Vom klugen Umgang mit Gefühlen - Heinz-Peter Röhr - E-Book + Hörbuch

Vom klugen Umgang mit Gefühlen E-Book

Heinz-Peter Röhr

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Beschreibung

Kontrolle zu haben, ist ein Urbedürfnis des Menschen. Nur so kann er sich sicher fühlen. Die Kontrolle über Gefühle oder sein Verhalten zu verlieren, ist unangenehm. Manchen Menschen "passiert" es häufiger als anderen, etwa beim Grübeln in Form von endlosen Gedankenschleifen oder wenn Menschen von unrealistischen Ängsten geplagt werden. Auch bei Wut und Ärger kann man leicht die Beherrschung verlieren, was zur Belastung von Beziehungen führt. Heinz-Peter Röhr zeigt in diesem Praxisbuch: Der intelligente Umgang mit Gefühlen ist für unser Lebensglück wichtiger als ein hoher IQ. Er erklärt, was Kontrollverlust ist, wie es dazu kommt und welche Strategien es dagegen gibt. Einfache Übungen ermöglichen es, typische, im Gehirn verankerte Fehlreaktionen zu erkennen und destruktive innere Muster aufzulösen. Ein Buch, das hilft, wieder mehr Balance und Gelassenheit ins Leben zu bekommen.

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Heinz-Peter Röhr

Vom klugen Umgang mit Gefühlen

Wie man Kontrollverlust überwindet

Patmos Verlag

Inhalt

Einleitung: Kontrollverlust gehört zum Menschen

1. Was man über Gefühle wissen sollte

Was sind Gefühle und woher kommen sie?

Die Amygdala, der Mandelkern

Was passiert im Gehirn bei einem Kontrollverlust?

Wie kommt es zu Kontrollverlusten?

Die Konditionierung eines Kontrollverlusts

2. Amygdala-Klärung – eine Selbsthilfemethode

3. Kontrollverlust über Sorgen – Grübeln

Grübeln, das weit unterschätzte Problem

Strategien zum Grübelstopp

Die Mystifizierung eines Problems

Der Kontrollverlust über negative Gefühle – Depression

4. Der Kontrollverlust über Angst – krankhafte Angst

Die generalisierte Angststörung

Alpha-Relaxing

Die posttraumatische Belastungsstörung

Die Phobie

Die Panikstörung

Abstinent werden von unrealistischen Ängsten?

5. Der Kontrollverlust über Ärger und Wut

Der richtige Umgang mit Ärger – eine Kunst, die gelernt werden kann

Die Lust an der Wut

Abstinenz von Wut und Ärger?

6. Die destruktive Macht der Wut – Hass ist eine Droge

Hass frisst die Seele auf

7. Das Selbstwertgefühl / Selbstwertanalyse

Wie entwickelt sich das Selbstwertgefühl?

Destruktive geheime Programme

Gegenprogramme

Neue Programme

Neues Verhalten

8. Kontrollverlust und Persönlichkeit

Die Borderline-Persönlichkeit

Die narzisstische Persönlichkeit

Die hysterische Persönlichkeit

Die abhängige/dependente Persönlichkeit

9. Blockierte Gefühle und Kontrollverlust – der »Gefühlsbaum«

Die Angstblockade

Die Wutblockade

Die Trauerblockade

Wenn Freude blockiert wird

10. Schlussbetrachtung

Anhang

Der Kontrollverlust über Essen

Der Kontrollverlust über Kaufen

Psychedelische Drogen

Kontrollverlust und Digitalisierung

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Herr Z.1leidet unter Schlaflosigkeit. Tagsüber ist er wie gerädert und kann sich kaum konzentrieren. Er klagt über Rückenschmerzen, innere Unruhe und Unsicherheit. Seine Gedanken kreisen um immer neue Ängste. Sein Grübeln kann er nicht abstellen.

Frau C. hat eine Spinnenphobie. Jedes Mal, wenn sie eine Spinne sieht, verfällt sie in Panik. Dabei gerät ihre Angst außer Kontrolle. Obwohl sie weiß, dass Spinnen in unseren Breitengraden völlig harmlos sind, fühlt sie sich diesen Ängsten sowie auch ihrem Ekel gegenüber machtlos.

Frau P. ist eine geschätzte Mitarbeiterin im Unternehmen. Sie erledigt ihre Arbeit mit größter Sorgfalt. Das Problem ist, dass sie Fehler unbedingt vermeiden will und sich deshalb in ständiger Anspannung befindet. Es ist ihr nicht möglich, darauf zu verzichten, bestimmte Vorgänge immer wieder auf Fehlerfreiheit zu prüfen. Um die Arbeit zu schaffen, leistet sie freiwillig viele Überstunden.

Bei Herrn K. dominiert Ärger das Grundgefühl. Ständig findet er Umstände, Schwierigkeiten oder Vorfälle, die seinen Ärger weiter befeuern. Für seine Mitmenschen ist dies nicht selten anstrengend und schwierig, da er wenig Positives ausstrahlt und niemand ihm genügen kann.

Herr S. ist liebenswert, meist gut gelaunt, zugewandt, freundlich und hilfsbereit. Immer wieder gerät er jedoch in schwierige Situationen; wenn er sich ärgert, gehen förmlich die Pferde mit ihm durch. Seine Frustrationstoleranz wird bei bestimmten Auslösern schnell überschritten, sodass er sich in Wutgefühle hineinsteigert. Bei solchen Ausfällen wird er durchaus ungerecht und verletzend. Die starke Erregung hält mitunter Stunden an. Danach fühlt er sich völlig erschöpft und labilisiert, sein Selbstwertgefühl ist am Boden.

Einleitung: Kontrollverlust gehört zum Menschen

Es gibt Dinge im Menschen,

die stärker sind als er selbst.

Die Kontrolle über das eigene Leben und über seine Gefühle zu haben gehört zu den Urbedürfnissen des Menschen, nur so kann er sich sicher fühlen. Die Selbststeuerung ist für unseren Erfolg im Leben sehr wichtig. Mitunter suchen Menschen gerade in riskanten Aktionen einen gewissen Nervenkitzel: beim Bungee-Sprung, Paragliding, Autorennen … Hierbei handelt es sich fast immer um einen »kontrollierten Kontrollverlust«: einmal alles loslassen, Angst genießen, um danach wieder auf festem Boden zu stehen. Grundsätzlich ist das Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit jedoch groß.

Die Kontrolle über Gefühle oder Verhaltensweisen zu verlieren ist meist mit negativen Begleiterscheinungen verbunden und »passiert« bestimmten Menschen häufiger als anderen. Das Ziel dieses Buches ist, den Umgang mit Kontrollverlusten zu erleichtern, diese besser zu verstehen und wirksame Strategien aufzuzeigen, um sie zu vermeiden bzw. besser zu bewältigen. Der intelligente Umgang mit Gefühlen ist für unser Lebensglück wichtiger als ein hoher IQ. Darüber besteht bei führenden Forschern und Wissenschaftlerinnen Einigkeit. Mithilfe der emotionalen Intelligenz gelingt es, den eigenen Gefühlszustand zu erkennen und richtig damit umzugehen. Auch die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu erkennen, wahrzunehmen, empathisch zu reagieren, ist wesentlich für die eigene Selbstbeherrschung und bildet die Grundlage für gesellschaftlichen Erfolg.

Kontrollverluste haben für das menschliche Leben einen tieferen Sinn, diesen gilt es in den Fokus zu nehmen. Auch wenn sie mitunter dramatische und selbstzerstörerische Folgen haben, sind sie nicht überflüssig. So paradox es klingt: Ein Kontrollverlust hat die Aufgabe, das Leben in der Balance zu halten. Er zeigt, dass man sich auf einem Irrweg befindet. Der Kontrollverlust ist ein intelligentes Instrument der Seele, das uns korrigieren will, wenn wir uns auf dem Holzweg befinden.

Wenn jemand immer wieder die Kontrolle über Verhaltensweisen verliert, sei es über Gefühle wie Ärger oder Angst, oder über Verhaltensweisen wie Kaufen oder Spielen, dann ist es richtig, nach den tieferen Ursachen zu forschen. In solchen Fällen weist der Kontrollverlust auf ein Defizit hin, das man als das eigentliche Problem bezeichnen sollte. Der Kontrollverlust ist also der Hinweis auf eine tiefer liegende Störung. Die Seele entwickelt nie ohne Grund ein Symptom. Selbst wenn es gelingt, den Kontrollverlust zu beseitigen, bleibt eine innere Not, die mit großer Wahrscheinlichkeit neue Ausdrucksformen sucht, also zu neuem Leid führt. Der Kontrollverlust über Gefühle ist ein häufiges Problem und wird vorwiegend in drei Gefühlsbereichen erlebt:

über Gedanken in Form von Grübeln, bis hin zu sogenannten Grübelzwängen und depressiven Erkrankungen;über Angst, bis hin zu Angststörungen;über Wut und Ärger.

Wie kommt es zum Kontrollverlust über Gefühle? Welche Auslöser, Verhaltensweisen sind verantwortlich? Welche Strategien können helfen, unliebsame Kontrollverluste zu vermeiden bzw. zu stoppen?

Wir werden versuchen, einen liebevollen Blick auf Kontrollverluste zu lenken. Denn alles, was verteufelt wird, erlebt automatisch eine Verstärkung. Vielleicht kann es gelingen, sich »anzufreunden« mit etwas, das mitunter störend und eventuell sogar quälend ist. Eine Veränderung erzwingen zu wollen, führt unweigerlich zu einer Verschlimmerung.

Die Auseinandersetzung mit der Thematik der Kontrollverluste wird uns tief in die menschliche Seele führen und nach Antworten suchen lassen. Nur wenn Symptome verstanden werden, kann es gelingen, Leid zu überwinden und Lebensglück zu finden.

Hirnforscher erkennen und beschreiben immer besser, wie unser Gehirn funktioniert. Amygdala-Klärung ist eine Methode, die im Alltag bei der Bewältigung unangenehmer Gefühle und Kontrollverluste helfen kann. Sie kann von jedem leicht angewendet werden. Wie wird man abstinent von unrealistischen Ängsten?

Es gibt Menschen, die selten oder nie die Kontrolle verlieren, ohne gleich langweilig zu sein. Die Frage ist, was machen sie anders, kann man von ihnen lernen?

Fast jeder kennt das typische sich in etwas Hineinsteigern, wahrscheinlich auch von sich selbst. Das gehört, wenn es nicht zu häufig passiert, zum menschlichen Leben. Man darf sich aufregen und auch mal unsachlich werden. Das sollte jedem erlaubt sein, niemand ist perfekt. Wenn aber Kontrollverluste über Gefühle das persönliche Leben belasten, psychische und körperliche Symptome verursachen, Beziehungen schwer beeinträchtigen oder gar zerstören, das Gefühl von Freiheit verschwindet und die Angst vor dem nächsten »Ausrutscher« dominant ist, dann besteht Handlungsbedarf. Dieses Buch ist auch für Angehörige geeignet, die unter den Kontrollverlusten, etwa des Partners, der Partnerin, leiden.

Herzlich danken möchte ich meiner lieben Frau Annemie für ihr Zuhören und ihre Geduld, für die gründliche Bearbeitung des Manuskripts und die vielen Anregungen. In gleicher Weise gilt mein Dank meinem Sohn Frank für die wertvollen Anmerkungen und Anregungen bei der Durchsicht des Manuskripts.

Bad Fredeburg, im Juli 2020

Heinz-Peter Röhr

1. Was man über Gefühle wissen sollte

Was sind Gefühle und woher kommen sie?

»Den kann ich nicht riechen!« – Das sagt jemand, der an dieser Person noch nie wirklich gerochen hat. Hier wird Archaisches angesprochen. Der Geruchssinn hat seine Bedeutung verloren, aber in unserer Sprache findet er noch Verwendung. Korrekter wäre der Ausspruch: »Derjenige ist mir unsympathisch, mit dem möchte ich nichts zu tun haben …« Forscher sind sicher, dass Deos, Parfüms und Rasierwasser während der ersten Phase des Kennenlernens von Paaren hinderlich sind. Ob Menschen zusammenpassen, spüren sie auch darüber, ob sie den Geruch des potenziellen Partners als angenehm oder weniger angenehm wahrnehmen. Liebe geht nicht nur »durch den Magen«, sondern vor allem auch »durch die Nase«. Für den Urmenschen stand Riechen für die Lebensbewältigung mit im Vordergrund. Der moderne Mensch lebt rational, mithilfe seiner intellektuellen Fähigkeiten; er kalkuliert, überlegt und entscheidet. Leitend ist hier der für das Rationale zuständige Teil des Gehirns, das rationale Gehirn, der sogenannte Neokortex.

Nur wer sich dafür öffnet, bemerkt, dass das Instinktive nicht verschwunden ist. Man sagt beispielsweise, dass jemand eine »gute Nase« für Aktien hat, für moderne Kunst oder andere Bereiche … Manche Entscheidung wird aus dem »Bauch« heraus gefällt, weil bestimmte Gefühle den Ausschlag gaben. Tatsächlich kommt sie aber aus dem für Emotionen zuständigen Areal des Gehirns: dem emotionalen Gehirn. Immer wenn in diesem Zusammenhang von »Herz« oder »Bauch« die Rede ist, ist das emotionale Gehirn gemeint. Geht es um eine durchdachte Entscheidung, ist der Neokortex zuständig, das rationale Gehirn.

Das Gehirn lässt sich also in zwei Bereiche unterteilen. Zum einen gibt es das emotionale Gehirn, bestehend aus dem Limbischen System und vor allem der Amygdala. Hier entstehen unsere Gefühle. Der zweite Bereich ist das rationale Gehirn, es besteht in erster Linie aus dem Neokortex, dem Hauptteil der Großhirnrinde. Hier findet logisches Denken statt. Während das emotionale Gehirn sich tief im Innern des Kopfes befindet, bildet der Neokortex die äußere Rinde mit den typischen Windungen und Furchen.

Das Intuitive, das Schöpferische kommt aus tieferen Schichten der Seele. Kreative Menschen vertrauen ihrem Gespür, nicht ausschließlich ihrem Verstand. Eine gute Entscheidung ist meist die, die sich »richtig anfühlt«. Bei der Partnerwahl wird dies oft dann besonders deutlich, wenn die Beziehung scheitert: Ich wusste schon immer, dass ich ihn/sie nicht hätte heiraten dürfen … Wahrscheinlich war es der Verstand, der sagte, dass man keinen Rückzieher machen sollte. Besser wäre es gewesen, auf den »Bauch« zu hören! Selbstverständlich sollte der Verstand bei Entscheidungen beteiligt sein. Wer beispielsweise beim Shoppen nur dem momentanen Gefühl folgt, könnte in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Die Frage Kann ich mir das leisten und brauche ich das wirklich? kann nur der nüchterne Verstand beantworten. Der Ärger über unsinnige Käufe ist besonders bei kaufsüchtigen Menschen extrem, da sie beim Shoppen einem Kontrollverlust ausgeliefert sind und lauter Dinge kaufen, die sie nicht benötigen. Daher bereuen sie anschließend den Kauf. Gute Entscheidungen leben davon, dass Verstand und Gefühl in angemessener Weise beteiligt sind. Bei vielen Entscheidungen sollte klar der Verstand dominieren, andere dürfen eher gefühlsbestimmt sein. Mit bestimmten Einrichtungsgegenständen in meiner Wohnung will ich mich beispielsweise in erster Linie wohlfühlen. Welche Autoversicherung für mich die richtige ist, entscheide ich dagegen nicht nach Gefühl, auch wenn manche Werbung in diese Richtung arbeitet.

Viele Gefühle kommen aus dem emotionalen Gedächtnis, in dem vor allem in unseren ersten Lebensjahren Erfahrungen gespeichert werden, an die wir noch keine bewusste Erinnerung haben. Das emotionale Gedächtnis erinnert sich aber an die zugehörigen Gefühle und kann diese in vergleichbaren Situationen reaktivieren. Es handelt sich um eine Ahnung, vielleicht eine tiefe Befürchtung, eventuell um alte Ängste. Wenn man diesen Vorgang im Computertomografen sichtbar machte, würde man sehen, wie fast ausschließlich das Limbische System, das emotionale Gedächtnis in Verbindung mit der Amygdala aktiv ist. Im Unterschied dazu sind Gefühle oft auch Produkte von Denkvorgängen, Überlegungen und Bewertungen.

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Der Satz: So, wie ich denke, so fühle ich auch, ist richtig und eine uralte Erkenntnis.

Im Computertomografen würde man erkennen, dass Bereiche des Neokortex aktiv sind. Verstand und Gefühl sind keine Gegensätze. Ununterbrochen löst der Verstand mithilfe von Gedanken Gefühle in uns allen aus, ohne dass wir dies immer bewusst beobachten. Jeder spricht in Gedanken unablässig mit sich selbst, und so wie man mit sich selbst redet, gestalten sich Gefühle. Wer sich in einem depressiven Gedankenkarussell bewegt, hat unweigerlich Gefühle, die ihn herunterziehen. Seine Gefühle, seine Stimmung hellt sich allmählich auf, wenn er intensiv an ein freudiges Ereignis denkt. Im Vorfeld einer depressiven Erkrankung beschäftigen Betroffene extrem negative Gedanken – das Gedankenkarussell lässt sich nicht mehr stoppen. Es ist auch hier wieder der Kontrollverlust, der darauf aufmerksam macht, dass etwas verkehrt läuft.

Wie sehr Bewertungen unsere Gefühle beeinflussen, lässt sich an folgendem (etwas makabren) Beispiel zeigen:

Herr Meier istgestorben:

»Das ist ja furchtbar, ich bin doch auf ihn angewiesen, er war immer so freundlich und mein bester Kunde; wenn ich ihn verliere, werde ich mein Geschäft schließen müssen …«

Herr Meier istgestorben:

»Das ist keine schlechte Nachricht, endlich bin ich diesen direkten Konkurrenten los. Jetzt werden viel mehr Kunden bei mir kaufen müssen. Meier habe ich nie gemocht, er war immer so herablassend zu mir …«

Der Umstand, dass Herr Meier gestorben ist, kann unterschiedliche Gefühle – von Sorge bis Erleichterung wie im obigen Beispiel – hervorrufen. Wie jemand sich nach solch einer Nachricht fühlt, hängt von der jeweiligen Bewertung ab, der Blickwinkel ist entscheidend. Gefühle lassen sich nur verändern, wenn der Blickwinkel verändert wird. Dies ist der Kern der Kognitiven Psychotherapie.

Selbstverständlich ist auch der Körper beteiligt, denn er ist der Ort, in dem Gefühle empfunden werden.

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Gefühle sind minimale bioelektrische Impulse, die den gesamten Körper durchströmen.

Starke Gefühle, so sagt man, spürt man bis in die Haarwurzeln. So kann Angst beispielsweise tatsächlich eine Gänsehaut erzeugen oder buchstäblich »die Haare zu Berge stehen lassen«.

Eine einfache Übung kann jeder leicht selbst machen:

Lachen Sie, ein richtig breites Grinsen! Wenn Ihnen dies gelingt, werden sich gleichzeitig keinerlei negative Gedanken bilden können. Erst wenn Sie sich wieder im »Normalzustand« befinden oder gleichgültig sind, haben negative Gedanken wieder eine Chance.

Die Konsequenz aus dieser Tatsache sollte sein, dass Sie sich so oft wie möglich ein Lächeln auf das Gesicht zaubern. Dies führt unweigerlich zu einer Stimmungsaufhellung, Sie werden optimistischer, weniger negativ und insgesamt zufriedener sein. Wenn das Grinsen eine längere Zeit aufrechterhalten bleibt, produziert das Gehirn Endorphine, Glückshormone. Erinnern Sie sich immer wieder daran und helfen Sie dem emotionalen Gehirn, positive Mechanismen zu erlernen. Dieses Training ist lohnend, weil es systematisch zu einem besseren Lebensgefühl führt. Dieses Beispiel zeigt, dass man auch über den Körper zu besseren Gefühlen gelangen kann. Sicher ist, dass Menschen, die häufig lachen, glück­licher sind.

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass Gefühle flüchtig sind und maximal 20 bis 40 Sekunden andauern, dies wurde in neurowissenschaftlichen Experimenten nachgewiesen. Spontaner Ärger z. B. setzt chemische Botenstoffe (Neurotransmitter etc.) in Bewegung und baut eine minimale elektrische Spannung (Millivolt) auf. Der Körper kann dies jedoch nur kurze Zeit aufrechterhalten. Nur bei weiterer »Befeuerung« bleibt der Ärger erhalten: Dies geschieht in Form von Gedanken, etwa: Das lasse ich mir nicht bieten; unmöglich, wie ich hier behandelt werde …

Aus diesen Vorgängen kann man ableiten, dass wir Ärger mit unseren Gedanken selbst erzeugen. Fast jeder erlebt dies zunächst anders. Man glaubt, dass die Umstände oder andere Personen den Ärger verursachen: »Diese Sache/Person hat mich so wütend gemacht!« Dabei kann solch ein Gefühl Tage und Wochen anhalten, nämlich dann, wenn es durch entsprechende Gedanken immer weiter befeuert wird.

Wenn Gefühle sich verändern, verändert sich gleichzeitig auch die Chemie im Körper. Körper und Seele bilden eine Einheit. Alles, was in der Psyche passiert, bewirkt Reaktionen im Körper. Neurotransmitter verändern sich und Botenstoffe werden ausgeschüttet. Positive Gefühle werden durch Serotonin und Dopamin ausgelöst, negative Gefühle durch Stresshormone.

Umgekehrt geht es auch darum, die Chemie im Körper aktiv zu beeinflussen, wenn man zu anderen Gefühlen gelangen will. Hier können körperliche Aktivitäten helfen. Beim Joggen wird die Chemie im Körper verändert, ebenso, wenn man auf einen Punchingball schlägt oder Holz hackt. Wer seiner Lieblingsbeschäftigung nachgeht, wird in den allermeisten Fällen nach kurzer Zeit spüren, dass sich die Chemie im Körper positiv organisiert und sich Wohlbefinden einstellt.

Auch an folgender Stelle kann man getrost dem Volksmund vertrauen: Wenn es heißt, dass zwischen Menschen die »Chemie« stimmt, dann ist gemeint, dass sie auf einer ähnlichen Wellenlänge liegen und ihre Ansichten in vielen Bereichen übereinstimmen, sie verstehen sich eben.

Die Amygdala, der Mandelkern

Die Amygdala ist ein zentraler Bestandteil des Gehirns. Da die Form einer Mandel gleicht, wird sie auch als »Mandelkern« bezeichnet. Der modernen Hirnforschung gelingt es immer besser, durch sogenannte bild­gebende Verfahren, wie Computer- oder Magnetresonanztomografie, die Prozesse im Gehirn sichtbar werden zu lassen. So lässt sich erkennen, welche Areale bei bestimmten Gefühlen aktiv sind. Schon vor einigen Jahren erkannten Hirnforscher die Bedeutung des Mandelkerns für unsere Emotionen. Hier ist Archaisches gespeichert.

Die Amygdala bildete sich sehr früh während der menschlichen Entwicklung. Auch Reptilien haben diesen Komplex im Gehirn. Hier sind wichtige Überlebensmechanismen angelegt. Im Falle von Gefahr erzeugt die Amygdala spontan starke Angst. Dies lässt einen Menschen beispielsweise intuitiv die Flucht ergreifen – langes Nachdenken wäre viel zu gefährlich. Wer plötzlich eine Schlange sieht, wird sich erschrecken und zurückweichen. Dies ist schon in unseren Genen angelegt. Die in der Amygdala abgelegten Muster signalisieren Gefahr viel früher, als dies im Neokortex möglich wäre. Dieser schaltet sich später ein, und man kommt vielleicht zu der Erkenntnis, dass die Schlange ungiftig und harmlos ist, man könnte sie sogar anfassen. Dies führt dann zur Beruhigung. Die Amygdala befindet sich in einer ständigen »Habacht-Position«, sie gehört sozusagen zu unserem Alarmsystem. Die Wahrnehmung wird fortwährend auf gefährliche Situationen überprüft und mit der inneren Matrix verglichen. Da die Amygdala in der Lage ist, gefährliche Situationen zu identifizieren und spontane Gegenmaßnahmen zu initiieren, ist sie für das Überleben notwendig. Leider kommt es immer wieder auch zu Fehl­alarmen. Ein solcher ist beispielsweise daran zu erkennen, wenn wir erschrecken, obwohl es sich um eine harmlose Situation handelt. Bei bestimmten Menschen sind Fehlalarme häufig und belastend.

Der Bereich im Gehirn, der realistisches logisches Denken ermöglicht, ist, wie gesagt, der Neokortex, der durch die Vorgänge in der Amygdala abgeschaltet wird. Das wird ganz besonders bei starken Angstattacken deutlich, wenn – buchstäblich – der »Verstand aussetzt«. Nach einer starken Erregung der Amygdala muss sich der Neokortex erst wieder einschalten, was meist mit zeitlicher Verzögerung geschieht, je nachdem, wie stark die Emotionen etwa bei einem Kontrollverlust waren. Eventuell ist man noch beeindruckt von der Heftigkeit der Gefühle.

Der Neokortex hat sich im Laufe der Jahrtausende immer weiterentwickelt. Die Hirnwindungen nahmen zu und damit die Intelligenz des Menschen.

Die Amygdala ist der Teil des Gehirns, in dem auch frühe emotionale Erfahrungen gespeichert sind. Die Hirnforschung bestätigt die Annahmen der ersten Psychoanalytiker2, dass frühe Prägungen entscheidend für die emotionale Entwicklung sind und oft lebensbestimmenden Charakter haben. Diese Erkenntnis wird bei der Beschreibung, wie sich das Selbstwertgefühl entwickelt, eine wichtige Rolle spielen. Im Mandelkern werden die momentanen emotionalen Erlebnisse mit früheren Erfahrungen verglichen. Finden sich hier Ähnlichkeiten, wird der Mandelkern alarmiert und aktiviert genau die Gedanken, Gefühle und Reaktionsmuster, die vor langer Zeit eingeprägt wurden. Manchmal genügen auch geringe Ähnlichkeiten, um eine Kettenreaktion, z. B. von Ängsten, auszulösen.

Was passiert im Gehirn bei einem Kontrollverlust?

Wie oft und wie intensiv jemand die Kontrolle über seine Gefühle verliert, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es gibt sie, Individuen, die eigentlich nie die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren. Was auch geschieht, sie bleiben ruhig und überlegt. Das kann sogar andere zum verstärkten Ärger führen, wenn sie es nicht ertragen können, dass jemand trotz der offensichtlich aufregenden Situation teilnahmslos bleibt. Wenig oder keine Gefühlsregung zu zeigen, stört fast immer die soziale Kommunikation, die auch über den Austausch von Gefühlen stattfindet. Wer in einem Gespräch nicht »mitschwingt«, Gefühle unterdrückt oder nicht erkennen lässt, wird schnell langweilig. Das Gegenüber hat das Gefühl, keinen Kontakt zu haben, da etwas Entscheidendes fehlt. Wer hingegen in südeuropäischen Ländern Menschen beobachtet, die freundschaftlich miteinander in Kontakt sind, erkennt leicht, dass nicht nur das gesprochene Wort eine Bedeutung hat. Mindestens gleichwertig, wenn nicht bedeutender sind Gestik, Mimik und Intonation. Für kühle Nordländer erscheint alles übertrieben, überschwänglich und besonders gefühls­betont. Mit Sicherheit spüren einige auch Neid, wenn sie so viel Temperament erleben.

Viel mehr als den meisten bewusst ist, können Kontrollverluste das Leben negativ beeinträchtigen. So wie es Menschen gibt, die fast nie die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren, gibt es andere, die sehr häufig hierdurch in schwierige Situationen geraten.

Frau G. ist leicht kränkbar, jede noch so geringe Kritik an ihrer Person bringt sie in emotionale Schwierigkeiten. Wie auf Knopfdruck verändern sich Denken und Fühlen. Sie geht in den »Verteidigungsmodus« und sucht nach Argumenten, um die Kritik zurückzuweisen. Was jetzt besonders auffällt, sind Übertreibungen, die im Denken von Frau G. zu beobachten sind. Sie glaubt, völlig wertlos zu sein, so als würde sie als Person absolut zurückgewiesen. Sie steigert sich in immer stärkere Wut hinein und wird die negativen Gefühle erst nach längerer Zeit wieder los. Die ständige Angst vor Kritik führt zu Zurückhaltung und übertriebener Vorsicht in zwischenmenschlichen Kontakten.

Natürlich kann Frau G. nicht immer und spontan ihren Ärger zeigen, etwa wenn Personen anwesend sind, die ihr besonders wichtig sind oder denen sie sich unterlegen fühlt. In diesem Fall schluckt sie ihren Ärger, der im Anschluss an die Szene viele Stunden, eventuell Tage anhalten kann.

Im Falle einer Kritik an ihrer Person übernimmt das emotionale Gehirn von Frau G. quasi die Regie. Das ist zwangsläufig der Fall, da es sich hier um einen automatischen Mechanismus handelt. Der gesamte Vorgang unterliegt nicht der willentlichen Kontrolle. Die Amygdala reagiert, da sie die Situation – Kritik zu erfahren – als bedrohlich für die Person empfindet. So erleben unendlich viele Menschen ihre Realität.

»Ich bin nicht wütend!« – So ruft Herr K. und glaubt das wirklich. Alle, die ihn beobachten, stellen jedoch eine deutliche Erregung fest. So sehr Herr K. bemüht ist, seinen Ärger nicht zu zeigen, gibt es offensichtlich in seinem Inneren etwas, das stärker ist. Der Ort, an dem starke Gefühle angesiedelt sind, ist das sogenannte Limbische System. Zentral sind hier die Amygdala und die darum herum liegenden Nervenbahnen und Schaltkreise zu nennen. Sie machen das emotionale Gehirn des Menschen aus. Manchmal hat uns das Limbische System im Griff, etwa bei starker Freude, in der Verliebtheit oder wenn wir sonst wie Rauschhaftes erleben. Aber auch bei starkem Ärger oder Hass. Mit etwas Abstand betrachtet würde man erkennen, dass in diesen Situationen das logische Denken in den Hintergrund tritt. Man ist beispielsweise für Argumente nicht zugänglich. Eventuell ist auch ein zeitlicher Abstand wichtig, damit der Blick für die gesamte Situation realistischer wird. Vor einer wichtigen Entscheidung erst eine Nacht zu schlafen ist in vielen Fällen eine weise Maßnahme.

Im Falle des Kontrollverlustes ist jedenfalls der Neokortex als rationale Instanz ziemlich ausgeschaltet. Im Limbischen System findet sozusagen eine Überschwemmung statt und unsere Gefühle haben uns im Griff. Amygdala Highjacking nennt der bekannte amerikanische Autor David Goleman diesen Zustand3. Hier hat Radikales stattgefunden. Highjacking bedeutet Entführung, völlige Inbesitznahme, Kidnapping. Damit wollte er einen Zustand beschreiben, der bei einem emotionalen Kontrollverlust entsteht. Wenn sich alles nur noch in der Amygdala abspielt, sind andere Hirnregionen quasi ausgeschaltet. Realistisches Nachdenken und Überlegen sind nicht möglich. Je mehr sich ein Mensch z. B. in seine Ärgergefühle hineinsteigert, umso weniger ist es ihm möglich, objektiv zu bleiben, und andere, etwa konträre Argumente, zu sehen bzw. zu akzeptieren. Wer mit starken Ärgergefühlen konfrontiert ist, tut immer gut daran, eine Zeit verstreichen zu lassen, bis die erste Wut vor­über ist, damit eine nüchterne Betrachtung der Begebenheit möglich wird. Dies zu wissen ist von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, den Kontrollverlust zu erforschen und gegebenenfalls zu vermeiden. Wenn es einmal passiert ist, kann man nur sehr schwer den Kontakt zum Neokortex herstellen und rationales Denken in den Vordergrund bringen. Der Kontrollverlust ist ja gerade ein Selbstläufer, der nur schwer zu stoppen ist. Wer ihn vermeiden will, sollte gar nicht erst anfangen, sich in seine Gefühle hineinzusteigern. Das ist mitunter leichter gesagt als getan.

Wie kommt es zu Kontrollverlusten?

Stellen wir uns folgende Szene vor: Zwei Männer stehen an der Theke und trinken ihr Feierabendbier. Herr A. ist mit dem Tag, so wie er gelaufen ist, zufrieden. Er trinkt sein Bier aus und geht nach Hause. Herr B. spült erst einmal seinen Ärger hinunter. Er ist unzufrieden und langsam spürt er, dass der Alkohol seine Wirkung tut. Er fühlt sich erleichtert und bestellt ein weiteres Bier, um die Wirkung zu steigern.

Von außen ist der entscheidende Unterschied kaum zu erkennen. Tatsache ist jedoch, dass Herr B. Alkohol als Problemlöser missbraucht.

Das klassische Merkmal der Suchtkrankheit ist der Kontrollverlust. Ein Suchtmittel wie etwa Alkohol sollte emotionale Probleme lösen: Ärger, Unzufriedenheit, Angst, Trauer, Frustration etc. beseitigen. Das Problem beginnt mit der »Dosissteigerung«, das bedeutet, dass immer mehr Suchtmittel benötigt wird, um eine euphorisierende Wirkung zu erreichen.

Suchtkranken ist es schließlich nicht mehr möglich, eine Erleichterung zu erzielen, egal wie viel sie konsumieren. Exzessiver Konsum führt bestenfalls zur völligen Betäubung. Die Entzugserscheinungen zwingen zum weiteren Missbrauch der Droge. Die körperliche und psychische Abhängigkeit dominiert den Alltag. Dieses Wissen kann Suchtkranken helfen, abstinent zu bleiben. Wenn es sowieso keine positive Wirkung mehr geben kann, lohnt es sich nicht, wieder anzufangen.

Endorphine sind Botenstoffe, die ähnlich wie Opiate für positive Gefühle sorgen. Das emotionale Gehirn hat Rezeptoren, die für Endorphine empfänglich sind. Diese körpereigenen Drogen kann man z. B. durch Sport, etwa Joggen, erzeugen. Dies ist für die Gesundheit sehr positiv. Wer regelmäßig Sport treibt, sorgt für körperliches Wohlbefinden. Untersuchungen zeigen, dass Sport ein wirksames Mittel gegen Depression ist und auch das Immunsystem gestärkt wird. Problematisch wird dies jedoch, wenn versucht wird, mithilfe von Joggen emotionale Probleme zu bearbeiten. Es ist in Ordnung, wenn man sich mal den »Frust von der Seele rennt«. Wird dies jedoch zum dauerhaften Problemlöser, reduziert sich allmählich die Wirkung der körpereigenen Droge, sodass man immer mehr investieren muss, damit die Wirkung eintritt. Der Kontrollverlust (man kann mit dem Joggen nicht mehr aufhören) zeigt wieder, dass mit falschen Mitteln versucht wurde, ein tieferes Problem zu lösen. Fast immer lässt sich dies auf ein gestörtes Selbstwertgefühl zurückführen.

Ein anderes Beispiel:

Händewaschen kann die Angst vor Infektionen oder Schmutz beruhigen und spielt aktuell gerade in Zeiten von Corona eine wichtige Rolle bei prophylaktischen Hygienemaßnahmen. Wenn die Angst vor einer möglichen Infektion jedoch bald wieder da ist, muss man erneut die Hände waschen. Ständiges Händewaschen führt zu einer Zwangsstörung mit typischen Kontrollverlusten. Patienten mit Waschzwang müssen ihre Hände täglich viele Male waschen.

Emotional stabile Menschen nehmen sinnvolle Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen in Anspruch, etwa Händewaschen. Emotional instabile Menschen entwickeln leicht übertriebene Ängste, z. B. vor Infektionen. Das häufige Händewaschen ist jedoch das falsche Beruhigungsmittel. Perfektionismus fördert letztlich die Ängste, da man nie gut genug ist und es keine absolute Sicherheit geben kann. Da Beruhigung nicht wirklich funktioniert, werden die Beruhigungsversuche intensiviert. Letztlich muss der Beruhigungsversuch scheitern. Jetzt hat der Mensch zwei Probleme. Die übertriebene Angst vor Infektionen, die durch häufiges Händewaschen stärker wird, und den Kontrollverlust über das Händewaschen. Diesbezüglich werden Selbstvorwürfe und Schuldgefühle entwickelt. In diesem Teufelskreis wird die emotionale Stabilität weiter geschwächt.

Der Ursprung war die übertriebene Angst vor Infektionen. Für eine Behandlung wäre hier anzusetzen. Für Betroffene ist es zunächst extrem schwer, auf ihr Beruhigungsmittel »Händewaschen« zu verzichten, da sich unweigerlich starke Ängste einstellen.

Hinter einem Waschzwang steht auch nicht selten der Versuch, Schuldgefühle zu bewältigen. Der uralte Spruch »Die Hände in Unschuld waschen« zeigt die Beziehung zwischen Schuld und sich reinwaschen. Objektiv gesehen ist jedoch klar, dass man Schuldgefühle nicht abwaschen kann. Sich beschmutzt fühlen, etwa nach sexuellem Missbrauch, kann ebenfalls zu einem Waschzwang führen, denn auch hier ist es nicht möglich, das Geschehene abzuwaschen.

Zu erkennen sind die Versuche, mit falschen Mitteln der Angst vor Infektion oder Beschmutzung Herr zu werden. Die Therapie geht den umgekehrten Weg. Betroffene werden mit Schmutz und Dreck an den Händen konfrontiert und spüren bald, dass die Angst schwindet, wenn man sich bewusst mit ihr konfrontiert.

Im Vorfeld von Kontrollverlusten geht es um ein Verhalten oder um Gefühle, die eine Beruhigung, Erleichterung oder Stimulierung erzeugen sollen. An vielen Beispielen lässt sich zeigen, dass ein typisches »Missbrauchsverhalten« stattgefunden hat. Damit ist gemeint, dass Betroffene versuchen, unangenehmen Gefühlen mit untauglichen Mitteln aus dem Wege zu gehen. Da dies nicht zum gewünschten Erfolg führt, wird der Einsatz gesteigert. Über Konditionierung wird die Wahrscheinlichkeit weiterer Kontrollverluste programmiert. Meist genügen dann bestimmte Auslöser, die den Selbstläufer initiieren.

Die Konditionierung eines Kontrollverlusts

Konditionierung ist der Fachbegriff dafür, dass das Gehirn lernt, wie auf Knopfdruck bestimmte Reaktionen zu zeigen. Das berühmteste Beispiel war der Pawlow’sche Hund. Dem russischen Verhaltensforscher Iwan Pawlow war es gelungen, zu beweisen, dass ein bestimmter Reiz, in dem Fall ein Glockenton, zu Speichelfluss bei einem Hund führte, da dieser Ton immer in Verbindung mit der Futterausgabe erfolgte. Der Glockenton löste schon nach kurzer Zeit den Speichelfluss auch dann aus, wenn noch kein Futter angeboten wurde. Das war der Beweis, dass das Gehirn auf bestimmte Reize reagiert, weil es sich erinnert. In der Fachsprache wird dieser Vorgang Konditionierung genannt. Darunter ist ein Lernvorgang zu verstehen, der automatisch abläuft, wenn bestimmte Reize eintreten. Auch hier ist ein gewisser Kontrollverlust zu beobachten, manchmal genügen kleine »Auslöser«, um das Gehirn zu starken Reaktionen zu animieren, deren man sich kaum erwehren kann.

Bei den weiteren Überlegungen wird sich immer wieder ein Problem zeigen: untauglicheProblemlösungsstrategien. Wie es zu Kontrollverlusten kommt, findet nach einem typischen Muster statt. Ein Verhalten soll Erleichterung verschaffen, da sich der Erfolg nicht in genügender Weise einstellen will, glaubt man, durch ein Mehr vom Selben das Ziel doch noch zu erreichen.

Das berühmte »sich in etwas Hineinsteigern« bedeutet, sich den Gefühlen ganz zu überlassen und dabei den Verstand auszuschalten. Nach dem Motto: »Das ist mir jetzt völlig egal, ich will meine Wut, meinen Groll, meinen Hass jetzt ungebremst ausleben.« Man sucht die Erleichterung, die Befriedigung, die Genugtuung. Ein Kontrollverlust über Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen hat fast immer etwas mit Missbrauch zu tun. Missbrauch in dem Sinne, dass ein Verhalten praktiziert wird, das zwar eine direkte Erleichterung bringt, aber keine Lösung. Da dieser Missbrauch nicht immer offensichtlich ist, wird er oft nicht im Zusammenhang mit dem Kontrollverlust gesehen. So wie man Alkohol oder Drogen konsumiert, um die Stimmung zu verbessern, lassen sich auch Gefühle und Verhaltensweisen instrumentalisieren, um Effekte zu erzielen. Das ist ein so häufiger Vorgang, dass man ihn als »normales« menschliches Verhalten bezeichnen kann. Viele Menschen trösten sich mit Schokolade, wenn sie sich einsam oder frustriert fühlen. Problematisch wird das Ganze erst, wenn es sich verselbstständigt, wenn es immer wieder zu Kontrollverlusten kommt, ein unwiderstehlicher Drang vorhanden ist, immer mehr Schokolade zu essen. Weitere typische Verhaltensweisen, über die die Kontrolle verloren gehen kann, sind beispielsweise Glücksspiel, Sport, Sex …

An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine Konditionierung stattgefunden hat. Wie auf Knopfdruck entgleiten Gefühle und werden quasi zum Selbstläufer.

Wenn man fragt, warum es immer wieder zu Kontrollverlusten kommt, dann sind Teufelskreise zu beobachten. Wer unter einem Kontrollverlust oder unter den Folgen leidet, tendiert zur Selbstabwertung. Er macht sich Vorwürfe und redet negativ mit sich selbst. Warum bin ich wieder über das Ziel hinausgeschossen? Was denken jetzt andere über mich? Warum kann ich mich nicht beherrschen? Durch die Selbstabwertungen wird die Psyche labilisiert. Dies ist wiederum die Basis dafür, dass es neue Kontrollverluste geben wird. Der Vorsatz, dass es so etwas nicht mehr geben wird – nie mehr –, gehört in aller Regel auch dazu.

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