Vom Verschwinden der Arten - Friederike Bauer - E-Book

Vom Verschwinden der Arten E-Book

Friederike Bauer

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Beschreibung

Nomniert für das WISSENSBUCH DES JAHRES von Bild der Wissenschaft Die Natur ist unsere Lebensversicherung; sie versorgt uns mit Luft, Wasser, Rohstoffen und Erholung. Und doch kündigen wir diese täglich auf: Der rasante Artenschwund vernichtet unsere eigenen Lebensgrundlagen und nimmt uns u.a. die wichtigsten natürlichen Ressourcen für medizinische Wirkstoffe. Unser Leben ist bedroht wie nie zuvor – ein hochaktuelles Buch, das konkrete Wege aufzeigt, wie wir den Artenreichtum und dessen Leistungen für uns Menschen erhalten. Wir stehen an einem Wendepunkt der Erdgeschichte – und doch ignorieren wir ihn. Die natürlichen Ökosysteme sind weltweit um die Hälfte zurückgegangen. Wir erleben gerade das sechste Massenaussterben der Erdgeschichte. Wir  Menschen sind die treibende Kraft dieses Massensterbens. Der Verlust an Biodiversität heizt nicht nur den Klimawandel an. Die Autorinnen beschreiben zum ersten Mal, welche ungeheure Tragweite das Artensterben für uns Menschen hat, wenn es künftig nicht mehr genügend Pflanzen und Tiere gibt, die uns u.a. lebenswichtige Werk- und medizinische Wirkstoffe liefern und die auch zu unserem physischen und psychischen Wohlbefinden beitragen. Die Lage ist ernst, aber nicht aussichtslos – wir können das Artensterben noch aufhalten. Doch dafür müssen wir es als globale Herausforderung begreifen. Ernsthaft in der Sache, lösungsorientiert und zukunftsgewandt zeigt dieses Buch, wo die tieferen Ursachen der globalen Krise liegen, was Wirtschaft, Politik und auch jeder Einzelne tun kann, um diesen existenziell gefährlichen Trend umzukehren

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Seitenzahl: 291

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Cover for EPUB

Friederike Bauer Katrin Böhning-Gaese

Vom Verschwinden der Arten

Der Kampf um die Zukunft der Menschheit

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: © Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © Felix Fornoff

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98669-3

E-Book ISBN 978-3-608-12137-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Am Wendepunkt der Erdgeschichte

Die Bedürfnisse des Menschen im Mittelpunkt

Umweltbewusstsein wächst langsam

Das Thema aus der Nische holen

Kapitel 2

Das große Sterben

Eine Million Arten vom Aussterben bedroht

Nicht nur Arten, auch Lebensräume

Der Schwund geschieht leise und unauffällig

Krankheiten als Folge des Naturverlusts

Umweltprobleme als große Risiken

Kapitel 3

Wozu die ganze Pracht?

Die Leistungen der Natur

Biodiversität als Maschinenraum der Natur

Sauerstoff produzieren, Schadstoffe filtern, CO speichern

Quell der Erholung und Inspiration

Die Natur überlebt – so oder so

Das Arche-Noah-Prinzip funktioniert nicht

Kapitel 4

Nein, es ist nicht Plastik

Veränderung der Erdoberfläche

Ausbeutung von Tieren und Pflanzen

Klimawandel, künftig ein wichtiger Faktor

Verschmutzung der Umwelt

Invasive Arten – ein unterschätztes Problem

Mehr Menschen verbrauchen mehr

Technischer Fortschritt genügt nicht

Kapitel 5

Essen für alle! Aber ohne Artenverlust

Hohe Produktivität auf Kosten der Artenvielfalt

Agrarlandschaften diverser gestalten

Die Agrarpolitik der EU

Vor- und Nachteile des Ökolandbaus

Weniger Fleisch, weniger Flächenverbrauch

Produktivität in Entwicklungsländern steigern

Eine Agrarwende ist überfällig

Kapitel 6

Der Natur Raum geben

Was zählt dazu, was nicht?

Die Natur erholt sich, wenn man sie lässt

Artenreichtum vor allem in Entwicklungsländern

Bedürfnisse von Mensch und Natur in Einklang bringen

Die Bedeutung indigener Völker

Schutzgebiete gut managen

Ökosysteme wiederherstellen

Städte grüner machen

Kapitel 7

Hoffentlich der ersehnte Aufbruch

Der lange Weg zum

Global Biodiversity Framework

Unklare Finanzierung

23 Ziele – viele offene Fragen

Vage Vorgaben für die Wirtschaft

Biodiversität und Klima: eine komplexe Beziehung

Win-Lose- und Lose-Lose-Ansätze

Jetzt kommt es auf die Umsetzung an

Kapitel 8

Vom Wissen zum Handeln

Das Naturverständnis überdenken

Biodiversität in den Nachhaltigkeitsdiskurs aufnehmen

Politische Rahmenbedingungen ändern

Die richtigen Anreize setzen

Die wahren Kosten offenlegen

Berichtspflichten für Unternehmen einführen

Digitalisierung nutzen

Neue Finanzprodukte auflegen

Rechtsprechung anpassen

Forschung und Bildung ausweiten

Bei sich selbst anfangen

Als gemeinsame Aufgabe begreifen

Kapitel 9

10 Punkte für einen besseren Umgang mit der Natur

Anmerkungen

Kapitel 1 Am Wendepunkt der Erdgeschichte

Kapitel 2 Das große Sterben

Kapitel 3 Wozu die ganze Pracht?

Kapitel 4 Nein, es ist nicht Plastik

Kapitel 5 Essen für alle! Aber ohne Artenverlust

Kapitel 6 Der Natur Raum geben

Kapitel 7 Hoffentlich der ersehnte Aufbruch

Kapitel 8 Vom Wissen zum Handeln

Danksagung

Für unsere KinderJohannes, Leo und Sebastian

Vorwort

Die Natur ist politisch. Sie geht uns alle an. Egal, ob wir in der Stadt leben oder auf dem Land, ob wir unseren Salat selbst anpflanzen oder im Supermarkt kaufen, ob wir Spaziergänge im Park mögen oder lieber ins Kino gehen. Was bei uns wächst, grünt und blüht, was quakt, summt und zwitschert, kann uns nicht einerlei sein. Hier nicht und auch andernorts auf der Welt nicht. Wir alle hängen von der Natur, ihrem Reichtum und ihren Leistungen ab, wir brauchen Wasser, Luft, Essen und Erholung. Genau genommen sind wir ein Teil von ihr, auch wenn das durch unseren Lebensstil nicht immer gleich ersichtlich ist und wir uns schon längst nicht mehr so verhalten.

Tatsächlich übernutzen wir Menschen die Natur in atemberaubendem und bisher nie gesehenem Tempo. Wir haben sie uns in einer Weise »untertan« gemacht, die jedes gesunde Maß überschritten hat: Die Hälfte aller Ökosysteme wurde bereits massiv verändert, eine Million der geschätzten acht Millionen Arten ist vom Aussterben bedroht. Seit kurzem gibt es auf der Erde mehr vom Menschen hergestelltes Material als Biomasse, nämlich Stoffe wie Beton, Asphalt, Metall, Plastik, Glas oder Papier. Eine Verschiebung mit großer Tragweite.

Das Heimtückische daran ist: Der Prozess dieses Naturverlustes vollzieht sich schleichend und für uns nicht direkt spürbar; es ist also mehr ein stilles Sterben – und zwar auf allen drei Ebenen, die Biodiversität ausmachen: bei der Vielfalt der Arten, der Vielfalt innerhalb von Arten und der Vielfalt der Ökosysteme. Lange Zeit galt die Aufmerksamkeit hierbei vor allem einzelnen Tierarten wie Menschenaffen, Elefanten oder Nashörnern, deren drohendes Aussterben mit großer Anteilnahme verfolgt wurde. Ihr Schicksal ist zweifellos beklagenswert. Doch eigentlich geht es um viel mehr, um Lebensräume, die vernichtet werden oder veröden und reiches Leben nicht mehr zulassen. Jedes Jahr gehen schätzungsweise zehn Millionen Hektar Wald verloren – eine Fläche, die größer ist als Portugal – und damit einzigartige Habitate für Fauna und Flora, natürliche Filter für Wasser und Luft sowie Speicher für CO2. Das Argument, eine Art mehr oder weniger mache keinen Unterschied, ist daher nicht nur zynisch, sondern auch fahrlässig.

Deshalb wird es Zeit, dass wir uns mit Biodiversität beschäftigen, dass wir diesen sperrigen Begriff in unser Vokabular und unsere Debatten einbauen. Er muss genauso zum Gesprächsthema werden wie der Klimawandel, die Energiekrise, die Corona-Pandemie, das Rentensystem oder die Ausbildung unserer Kinder. Biodiversität darf nicht länger als Nischenthema gelten, als etwas für Romantiker*innen oder Sonderlinge. Sondern sie muss ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Bisher ist Biodiversität noch kein gleichwertiger Teil der Nachhaltigkeitsdebatte. Doch ohne rasche und durchgreifende Maßnahmen zu ihrem Erhalt entziehen wir uns die eigene Lebensgrundlage. Wenn Bienen nicht mehr bestäuben, wenn Böden ausgelaugt, Meere überfischt sind, dann wird es eng für uns Menschen. Das ist kein fernes Szenario, auch wenn wir die Auswirkungen noch nicht überall spüren: Nach Angaben des Schweizer Weltwirtschaftsforums ist rund die Hälfte der gesamten globalen Wirtschaftsleistung durch den Niedergang der Natur in Gefahr.

Im Dezember 2022 fand ein erfreulich beachteter und erfolgreicher Weltnaturgipfel in Montreal statt. Dort hat sich die Staatengemeinschaft ein ambitioniertes Programm für die nächsten Jahre mit dem Ziel verordnet, bis zur Mitte des Jahrhunderts wieder im Einklang mit der Natur zu leben. Dieses Dokument sollte zur Pflichtlektüre für alle Politiker*innen werden. Denn es enthält vieles von dem, was die Wissenschaft als Lösung empfiehlt, wie zum Beispiel mehr Naturschutzgebiete und weniger Pflanzenschutzmittel, zum Wohl der Natur und der Menschen.

Damit dieses Programm kein Papiertiger bleibt, muss es nun in den Einzelstaaten umgesetzt, in Gesetze und Verordnungen gegossen werden. Das wird nicht ohne weiteres geschehen; dazu braucht es auch Druck aus der Öffentlichkeit, Nachfragen von Bürger*innen – und ein insgesamt stärkeres Bewusstsein und Interesse für das Thema und die Beiträge, die wir alle dazu leisten können.

Genau darin liegt die Absicht dieses Buches – mehr Bewusstsein zu schaffen für die Bedeutung von Biodiversität. Dafür ziehen wir Bilanz, zeigen auf, wo wir stehen, wie dramatisch der Naturverlust ist, gehen den Ursachen nach, zeichnen die (internationale) politische Debatte nach und präsentieren Lösungen.

Wir – das sind eine anerkannte und preisgekrönte Biodiversitätsforscherin und eine erfahrene, auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit ausgewiesene Journalistin und Buchautorin. Die eine kommt aus der Biologie, die andere aus der internationalen (Entwicklungs-)Politik. Dieses Buch ist ein Gemeinschaftswerk, eine Kombination unserer Kenntnisse und Kompetenzen aus der Biodiversitätsforschung und aus der politischen Arbeit als Journalistin. So unterschiedlich unser jeweiliger professioneller und persönlicher Hintergrund auch ist: Wir sind beide überzeugt davon, dass der Erhalt von Biodiversität eine Aufgabe ist, die uns in Zukunft sehr intensiv beschäftigen wird – und muss. Uns alle.

Kapitel 1

Am Wendepunkt der Erdgeschichte

Beispielloser Verlust der Artenvielfalt

Wir leben auf einem »Planeten der Hühner«. Ihr Bestand ist in den vergangenen Jahren sprunghaft auf heute 23 Milliarden gestiegen[1]; sie werden für den Menschen gehalten. Keine einzige Vogelart kommt oder kam jemals so häufig vor[2]. Damit gibt es nicht nur etwa drei Mal so viele Hühner wie Menschen, ihre Masse übertrifft mittlerweile auch bei weitem die aller wildlebenden Vögel. Deren Bestände wiederum sinken fortwährend. Allein in den USA ist in den vergangenen fünf Jahrzehnten fast ein Drittel aller Vögel verschwunden; das entspricht etwa drei Milliarden Tieren[3]. Dadurch hat sich ein Missverhältnis in der Vogelwelt ergeben, das in dieser Größenordnung besonders auffällig sein mag, insgesamt aber symptomatisch ist: Ob Vögel oder Wälder, Savannen oder Säugetiere, Fische oder Korallenriffe, überall schwindet der natürliche Lebensraum und mit ihm die biologische Vielfalt. Und zwar in rasender Geschwindigkeit und beispiellosem Ausmaß.

Trotzdem ist dieser Umstand noch nicht ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen. Vielleicht weil wir uns daran gewöhnt haben, von Krisen und Katastrophen, von Kontroversen und Kipppunkten zu hören. Oder weil wir derer überdrüssig sind und denken: Ist sowieso nicht mehr zu retten. In dieser Melange unterscheidet sich ein Krisenphänomen nicht mehr nennenswert von den anderen, wenn alles sowieso auf den »absoluten Tiefpunkt« oder die »größte Katastrophe«, also auf den Weltuntergang zuläuft. Das ist ein Fehler. Denn beim Schwund von Natur und Arten handelt es sich um eine wirklich existenzielle Krise und deshalb um einen tatsächlich negativen Superlativ, dem wir aber nicht hilflos ausgeliefert sich. Wir können etwas dagegen unternehmen. Dafür muss der Rückgang an natürlichen Lebensräumen und der Artenvielfalt allerdings als solcher benannt werden, weil er mittlerweile dramatische Ausmaße angenommen hat und in der Geschichte der Menschheit noch nie so groß war, in dem Sinne historisch und sogar biblisch ist: Die Aussterberaten liegen heute mindestens zehn bis hundert Mal über der durchschnittlichen Rate der letzten zehn Millionen Jahre[4], einzelne Quellen gehen sogar vom Tausendfachen aus. Etwas konkreter heißt das: Die natürlichen Ökosysteme sind weltweit schon um etwa die Hälfte zurückgegangen und nur noch etwa zu einem Viertel vom Menschen weitgehend unberührt[5].

Auf diese Weise beeinflussen wir als einzelne Art die Natur mit Folgen, die Tausende oder sogar Millionen Jahre in die Zukunft reichen. Selbst wenn wir auf einen Schlag aussterben würden, wäre in Millionen Jahren anhand der Ablagerungsgeschichte der Erde erkennbar, dass hier ein außergewöhnliches Ereignis stattgefunden haben muss: eine fundamentale Umgestaltung der Natur. Dass die aktuelle Entwicklung in der Paläontologie als Beginn des sechsten Massenaussterbens der Erdgeschichte bezeichnet wird, könnte man noch mit den Worten kommentieren: Nichts Neues, das gab es ja schon fünf Mal. Allerdings besteht zwischen heute und den vorangegangenen Fällen ein entscheidender Unterschied: Sie hatten natürliche Ursachen, gingen auf Vulkanausbrüche und Asteroiden-Einschläge zurück. Jetzt sind wir Menschen der Grund für den Verlust. Wir greifen in unerhörtem und nie gesehenem Maß in die Natur ein – und das noch nicht einmal sehr lange.

Zwar hat der Mensch schon immer Spuren auf der Erde hinterlassen, weil er Tiere jagte, Bäume fällte, Feuer machte, Werkzeuge schmiedete, Material für Höhlen und Hütten sammelte, Felder anlegte und Müll verbreitete. So starb zum Beispiel der etwas behäbige und flugunfähige Dodo-Vogel auf Mauritius und Réunion vor mehr als 300 Jahren ganz einfach deshalb aus, weil europäische Siedler – etwas verkürzt dargestellt – sein Fleisch und seine Eier verzehrten[6]. Auch große Teile der Urwälder in Europa verschwanden. Paradebeispiel sind hier die Römer, die für ihren intensiven Häuser- und Schiffsbau großflächig Wälder abholzten. Mit anderen Worten: Wo der Mensch lebte, arbeitete und starb, prägte er seine Umgebung und vernichtete dabei auch Natur. Aber das Ausmaß lässt sich in keiner Weise mit der heutigen Dimension vergleichen.

So richtig Fahrt aufgenommen hat der große Verbrauch an Natur vor etwa sieben Jahrzehnten, in den sogenannten »goldenen« fünfziger Jahren, die für Aufbruchsstimmung, grenzenlosen Optimismus und neuen Wohlstand stehen. Allerdings markieren sie auch den Anfang einer inzwischen galoppierenden Entwicklung. Der Einfluss des Menschen auf die Natur verläuft erdgeschichtlich betrachtet nämlich nicht linear, sondern beschleunigt sich seit damals ganz massiv. Vieles davon geschah vermutlich nicht einmal bewusst, sondern ist vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte und den spezifischen Bedürfnissen der Nachkriegszeit durchaus nachvollziehbar. Aber inzwischen kennen wir die Grenzen, wissen, dass die Ressourcen der Erde endlich sind und müssen deshalb entschlossen umsteuern.

Damals, der Zweite Weltkrieg war gerade überwunden, sollte alles endlich wieder schön werden, in Deutschland genauso wie in vielen anderen Ländern der Welt. Man wollte nach vorne blicken, nicht zurück. Gewalt sollte Gewinn weichen, das Angenehme die Angst verdrängen. Man war auf Aufbau, auf Wachstum ausgerichtet, auf Konsum, Sicherheit und auch auf »heile Welt«. Die Natur war einfach da, sie schien unerschöpflich und spielte keine größere Rolle in den Überlegungen von damals.

Die Bedürfnisse des Menschen im Mittelpunkt

Ein Bild des bekannten deutschen Fotografen Jupp Darchinger fängt die damalige Stimmung sehr schön ein und legt gewissermaßen Zeugnis vom Zeitgeist ab[7]: Eine Familie macht einen Sonntagsausflug, ein Picknick im Freien; alles wirkt harmonisch und friedlich. Eine Decke liegt auf dem Gras, die Eltern ruhen bequem auf Luftmatratzen und verzehren mitgebrachte Stullen. Selbst an Porzellangeschirr fehlt es nicht. Der Sohn spielt gleich eine Runde Federball, den Schläger hat er schon in der Hand. So weit ist alles gut und nachvollziehbar. Interessant und entlarvend an diesem Foto ist nicht der Vordergrund, sondern das Dahinter, die Sekundärbotschaft: dass der VW, das Statussymbol des wirtschaftlich wiedererwachenden Deutschlands, mitten in der Landschaft parkt und der Wald nur als Kulisse dient. Im Vordergrund steht der Mensch mit seinen Bedürfnissen und Errungenschaften, so könnte man die Aussage des Fotos zusammenfassen.

Man muss eine einzige Abbildung nicht überinterpretieren, um Belege für dieses Denken zu finden. Hinweise gibt es genügend aus jener Zeit. Nahezu jedes Buch und jede Ausstellung über die 1950er Jahre offenbaren das Streben nach Materiellem: vom neuen Fön über das Küchenglück mit Herd, Kühlschrank und Waschmaschine, das schmucke, aber biedere Wohnzimmer mit Nierentisch, das aufkommende Fernsehen, das kalorienreiche Essen mit Schweinefleisch und Torten bis hin zum raumgreifenden Straßen- und Städtebau und dem beginnenden Tourismus. Konsum und Zuversicht schienen zu einem neuen Wert zu verschmelzen. Immer ging es um das Fortkommen des Menschen, selten um die Folgen für die Natur.

Wirtschaftsminister Ludwig Erhard gab mit seinem »Wohlstand für alle« das Motto der damaligen Zeit vor. Dagegen wäre grundsätzlich nichts einzuwenden. Warum sollten nur die Reichen ein warmes Bett und ein wohliges Zuhause haben? Zumal Erhard, volkswirtschaftlich hergeleitet, genau aussprach, wonach sich die Menschen sehnten. Nach den Hungerjahren der 1940er Jahre, dem Hungerwinter von 1946/47 wünschten sie sich volle Tische, gemütliche und sichere Heime als Sinnbild für diese neue Ära. Und das nicht nur in Deutschland. Fast die ganze Welt hatte unter dem Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, seiner Grausamkeit und seinen Einschränkungen in irgendeiner Form gelitten. Dass die Produktion danach erst einmal Vorrang hatte, die neuen technischen Möglichkeiten begeistert aufgenommen wurden, überrascht nicht weiter.

Aber dass es dabei fast keine Gedanken an die Folgen für die Natur gab, war ein krasses Versäumnis und – aus heutiger Sicht – eine vollkommen falsche Weichenstellung. In Erhards Klassiker Wohlstand für alle[8], ein Buch mit fast 400 Seiten, findet sich nicht ein einziges Mal das Wort Natur. Sie spielte als Faktor in den damaligen Überlegungen so gut wie keine Rolle. Sie war da, man nutzte sie in seinem Fortschrittsstreben nach Belieben. Doch es blieb nicht bei Unkenntnis oder Unwissenheit; die Aufbruchsstimmung jener Jahre löste mitunter auch technologische Allmachtsfantasien aus. So vertrat zum Beispiel der Wortführer der amerikanischen Insektizidhersteller, Robert White-Stevens, damals sogar die Meinung, der Mensch werde »dauerhaft die Kontrolle über die Natur«[9] gewinnen.

Auch bei den Vereinten Nationen, die als Sinnbild einer neuen, besseren Welt galten, spielten die Themen Umwelt und Ressourcenverbrauch zunächst keine große Rolle. Wer sich Berichte und Reden aus der damaligen Zeit ansieht, etwa den Jahresbericht des legendären UN-Generalsekretärs Dag Hammarsjköld 1955[10], stellt fest, dass es überwiegend um Fragen von Krieg und Frieden und wirtschaftliche Entwicklung ging. Drohende Konflikte und neue Not beherrschten die Themen jener Jahre. Das galt sogar für den erklärten Naturliebhaber Hammarsjköld, der seine Freizeit am liebsten an den Küsten und in den Wäldern Südschwedens verbrachte. Selbst er sprach gerne, ähnlich wie Ludwig Erhard, von einem more abundant life for all – einem opulenteren Leben für alle[11]. Ernsthafte Bedenken, dass der Wohlstand nicht zu Lasten der Natur gehen dürfe und ausbeuterisches Wirtschaften Folgen zeitige, kamen bei den Vereinten Nationen erst später richtig auf. Die erste Weltkonferenz zu Umweltfragen fand 1972 in Stockholm statt; auch das Sonderprogramm für Umweltfragen UNEP gibt es erst seit damals, also fast dreißig Jahre nach Gründung der Weltorganisation.

Zwar reicht der Naturschutz deutlich länger in die Geschichte zurück und ist wahrscheinlich so alt wie die Nutzung der Natur selbst, aber er erhielt erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts breitere Aufmerksamkeit. So brachte zum Beispiel Franz von Assisi bereits im 12. Jahrhundert eine tiefe Wertschätzung der Natur zum Ausdruck, pries in seinem berühmten Sonnengesang die Schönheit der Schöpfung und predigte der Legende nach sogar zu seinen »Brüdern«, den Vögeln. Alexander von Humboldts Begriff der Natur als zusammenhängendes Ganzes und Netz des Lebens steht am Beginn des modernen Naturverständnisses. Und der Nachhaltigkeitsbegriff aus der deutschen Waldwirtschaft, nach dem nur so viel Holz entnommen werden soll, wie natürlich nachwachsen kann, geht ins 17. Jahrhundert zurück. Die ersten Naturschutzgebiete gibt es seit dem 19. Jahrhundert; in Deutschland seit 1836 am Drachenfels. Im südlichen Afrika und in den USA entstanden im 19. Jahrhundert ebenfalls Schutzgebiete, wenn auch zum Teil aus eigennützigen Gründen, manchmal dienten sie den Herrschenden einfach als Jagdgründe und wurden deshalb geschont. Naturschutzbewegungen wie der NABU datieren bis zur Wende des vorigen Jahrhunderts zurück. Auch bei den Nationalsozialisten spielte die Natur bekanntermaßen eine erhebliche ideologische Rolle. 1935 wurde ein Reichsnaturschutzgesetz verabschiedet, das allerdings vor allem die Blut-und-Boden-Weltanschauung und die völkische Gesinnung der Nazis untermauerte.

Umweltbewusstsein wächst langsam

Doch die Erkenntnis, dass der Mensch die Erde für alle Zukunft prägt und dabei sogar Gefahr läuft, sich selbst auszulöschen, ist sehr viel jünger. Das Bewusstsein für die Endlichkeit natürlicher Ressourcen wuchs erst ab den 1960er Jahren langsam und zunächst nur punktuell. Als Schlüsselpublikation gilt Rachel Carsons Der stumme Frühling aus dem Jahr 1962. Darin warnt die Amerikanerin eindringlich vor dem großflächigen Einsatz von Pestiziden und dessen Folgen für Mensch und Natur. Die Vögel verschwinden und verstummen, beobachtete sie, daher auch der Titel. Aus heutiger Sicht gleicht ihre Aussage fast einer Prophezeiung, denn obwohl Vögel weniger bedroht sind als die meisten anderen Artengruppen, ist auch bei ihnen der Schwund beängstigend hoch.

Zehn Jahre später fand in Stockholm nicht nur die erste Umweltkonferenz statt, sondern im selben Jahr brachte der Club of Rome den inzwischen als Klassiker geltenden Band Die Grenzen des Wachstums[12] heraus, in dem aufgezeigt wurde, dass die Menschheit bei weiter hohem Wachstum früher oder später an Grenzen stoßen werde. Die siebzig Autoren, überwiegend Wissenschaftler*innen, konstatierten im Grunde die Übernutzung der Natur auf allen Ebenen, die seit den 1950er Jahren exponenziell zunahm und bis heute besteht.

Das zeigen zahlreiche Statistiken, deren Kurven meist steil ansteigen[13]. Einerseits geht es den Menschen aufs Ganze gesehen noch nie so gut auf der Erde wie heute. Wir leben länger[14], sind besser medizinisch versorgt, genießen mehr Wohlstand, haben einen deutlichen Anstieg des Bruttosozialprodukts erfahren[15], [16] und sind insgesamt besser gebildet als früher. Dieser Effekt lässt sich vor allem beobachten, wenn man sehr lange Zeiträume betrachtet: Während im Jahr 0 geschätzte 230 Millionen Menschen auf der Erde lebten und im Schnitt nur 24 Jahre alt wurden, das Bruttosozialprodukt bei rund 750 Dollar lag, waren es 1950 etwa 2,5 Milliarden Menschen mit einer Lebenserwartung von 46 Jahren und einem Bruttosozialprodukt von fast 3.300 Dollar. Das ist eine deutliche Steigerung, die sich allerdings über einen sehr langen Zeitraum vollzogen hat. Im Jahr 2020 lagen wir bei 7,8 Milliarden Menschen, die im Schnitt darauf hoffen konnten, 73 Jahre alt zu werden. Das Bruttosozialprodukt betrug bereits 2016 mehr als 14 500 Dollar[17], auch wenn die Spannbreite auf der Welt sehr groß war und weiterhin ist. Seit den 1950er Jahren ist damit eine Entwicklung eingetreten, die als »Große Beschleunigung« – als »Great Acceleration« gilt.

Diese an sich gute Entwicklung hat eine Kehrseite, deren Folgen wir heute immer deutlicher sehen und spüren: Das oben beschriebene Wachstum ist einhergegangen mit einer beispiellosen Veränderung der Natur, mit der wir die ökologischen, evolutiven und geologischen Prozesse zunehmend überschreiben. Nicht ohne Grund ist inzwischen von einem neuen geologischen Zeitalter, dem Anthropozän die Rede, dem Zeitalter der Menschen, in dem sie zum entscheidenden Faktor geworden sind. Genau wie die Kurven bei Lebenserwartung, Bruttosozialprodukt, Bildung und einigen anderen positiven Kennwerten seit den 1950er Jahren steil ansteigen, verhält es sich auch beim Energieverbrauch, beim Ausstoß von Kohlendioxyd, beim Verlust natürlicher Ökosysteme, beim Fischfang, beim Einsatz von Düngemitteln, bei der Stickstoffbelastung von Küstengewässern und vielem mehr[18]. Und diese Trends sind eindeutig bedrohlich.

Fatalerweise haben daran auch einschlägige internationale Vereinbarungen bisher nicht genug geändert. Seit 1992 gibt es das internationale Übereinkommen über die Biologische Vielfalt (CBD), das inhaltlich durchaus stark ist und den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Natur vorsieht. Es hatte im Konflikt mit anderen Interessen lange Zeit jedoch weder die nötige Aufmerksamkeit noch die entsprechende Durchschlagskraft erreicht. Seit dem Weltnaturgipfel in Montreal Ende 2022 beginnt sich das nun hoffentlich zu ändern. Das Interesse scheint zu wachsen, aber es fehlt noch an der notwendigen Umsetzung. Bisher jedenfalls wurde der Rückgang der Biodiversität kaum aufgehalten, das Wachstum zu Lasten der Natur in keiner Weise gestoppt, geschweige denn umgekehrt. Immer noch wird alle vier Sekunden Wald in der Größe eines Fußballfeldes abgeholzt[19], immer noch sind Hunderttausende Arten vom Aussterben bedroht. Und mit jeder Art, die verschwindet, werden Millionen Jahre Evolutionsgeschichte ausgelöscht. Doch es sind die Menschen, die die Natur brauchen – auch wenn sie vorgeben, es sei umgekehrt. Denn sie sind ein Teil von ihr, haben sich mit ihr entwickelt und sind bis heute durch Tausende Bezüge aufs Engste verbunden. Wenn die Menschheit so weitermacht wie bisher, sägt sie sich den sprichwörtlichen Ast ab, auf dem sie sitzt.

Das Thema aus der Nische holen

Es bleibt daher nur ein Ausweg: den negativen Einfluss auf die Natur zurückzunehmen. Die Errungenschaften bei der Versorgung mit Lebensmitteln, bei der Bildung, bei der medizinischen Versorgung und auch bei der Lebenserwartung möchte niemand aufgeben. Die sollen möglichst nicht verloren gehen. Aber sie müssen anders erreicht, vom Naturverbrauch entkoppelt werden. Sie dürfen nicht länger mit dem rasanten Schwund an Arten und natürlichen Lebensräumen einhergehen, wie wir ihn seit einigen Jahrzehnten beobachten. Diese irre Beschleunigung gilt es zu stoppen, denn weitere sieben Jahrzehnte im Geist der 1950er Jahre wird zwar der Planet verkraften, aber der Mensch nicht. Das Wirtschaften, bei dem Natur als endlos und frei verfügbare Masse gilt, muss endgültig der Vergangenheit angehören. Und auf der Bewusstseinsebene gilt es, dem Konsumglauben eine neue Vorstellung vom guten Leben entgegenzusetzen. Nämlich, dass es von unschätzbarem Wert ist, wenn Vögel singen, Insekten summen und Blumen blühen – und dass damit, überspitzt formuliert, mehr Wohlbefinden einher geht als mit dem nächsten billigen Plastikspielzeug. Damit dieser Wandel gelingt, damit wir das Wachstum auf Kosten der Natur bremsen, muss viel geschehen, auf ganz vielen Ebenen, nicht zuletzt auf der politischen.

Noch genießt das Thema Biodiversität in der breiten Öffentlichkeit nicht die Aufmerksamkeit, die ihm angesichts seiner existenziellen Bedeutung eigentlich zukommen müsste. Zwar lassen Nachrichten vom Insektensterben oder vom Verlust tropischer Wälder immer wieder aufhorchen, aber Artenvielfalt ist trotz des Gipfels von Montreal bis heute eher ein Randthema. Ihm wird längst nicht die Bedeutung des Klimawandels beigemessen, dessen Gefahren mittlerweile allgemein anerkannt sind. Dabei hat der Verlust an Biodiversität mindestens ähnliche Vernichtungskraft wie der Anstieg der Erdtemperatur, vielleicht sogar noch größere: Der Klimawandel entscheidet darüber, WIE wir leben, wie wir mit mehr Wirbelstürmen, größerer Trockenheit, neuen Krankheiten oder weniger produktivem Land zurechtkommen. Der Artenschwund entscheidet darüber, OB wir leben.

Die Menschheit steht an einem Wendepunkt. Es liegt an uns, ob wir diese existenzielle Krise, diesen Biodiversitätsverlust missachten und daraus einen SUPERGAU werden lassen oder ob wir die Zeichen der Zeit verstehen und das Schlimmste noch verhindern. Möglich ist das, wie verschiedene wissenschaftliche Modelle zeigen, doch es erfordert neue Prioritäten in Politik und Wirtschaft – aber in letzter Konsequenz auch bei uns allen. Kurz gesagt: Das Thema muss weg vom Rand, raus aus seiner Nische, rein ins öffentliche Bewusstsein und ins Zentrum des politischen Handelns.

Kapitel 2

Das große Sterben

Eine schleichende Entwicklung

Indiens Geier zählten noch vor rund dreißig Jahren zu den häufigsten Greifvögeln der Welt – und hatten über Jahrtausende hinweg die Funktion einer Art Gesundheitspolizei: Sie fraßen Aas, darunter auch verendete »heilige« Kühe, die sich aus religiösen Gründen zahlreich auf Indiens Straßen finden. Bis in den Neunzigerjahren das Schmerzmittel Diclofenac in der Tiermedizin populär wurde. Schon bald setzten es Milchbäuer*innen und Halter*innen von Zug- und Lastentieren ein, weil das Medikament sehr kostengünstig ist. Allerdings hat es auch einen fatalen Nebeneffekt: Es löst bei Geiern Nierenversagen aus und ist so giftig wie Zyankali für den Menschen[1], [2]. Innerhalb von 15 Jahren sanken die Bestände dreier Geierarten in Indien um mehr als 95 Prozent. Infolgedessen wurden Kühe nicht mehr wie früher auf natürlichem Wege beseitigt.

Und – vielleicht noch schwerwiegender – die Zahl verwilderter Hunde nahm zu, weil sie mehr Aas fressen konnten. Da Hunde auch Menschen beißen, kam es zu einem deutlichen Anstieg von Tollwutfällen. So hat der Rückgang der Geierpopulationen, was an sich schon beklagenswert wäre, wahrscheinlich auch noch den Tod von fast 50 000 Menschen verursacht[3]. In der Europäischen Union ist das Mittel ebenfalls für die Veterinärmedizin freigegeben. Der erste tote Geier, der nachweislich an Diclofenac gestorben ist, wurde im September 2020 in Katalonien gefunden. Nun steht zu befürchten, dass es auch in Südeuropa, wo das Mittel derzeit vor allem auf dem Markt ist, zu einem Geiersterben kommen könnte – mit noch unabsehbaren Folgen[4].

Das Beispiel zeigt, welche Wirkungen schon das Aussterben ganz weniger Arten mit sich bringen kann. Und es zeigt auch, dass sich Effekte nicht im Vorhinein abschätzen lassen, weil so ein Verlust eine Kettenreaktion auslösen kann. Nun ist das Verschwinden von Arten nicht per se beunruhigend. Sterben gehört zum Leben, auch zur Natur. Tiere und Pflanzen leben in einer sich ständig wandelnden Umwelt. Entweder sie passen sich an, oder sie werden von besser angepassten Arten verdrängt, zum Beispiel weil die Klimabedingungen und Lebensräume sich verändern. Insofern ist das Auftauchen und Verschwinden von Arten nichts Ungewöhnliches, sondern der Normalfall, und gehört seit jeher zum Lauf der Natur und der Evolution. Allerdings ist die Geschwindigkeit, mit der das gerade geschieht, atemberaubend und bewegt sich außerhalb dieser Norm. Sie ist, das kann nicht oft genug betont werden, mindestens zehn bis hundert Mal höher als in der Zeit, bevor der Mensch die Welt dominierte, und deshalb ein klarer Hinweis darauf, dass wir die Verursacher dieses Sterbens sind. Wäre die Erdgeschichte ein Tag mit 24 Stunden, dann würde der moderne Mensch erst einige Sekunden auf diesem Planeten leben. Doch schon in dieser kurzen Zeit hat er bereits drei Viertel der Erde genutzt und übernutzt, den größten Teil davon in den vergangen siebzig Jahren[5], [6], [7].

Dabei wissen wir noch nicht einmal, wie viele Arten es auf der Welt eigentlich gibt. Als wahrscheinlichste Zahl gelten um die acht Millionen[8], es könnten aber auch fünf, zehn, zwölf oder 15 Millionen sein. Tatsächlich verstreicht praktisch keine Woche, in der nicht eine neue Art entdeckt wird. Allein die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung hat im Jahr 2021 fast 300 Arten neu beschrieben[9]. Dazu gehörte zum Beispiel ein Mini-Frosch, der nur zwischen 27 und 33 Millimeter misst und nun Phrynoglossus myanhessei heißt. Er lebt in Myanmar und wurde längere Zeit übersehen, weil er aufgrund seiner äußerlichen Ähnlichkeit einer anderen weitverbreiteten Art – Phrynoglossus martensii – zugeordnet wurde. Dass es sich um eine neue Art handelte, fiel erst auf, als sich herausstellte: Diese Tiere quaken völlig anders. Eine molekulargenetische Analyse bestätigte die Vermutung – es wurde eine neue Art beschrieben. Solche Funde in der Natur gibt es praktisch permanent, weil ein Großteil aller Arten noch nicht identifiziert ist. Bei der Namensgebung stehen dann übrigens auch immer wieder Prominente Pate. So heißt ein Käfer Agra schwarzeneggeri weil er einen außergewöhnlich entwickelten Bizeps aufweist. Ein paar schleimige Käfer, slime mold beetles, wurden in den USA 2005 nach drei damals wenig beliebten Politikern Agathidium bushi, Agathidiium cheneyi und Agathidium rumsfeldi, Bush, Cheney und Rumsfeld, benannt[10].

Eine Million Arten vom Aussterben bedroht

Aber genauso schnell, wie neue Arten entdeckt und klassifiziert werden, vergeht die Pracht auch schon wieder: Nach Angaben des Weltbiodiversitätsrats (Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services – IPBES) sind heute »mehr Arten als je zuvor weltweit vom Aussterben bedroht«, nämlich eine Million von geschätzten acht Millionen. Und das nicht erst in einer fernen Zukunft, sondern bereits in den kommenden Jahrzehnten. Wenn wir nicht massiv gegensteuern, so der Weltbiodiversitätsrat, wird das globale Artensterben in naher Zukunft dramatische Ausmaße annehmen. Das sind düstere Aussichten und zeigt klar die Notwendigkeit zum Handeln.

In der jüngsten Menschheitsgeschichte sind noch relativ wenige Arten als ausgestorben dokumentiert, jedenfalls in den letzten, vergleichsweise gut untersuchten 500 Jahren. Zu ihnen gehören der schon erwähnte Dodo auf Mauritius, der Lappenhopf auf Neuseeland, die Floreana-Riesenschildkröte auf Galapagos und die Rieseneidechsen auf den Kanarischen Inseln[11]. Auch wenn solche Zahlen wegen der vielen unbekannten Arten mit großer Vorsicht zu genießen sind, lässt sich festhalten, dass zum Beispiel bei den Säugtieren in den vergangenen fünf Jahrhunderten »nur« zwischen ein und zwei Prozent verloren gegangen sind[12], ähnliches gilt auch für Vögel. Das wäre an sich eine gute Nachricht. Aber sie ist trügerisch: Denn erstens sind bereits während der Eiszeit und bis zum Jahr 1500 Hunderte von Säugetieren und Vögeln ausgestorben, viele davon groß und imposant, wie das Mammut, Wollnashorn, der Riesenhirsch, der Höhlenlöwe, die Säbelzahnkatze, auch die bis zu drei Meter großen Riesenkängurus Australiens oder riesige Lemuren und Elefantenvögel auf Madagaskar. Und zweitens wissen wir oft gar nicht, was bereits verloren wurde, vor allem bei den vielen kleinen Tier- und Pflanzenarten. Etwa ein Drittel aller Wälder sind schon verschwunden[13]. Was darin gelebt hat, ist zu einem großen Teil nicht bekannt. Und schließlich schrumpft seit einigen Jahrzehnten der Bestand vieler Arten dramatisch; und mit ihm steigt das Risiko des Totalverlustes rapide an. Der Schwund findet also noch unterhalb der Aussterbeschwelle statt, ist deshalb aber nicht ungefährlich, nur noch nicht überall spür- und erfassbar oder gar dokumentiert.

Einigermaßen belastbare Daten über die Veränderungen der Bestände sind erst seit zirka 1970, also seit etwa fünfzig Jahren, und nur für wenige Artengruppen und Länder verfügbar: Das Aussterben von Arten ist der Endpunkt dieser unheilvollen Entwicklung, vorher schrumpfen die Bestände – und zwar in den letzten Jahrzehnten ganz massiv: In dieser Zeit sind über zwei Drittel der erfassten Säugetiere, Amphibien, Reptilien, Fische und Vögel verschwunden[14]. Und das betrifft nicht nur seltene Arten, sondern mittlerweile auch die häufigen, insbesondere die in der Agrarlandschaft. In Deutschland zum Beispiel sind in ganzen Regionen sogar Feldlerchen, Schwalben, Kiebitze, Rebhühner oder Stare gefährdet[15]. Vögel, die noch vor einigen Jahrzehnten überall zu entdecken waren. Besonders dramatisch ist der Rückgang beim Kiebitz: seit 1980 um 93 Prozent, beim Rebhuhn um 91 Prozent und bei der Turteltaube um 89 Prozent[16]. Auch Stare gelten in Deutschland mittlerweile als gefährdet. Sie zählen eigentlich zu den am weitesten verbreiteten Vogelfamilien der Welt und umfassen fast 120 Arten[17]. Unsere Stare sind wegen ihrer großen, spektakulären Formationsflüge bekannt, sie leben eigentlich in Wäldern oder im Grasland, aber heute wegen der zum Teil alten und höhlenreichen Bäume auch in Parks und auf Friedhöfen. Sie sind wichtige Schädlingsbekämpfer und dazu berüchtigte Kirsch- und Traubenräuber. Doch mittlerweile brüten in Deutschland nur noch geschätzte drei bis vier Millionen Paare und damit etwa zwei Millionen Paare weniger als noch vor zwanzig Jahren[18].

Und auch der Blick in die weitere Welt zeigt, wie groß das Problem ist: Vom Aussterben bedroht sind derzeit nach Angaben der Weltnaturschutzunion mehr als vierzig Prozent der Amphibienarten, mehr als ein Drittel der Haie und Hai-Verwandten, etwa ein Drittel der riffbildenden Korallen, der Nadelbäume, knapp ein Drittel der Krustentiere und etwa ein Fünftel aller Reptilien[19]. Auf der roten Liste befindet sich zum Beispiel der Feldhamster, auch so ein Tier, das man noch vor nicht allzu langer Zeit überall antreffen konnte und von dem es früher Millionen gab. Ohne Gegenmaßnahmen wird er aber, so die Prognose, in weniger als dreißig Jahren der Vergangenheit angehören[20]. Ebenfalls auf der roten Liste stehen die Nebrodi-Tanne, verschiedene Reptilien, Frösche, Heuschrecken und Libellen sowie das Okapi[21]. Die Liste liest sich längst nicht mehr wie eine Zusammenstellung exotischer Tierarten vom anderen Ende der Erde. Sondern das Sterben findet überall und in allen Tier- und Pflanzengruppen statt.

Am allermeisten »in die Enge getrieben« sind Palmfarne, von denen über sechzig Prozent als vom Aussterben bedroht, stark gefährdet oder gefährdet gelten[22]. Diese »Boten aus der Urzeit« oder »lebenden Fossilien«, wie sie auch genannt werden, sind stolze rund 300 Millionen Jahre alt. Sie sind nicht nur schön, einige der kleineren Arten gelten als beliebte Zierpflanzen, sondern eigentlich auch hart im Nehmen. Jedenfalls haben sie drei der fünf vorangegangenen Massenaussterben überlebt – jetzt aber drohen sie zu verschwinden. Warum? Weil ihr natürlicher Lebensraum schrumpft. Allein dieses Beispiel illustriert, wie tiefgreifend die Veränderungen sind, denen wir die Natur derzeit aussetzen. Und es zeigt auch, dass es nicht nur um geschätzte »Lieblinge« wie Affen, Tiger, Löwen, Elefanten oder Nashörner geht. Wenn in einem Zoo ein Panda geboren oder wenn ein Rhinozeros aufwändig umgesiedelt wird, dann geschieht das unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit. Dann laufen die sozialen Medien mit Tweets und Filmclips heiß. Große Säugetiere, die es vielleicht irgendwann nicht mehr gibt, bewegen und berühren uns. Sie sind dem Menschen nahe, haben Charisma und lösen starke Gefühle aus. Natürlich sind auch sie ein wichtiger Teil der biologischen Vielfalt. Dass man sie schützen muss, steht außer Frage. Aber der Verlust erstreckt sich auf viel, viel mehr und geschieht eher unbemerkt, unsichtbar und unspektakulär, aber deshalb nicht minder gefährlich, wie etwa bei Farnen, Insekten oder Würmern. Im Gegenteil. Es geht um den »bedrohlichen Tod von Tausenden und Hunderttausenden von einmaligen Organismen, die die Evolution in Jahrmillionen rund um den Globus hervorgebracht hat«[23] und die dauerhaft verschwinden könnten. Dann sind bestimmte biologische Eigenschaften für immer von der Erde gelöscht. Damit geht »ein Stück der Naturgeschichte unserer Erde mit einer einmaligen Kombination von Eigenschaften, Merkmalen und anderen biologischen Attributen unwiederbringlich verloren«[24]. Ganz so, als würden alle Bibliotheken dieser Erde abbrennen und unser ganzes Wissen vernichtet.

Nicht nur Arten, auch Lebensräume

Nicht nur die Arten und Bestände werden weniger, auch die Biomasse insgesamt schrumpft: Wenn Wälder Ackerland weichen, Sümpfe trockengelegt werden, Gewerbegebiete Wiesen verdrängen, blühende Almen zu Ski-Pisten werden, dann vollzieht sich ein schleichender »Enteignungsprozess« der Natur. Tatsächlich hat sich das Verhältnis zwischen menschengemachter und natürlicher Masse im Jahr 2020 erstmalig umgekehrt: Seit kurzem besteht mehr als die Hälfte allen Materials auf der Erde nicht mehr aus Biomasse, wie im Urzustand der Erde, sondern aus Stoffen wie Beton, Asphalt, Metall, Plastik, Glas oder Papier[25], [26]