm eindeutig zu wenig. Aber Fidi will nicht aufgeben, er wird sich schon noch etwas einfallen lassen, damit er ihr näher kommen kann. 

Kurz vor dem Läuten kommen sie bei der Schule an. Es ist ziemlich laut in der Klasse. Der alte, schwarze Holzboden knarrt, er müsste dringend wieder einmal mit Traktoraltöl gestrichen werden, so abgegangen ist er bereits. Bänke werden verrückt und schließlich haben alle 30 Schüler ihren Platz gefunden und der Mathematiklehrer tritt in die Klasse ein. Wie auf Kommando erheben sich die Schüler fast gleichzeitig, keiner spricht. Der Lehrer blickt streng durch die Reihen und überprüft, ob jemand fehlt. Alles vollzählig. Er deutet mit der Hand, dass sie sich setzen können.

Lehrer Hassan ist gefürchtet bei den Schülern, er kann sehr schnell die Fassung verlieren und dann ist er gnadenlos mit der Rute. Für eine vergessene Hausübung stehen drei Schläge auf die Hände mit der Rute an, bei Frechsein noch einige mehr. Außerdem ist er ein Fachmann für Ohrenlangziehen, Kopfnussausteilen und Bitzelhaareausreißen. Wenn die Schüler über ihn reden, verwenden sie immer den Spitznamen Frosch, weil ihr strenger Lehrer extrem dicke Backen und etwas vorstehende Glupschaugen hat.

Zu Beginn der Stunde kontrolliert er die Hausübung. Alle haben sie. Luan hat sie in der letzten Sekunde noch fertig abgeschrieben. Anschließend erklärt der Lehrer das gleichseitige Dreieck und zeichnet mit dem Rücken zu den Schülern auf der Tafel. Fidaim jedoch ist ziemlich gelangweilt, er starrt die blau-weiß gestrichenen Wände an, entdeckt hie und da neue Risse und Löcher. Die Schule ist schon alt, Geld fehlt an allen Ecken und Enden, das sieht man. Sein Blick schwenkt zu Valbona hinüber. 

„Sieht die süß aus. Was würd' ich dafür geben, wenn sie mich einmal ...", träumt Fidi vor sich hin. 

„Fidaim K.! Was habe ich eben erklärt?"

Erbost baut sich der „Frosch“ vor dem erschrockenen Jungen auf. Er hat ihn gar nicht näherkommen gesehen, so vertieft war der Bub in seine Gedanken rund um Valbona gewesen. 

„Das gleichseitige Dreieck, Herr Lehrer!", meldet Fidi selbstbewusst zurück. 

„Wenn ich dich noch einmal erwische, dass du nicht mitzeichnest, kannst du heute am Nachmittag das Versäumte nachholen! Ist das klar?" 

„Jawohl, Herr Lehrer!", antwortet Fidi mit leichtem Grinsen zurück.

Alle Blicke sind auf Fidaim gerichtet, er ist in der ganzen Schule dafür bekannt, stets Faxen zu machen. Seine Mitschüler warten auf eine Grimasse von Fid, sobald sich der Lehrer von ihm abwendet - und tatsächlich, der Lausbub kann es einfach nicht lassen. Als sich der Lehrer umdreht, äfft Fidi ihn nach, er bläst seine Backen auf, reißt die Augen weit auf und macht dazu eine komische Kopfbewegung. Alle kennen sich aus, er imitiert den „Frosch". Die ganze Klasse lacht, der Lehrer dreht sich ruckartig um und starrt Fid wütend an, der sitzt blitzschnell ganz brav in seiner Schulbank und tut so, als würde er von der Tafel abzeichnen. Bis zum Ende der Stunde wagt sich keiner mehr zu rühren, so zornig schaut der „Frosch“ drein. 

In der ersten Fünfminuten-Pause kommt Taibe zu Fidaim:

„Du musst unbedingt Valdete helfen, einige Buben ärgern sie schon wieder wegen ihrer Haare."

„Die sekkieren sie doch nicht wegen ihrer Fransen am Kopf, sondern wegen ihrer Läuse. Mich beißt es auch gleich, wenn ich sie nur ansehe", spöttelt Fidaim. 

„Sei nicht so gemein! Ihre Familie ist wirklich sehr arm, mir würdest du doch sicher auch helfen, oder?", fleht Taibe. 

Seiner netten Cousine kann Fidaim sowieso keinen Wunsch abschlagen. Taibes Familie hatte wirklich viel mitgemacht. Der Vater, Fidaims Onkel, starb viel zu früh. Er war sein Klassenlehrer in der Volksschule gewesen, ein wirklich netter Mensch. Den Tag seines Todes wird sein Neffe wohl nie vergessen können. Als Neunjähriger konnte er mit Begriffen wie Krebs nichts anfangen, er kannte die Bedeutung dieses Wortes einfach nicht, keiner erklärte ihm, was dem Onkel fehlte. Man konnte gar nichts sehen, er wurde nur immer schwächer und schwächer. Eines Tages, es war gerade Kirschenzeit, saß Fidaim am Kirschbaum und schlug sich den Bauch so richtig voll, als plötzlich seine Mutter gelaufen kam und ihm mitteilte, dass sein geliebter Onkel verstorben sei. Fid fiel damals wie ein Stein vom Baum, doch das schmerzte ihn viel weniger als der Verlust seines Onkels. Seit diesem Tag musste seine Tante mit ihren vier Töchtern und einem Sohn ums Überleben kämpfen. Taibe ist die zweitälteste Tochter und ein sehr liebes, nettes Mädchen, mit der alle in der Klasse gut auskommen. 

„Na gut, ich werde ihr helfen, wenn ich jemanden spotten höre", verspricht Fidaim. 

„Ich habe es Valdete ja gleich gesagt, dass du ihr helfen wirst. Danke Fidi!"

Zufrieden geht Taibe zu ihrer Banknachbarin zurück. Die beiden Mädels tuscheln miteinander und Taibe legt ihrer Freundin schützend die Hand auf die Schultern. Ganz kurz dreht sich das schüchterne Mädchen mit den Fransenhaaren zu Fidaim um, ein flüchtiges Lächeln ist in ihrem sonst so traurigen Gesicht zu erkennen. 

Während der nächsten Stunde geht es nicht mehr so ruhig zu, der Lehrer ist schon etwas alt, hört und sieht auch nicht mehr so gut. Zwei schlimme Buben namens Ali und Fitim nutzen das sofort aus. Ihre Gemeinheit kennt fast keine Grenzen und so suchen sie sich ausgerechnet die kleine Valdete als Opfer aus. Sie beschießen sie von hinten mit kleinen Papierkügelchen. Ali malt auf ein Blatt Papier eine übergroße Laus und schreibt darunter mit Blockbuchstaben „, VALDETES GRÖSSTE KOPFLAUS".

Der Zettel geht durch alle Bänke. Als er bei Fid angelangt ist, versteckt dieser ihn unter sein Heft, dann reißt er eine leere Seite heraus, malt mit dem Bleistift einen kleinen Punkt aufs Papier und schreibt darunter „ALIS GEHIRN".

So gibt er den Zettel weiter. Als das Blatt bei Taibe eintrifft, dreht sie sich zu ihrem Cousin um und flüstert leise: „Danke!" 

Fidaim hat schon mehrmals beobachtet, dass Taibe ihrer Freundin die Läuse einfach mit der Hand entfernt, ohne dass es den anderen Kindern aufgefallen wäre. Taibe hat mit Valdete einfach Mitleid. Das verschreckte Mädchen muss mit ihrer Familie in einer winzigen Lehmhütte wohnen, die anscheinend komplett mit Läusen verseucht ist. Wiederholt kommt Valdete mit fast kahlem Kopf in die Schule, weil ihr die Mutter die Haare wegen der Lausplage abschneiden musste. Am Schulbeginn wollte keiner neben ihr sitzen, bis sich Taibe freiwillig meldete. Seitdem geht es dem schüchternen Mädchen merkbar besser. 

Endlich läutet es. Die Schüler laufen hinaus in den Schulinnenhof. In der fünfzehnminütigen Pause geht es immer recht lustig zu. An die dreihundert Schüler spazieren auf und ab. Fidaim gesellt sich zu Bujar und Luan, er verkündet ihnen: „Passt auf, was ich jetzt mit Valbona mache!" 

Das zierliche Mädchen mit dem brünetten Haar und den rehbraunen Augen steht mit ein paar Freundinnen in der Nähe des Brunnens und lacht fröhlich. 

„Du Valbona, ich habe etwas für dich!", ruft ihr Fid entgegen. Sie dreht sich um und kommt näher: „Was hast du denn für mich?" 

„Du musst es dir selbst aus meinem Hosensack nehmen“, meint der verliebte Junge keck. 

„Nein, das mache ich nicht. Gib es mir einfach heraus!", bittet Valbona neugierig. 

„Wenn du es dir nicht holst, behalt ich es mir eben oder schenk es einer anderen“, grinst Fidaim das Mädchen spitzbübisch an.

Ein paar Schulkolleginnen mischen sich ein und ermutigen Valbona, in die Hose zu greifen. 

„Dann halt aber ganz still!" Zögernd greift sie in seinen Hosensack.

„Da ist ja gar nichts drinnen!“ 

„Du musst noch ein bisschen tiefer greifen“, ermuntert Fidi die Kleine. 

Plötzlich spürt Valbona ein Stückchen tiefer etwas Warmes, Weiches, sie versucht daran zu ziehen - doch dann schreit sie: „Du Schwein! Du hast mich hereingelegt!" 

Schnell zieht sie ihre Hand aus der Hose und läuft mit hochrotem Kopf in Richtung Schule. Ihre Freundinnen laufen ihr hinterher, sie wollen von ihr wissen, was denn in dem Hosensack war. 

Fidaim spielte ihr wirklich einen bösen Streich, weil sie nie auf seine Flirtversuche einging. Sein Hosensack ist innen zerrissen und eine Unterhose trägt er sowieso nie und so griff das Mädchen nichts ahnend genau auf – na ja ... 

Fidi findet das extrem lustig. Er steht auf dem Schulhof und lacht sich über das erschrockene Mädchen fast kaputt. Wenn sie bloß einmal auf ihn reagiert hätte, aber so musste er ihr einfach einen Streich spielen. Bei seinen Freunden ist er nun wieder einmal der Held. Keiner von ihnen würde sich so etwas trauen.

Eine Stunde später tut es Fidi dann aber doch ein bisschen leid. Valbona sitzt verweint in der Klasse und lässt ihren hübschen Kopf ganz tief hängen. Sie schaut nicht ein einziges Mal auf. 

In der dritten und vierten Einheit steht Darstellende Geometrie auf dem Programm. Zwei Stunden lang haben sie jetzt den strengen Lehrer Shahin. Dieser duldet keinen Mucks. In schier endlosen Vorträgen erklärt er ihnen in der ersten Stunde, was in der zweiten Einheit zu zeichnen wäre. Alle müssen zur Tafel blicken, während der Lehrer vorzeichnet und dazu alles bis ins letzte Detail erläutert. Fidi ist sehr schnell von Begriff, daher langweilen ihn diese Stunden extrem. Obendrein ist er ein guter Zeichner und so zeichnet er bereits in der ersten Stunde ab, was auf der Tafel steht; dann kann er in der zweiten Stunde Karikaturen vom Lehrer und von Mitschülern anfertigen, das tut er liebend gerne. Eine ganze Weile geht es gut, doch zum Ende der Stunde bemerkt Shahin, dass Fidi zeichnet. Schnellen Schrittes eilt er zu Fids Schulbank, schlägt mit der Faust auf den Tisch und reißt ihm das Heft aus der Hand. 

„Warum zeichnest du entgegen meiner Anweisung?", brüllt er durch die Klasse.

Wieder einmal sind alle Blicke im Raum auf Fidaim gerichtet. Der rührt sich jedoch nicht und blickt dem Lehrer nur starr in die Augen. Er fürchtet ihn nicht. Außer sich vor Wut streicht der Lehrer die sauber und vor allem richtig gezeichneten geometrischen Figuren durch und knallt das Heft auf den Tisch. 

Fidaim sitzt selbstbewusst da und denkt sich fuchsteufelswild: „Das lasse ich mir nicht gefallen, ich werde es dir heimzahlen!" 

„Einen Einser trag ich dir auch noch in das Klassenbuch ein!", wettert Shahin und zückt seinen Rotstift erneut. Für seine korrekte Zeichnung, die er nur etwas zu früh angefertigt hat, bekommt der Bub jetzt auch noch die schlechteste Note eingetragen. Shahin schlägt das Klassenbuch auf, sucht den Namen Fidaim K. – und schon ist der Einser eingetragen. 

Beim Läuten verlässt der Lehrer die Klasse. Schnurstracks stürmt Fidi zur Tafel, schnappt sich wutentbrannt eine rote Kreide und streicht die Zeichnung des Lehrers ebenfalls durch, so wie dieser es mit seiner Zeichnung machte. Taibe eilt zur Tafel und will ihren Cousin beruhigen:

„Hör auf damit, er wird dich windelweich klopfen!“ 

„Lass mich! Ich habe alles richtig gehabt! Das hätte er nicht tun dürfen, dieses Scheusal!", schreit Fidi hasserfüllt. 

Mehrere Mitschüler reden jetzt auf Fidaim ein, doch es bringt nichts, die Zeichnung des Lehrers ist bereits vollständig zerstört. Doch dem zornigen Jungen ist es noch nicht genug der Rache, er geht zum Lehrertisch, sucht sein Notenblatt im Klassenbuch und beginnt den zuvor eingetragenen Einser mit seinem angefeuchteten Finger wegzuwischen. Das klappt nicht so gut. Statt der Note ist jetzt ein großer rötlichbrauner Fleck zu sehen. Rasch schmiert Fidaim mit seinem Kugelschreiber einen Fünfer darüber. Knapp vor dem Läuten flitzt Fidi zurück zu seinem Platz.

Beim Eintreten von Shahin sitzen alle mucksmäuschenstill in ihren Schulbänken. 

„Ich erwarte mir, dass jeder von euch in dieser Stunde mit der Zeichnung fertig wird, ansonsten wird nachgesessen!" Erst jetzt dreht sich der Lehrer zur Tafel um und sieht das zerstörte Tafelbild. Wie angewurzelt bleibt er stehen, dreht sich zu den Kindern um und poltert:

„So eine bodenlose Frechheit! Wer war das?" 

Die Zornesröte steigt ihm ins Gesicht und er läuft wild gestikulierend durch die Bankreihen. Dann bleibt er abrupt vor Fidaim stehen. Durchdringend blickt er den Jungen an. Im Klassenzimmer ist es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Keiner aber antwortet dem Lehrer, niemand will Fidaim verraten. In solchen Situationen halten sie alle fest zusammen. 

„Nun gut, wenn es keiner war, muss ich annehmen, dass alle daran beteiligt waren. Klassensprecher, geh hinaus und such im Schulhof einen Stock! Vielleicht fällt euch ja in der Zwischenzeit doch noch der Schuldige ein, ansonsten beginne ich in der ersten Reihe!", wettert Shahin. 

Keiner rührt sich, es vergehen schweigsame fünf Minuten, ehe der Klassensprecher mit einem Stock in der Hand den Raum betritt. Schnurstracks eilt der Lehrer zur ersten Reihe, die kleine Shpresa muss ihre zarten Hände ausstrecken. Dreimal schlägt Shahin den Stock auf ihre Finger. Die Nächste in der Reihe ist Zoja, zitternd erträgt sie die schmerzhaften Schläge.

Den Blick durch die Klasse schweifend schreitet Shahin zur nächsten Bank an der Taibe und Valdete sitzen. Beide strecken dem Lehrer die Hände entgegen, Shahin hebt den Stock, doch noch ehe er Taibes Finger trifft, hüpft Fidaim auf und protestiert:

„Schlagen Sie nicht meine unschuldige Cousine! Ich habe es getan!" 

„Das habe ich mir ja gleich gedacht! Es vergeht kein Tag, an dem du keinen Unfug in der Schule treibst. Das wird ein Nachspiel haben. Komm heraus zur Tafel!", befiehlt der Lehrer. 

Erhobenen Hauptes schlendert Fid zur Tafel und streckt seine Hände aus. Während der Lehrer immer wieder den Stock auf seine Finger herabsausen lässt, blickt Fidi schelmisch in die Gesichter seiner Schulkameraden. Keiner soll merken, dass er Schmerzen hat, schon gar nicht Shahin, der ungerechte Lehrer. 

„Jetzt setz dich und beginn mit der Zeichnung! Für deine Unverschämtheit bekommst du einen weiteren Einser in Darstellender Geometrie." Abermals zückt der vom Zuschlagen schon heftig schwitzende Lehrer seinen Rotstift, schlägt das Klassenbuch auf und stiert den verschmierten Fünfer an.

Erneut beginnt er mit Fidaim zu toben. Diesmal bestraft er den Jungen mit fünfzehn Schlägen aufs Gesäß. So ohne Unterhose darunter ist es zwar manchmal ganz praktisch, aber momentan hat Fidi extreme Schmerzen auszuhalten und das Grinsen ist ihm nun fürs Erste ordentlich vergangen.

Der Rinderhirt

Nach der Schule muss Fidaim oft zu Hause in der kleinen Landwirtschaft helfen. Sein Vater geht sechsmal in der Woche bereits um vier Uhr in der Früh aus dem Haus, da er in einer weit entfernten Fabrik arbeitet. Täglich muss er zu Fuß eine Stunde zum Bus gehen und dann noch eine eineinhalbstündige Busfahrt auf sich nehmen, um seine Familie ernähren zu können. Nie beklagt er sich über sein hartes Leben. Allen in der Familie ist aber bewusst, dass der Vater nicht auch noch spät abends zu Hause am Hof schuften kann und so helfen daheim alle mit. 

Die Mutter und sein älterer Bruder Naim schaffen Fidaim nach der Schule immer eine Menge Arbeit an. Alles muss händisch erledigt werden, Maschinen gibt es keine. Meistens muss Fidi den Stalldienst übernehmen, die Arbeit gefällt ihm gar nicht; viel lieber würde er im Wald mit seinen Freunden spielen, doch das darf er immer erst nach erledigter Arbeit.

Die Familie besitzt zurzeit nur eine gutmütige, grauweißgefleckte Milchkuh namens Lara, auf der Fidaim sogar reiten kann, so brav ist das Tier. Der Vater darf ihn bloß nie beim Reiten erwischen, weil die Kuh gerade trächtig ist. 

Heute ist Samstag. Der Vater ist bereits zeitig aus dem Haus gegangen. Noch am Vorabend hat er Fidaim aufgetragen, für die Familie einkaufen zu gehen. Ohne Geld in der Tasche macht sich der Junge auf den Weg zum vier Kilometer entfernten Kaufladen. Sein Vater bezahlt immer am Monatsende, wenn er seinen Lohn bekommt. Nachdem ihm der Kaufmann das Gewünschte in Tüten verstaut hatte, fragt er augenzwinkernd Fidi:

„Na Kleiner, darf es heute gar nichts Süßes für die Familie sein?" 

„Oh doch, Vater hat mir aufgetragen, für alle Geschwister jeweils zwei Zuckerl mitzunehmen", lügt er wie gedruckt. 

Fidaim kann es kaum erwarten, aus dem Geschäft zu sein und sich eines davon genüsslich in den Mund zu stecken. Süßes ist zu Hause Mangelware, Schokolade gibt es überhaupt keine zu kaufen. Am Nachhauseweg greift er immer wieder in die Zuckerltüte, bis ihm einfällt:

„Jetzt darf ich keines mehr essen, sonst habe ich diese Woche zu wenige zum Eintauschen." 

Natürlich merkt sein Vater jedes Mal bei der Monatsabrechnung, dass sich Fidaim Zuckerl gekauft hat; schimpfen tut er seinen geliebten Buben trotzdem nicht.

Daheim hilft er seiner Mutter, die Vorräte in der Küche zu verstauen. Zwei Stunden ist er heute bereits für die Familie unterwegs gewesen, doch seinem Bruder ist das immer noch zu wenig.

Naim kommt bei der Küchentür herein und trifft auf Fidaim: „Gut, dass du zurück bist! Lara hat kein Grünfutter mehr, geh mit ihr zur Weide beim Bach. Lass sie ja ordentlich lange fressen! Hast du mich gehört?“ 

„Ja, ja. Warum muss ich immer auf die untere Weide gehen? Bajram trottet stets nur rund ums Haus mit der Kuh. Das ist wirklich unfair!", wendet Fid beleidigt ein. 

„Weil nun einmal kein Futter mehr ums Haus steht und Bajram genug fürs Gymnasium zu lernen hat.“ Naim duldet keine Widerrede seines kleinen Bruders. Was er einmal befohlen hat, muss erledigt werden.

Trotzig stapft Fidaim zum Stall, leise meckert er vor sich hin:

„Gemeinheit! Immer muss ich stundenlang mit der Kuh am Strick herumspazieren. Dabei wollte ich mich so gern mit Luan und Bujar treffen, die sind sicher schon beim Lager." Düster dreinblickend öffnet er die knarrende Tür des Bretterverschlags. Lara begrüßt ihn mit einem freudigen „Muh!" 

„Da freust du dich, wenn du mich siehst, steht heute wohl wieder ein Wandertag auf dem Programm. Mit Bajram kommst du eh nie weit herum."

Sanft tätschelt er die Kuh am Kopf und legt ihr geschickt ein selbstgefertigtes Strickhalfter um. Gutmütig trottet die Kuh hinter Fidaim aus dem finsteren Stall ins Freie. 

„Jetzt hätte ich doch glatt meine Flöte vergessen!"

Der Bub eilt in den Stall zurück und greift sich die auf einem Holzbalken liegende Flöte aus Holunderholz, er verstaut sie in seiner rechten Hosentasche, in der linken hat er ein paar Zuckerl und sein altes Taschenmesser eingesteckt, damit ihm auf der einsamen Weide nicht langweilig wird. Auf dem Weg zur satten Wiese geht es zuerst quer durchs ganze Dorf, dann durch einen idyllischen Pappelwald und bergab bis zum Bachbett. Entlang des klaren Wassers führt ein schmaler Pfad zur Wiese der Familie K. Endlich erreichen sie ihr Ziel. Aus dem Wald nimmt Fidaim einen kräftigen Holzpflock mit, diesen rammt er jetzt in die Erde und befestigt den Strick daran. Lara senkt sofort ihren Schädel und beginnt das saftige Grün abzuweiden. Müde vom langen Fußmarsch lässt sich der Junge unweit der Kuh ins hohe Gras fallen und schläft sofort ein. Ein sanftes Zupfen am Hosenbein weckt ihn auf. Das Tier hat im Umkreis des Pflocks das Gras inzwischen weggefressen und signalisiert ihm so, dass es noch Hunger hat. 

„Schon gut, meine Große, ich steh ja schon auf."

Nachdem er den Pflock ein Stückchen weiter weg in die Erde gerammt hat, sucht sich Fidi einen großen Stein, setzt sich darauf, holt seine sechslöchrige Flöte aus der Tasche und beginnt ein altes Hirtenlied zu spielen. Es dauert nicht lange, da hört der Junge ein bekanntes Pfeifen - Luan muss in der Nähe sein. Sofort pfeift Fid mit zwei Fingern zurück. Am angrenzenden Waldrand tauchen seine Cousins Luan und Bujar auf und ein weiterer kleinerer Junge, den Fidaim von hier aus nicht erkennen kann, befindet sich bei ihnen. Durchs Gras hüpfend kommen sie näher. 

„Ich habe gleich gewusst, dass du das sein musst, der da Flöte spielt", begrüßt ihn Luan erfreut. 

„Führst du wieder einmal eure Kuh Gassi?“, ärgert ihn Bujar.

„Halt doch das Maul! Du spielst dafür Kindermädchen“, kontert Fidi und deutet auf Bujars sechsjährigen Bruder Bedri.

„Schade, dass du keine Zeit hast, um mit uns zum Lager zu kommen“, meint Luan. 

„Wer sagt denn, dass ich nicht mitkann. Bedri, komm doch einmal her zu mir, ich habe etwas für dich!"

Fidaim greift in seine linke Hosentasche, fischt ein Zuckerl heraus und hält es zwischen zwei Fingern hoch. Der Kleine reißt die Augen gierig auf und will sofort danach greifen. 

„Na, na, nicht so schnell, das musst du dir erst verdienen." Rasch versteckt Fidaim das Zuckerl hinter seinem Rücken. 

„Wie denn?", fragt der Sechsjährige ungeduldig. 

„Es ist wirklich leicht verdient. Du brauchst dich nur hier auf den Stein zu setzen und meiner Kuh beim Grasen zuschauen. Wenn sie nichts mehr zu fressen hat, pfeifst du dreimal laut in meine Flöte und ich komme sofort angerannt." 

Da Fidaim den Pflock eben erst umgesetzt hat, weiß er genau, dass er mindestens eine Stunde lang Zeit haben würde, um mit seinen Freunden im Wald zu spielen. Schon oft wickelte er gute Tauschgeschäfte ab. Alle Kinder im Dorf sind ganz heiß auf Zuckerl. Nur einmal im Jahr, beim Zuckerlfest am Ende des Fastenmonats Ramadan, gibt es Süßes, und so übernehmen viele Buben für ein oder zwei kleine Süßigkeiten auch anstrengendere Arbeiten, wie Stallausmisten, Heuwenden oder Grünfutterhereinbringen für Fidaim - Aufgaben, die er zumeist von seinem Bruder zugeteilt bekommt. 

„Gut, ich mache es", willigt Bedri ein, greift sich schnell das Zuckerl, wickelt es aus und lässt es in seinem Mund verschwinden. Vor Glück strahlend setzt er sich mit der Flöte in der Hand auf den Stein. Die älteren Buben springen über die Wiese und verschwinden im Wald. 

Beim Lager angekommen, klettern sie hintereinander die Strickleiter ihres Baumhauses hinauf. 

„Was tun wir jetzt?", fragt Bujar und fügt hinzu. „Viel Zeit habe ich leider auch nicht, ich muss spätestens um zwei zu Hause sein, um beim Heueinbringen zu helfen." 

„Mein Bogen gehört neu bespannt, mir sind ein paar Saiten abgerissen“, meint Fidaim und holt sich den in der Ecke lehnenden Bogen. 

„Du kannst mein Messer zum Reparieren haben, deines ist viel zu klein dafür“, bietet ihm Luan sein nagelneues, rotes Taschenmesser an. 

„Wo hast du denn das her?", will Fidi interessiert wissen. Er entreißt seinem Cousin das Taschenmesser, dreht und wendet es und zieht nacheinander sämtliche Bestandteile heraus. Schon lange wünscht er sich so ein tolles Messer. Neben einer scharfen Klinge befinden sich noch ein Schraubenzieher, ein Flaschenöffner und eine Schere zum Herausklappen darauf. 

„Das hat mir mein Cousin aus Deutschland mitgebracht, ein Schweizermesser", erklärt Luan stolz. 

„Verkaufst du es mir? Ich muss es einfach haben!", bettelt Fidaim Luan an. 

„Was zahlst du mir dafür?", ist der Junge einem Geschäft nicht gerade abgeneigt. Er braucht das Messer fast nie, schnitzen tut er sowieso nicht. Fidaim kramt in seiner linken Hosentasche und holt seine letzten fünf Zuckerl heraus, die er Luan vor die Nase hält. 

„Ein bisschen wenig für ein so wertvolles Messer, findest du nicht auch Bujar?", will sich Luan Unterstützung von seinem Cousin holen. 

„Mehr habe ich aber nicht mehr“, lügt Fidaim, denn die restlichen sechs Zuckerl hatte er bereits daheim im Heuhaufen hinter dem Stall in einer Metalldose versteckt - ein Geheimversteck, auf das sicher nie jemand daraufkommen würde. 

„Fünf sind mir nicht genug, du gibst mir dafür jede Woche zwei weitere Bonbons", feilscht Luan. 

Im Handeln ist Fidaim ein Meister und so macht er das Geschäft mit folgendem Vorschlag perfekt:

„Du bekommst vier Wochen lang je zwei Zuckerl von mir, mehr kann ich dir einfach nicht geben. Mein Vater ist bereits etwas misstrauisch und erzähl ja keinem etwas davon.“ 

Mit Handschlag beschließen sie ihr Geschäft. Freudestrahlend vor Glück über das günstig erworbene Messer beginnt Fidaim die abgerissenen Bindfäden vom Bogen zu entfernen. 

„Den Falz musst du tiefer einschneiden, sonst hält dir die neue Bespannung wieder nicht lange", gibt ihm Bujar einen guten Rat; der Junge ist von den dreien der beste Bogenbauer. Fidaim sitzt im Langsitz am Boden des Baumhauses, legt sich seinen Bogen über die Beine und beginnt an einem Ende den Mittelfalz tiefer zu schnitzen. Das neue Messer schneidet irrsinnig gut und so kommt er zügig voran. Er dreht seinen Bogen um und macht sich am zweiten Falz zu schaffen. Währenddessen unterhalten sich die Jungs angeregt über die Schule und über Fidaims Streich, den er Valbona spielte. Rückblickend müssen sie darüber ausgelassen lachen. Fid ist dadurch etwas unkonzentriert und gellt beim Schnitzen seitlich ab. 

„Aua! So ein Mist, ich habe mich ins Bein geschnitten!", jammert er mit schmerzverzerrtem Gesicht. 

Binnen Sekunden ist seine aufgeschlitzte Hose am Oberschenkel blutdurchtränkt. Er steht vorsichtig auf und hält sich vor Schmerz seine schmutzige Hand auf die Wunde. 

„Tu die Hand von der Wunde, du bekommst lauter Dreck hinein!", rät ihm Bujar. 

Die Cousins helfen dem Verletzten die Strickleiter hinunterzuklettern. Am Boden angekommen, reißt sich Fidaim die Hose herunter und schaut auf die weit auseinanderklaffende, tiefe Wunde am rechten Oberschenkel. Was soll er bloß tun, um die Blutung zu stillen? Da fallen ihm die Worte seines Vaters ein:

„Wenn ihr euch einmal verletzt und das Blut nicht aufhört zu rinnen oder wenn ihr Dreck in einer frischen Wunde habt, hilft es daraufzupinkeln. Der keimfreie Urin wirkt blutstillend und desinfizierend zugleich.“ 

„Gott sei Dank ist meine Blase voll", denkt sich Fidaim und wendet sich von seinen Freunden ab. Dem Rat seines Vaters folgend lässt er seinen Urin auf die Wunde tröpfeln. 

„Verdammt noch einmal, das brennt!", stößt er aus. 

Bujar und Luan, die hinter ihm stehen, schütteln angewidert ihre Köpfe. Das alte Hausmittel zeigt sofort Wirkung, das Blut beginnt gleich zu stocken. Zum Verbinden der gesäuberten Wunde reißt er sein T-Shirt entzwei und bindet einen Stofffetzen um seinen Fuß. Plötzlich hören sie drei Pfiffe. 

„Das ist Bedri, ich muss zu Lara zurück!", stöhnt Fidi und entfernt sich humpelnd in Richtung Wiese. 

„Ich glaub, deine Kuh hat Durst, die schaut die ganze Zeit Richtung Bach", begrüßt sie Bedri. Dem Kleinen war schon ziemlich fad geworden, so ganz allein mit Lara auf der Wiese. Er ist froh, dass die anderen wieder da sind. 

„Wärst du halt mit ihr zum Bach gegangen", entgegnet Fidi.

„Ich fürchte mich aber vor Kühen", gesteht Bedri, hüpft auf und stellt sich schützend hinter seinen großen Bruder. Bujar blickt auf die Uhr und merkt, dass es bereits halb zwei geschlagen hat. 

„Komm Bedri, wir müssen heim, Vater wartet sicher schon auf uns. Wenn wir zu spät kommen, kriegen wir bestimmt Ärger!" Die beiden entfernen sich in Richtung Dorf. 

„Kommst du allein zurecht?", fragt Luan besorgt. „Ich muss nämlich auch heim. 

„Aber ja, geh ruhig, ich bleib ohnehin nicht mehr lange hier. Ich habe heute schon genug gearbeitet. Naim kann mich einmal!“, antwortet Fid verdrossen. 

Nachdem auch Luan weg ist, löst Fidaim den Strick vom Holzpflock und geht mit Lara zum Bach. Das Gehen strengt ihn furchtbar an. Beim Wasser angelangt, verspürt er im Stehen pulsierenden Schmerz. Die Kuh säuft mindestens dreißig Liter, dann hat sie genug. Jetzt will sie wieder zurück zur Wiese, um weiterzugrasen. 

„Tut mir leid, meine Große, zu fressen gibt es jetzt nichts mehr. Ich muss nach Hause, der Fuß tut mir zu sehr weh." Mit diesen Worten packt der Junge das Vieh beim Strick und führt es, nur langsam vorwärtskommend, über den Weg entlang des Baches zum angrenzenden Pappelwald. Immer wieder muss er Pausen einlegen, weil die Wunde so tobt. Der tapfere Junge bricht im Vorbeigehen einen dünnen Haselnussstecken ab, klettert damit geschickt auf Laras Rücken und treibt mit der Gerte das Tier an. Den Nachhauseweg kennt Lara auswendig. Auf dem Rücken der Kuh ruht sich der verletzte Bub aus. 

„Wie erklär ich bloß Naim mein baldiges Zurückkehren, der ist immer so misstrauisch", überlegt er angestrengt.

„Ich hab’s!", schallt es durch den Wald.

„Hopp auf, Lara!“, treibt er das brave Tier mit Geschrei und Gertenschlägen aufs Hinterteil an, sofort fällt sie in einen unruhigen Trab. Ungeübte könnten sich auf der Kuh nicht halten, so sehr wird Fidaim durchgeschüttelt. Der Junge beugt sich weit nach vorne und umschließt den Hals des Tieres, die Beine presst er ganz nah an die Flanken. So schnell es eben geht trampelt das Tier schnaubend durch den Wald - schon kann Fidaim die Häuser des nahen Dorfes sehen. 

„Hoh! Hoh! Meine Brave, jetzt haben wir es nicht mehr so eilig", bremst er Lara und tätschelt der langsamer gewordenen Kuh den Hals. Wendig gleitet Fidi von dem schwitzenden Tier und führt es die letzten paar hundert Meter zum elterlichen Hof am Strick. Zu seinem Pech befinden sich Naim, seine Mutter und zwei jüngere Schwestern gerade im Hof. 

„Was tust du denn schon hier? Die Kuh kann unmöglich satt sein!", fängt Naim gleich zu schimpfen an. 

„Wie schaust du nur wieder aus, mein Junge? Ist dir etwas Schlimmes passiert?", ruft ihm seine Mutter entgegen und deutet dabei auf Fidis rechtes Bein. 

„Nein, nein, Mutter! Ich habe mich beim Schnitzen auf der Wiese nur ein bisschen in den Fuß geritzt. Es tut nicht einmal besonders weh", gaukelt er seiner besorgten Mutter vor, obwohl er zu tun hat, seine Schmerzen zu verbeißen. 

Naim greift inzwischen nach dem Strick und beäugt Lara genau.

„Sag, warum schwitzt das trächtige Tier so? Du elender Bengel! Hast du sie so nach Hause gehetzt?", beschuldigt er seinen jüngeren Bruder. 

„Was heißt da, ich habe sie gehetzt? Das Tier ist vor einem Schwarm riesiger Bremsen geflüchtet, die auf der Wiese über sie hergefallen sind. Ich hatte zu tun, ihr überhaupt nachzukommen. Die bringst du heute bestimmt nicht mehr auf die Weide, so erschrocken ist sie von den Insekten!", lügt Fidaim wie gedruckt seinen Bruder an. 

„Ja wenn das so ist, dann bring sie in den Stall! Gib ihr noch etwas Heu und einen Eimer voll Wasser dazu!", befiehlt ihm sein Bruder, der die Lügengeschichte durchaus für wahr hält, denn lästige Pferdebremsen gibt es jeden Sommer in Hülle und Fülle. 

Verschmitzt lächelnd führt Fidaim Lara zurück in ihren Stall und holt ihr noch einen Eimer voll Brunnenwasser. Erschöpft von den anstrengenden Fußmärschen und der schmerzenden Beinverletzung lässt er sich neben Lara ins Stroh fallen und freut sich über den frühen Feierabend. 

Fadil zu Besuch

Die ganze Familie sitzt im Wohnzimmer und wartet auf die Heimkehr des ältesten Sohnes Fadil. Er ist der zweiundzwanzigjährige Halbbruder von Fidaim und lebt seit rund einem Jahr im weit entfernten Österreich. Fadils Mutter, die erste Frau seines Vaters, war jung im Schlaf verstorben. Der Halbbruder machte zu Hause im Kosovo eine Ausbildung zum Mechaniker; auf Grund der schlechten wirtschaftlichen Lage im Land hatte er beschlossen, mit einundzwanzig ins Ausland zu gehen, um dort Arbeit zu finden. Sein Vater ließ ihn mit der Hoffnung gehen, dass er die Familie von Österreich aus finanziell etwas unterstützen könne. 

Heute kommt er zum ersten Mal wieder zurück in die Heimat. Cousin Skender wird morgen heiraten, das dreitägige Fest möchte sich Fadil auf keinen Fall entgehen lassen. 

„Wann kommt er denn endlich?", fragt Fidaim ungeduldig seinen Vater. 

„Deine ältere Schwester hat gesagt, dass er sich vor zwei Stunden bei ihr telefonisch gemeldet hat, es kann nicht mehr lange dauern. Du weißt doch, dass die Schotterstraßen voll von Schlaglöchern sind, da kann immer etwas passieren“, meint Vater bereits in freudiger Erwartung, seinen Ältesten nach so langer Zeit wieder in die Arme schließen zu können. 

„Ich koche schwarzen Tee, dann vergeht die Zeit schneller. Komm Adli, hilf mir dabei!", fordert die Mutter die Siebenjährige auf, ihr in der Küche ein wenig unter die Arme zu greifen. 

Nachdem alle ein Glas Tee getrunken haben, hören sie vor dem Haus ein Geräusch. Wie von einer Tarantel gestochen hüpft Fidi auf, läuft ins Freie hinaus und schreit aufgeregt:

„Es ist Fadil! Fadil kommt heim!" 

Alle eilen aus dem Haus, dem Heimkehrer entgegen. Fidaim ist als Erster beim Auto, reißt die Tür des dunkelroten Toyotas auf und begrüßt seinen Bruder freudig:

„Endlich bist du da! Ich habe das Warten schon nicht mehr ausgehalten!" 

Müde von einer vierzehnstündigen Autofahrt steigt Fadil aus dem Wagen. Mit feuchten Augen umarmt er zuerst seinen Vater, dann kommen die restlichen Familienmitglieder an die Reihe. 

„Komm mit hinein, du bist bestimmt hungrig von der anstrengenden Reise!" Die Mutter geleitet ihren Ziehsohn fast feierlich ins Haus. Fidaim, Bajram und der jüngste Bruder Fahrudin bleiben währenddessen draußen und begutachten ganz genau Fadils Auto. Keiner sonst aus der Familie besitzt einen Wagen. Auf der Türschwelle dreht sich Fadil zu seinen Brüdern um und ruft ihnen zu:

„Räumt inzwischen das Auto aus, im Kofferraum sind Geschenke für alle verstaut!" 

Das lassen sich die Jungs nicht zweimal sagen. In der Hoffnung, etwas Schönes zu bekommen, räumen sie in wenigen Minuten den Wagen komplett leer und sausen mit vollen Händen ins Haus.

Im Wohnzimmer stellen sie das Gepäck in eine Ecke und gesellen sich zu den anderen. In der Mitte des Raumes haben sich die Familienmitglieder auf dem Teppich sitzend versammelt. Und alle löchern sie Fadil mit Fragen über Österreich. 

„Lasst ihn doch erst einmal etwas essen!", ermahnt sie der Vater und schiebt seinem Ältesten eine volle Schüssel vor die Füße.

„Lass sie doch Vater, ich kann essen und reden zugleich", erklärt Fadil und schiebt sich mit den Fingern den ersten Bissen zwischen die Zähne. 

„Sag, Fadil, wie schaut es denn in Österreich aus?", will Bajram wissen. 

„Schön! Das Land ist sehr grün, hat viel höhere Berge als Kosovo und im Winter liegt zehnmal so viel Schnee wie hier." 

„Kannst du schon gut Deutsch? Ich habe in der Schule gehört, dass es eine sehr schwere Sprache sein soll", erkundigt sich Fidaim. 

„Da hast du recht. Die Sprache ist wirklich schwer zu lernen. In Oberösterreich, wo ich wohne, sprechen die Menschen noch dazu einen Dialekt, viele Wörter klingen gleich. Das Wichtigste verstehe ich bereits. In der Arbeit kann ich mich mit dem Chef schon recht gut verständigen." 

Geduldig beantwortet Fadil jede Frage, die ihm gestellt wird. Erst nach mehr als einer Stunde erklärt er vor sich hin gähnend:

„Seid mir bitte nicht böse, aber ich bin jetzt wirklich sehr müde. Ich werde mich ein bisschen ausruhen." 

„Und wann gibst du uns die versprochenen Geschenke?", erkundigt sich Fidaim, der vor Neugierde fast platzt. 

„Sei nicht so ungeduldig! Am Abend ist dafür immer noch Zeit. Lasst ihn ein paar Stunden ausruhen. Es haben sich viele Verwandte angesagt, der Abend wird heute sehr lange dauern", tadelt der Vater Fidi. 

„Ich gebe euch für die Zwischenzeit Süßigkeiten", besänftigt Fadil die Ungeduld der Jüngeren. Er geht zu seinem in der Ecke stehenden Gepäck, kramt herum und holt einen Plastiksack heraus. Raschelnd leert er den Inhalt auf dem Boden aus. Seine Geschwister im Raum bekommen große Augen. Jeder von ihnen erhält eine große Tafel Schokolade und dazu eine ganze Packung verschiedenfärbiger Zuckerl. Der Mutter überreicht er mehrere Packungen Kaffee und seinem Vater eine Packung Tabak. 

„Danke Fadil!", bedanken sich alle glücklich. 

Dann geht er, lächelnd ob der Freude, die er ihnen allen bereiten konnte, ins Nebenzimmer, um sich etwas auszuruhen.

Fidaim schnappt sich seine Süßigkeiten und rennt sogleich zum Hof seines Cousins Luan. Er will ihm die Neuigkeit über Fadils Heimkehr erzählen - und seine Schulden für das eingetauschte Schweizermesser kann er jetzt auch endgültig begleichen. 

Gegen Abend wird das kleine Haus allmählich voll. Mehr und mehr Nachbarn und Verwandte finden sich ein, um den lange Weggewesenen wiederzusehen. Es geht recht lustig zu. Alles während seiner Abwesenheit in der Heimat Vorgefallene vom letzten Jahr wird Fadil nach und nach erzählt. Die Mutter und ihre Töchter haben alle Hände voll zu tun, um die vielen Gäste zu verköstigen. Gastfreundlichkeit wird bei der Familie K. trotz ärmlicher Verhältnisse großgeschrieben. Der Vater, der sich für die anstehende Hochzeit extra ein paar Tage frei genommen hat, schlachtete vor zwei Tagen ein Schaf, um die Gäste ordentlich bekochen zu können. 

Fidaim sitzt direkt neben Fadil und lutscht ein ganz kleines, herrlich schmeckendes Stückchen Schokolade und lauscht den Erzählungen. 

„Na, Kleiner, was hast du in meiner Abwesenheit so angestellt?", wendet sich Fadil an seinen Bruder zu seiner Rechten.

„Nicht viel, ich war recht brav letztes Jahr!", munkelt Fidi. „Dass ich nicht lache! Hast du tatsächlich das Wort brav in den Mund genommen? Du weißt ja nicht einmal, wie man das Wort buchstabiert, geschweige denn, wie man tatsächlich brav ist!", stößt der Bruder seines Vaters aus und hält sich vor Lachen den Bauch. 

„Alle im Dorf reden von deinen Streichen. Du musst einmal Selatin fragen, Fadil, der kann dir Geschichten über deinen schlitzohrigen Bruder erzählen“, fährt der Onkel fort. 

Wieder lacht die ganze Runde. 

„Erzählt schon, was hat er denn so angestellt?", will Fadil jetzt erst recht wissen. Er weiß, dass sein kleiner Bruder durch und durch ein Lausbub ist, dem man aber fast nie böse sein kann, weil er sich meistens mit Witz, Klugheit und Charme aus jeder Affäre zu ziehen weiß. 

Sunni, die sechzehnjährige Schwester, beginnt schließlich zu erzählen:

„Im letzten Winter stellte er wirklich etwas Lustiges an. Wir saßen alle im Wohnzimmer, ein paar Verwandte waren auch zu Besuch da. Seit Tagen herrschte eine furchtbare Kälte. Plötzlich lief hinter Mutter etwas Gelbes unter dem Bilderrahmen die Wand herunter. Alle starrten ungläubig darauf. Keiner wusste, was das sein könnte. Naim nahm dann den Bilderrahmen ab und fand auf der Innenseite eine leere Eierschale. Später erfuhren wir, dass es Fidaims Werk war. Du weißt ja, er tut so manches, nur um Mama und Papa eine kleine Freude zu machen. So hat er an diesem einen Tag im Winter, an dem die Hühner ausnahmsweise mehr Eier legten als normal, ein Ei an sich genommen und es hinter dem Holzbilderrahmen versteckt, um es, an einem Tag, an dem die Mutter zum Kochen zu wenig Eier hätte, ihr dieses zu überreichen und dafür gelobt zu werden. Leider hat er nicht gemerkt, dass das Ei im Stall gefroren war und bereits einen Sprung in der Schale hatte. Im warmen Wohnzimmer ist es dann aber allmählich aufgetaut und ausgeronnen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr wir damals gelacht haben. Fidi musste dann am nächsten Tag den gelben Fleck mit Kalk übermalen.“ 

„Ich habe es ja nur gut gemeint", wirft Fidi gekränkt ein. 

„Du bist vielleicht ein Spaßvogel, Fidaim! Hinter einem Bilderrahmen ein Ei zu verstecken, das fällt so leicht keinem ein, du bist wirklich ...", lacht sich Fadil schief. 

„Jetzt ist mir auch noch eine lustige Geschichte eingefallen!", fällt Bajram seinem Bruder ins Wort. „Das ist noch gar nicht lange her, Mamas Verwandte waren gerade zu Besuch da - du weißt ja, die kommen ohnehin nur sehr selten den weiten Weg zu uns her“, beginnt Bajram zu erzählen. 

Seine Mutter redet ihm sofort dazwischen: „Also ich finde die Geschichte nicht so lustig, mir tut heute noch das Steißbein weh, wenn ich mich setze!

---ENDE DER LESEPROBE---